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Ruby Recked

2. Auflage

© 2019 Written Dreams Verlag

Herzogweg 21

31275 Lehrte

kontakt@writtendreams-verlag.de

www.writtendreams-verlag.de

© Covergestaltung: Art for your book by Sabrina Dahlenburg

ISBN ebook: 978-3-96204-496-1

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses Buch darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlags weitergegeben werden.

Widmung

Für alle Mamas

Versucht nicht, perfekt zu sein, denn es wird immer jemanden geben, der euch oder eure Entscheidungen kritisiert. Die einzigen Erwartungen, die ihr erfüllen müsst, sind eure eigenen.

Solange ihr eure Kinder bedingungslos liebt und nur ihr Bestes wollt, macht ihr einen tollen Job.

Kapitel 1

Ben

Langsam bog ich auf den Parkplatz des Wohnheims. Es war seltsam, wieder zurück zu sein, nachdem ich vor etwas mehr als vier Jahren alle Zelte über Nacht abgebrochen hatte. Mir war bewusst, dass ich einigen Leuten damit ganz schön vor den Kopf gestoßen hatte, aber nun war es an der Zeit, Wiedergutmachung zu leisten und diese Menschen um Verzeihung zu bitten.

Als Erstes wollte ich meinen kleinen Bruder Jackson aufsuchen, da ich vermutete, dass ich bei ihm am wenigsten zu Kreuze kriechen musste. Wenn ich es schaffte, dass er mir verzieh, wäre die nächste Station mein Elternhaus und last but not least die Person, die ich im Stich gelassen hatte, als sie mich am meisten gebraucht hat: Sadie, meine Exfreundin.

Vor Kurzem hatte ich Jax unter dem Vorwand, ihm ein Päckchen schicken zu wollen, nach seiner Zimmernummer gefragt. Ich war gespannt, wie er reagierte, wenn er erfuhr, dass ich selbst die Überraschung war.

Nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war, steuerte ich direkt auf Gebäude D zu und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Meine Hände begannen zu schwitzen, während ich mich auf Raum 321 zubewegte. Verdammt, es war nur mein Bruder! Es sollte mich nicht so nervös machen, ihm unter die Augen zu treten.

Frustriert von mir selbst schüttelte ich mit dem Kopf und atmete tief durch, ehe ich kräftig an der Tür klopfte. Da keine Reaktion erfolgte, vermutete ich, Jax sei vielleicht nicht zu Hause, doch plötzlich ertönte seine reichlich genervte Stimme. „Wer stört?“

Anstatt ihm verbal zu antworten, beschloss ich, ihn an einen Insider aus unserer Kindheit zu erinnern, und morste mit den Fingerknöcheln lang kurz kurz kurz – kurz – lang kurz an sein Türblatt.

Wenige Augenblicke später stand ich meinem vier Jahre jüngeren Bruder gegenüber. Sein Oberkörper war nackt, der Gürtel geöffnet und die Augen vor Schreck geweitet, aber ich konnte auch Freude darin erkennen. Ehe er etwas sagte, schloss ich ihn in die Arme. Jackson erwiderte die Geste so fest, dass es mir fast die Luft abschnürte. So wurde man von niemandem umarmt, der sich nicht über deinen Besuch freute.

Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, bevor die Situation jedoch zu sentimental werden konnte, schob ich Jax an den Schultern von mir. „Alter, ich freu mich auch, dich zu sehen, aber doch nicht so!“, neckte ich ihn. Dabei deutete ich auf seine Hose.

Hastig schloss Jackson seinen Gürtel. „Sorry, wir waren gerade … beschäftigt“, murmelte er. „Komm erstmal rein.“

Als ich ihm in sein Zimmer folgte, entdeckte ich ein Mädchen vor seinem Bett stehend, das mich schüchtern anlächelte. Wow, mein Bruder ließ offenbar nichts anbrennen, denn die Kleine war verdammt hübsch. Für meinen Geschmack hätten ihre Kurven etwas ausgeprägter sein können, aber nach meinen Vorlieben ging es hier nicht, schließlich wollte ich Jax auf keinen Fall in die Quere kommen. Wenn er bis zu meinem Auftauchen mit ihr beschäftigt gewesen war, konnte ich seine brummige Reaktion bestens verstehen.

Jax schlenderte zu ihr herüber und legte einen Arm um ihre Schultern. „Honey, das ist …“

„Ben“, fiel sie ihm ins Wort. „Dein Bruder.“

„Ähm … ja, genau“, bestätigte er. „Ben, darf ich dir meine Freundin Collins vorstellen?“

Skeptisch zog ich eine Augenbraue nach oben. Warum sprach er seine Freundin mit unserem Nachnamen an? Hieß sie tatsächlich so? Oder machte Jackson einen lahmen Witz, den ich nicht verstand?

Ich reichte ihr die Hand. „Schön, dich kennenzulernen. Cooler Name übrigens, den kann ich mir wenigstens merken“, scherzte ich.

„Mich freut es auch.“ Scheinbar hieß sie wirklich Collins.

