CAT TAYLOR

Herrin vom See

Zum Buch:

In einem verwunschenen Wald in der Bretagne pflegen Mönche einen rätselhaften Krieger. Er ist der Mann ohne Namen. Der Mann ohne Erinnerung. Denn nachdem er in einer Schlacht verwundet wurde, hat er sein Gedächtnis verloren. Eines Nachts erscheint ihm im Traum eine geheimnisvolle Frau. »Komm zurück zu mir!«, bittet sie ihn, und ihre Worte wecken bruchstückhafte Erinnerungen: Sie ist die Frau, die er einst geliebt hat – die Herrin seines Herzens. Mit dem Wenigen, das er weiß, macht er sich auf die Suche nach ihr. Aber ist sie wirklich eine Erinnerung … oder vielleicht doch nur eine Illusion?

 

 

Zur Autorin:

Ob leidenschaftlicher Liebesroman oder märchenhafte Fantasy – Cat Taylor entführt ihre Leser in vergangene Zeiten und zu faszinierenden Orten. Zu ihren Romanen lässt sie sich auf Reisen um die ganze Welt inspirieren, am liebsten schreibt sie aber in der Abgeschiedenheit der schottischen Highlands. Bei einer guten Tasse Earl Grey entstehen Cat Taylors mitreißende Geschichten über edle Ritter, freche Normannen und widerspenstige Heldinnen.

 

Von Cat Taylor ist bereits erschienen:

Die Fitzroberts:

»Der Kuss des Normannen«

»Der Traum des Normannen«

»Das Herz des Normannen«

 

Die Fitzrobert-Schwestern:

»Thyra – Entflammtes Herz«

»Synne – Entfesseltes Herz«

 

Fantasy:

»Der Fluch der Nixe«

 

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Herrin vom See

~

Kurzroman

 

von

Cat Taylor

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Auf Reisen gehen mit Cat

Impressum

 

Prolog

 

 

»Komm zu mir …«

Ihre Fußspuren lockten ihn zum Strand.

Wie ein funkelndes Band schlängelten sich die zierlichen Abdrücke am Wasser entlang. Wellen küssten den Sand und sammelten sich in den flüchtigen Reliefs. Bildeten glitzernde Strudel, Spiegel von Sternenlicht. Es roch nach Salz und der Endlosigkeit des Meeres.

Er wusste, dass er diesen Duft der Sehnsucht einst gekannt hatte.

Felsklippen erhoben sich am Ende des Strandes, vom Gesang der Wellen zu rätselhaftem Leben erweckt. Bei Tage leuchteten die Felsen golden, bei Nacht schimmerten sie silbern im Licht von Sternen und Mond.

Er wusste, dass sie dort auf ihn wartete. Am geheimen Ort, dem Ort geflüsterter Liebesschwüre.

Ein süßer Duft mischte sich in den satten Salzgeruch, nach Honig und Rosen. Ihr Duft.

Und geborgen unter den Felsen, geborgen im warmen, aufgewühlten Sand fand er sie endlich.

Sein Herz schlug schneller bei ihrem Anblick, vor Sehnsucht, vor Begehren. Goldenes Haar. Goldene Haut. Ihr Lächeln aus Geheimnis und Versprechen.

»Liebster«, hauchte sie, als er sie sacht berührte. »Verbringe die Nacht mit mir. Damit du mich in der Fremde nicht vergisst.«

»Wie könnte ich dich je vergessen?«, raunte er im Gleichklang mit den Wellen. Und stahl ihr einen Kuss aus Salz und goldenem Glück.

Das Meer sang, die Brandung loderte. Leidenschaft wogte über ihre Körper hinweg, durch sie hindurch. Haut an Haut, Atem an Atem. Aneinander. Ineinander.

Er wusste, dass er sie liebte. Seit jeher geliebt hatte.

»Komm zurück zu mir«, ließ sie ihn schwören, ehe die Wellen ihn davontrugen. »Vergiss mich nicht, Liebster. Und komm zurück zu mir …«

Kapitel 1

 

Der Wald von Brekilien, Bretagne – Im Jahr 1066 n.Chr.

 

 

Mit einem Ruck fuhr er aus dem Schlaf.

Wild trommelte sein Herz, drückte ihm gegen die Brust und übertönte beinahe das Wispern, das die Schatten erfüllte.