„Was machst du hier?“, erkundigte sich Jackson. „Bist du auf Heimaturlaub?“

Reflexartig schüttelte ich mit dem Kopf. Damit wir nicht weiterhin wie angewurzelt im Raum herumstanden, sah ich mich nach einer Sitzgelegenheit um und deutete schließlich auf das zweite Bett. „Darf ich?“

Nachdem beide zugestimmt hatten, setzte ich mich und stützte meine Ellenbogen auf den Knien ab. „Ich bin raus aus der Army“, berichtete ich. „Es wird Zeit für mich, wieder am normalen Leben teilzunehmen und einige Dinge ins Reine zu bringen. Das fängt damit an, dass ich mein Studium hier erneut aufnehmen und mich dann auf die Suche nach Sadie begeben werde.“

Jackson schloss Collins in seine Arme und flüsterte ihr etwas ins Ohr, ehe er sich an mich wandte. „Da hast du dir aber eine ganze Menge vorgenommen.“

„Das weiß ich“, erwiderte ich. „Schließlich habe ich auch Einiges verbockt.“

„Kannst du denn jetzt normal weiter studieren?“, erkundigte sich mein kleiner Bruder, nachdem er sich ein Shirt übergezogen und sich mit Collins auf das andere Bett gesetzt hatte. „Deine Dienstzeit ist doch noch lange nicht vorbei. Wie stellst du dir das vor?“

„Den aktiven Dienst habe ich quittiert. Ich werde weiterhin in der Army Reserve tätig sein, aber das sind nur neununddreißig Tage im Jahr“, erklärte ich. „Ein Wochenende pro Monat und einmal zwei Wochen am Stück, das kann ich jedoch in den Semesterferien übernehmen. Somit steht einem normalen Studium nichts im Wege. Im August starte ich in mein Senior Year.“

Jackson starrte mich ungläubig an. „Dann sind wir im gleichen Jahrgang und werden gemeinsam den Abschluss machen?!“

„Exakt. Das wird richtig gut oder meinst du nicht?“ Ich freute mich wahnsinnig darauf, wieder mehr Zeit mit Jackson zu verbringen, doch er sah nicht begeistert aus.

„Ähm … ja, sicher. Aber …“, druckste er herum und warf Collins einen vielsagenden Blick zu, bevor er mich fixierte. „Aber wohnen kannst du hier nicht!“

Abwehrend hob ich die Hände. „Schon okay! Ich habe ohnehin die Schnauze voll von Gemeinschaftsunterkünften und hatte nicht vor, bei dir unterzuschlüpfen.“ Zwar verstand ich nicht, warum Jax mir eine so strikte Absage erteilte, da das, was ich gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, machte es mir allerdings nichts aus. In zwei Monaten wurde ich fünfundzwanzig. Nach fast drei Jahren am College und vier weiteren in der Army wollte ich wirklich nicht mehr mit anderen auf kleinstem Raum leben, Gemeinschaftsduschen nutzen oder in einem Speisesaal essen.

„Aktuell wohne ich in einem Motel, aber übermorgen Nachmittag habe ich einen Termin, um ein Haus in Crestview zu besichtigen. Wenn du willst, kannst du mitkommen.“ Falls die Immobilie nur halb so gut aussah, wie auf den Bildern des Inserats, würde ich Jackson anbieten, bei mir unterzukommen. Für mich allein war sie zu groß und auf diesem Weg könnten wir uns die Miete teilen.

Seine Augen leuchteten auf. „Klar, da komme ich gerne mit, zu zweit sehen wir vermutlich mehr“, stimmte er begeistert zu. „Wissen Mom und Dad, dass du zurück bist?“

„Noch nicht“, gab ich kleinlaut zu. „Ich wollte zu ihnen fliegen, sobald ich einen festen Wohnsitz habe. Hoffentlich reagieren sie ähnlich positiv wie du.“

„Mom wird auf jeden Fall überglücklich sein, dass du dich nicht weiterhin in Lebensgefahr begibst“, versicherte mir mein Bruder. „Und Dad … hmmm … der kriegt sich bestimmt wieder ein, wenn er merkt, dass es dir ernst ist.“

So optimistisch wie Jax war ich leider nicht. Mein Vater machte keinen Hehl daraus, wie enttäuscht er von mir war. Seit frühester Kindheit hatte er fest damit gerechnet, dass ich in seine Fußstapfen als Anwalt treten würde. Durch meinen Studienabbruch hatte ich all unsere Pläne zunichte gemacht. Das schäbige Verhalten meiner Exfreundin gegenüber hatte Dads Vertrauen in mich und meine Entscheidungen dann vollkommen zerstört.

„So einfach, wie du es dir vorstellst, wird es nicht“, mutmaßte ich. „Dad wird sich mit der Wiederaufnahme des Studiums kaum zufriedengeben. Ich muss auch endlich Sadie finden und Verantwortung übernehmen. Nicht nur wegen Dad, sondern vor allem, damit ich mich selbst wieder im Spiegel ansehen kann.“ Ich hasste mich für das, was ich Sadie angetan hatte, und es verging kein Tag, an dem ich mir nicht wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können.

„Und wie willst du das anstellen?“, erkundigte sich Jax. „Laut Mom ist sie weiterhin spurlos verschwunden.“

„Das stimmt. Es ist, als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden. Google, Facebook, Insta, Snapchat, nirgendwo findet man ein Lebenszeichen von ihr. Ihre ganzen alten Accounts wurden gelöscht. Wenn ich nicht bald eine heiße Spur finde, werde ich wohl einen Privatdetektiv engagieren müssen.“

Hoffentlich gelang es einem Profi, Sadie aufzuspüren, wenn ich ihm ihre zuletzt bekannte Adresse gab. Sonst würde mich mein schlechtes Gewissen irgendwann umbringen. Schließlich ging es nicht nur um sie, sondern auch um unsere gemeinsame Tochter Faith, die ich noch nie gesehen hatte.

Kapitel 2

Sadie

Wie jeden Tag der letzten drei Wochen lag ich auch heute in meinem Zimmer auf der Lauer und wartete auf den Postboten. Eigentlich hätte der Brief, der über meine weitere Zukunft entscheiden sollte, schon längst bei mir sein müssen. Seit wann spannte die University of Texas ihre künftigen Studenten so auf die Folter?

Vor fünf Jahren, als ich noch die Highschool besucht hatte, war die heiß ersehnte Zusage zu einem früheren Zeitpunkt im Jahr gekommen. Vielleicht kümmerte man sich erst um die Freshmen und dann um die Sophomores, die im dritten Semester wieder einsteigen wollten, anders konnte ich mir diese lange Wartezeit nicht erklären. Ich hoffte so sehr, dass mein Vorhaben klappte und ich mich nicht umsonst in die unerträgliche Situation begeben hatte, in der ich mich aktuell befand.

Endlich bog das Postauto um die Ecke. Gebannt beobachtete ich, wie es die Straße entlang kam und bei fast jedem Nachbarn anhielt. Als wäre das nicht schon Folter genug, verwickelte Mrs. Shuster den Boten auch noch in ein Gespräch. Nach nicht enden wollenden Minuten setzte sich der Zusteller wieder in Bewegung. Am Grundstück der Myers fuhr er vorbei. Dafür hielt er im nächsten Moment direkt vor unserem Haus und stieg aus.

Wie von der Tarantel gestochen rannte ich zur Haustür, die ich sogleich aufriss. Der Briefträger lächelte mich an. „Ein Einschreiben für Ms. Matthews“, begrüßte er mich.

„Das bin ich“, bestätigte ich, da ich ihm sonst nie öffnete, und nahm den Briefumschlag entgegen, auf dem in der oberen Ecke das Logo meiner ehemaligen und hoffentlich zukünftigen Uni prangte. Nachdem ich den Empfang quittiert hatte, bedankte ich mich und schloss die Tür. Das breite Lächeln auf meinem Gesicht erstarb, als ich mich umdrehte und geradewegs in die grimmige Grimasse meiner Grandma starrte.

„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht mit fremden Männern reden sollst?“, blaffte sie mich an.

„Nana, das war nur der Postbote“, verteidigte ich mich. „Er hat mir endlich eine Antwort von der Uni gebracht.“ Zum Beweis hielt ich ihr den kleinen Umschlag unter die Nase.

Argwöhnisch betrachtete sie das Dokument. „Jetzt bin ich aber gespannt.“ Der Sarkasmus in ihrer Stimme war unüberhörbar, doch das war mir egal, solang es sich um eine Zusage handelte.

Mit leicht zitternden Fingern öffnete ich das Kuvert und zog das Schreiben hervor. Der Stein, der mir vom Herzen fiel, glich eher einem Felsbrocken, als ich die erlösenden Worte las. Ab August wäre ich wieder eine Studentin der UT. Das hieß, dass es endlich ein Licht am Ende des Tunnels gab und ich nur noch drei Jahre unter Grandmas strengem Regiment durchhalten musste.

Drei Jahre, in denen ich nichts tun durfte, was für andere Frauen mit dreiundzwanzig normal war. Aber das war es mir wert, denn im Anschluss wartete ein besseres Leben auf mich und meine Tochter Faith. Pünktlich zu ihrer Einschulung würden wir dieses Haus verlassen und uns nicht mehr umdrehen. Alles, was ich nun tun musste, war, meine ganze Energie in das Studium zu stecken und den besten Abschluss zu machen, den ich erreichen konnte, damit ich hinterher einen guten Job bekam.

„Jetzt sag nicht, dass sie dich tatsächlich angenommen haben.“ Grandma verzog den Mund zu einer abfälligen Fratze, wie jedes Mal, wenn sie irgendetwas kommentierte, das mit mir zu tun hatte.

„Genau das haben sie getan“, bestätigte ich fröhlich, da ich mein Glück immer noch nicht fassen konnte.

„Dann sind die Ansprüche dieser Universität in der letzten Zeit offenbar drastisch gesunken“, vermutete sie. „Ich bin gespannt, ob du es diesmal länger aushältst.“

„Lass dich überraschen“, erwiderte ich zuckersüß und verzog mich in mein Zimmer. Natürlich hätte ich kontern können, dass sie genau wusste, warum ich vor vier Jahren gezwungen war, mein Studium abzubrechen. Genauso gut hätte ich ihr aufs Brot schmieren können, dass sie sich ihre Gemeinheiten in den Hintern stecken sollte, da sie es selbst nie zu einem Collegeabschluss gebracht hatte. Aber heute wollte ich mich nicht von ihren blöden Bemerkungen runterziehen lassen oder mit ihr streiten.