Komm zurück zu mir … Vergiss mich nicht …

Verwirrt schüttelte er den Kopf und rieb sich die Augen. Wo war er? Gerade noch hatte er im weichen Sand gelegen, unter einem blinkenden Sternenhimmel, ihr warmer, goldener Körper an ihn geschmiegt.

Doch jetzt umgab ihn Düsternis. Kälte, die von klammen, engen Wänden herankroch. Panik wollte in ihm aufsteigen, als er es nicht schnell genug schaffte, sich zu orientieren.

Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen?

Seine Gedanken jagten durch graue Leere. Verfingen sich in Nebeln, die wie undurchdringliche Mauern in seinem Geist aufragten. Und eine weitere Frage formte sich, grausam und erschreckend: Wer bin ich?

Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht, Umrisse schälten sich aus den Schatten. Es mochte nur Sekunden dauern, doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Gefangen in den Nebeln in seinem Verstand, die zugleich Chaos und Nichts waren.

Komm zurück zu mir … wisperte es noch einmal. Süßes Flehen, zartes Flüstern, das ihn herauslocken wollte aus diesem Nebelreich. Vergiss mich nicht …

Im nächsten Moment wusste er wieder, wo er war.

Dieser winzige, kalte Raum war seine Schlafkammer. Selbst im Dämmerlicht wirkte die Einrichtung karg, die Pritsche mit der Strohmatratze, daneben ein Schemel, ein Krug Wasser. Ein Fenster, kaum groß genug, um hinauszublicken. Und ein Holzkreuz über der Tür.

Die Priorei, erkannte er. Ich bin im Kloster Notre-Dame.

Er setzte sich auf, lauschte darauf, wie sein Herzschlag sich beruhigte, zu einem sanften Takt wurde. Und begriff, was ihn geweckt hatte.

Ich habe geträumt.

Ein seltsamer Traum … Ein Traum, dessen Intensität in ihm nachhallte. Die Bilder waren derart lebendig gewesen. Der Strand im Sternenlicht … der Salzgeruch des Meeres … die goldene Frau in seinen Armen …

Und eine stille Hoffnung regte sich. Vielleicht war es gar kein Traum gewesen? Vielleicht war es eine Erinnerung? Ein Blick in seine Vergangenheit? Die erste süße Erinnerung, die zurückkehrte, von all jenen verlorenen …

Nein, sagte er sich stur. Nach all der langen Zeit brauche ich nicht mehr zu hoffen. Meine Erinnerungen sind fort. Verweht. Und sie kommen nicht zurück.

Das Licht im Raum veränderte sich, zarter Schein fiel durchs Fenster. Und eine Glocke begann zu läuten, treue Hüterin von Tag und Nacht, von Licht und Dunkelheit.

Die Prim. Ein neuer Tag beginnt.

Er erhob sich, spritzte sich Wasser ins Gesicht, ignorierte die Bartstoppeln, die zu lang geworden waren und seine rauen Fingerkuppen reizten. Ignorierte auch das Ziehen in seiner linken Hüfte, wo die Narbe saß. Schlüpfte in ein abgetragenes blaues Hemd, das die Brüder ihm überlassen hatten, Beinlinge und Stiefel dazu. Eine Mönchskutte trug er nicht, schließlich gehörte er nicht der Ordensgemeinschaft des Klosters an. Er galt als Gast der Priorei. Ein gerngesehener Gast, ein rätselhafter Gast. Ein Gast ohne Namen …

Ich sollte den Brüdern ihre Güte vergelten, indem ich heute am Morgengebet teilnehme. Und ich muss der ›Dame‹ meine Aufwartung machen. In letzter Zeit bin ich dem Gottesdienst zu oft ferngeblieben.

Leise verließ er die kleine Kammer und tauchte ein in den Sommermorgen, der sich mit Macht über dem Kloster entfaltete. Die frische Luft war wie Balsam für sein aufgewühltes Gemüt, ebenso die scharfen Aromen, die von den Beeten des Kräutergartens aufstiegen. Lavendel, Salbei, Eisenkraut. Unzählige Singvögel zwitscherten in den Büschen entlang der gepflegten Fußpfade und wetteiferten mit ihren Artgenossen im nahen Wald, wer das schönere Lied sang. Über den Baumwipfeln kündigte rosiges Schimmern den Sonnenaufgang an. Nach allen Seiten hin breitete der Wald von Brekilien sich aus, so weit das Auge reichte. Ein geheimnisvoller Beschützer, der über das Kloster und den See wachte.

Anstatt auf direktem Weg zur Kirche zu gehen, verließ er den gekiesten Fußpfad und bog in den Obstgarten ab, schritt andächtig durchs taufeuchte Gras, um einen Blick auf den See zu werfen. Das Ufer war ganz nahe, der Garten grenzte unmittelbar ans Wasser, doch letzte Nebelschleier verwehrten ihm die Sicht. Sie waberten zwischen den Apfelbäumen, wirkten wie Feen, die sich wiegten und tanzten, zum Gesang der Vögel und zum Flüstern des Waldes.

Feen … Träume … ein Mann ohne Erinnerung …

Der Zauber des Morgens lullte ihn ein. Zögernd blieb er stehen, die hellen Nebel streiften ihn, lockten ihn mit sich. Anstatt in die Kirche könnte er zum Seeufer hinuntergehen. Zusehen, wie sich die Oberfläche des Sees im Morgenlicht veränderte, es in hundertfache Farbnuancen brach. Sternenspiegel wurde der See genannt, ein Name wie aus einem Märchen. Ein Versprechen von Zuflucht und Frieden.

Wie viele Stunden hatte er bereits dort am Seeufer verbracht? Hatte die Wellen beobachtet und die Reflexionen des Waldes. Hatte sich vom Anblick des Sees besänftigten lassen, wenn er zu sehr ins Grübeln geriet. Wenn er verbissen Antworten suchte auf Fragen, die er nicht verstand. Und ihn die Fetzen seiner Vergangenheit quälten, mit den immer gleichen sinnlosen Bildern.

Aber da erklang noch einmal die Glocke, hell und kraftvoll, und mahnte ihn an sein Vorhaben.

Die Prim. Die ›Dame‹.

Seufzend riss er sich los von den tanzenden Nebelfeen, wandte sich zur Kirche und schob sich durchs Eingangsportal.

So wie der Morgen ihn begrüßt hatte, so tat es nun der alte Kirchenbau mit der ihm eigenen Aura. Es war kühl im Inneren und roch intensiv nach Weihrauch, aber auch nach feuchtem Mauerwerk und dem siedenden Talg zahlloser Lichtlein. Trotz der Talglichter herrschte rätselhafte Düsternis in der Kirche. Schatten waberten über Wände und Nischen, durchtränkt von Gebeten und Gesängen. Hoffnungen. Verlorenen Gedanken. Nur vorn in der Apsis ließen zwei schmale Rundbogenfenster ein wenig Tageslicht ein. Das Mosaik über dem Altar gleißte golden im Morgenschein.

Die frommen Brüder waren bereits versammelt. In ihren schwarzen Kutten wirkten sie selbst wie Schatten. Müde stierten sie vor sich hin, aus zu kurzem Schlaf gerissen, mit der Aussicht auf einen weiteren Tag voller Arbeit und Gebet. Die meisten von ihnen arbeiteten im Skriptorium, wo sie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang Texte kopierten, mit kunstfertigen Illuminationen versahen, in ihren Manuskripten das Gedächtnis der Zeiten bewahrten. Stumm war ihre Welt der Bücher und Schriften, ihr Dasein dem Schweigegelübde unterworfen, das der Heilige Benedikt einst geboten hatte. Allein im Gebet ertönten ihre Stimmen, wann immer die Glocke sie in die Kirche rief, selbst mitten in der Nacht. Dem Herrn und der Jungfrau Maria zum Wohlgefallen.

Jetzt begannen die Mönche zu singen, und es klang ebenso herrlich wie das Lied der Vögel in den Apfelbäumen. Die Stimmen der Brüder vereinten sich zu einer einzigen. Erfüllten die Kirche, ließen das Gemäuer vor Wohlklang vibrieren. Schwangen sich empor zu dem heiligen Wandbild über dem Altar.

Das Mosaik zeigte das Antlitz einer Frau.

Es war alt, dieses Bild. Vielleicht älter als der Kirchenbau selbst. Viele der Steinchen hatten sich im Laufe der Zeit gelöst und Narben in das Gesicht der Frau geschlagen, doch hatte sie dadurch nichts von ihrer Anmut eingebüßt.