Ich wollte einfach nur genießen, dass ich endlich wieder eine Perspektive für die Zukunft hatte und dieses Mal würde ich es nicht zulassen, dass ein Typ wie Ben Collins meine Pläne durchkreuzte.

Kapitel 3

Ben

„Meinst du nicht, dass das Haus ein bisschen zu groß für dich ist?“, fragte mich mein kleiner Bruder. Wir hatten gerade meine potentielle neue Unterkunft besichtigt. „Du hast mindesten zwei, wenn nicht sogar drei Räume frei, die du nicht nutzen wirst.“

Nachdem die Maklerin gegangen war, hielten wir uns noch einen Moment im Vorgarten auf.

„Aber dafür ist das Preis-Leistungs-Verhältnis top“, erwiderte ich. „Wenn ich die Zimmer untervermiete, zahlt jeder Einzelne weniger als im Wohnheim. Zumindest wäre das ab drei Personen der Fall. Außerdem hat es einen Pool.“

Argwöhnisch betrachtete er mich. „Ich dachte, du lehnst Gemeinschaftsunterkünfte ab und nun willst du dir fremde Menschen ins Haus holen?“

Sein Argument war gut, das musste ich ihm lassen. Vor allem aber stellte es eine Steilvorlage für meinen Plan dar. „Du könntest hier mit einziehen“, schlug ich also vor. „Wir beide haben ohnehin den Großteil unseres Lebens unter einem Dach gelebt. Falls du noch einen oder zwei unkomplizierte Kumpel hast, wäre die WG schon perfekt. Hier zu dritt oder viert zusammenzuleben, ist was anderes, als im Studentenwohnheim. Was sagst du?“

Auf seinem Gesicht breitete sich ein fettes Grinsen aus. „Coole Idee, dann frage ich Collins nachher, was sie davon hält.“

Nur mit Mühe konnte ich verhindern, dass mir die Kinnlade herunterklappte. Einen weiblichen Mitbewohner hatte ich nicht im Sinn gehabt. Wie sollte ich Jax verklickern, dass ich das für eine ganze schlechte Option hielt, während er so begeistert aussah? „Ähm … wie lange seid ihr jetzt zusammen?“, tastete ich mich vorsichtig heran.

„Ein paar Monate, warum?“ Als wüsste er, dass ich nun etwas sagte, dass ihm nicht gefiel, verschränkte er die Arme.

„Zusammen zu ziehen, auch in eine WG, ist ein großer Schritt. Das sollte man nicht überstürzen. Sie kann dich gerne besuchen kommen und ab und zu hier übernachten. Ich weiß noch gut, wie ätzend es im Wohnheim ist, wenn man immer den Mitbewohner rausschmeißen muss, sobald man mit seinem Mädchen allein sein will. Das Problem hättest du hier nicht. Dafür muss sie nicht mit einziehen.“

Nicht auszudenken, was passierte, falls die beiden sich trennten und hier ein Zickenkrieg sondergleichen über das Haus hereinbrechen würde. Auf so ein Drama konnte ich gut und gerne verzichten. Sie wirkte auf den ersten Blick zwar süß und sympathisch, aber wer wusste schon, ob das auf Dauer so blieb.

„Das Problem mit dem störenden Mitbewohner habe ich so oder so nicht“, stellte mein Bruder klar. „Collins und ich wohnen bereits zusammen. Also wäre es für mich ein größerer Schritt, allein auszuziehen, als sie mit hierher zu bringen.“

„Ist es nicht verboten, sich das Zimmer mit einem Mädchen zu teilen?“, hakte ich irritiert nach.

„Mag sein, aber wo kein Kläger, da kein Richter.“ Jackson zuckte beiläufig mit den Schultern. „Uns gibt es jedenfalls nur gemeinsam oder gar nicht. Deine Entscheidung.“

„Hat sie ne magische Pussy oder was?“, murmelte ich mehr zu mir selbst und konnte meine Enttäuschung darüber, dass er sie mir vorzog, kaum verbergen. „Und ich dachte immer, es heißt Bruder vor Luder.“

„Das hat damit nichts zu tun“, wehrte er meinen Vorwurf ab. „Ben, ich liebe sie aufrichtig und möchte nicht auf sie verzichten. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich freue mich wahnsinnig, dass du zurück bist, und kann mir gut vorstellen, mit dir in dieses Haus zu ziehen, aber nicht ohne sie. Das ist mein Standpunkt, von dem ich nicht abweichen werde.“

„Hmmm“, brummte ich, denn es war merkwürdig, ausgerechnet von meinem kleinen Bruder eine solche Ansage zu hören. „Seid ihr nicht zu jung für so große Gefühle?“

Jackson legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte aufmunternd zu. „Komm schon Alter, stell dich nicht so an. Collins ist toll, du wirst sie mögen.“

Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, stimmte ich seinem Vorschlag schließlich zu. „Gut, dann frag sie, ob ihr hier mit einziehen wollt.“ Mir lag viel daran, wieder ein gutes Verhältnis zu Jackson aufbauen. Da offensichtlich kein Weg an diesem Mädchen vorbeiführte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit ihr gut zu stellen. Wahrscheinlich hätte es mich deutlich schlechter treffen können.

„Wenn du dich mal verliebst, wirst du verstehen, warum ich gar nicht anders kann, als sie an erste Stelle zu setzen.“

„Ich war durchaus schon verliebt“, bemerkte ich. „Dennoch wäre mir nie in den Sinn gekommen, nach wenigen Wochen mit Sadie zusammenzuziehen.“

Er schnaubte. „Stimmt, du suchst lieber das Weite, wenn es zu ernst wird. So tief können deine Gefühle nicht gewesen sein.“

„Wir waren noch halbe Kinder“, verteidigte ich mich. „Ich habe sie gemocht, sehr sogar, aber dann habe ich einen riesigen Fehler begangen, den ich inzwischen bereue. Es ist nicht nötig, dass du mich daran erinnerst.“

„Sorry“, ruderte Jax zurück. „Das war unüberlegt. Schließlich bist du jetzt ja wieder hier, um dich deiner Vergangenheit zu stellen.“

„Genau, und ich bin fest entschlossen, meinen Fehler wieder gut zu machen, koste es, was es wolle.“

Kapitel 4

Sadie

Vier Monate später

„Komm schon, Baby-Girl, lass mich dir helfen“, flehte ich meine Tochter förmlich an und hockte mich zu ihr, um ihr die Sandalen anzuziehen, mit denen sie seit fünf Minuten kämpfte. Immer wieder landete der rechte Schuh am linken Fuß.

„Ich kann das alleine!“, wehrte sie meinen Versuch ab, ihr zur Hand zu gehen.

„Das weiß ich, mein Schatz und das machst du auch wirklich toll, aber ich habe heute meinen ersten Tag am College. Deswegen müssen wir uns ein bisschen beeilen, okay?“

Irgendwie tat es mir leid, dass ich sie so hetzen musste. In den letzten Wochen war es egal gewesen, wann genau wir zum Kindergarten aufbrachen. Da war es auf eine Viertelstunde nicht angekommen. Doch ab sofort musste ich einem strengen Zeitplan folgen und Faith leider mitziehen.

„College ist wichtig für Mommy“, resümierte sie, was ich ihr seit Tagen eingebläut hatte, und überließ mir endlich die Schuhe.

Nachdem ich sie fertig angezogen hatte, machten wir uns auf den Weg zur Tür. „Sag bye zu Nana“, forderte ich sie auf.

Faith lief zu meiner Grandma, die noch am Frühstückstisch saß und kletterte auf ihren Schoß. „Bye, Nana!“ Sie drückte ihrer Urgroßmutter einen dicken Kuss auf die Wange und erntete dafür eine feste Umarmung.

„Viel Spaß im Kindergarten, Prinzessin.“

Die beiden waren ein Herz und eine Seele, was ich nicht verstand, denn zu mir war meine Granny ewig nicht mehr nett gewesen. Vielleicht bekam man bei ihr einen Kinderbonus, solang man lieb und süß war.

Faith kam zu mir herüber und wir machten uns auf den Weg zur Kita. Ich liebte es, diesen halben Kilometer zu Fuß mit meiner Tochter zurückzulegen. Meine Grandma hatte mir schon oft angeboten, uns mit dem Auto zu fahren, aber das hatte ich stets abgelehnt. Für mich bedeuteten diese morgendlichen und nachmittäglichen Spaziergänge ein Stück Freiheit, das ich nicht aufzugeben bereit war.

Zum Glück ging Faith inzwischen gerne in den Kindergarten, sodass die Verabschiedung meistens ohne Tränen verlief. Auch heute konnte ich mich nach einer letzten Umarmung rasch auf den Rückweg begeben. Ich musste mich beeilen, um pünktlich zu meiner ersten Vorlesung zu kommen.

Zu Hause huschte ich in mein Zimmer und schnappte mir meinen Rucksack. „Nana, ich bin so weit. Wir können losfahren“, rief ich aufgeregt, während ich den langen Flur entlanglief.

„Was hetzt du denn jetzt so?“, wollte sie wissen. „Es reicht, wenn wir uns in zwanzig Minuten auf den Weg machen.“

Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. Mit dem Auto brauchte man mindestens eine Viertelstunde und das nur, falls die Straßen frei waren. Zur jetzigen Rushhour konnte sich die Dauer schnell verdoppeln. Meine Vorlesung startete in vierzig Minuten. Das durfte doch nicht wahr sein.

„Grandma, bitte“, jammerte ich. „Ich möchte nicht schon am ersten Tag zu spät kommen.“

„So viel früher musst du aber auch nicht vor Ort sein“, bestimmte sie streng. „Du willst die Zeit nur nutzen, um dir einen neuen Kerl anzulachen.“

Innerlich verdrehte ich die Augen und hoffte, dass mein Pokerface hielt. Als wäre ich so unwiderstehlich, dass ich innerhalb von zehn Minuten jemanden auf mich aufmerksam machen könnte.