Notre Dame nannten die Brüder die Frau auf dem Bild und beteten in ihr die Jungfrau Maria an. Unsere liebe Dame. Manche nannten sie gar Herrin vom See.

Er versank völlig im Anblick der Dame. So wie der Sternenspiegel ihn anzog, ihn beständig lockte, tat es auch das Mosaik. Die Dame trug Sterne in ihrem Haar wie eine Krone. Ihre Augen schimmerten golden und schienen seinen Blick zu erwidern.

Weshalb faszinierte ihn das Bild derart? Erinnerte ihn die Dame an etwas aus seinem früheren Leben? An etwas, das er einmal verehrt hatte? Geliebt hatte? Etwas, dass er vergessen hatte?

So wie er alles vergessen hatte. Alles, was ihn je ausgemacht hatte …

Die Dame lächelte ihm zu, geheimnisvoll, so als ob sie seine Sorgen kennen würde. Die goldenen Mosaiksteine strahlten heller und heller in der aufgehenden Sonne.

Glich sein Gedächtnis nicht auch einem zerbrochenen Mosaik? Einem Bild aus Myriaden winziger Steinchen, in alle Winde zerstreut. Verloren. Unauffindbar. Und die wenigen Steinchen, die an ihrem Platz geblieben waren, waren gerade genug, um ihn am Leben zu erhalten. Um ihn nicht den letzten Rest seines Verstandes verlieren zu lassen.

Erinnere dich, schien die Dame mit ihrem Lächeln zu sagen. Suche die Steinchen und setze das Mosaik deiner Erinnerung wieder zusammen.

Das goldene Gleißen war kaum auszuhalten. Geblendet schloss er die Augen und antwortete ihr stumm: Ich schaffe es nicht. Es ist zu schmerzhaft.

Hab Vertrauen, wisperte sie. Ließ ihre Worte durch den Gesang der Mönche, durch Schatten und flackernde Flämmchen zu ihm wandern. Streichelte ihn mit ihrem Trost.

Aber er schüttelte beschämt den Kopf. Er hatte es versucht, viele vergebliche Male. Bruder Ignaz hatte ihn angeleitet, ihn angespornt, gütig und geduldig. Hatte ihm versichert, dass die Erinnerungen zurückkehren würden, eines Tages. Wenn er sich nur genug anstrengte. Wenn er nur fest genug daran glaubte.

Doch sein Gedächtnis war leer geblieben. Kein Steinchen war zurück an seinen Platz gekehrt.

Bis auf jene einzelne Erinnerung. Eine Erinnerung voller Schmerz … Eine Erinnerung, die ihn mit Angst und Schrecken erfüllte …

Sein Herzschlag beschleunigte sich allein beim Gedanken daran, die Narbe an seiner Hüfte pochte dumpf. Schatten krochen aus den Nischen hervor, die Wände schienen enger zu werden, der Gesang der Mönche dröhnte wie Schlachtenlärm. Er glaubte, es keinen Moment länger auszuhalten, musste hinaus aus der Kirche, aus dieser Enge. Musste zum See hinunter, um die frische Luft des Waldes zu atmen.

Bevor es wieder geschah …

Fürchte dich nicht, flüsterte die Dame da. Ich bin bei dir.

Das unerträglich helle Gleißen ließ nach, dafür schimmerten die Sterne in ihrer Krone unwiderstehlich. Ihr goldenes Lächeln besänftigte ihn in nur einem Wimpernschlag.

Und so hielt er es noch ein wenig länger in der Kirche aus. Lauschte dem letzten Lied der Mönche, das nun wieder so süß klang wie der Gesang der Vögel, das Plätschern der Wellen, das Flüstern der Baumwipfel. Sah der Dame schuldbewusst in die Augen.

Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann es nicht … selbst wenn ich wollte …

Und als der Gesang der Mönche verklang, wandte er sich kopfschüttelnd zum Gehen.

Er war der Mann ohne Erinnerung. Der Mann ohne Namen. Und würde es für immer bleiben.

 

 

Sein Frühstück nahm er nicht mit den Brüdern im Refektorium ein, sondern auf einem Bänkchen im Kräutergarten.

Blaue Schwertlilien hatten ihre Knospen geöffnet und tränkten den Garten mit ihrem Duft. Weiße Schmetterlinge wippten an den Blüten auf und ab, flogen davon, hinauf in den Morgenhimmel. Bedächtig aß er seine Grütze und trank seine Ration Bier. Versuchte, seine Gedanken dahintreiben zu lassen, so friedvoll wie die Federwolken am Himmel.