„Pünktlich zu sein ist das Einzige, was ich möchte“, stellte ich entschlossen klar. „Wir hatten das doch besprochen. Ich halte mich fern von Männern und lasse mich nicht anquatschen. Du musst mir schon ein bisschen vertrauen. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie die Bedingungen für deine Unterstützung lauteten?“

Sie seufzte. „Gut, in zehn Minuten geht es los.“

„Danke, ich warte so lange am Auto.“ Mit diesen Worten verabschiedete ich mich nach draußen, um mich zu unserer Einfahrt zu begeben. Zu gern hätte ich mich in Grandmas uralten, blauen Buick gesetzt, um selbst zur Uni zu fahren, doch das war reines Wunschdenken. Da machte ich mir nichts vor.

Der alte Drache versteckte ja sogar den Schlüssel vor mir, damit ich den Wagen nicht nach Belieben nehmen konnte.

Es war so erniedrigend. Das Autofahren hatte sie mir genauso verboten, wie die Nutzung eines Handys. Wir besaßen zwar einen PC, allerdings war das Internet passwortgeschützt und ich durfte es nur nutzen, wenn sie daneben saß und beobachtete, was ich tat. So konnte ich fürs College lernen und recherchieren, doch ein Sozialleben oder Freunde hatte ich schon lange nicht mehr.

Aber es war sinnlos, mich ewig darüber zu grämen. Schließlich hatte ich mich freiwillig in diese Situation begeben. Das war für mich die vielversprechendste Möglichkeit, mein Studium wieder aufzunehmen. Bei meiner Grandma konnte ich kostenfrei leben und auch um die Verpflegung für Faith und mich kümmerte allein sie sich. Das Einzige, was sie verlangte, war, dass ich mich an ihre dämlichen Regeln hielt: keinen Kontakt zur Außenwelt und vor allem nicht zu Männern. Das war immer noch besser, als die Situation, in der ich die ersten drei Jahre mit meiner Tochter gelebt hatte.

Dass sie einem Studium an meiner alten Uni zugestimmt hatte, grenzte an ein Wunder, schließlich würde ich dort zwangsläufig unter Leute kommen. Vermutlich hatte sie nur in diesen sauren Apfel gebissen, weil sie unbedingt wollte, dass ich nicht so endete wie meine Mom, die mit ständig wechselnden Lebensgefährten und einem ernsten Alkohol- und Drogenproblem in einem Trailerpark hauste.

Genau genommen, verfolgten wir also das gleiche Ziel: einen guten Collegeabschluss für mich, damit ich Faith ein besseres Leben bieten konnte. Vielleicht war es dieses Wissen, das mich ihre Schikanen leichter ertragen ließ.

Zwei Minuten vor Vorlesungsbeginn erreichten wir endlich den Campus. Die ganze Fahrt über hatte ich nervös auf die Uhr geguckt, in ständiger Angst, zu spät zu kommen.

Zum Glück hielt Grandma direkt vor dem richtigen Gebäude, sodass ich nur schnellstmöglich den entsprechenden Hörsaal finden musste. Gerade, als die Tür in mein Blickfeld kam, war Mr. Cartwright dabei, sie zu schließen.

„Moment noch“, rief ich und rannte los. Geduldig wartete er, bis ich in den Raum geschlüpft war. Natürlich hatten sich alle anderen schon hingesetzt, wodurch ich nur einen Platz in der ersten Reihe ergatterte, aber das war okay.

Neben mir saß ein Mädchen, das mich freundlich anlächelte, also erwiderte ich die Geste.

Mr. Cartwright begrüßte uns und hieß uns im dritten Semester willkommen. Ich war glücklich, wieder in einem seiner Kurse gelandet zu sein, denn ich kannte ihn noch von früher und hatte ihn und seinen Unterricht stets sehr gerne gemocht.

„Am Anfang werde ich ihre Anwesenheit einmal anhand der Liste überprüfen“, erklärte Mr. Cartwright. „Doch keine Angst. Das wird nicht immer so sein, schließlich wollen wir unsere Zeit sinnvoll nutzen. Fangen wir also schnell an: Thomas Abernathy.“

Der Angesprochene meldete sich und die Namensliste wurde nach und nach abgearbeitet. Das Mädchen neben mir hörte auf den Namen Collins Jackson. Sofort klingelte es in meinen Ohren, weil sie mit Vornamen so hieß, wie mein Exfreund mit Nachnamen, aber ich beschloss, diesem Umstand keine weitere Beachtung zu schenken. Schließlich konnte sie nichts dafür.

„Deleon Jones.“

„Hier.“

„Jessica King.“

„Anwesend.“

„Patrick Lighthawk.“

„Jap.“

„Sadie Matthews.“

„Ja“, antwortete ich. Als ich Mr. Cartwright meine Anwesenheit bestätigte, ruckte Collins‘ Kopf in meine Richtung. Sie starrte mich an, als hätte sie einen Geist gesehen. Irritiert beobachtete ich sie ebenfalls. Mit weit aufgerissenen Augen checkte sie mich ab, aber ich konnte mir nicht erklären, warum. Ich kannte sie nicht. Was war ihr Problem?

Nachdem Mr. Cartwright fertig war, erklärte er uns die Themen und den Ablauf des kommenden Semesters. Ein nicht unerheblicher Teil der Gesamtnote würde sich aus einer Gruppenarbeit ergeben.