Doch es gelang ihm nicht. Immer wieder dachte er an seinen nächtlichen Traum zurück. Die Notre Dame und der Gottesdienst hatten ihn für kurze Zeit abgelenkt, aber nun standen ihm die Traumbilder wieder vor Augen. Stark. Lebendig. Unablässig flüsterte es in seinem Inneren: Vergiss mich nicht … Komm zurück zu mir …

Wie süß die Stimme klang. Wie … vertraut.

Ja, alles an diesem Traum kam ihm merkwürdig vertraut vor. Wie der Sand unter seinen bloßen Füßen gekitzelt hatte … der Wind auf seinem Gesicht … der salzige Duft des Meeres …

War er denn je an einem Meer gewesen? Woher wusste er, dass es so etwas wie ein Meer überhaupt gab? Er kannte doch nur den Wald, den See und das Kloster. Alles andere war grauer Nebel. Eine verlorene Welt.

Vergiss mich nicht …

Und die Frau … Die Frau aus seinem Traum, golden und wunderschön. Welches Begehren sie in ihm geweckt hatte, eine tiefe, drängende Sehnsucht. Gefühle, die er nicht benennen konnte, die jedoch stark waren, mitreißend und unwiderstehlich.

Komm zurück zu mir …

Als es an der Zeit war, machte er sich auf zu Bruder Ignaz.

Das Hospital lag abgeschieden vom Rest des Klosters, eingebettet zwischen Obst- und Kräutergarten, dicht am Ufer des Sternenspiegels. Von der Betriebsamkeit der Priorei war hier kaum etwas zu spüren, ein Ort, an dem Kranke und Versehrte in Ruhe genesen konnten. Zu sich selbst finden konnten.

Bruder Ignaz erwartete ihn in seinem sonnendurchfluteten Behandlungszimmer. Der Infirmarius besaß einen rastlosen Geist, beständig war er mit irgendetwas beschäftigt. Versorgte die Kranken, mischte Tinkturen aus den Kräutern vor seiner Tür, vertiefte sich in die Texte antiker Heiler, vermerkte seine eigenen Studien akribisch auf Pergament. Und dennoch, der junge Mönch strahlte nichts als Güte und Bescheidenheit aus.

»Ah, da seid ihr ja!« Ignaz schenkte ihm ein Lächeln und winkte ihn auf einen Schemel.

»So wie jeden Vormittag«, erwiderte er den Gruß und nahm Platz. Der Schemel ächzte unter seiner Körpergröße, und die Narbe an seiner Hüfte protestierte.

»Und? Könnt Ihr mir heute etwas Neues berichten? Ist Euch vielleicht etwas eingefallen? Irgendeine Erinnerung? Oder ist etwas Ungewöhnliches geschehen?«

Es waren dieselben Fragen, die Bruder Ignaz jeden Morgen stellte, und auf die seine Antwort stets lautete: »Nein, Bruder. Nichts.«

Heute jedoch zögerte er. Der Traum … Sollte er dem Infirmarius davon erzählen?

Wieder hörte er die vertraute Stimme. Komm zu mir. Wieder fühlte er Wind und Sand. Spürte, wie die Frau sich an ihn schmiegte, wie ihr Haar sein Gesicht streichelte. Roch ihren zarten Duft nach Honig und Rosen …

Bruder Ignaz bemerkte sein Zögern, und sofort glomm Aufregung in den blauen Augen des Mönchs. Doch da schüttelte er den Kopf und murmelte: »Nein. Nichts.«

Es war nur ein Traum gewesen. Nichts weiter als eine sehnsüchtige Fantasie, wie sie viele Männer von Zeit zu Zeit hatten. Nichts von Bedeutung!

Ignaz seufzte leise, bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Nachdenklich blickte er auf den Flecken Sonnenlicht, der durch die offene Tür fiel. Staubpartikel glänzten darin wie Gold.

»Ich bin Arzt, mein Freund, und vermag so manche Heilung zu vollbringen«, sagte er. »Doch kann ich nicht die ganze Arbeit allein machen. Der Patient muss genauso mitarbeiten, um gesund zu werden. Vor allem in einem Fall wie dem Euren.«