Vor ein paar Jahren hatte ich schmerzlich gelernt, dass auf mein gesamtes Umfeld kein Verlass war. Dass nun mein Abschneiden in diesem Kurs von einer anderen Person beeinflusst werden könnte, passte mir überhaupt nicht in den Kram.

Meine einzige Hoffnung bestand darin, dass man sich seinen Partner selbst aussuchen durfte. Dann müsste ich in den nächsten Wochen nur noch herausfinden, wer etwas auf dem Kasten hatte und motiviert war. Dass aufgrund von Grandmas Regel nur ein Mädchen in Frage kam, schränkte die Auswahl allerdings jetzt schon stark ein.

Die Stunde bei Mr. Cartwright verging erstaunlich schnell. Nachdem alles Organisatorische erledigt worden war, begannen wir sogar noch mit dem Unterrichtsstoff.

Dass diese Collins immer wieder zu mir herübersah, entging mir nicht, obwohl sie stets versuchte, es zu verbergen. Ich verstand ihr Verhalten einfach nicht. So interessant war ich nun wirklich nicht. Vielleicht klebte mir etwas im Gesicht?! Ich beschloss, in der Pause einen Waschraum aufzusuchen, um das im Spiegel zu überprüfen.

Sobald Mr. Cartwright die Vorlesung beendet hatte, packte ich schnellstmöglich meine Sachen zusammen. Auf keinen Fall wollte ich zur nächsten Stunde wieder auf den letzten Drücker auftauchen.

„Sadie?“, sprach meine Sitznachbarin mich an.

Als ich aufsah, stand Collins direkt neben mir. Da ich noch saß, fiel mir auf, wie groß und schlank sie war. Sie hatte die Figur eines Models, ganz im Gegensatz zu mir. Ich besaß eine durchschnittliche Körpergröße und hatte mindestens zehn Kilo zu viel auf den Rippen.

„Hi, ich wollte mich nur kurz vorstellen“, begrüßte sie mich freundlich. „Ich bin Collins.“

„Sadie“, erwiderte ich trocken. „Aber das weißt du ja bereits.“

„Genau.“ Ein verlegenes Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht. „Schön, dich kennenzulernen. Darf ich dich etwas fragen?“

„Kommt darauf an“, hielt ich mich bewusst vage. Wer wusste schon, mit was für einem Thema sie nun um die Ecke kam. Um sie nicht weiter von unten zu betrachten, stand ich ebenfalls auf.

„Sorry, dass ich so aufdringlich bin. Ich wundere mich nur die ganze Zeit, warum ich dich letztes Jahr in keinem einzigen Kurs gesehen habe. Bist du neu in der Stadt?“

Kurz überlegte ich, ob ich sie einfach abwimmeln sollte, aber sie wirkte irgendwie so sympathisch und ehrlich interessiert, dass ich es nicht übers Herz brachte. „Ich habe aus privaten Gründen eine Weile pausiert“, erklärte ich also. „Heute ist mein erster Tag seit über vier Jahren, deshalb kennen wir uns noch nicht.“ Das musste als Info erstmal reichen. Grandma hatte mir eingetrichtert, dass ich mit niemandem reden sollte, wenn es nicht zwingend erforderlich war, doch hier vor mir stand ein junges Mädchen. Dagegen konnte selbst sie nichts einwenden.

„Oh, okay. Ehrlich gesagt hätte ich jetzt tausend Fragen an dich, ich will jedoch nicht mit der Tür ins Haus fallen.“ Collins presste die Lippen aufeinander, als müsse sie überlegen, was sie als Nächstes sagen wollte. „Hast du gleich auch Anorganik bei Professor Sinkowski?“

„Richtig“, bestätigte ich. Mir gefiel es, dass sie nicht weiter nachgehakt hatte. Zwar war Faith mir nicht peinlich, im Gegenteil, aber es musste nicht jeder von ihr erfahren, den ich erst seit fünf Minuten kannte. „Sollen wir zusammen hingehen?“, schlug ich vor.

„Ja, gerne.“

Wie sich herausstellte, hatten Collins und ich die meisten Kurse gemeinsam belegt, deshalb verbrachten wir den Großteil des Tages miteinander. Nur in die Mensa, wo sie mit ihrem Freund zum Mittagessen verabredet war, begleitete ich sie nicht. Zum einen wollte ich nicht das fünfte Rad am Wagen sein, zum anderen musste ich dringend in die Bibliothek, um mir ein paar Bücher zu besorgen.

Grandma hatte gesagt, dass sie mich pünktlich abholen würde, das bedeutete, dass ich nach Vorlesungsschluss keine Zeit mehr dafür haben würde. Auf meinen Einwand hin, dass ich auch irgendwann mal etwas essen müsste, hatte sie entgegnet, ein Apfel würde bei meiner Figur zum Mittag reichen.

Ich war ihre Schikanen so leid, aber die Tatsache, dass ich jetzt wieder studieren konnte und dadurch Kontakt zur Außenwelt hatte, ließen mich großzügig darüber hinwegsehen. Dass ich mit Collins jemanden im gleichen Alter gefunden hatte, mit dem ich mich verstand, war ein zusätzlicher Pluspunkt.

Kapitel 5

Ben

Der erste Tag voller Vorlesungen hatte mich mehr geschafft, als ich im Vorfeld vermutet hatte. Früher war mir das Lernen immer leichtgefallen, aber jetzt musste ich mich erst wieder daran gewöhnen, stillzusitzen und jemandem konzentriert zuzuhören.

Vor ein paar Wochen hatte ich meine Eltern besucht, um mich zurückzumelden. Während meine Mutter mich herzlich willkommen geheißen hatte, war mein Dad auf die großartige Idee gekommen, mir ein Ultimatum zu stellen. Wenn ich weiterhin Interesse daran hatte, in seine Kanzlei einzusteigen und diese einmal zu übernehmen, musste ich einen besseren Abschluss machen als Jackson. Ich war davon ausgegangen, dass es einfach werden würde, weil mein Bruder sich, im Gegensatz zu mir, gar nicht für das Jurastudium interessierte. Doch schon die ersten Vorlesungen hatten bewiesen, dass er durchaus Ahnung von der Materie besaß und den Dozenten schneller folgen konnte als ich.

Natürlich hegte ich ein ureigenes Interesse an einem guten Abschluss, aber Dads Forderung erzeugte zusätzlichen Druck, den ich damals nicht in dem Maß verspürt hatte. Aus diesem Grund musste mir dringend ein guter Start in das neue Semester gelingen.

Als ich mich meinem Auto näherte, stand Collins schon daneben und wartete auf mich. Da Jackson noch eine Schicht im Rock’n’Roast ableisten musste, waren wir heute nur zu zweit. Ihn würde ich später abholen, da das aber nicht die Dauerlösung sein konnte, brauchten wir dringend einen weiteren fahrbaren Untersatz.

Die beiden waren tatsächlich vor Kurzem mit mir in das Haus eingezogen und inzwischen wusste ich gar nicht mehr, weshalb ich mich so gegen Collins gesträubt hatte. Ich konnte gut verstehen, warum mein Bruder so vernarrt in sie war, doch für mich glich sie eher einer kleinen Schwester, was sie gar nicht gerne hörte. Sie hatte schon drei große Brüder, die ihr vollkommen ausreichten. Collins tat immer ein bisschen genervt, aber das Verhältnis zu ihrem ältesten Bruder war außergewöhnlich gut. Zumindest ging ich davon aus, da er ohne Weiteres ihren Teil der Miete zahlte.

Nachdem wir uns begrüßt hatten, entriegelte ich die Türen des Wagens und wir stiegen ein. „Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf gleich explodiert“, erklärte ich. „Wärst du böse, wenn wir einfach nur die Klappe halten und nicht quatschen?“

Zum Glück stimmte Collins zu und verhielt sich ruhig, zumindest verbal. Dafür rutschte sie aufgekratzt auf ihrem Sitz hin und her. Sie knetete ihre Finger und ihre Knie wippten stetig auf und ab.

„Musst du dringend aufs Klo oder so?“, ergriff ich das Wort, als mir ihr Verhalten zu merkwürdig wurde. „Soll ich irgendwo anhalten?“

Als ich ihr einen Blick zuwarf, presste sie die Lippen zusammen und schüttelte energisch mit dem Kopf.

„Collins, du darfst ruhig antworten, wenn ich dich etwas frage. So streng war das Redeverbot nicht gemeint.“

„Ich habe Sadie getroffen“, platzte es aus ihr heraus und ich hatte Mühe, den Wagen in der Spur zu halten.

„Wie bitte?“, stieß ich aus. „Bist du dir sicher?“

„Ja, ich bin mir ganz sicher. Sie heißt doch Sadie Matthews, oder nicht?“

„Ja schon, aber vielleicht ist sie nur eine Namensvetterin? Wie sieht sie denn aus?“ Bevor ich ausflippte, musste ich erstmal abklären, ob es sich überhaupt um die richtige Sadie handelte.

„Sie hat blaue Augen und ihre Haare sind blond und schulterlang. Dazu hat sie diese großen Engelslocken, für die ich Einiges geben würde. Und sie ist einen guten halben Kopf kleiner als ich.“

Die Aufzählung beschrieb exakt das Erscheinungsbild meiner Exfreundin, aber das konnte gar nicht sein, oder? „Wo hast du sie denn getroffen? Und wann?“

„Heute Morgen in meinem Biologie-Kurs. Dort sitzt sie neben mir“, erklärte sie seelenruhig, während mein Puls zu rasen begann. Das Studienfach passte auch zu meiner Sadie. „Du glaubst gar nicht, wie geschockt ich war, als Mr. Cartwright ihren Namen genannt hat. Als sie später erzählt hat, dass sie vier Jahre pausieren musste, war ich überzeugt, dass die Richtige vor mir steht.“

Mir klappte die Kinnlade runter. Seit Wochen versuchte ich vergeblich, sie zu finden, und nun war die Chance zum Greifen nah gewesen, aber ich hatte sie verpasst?! „Verdammt noch mal, Collins!“, rief ich aus und schlug mit der flachen Hand fest aufs Lenkrad. „Du weißt es seit heute Morgen und sagst es mir erst jetzt? Wäre eine Nachricht zu viel verlangt gewesen? Du musst doch wissen, wie wichtig mir das ist!“

Jacksons Freundin zuckte kaum merklich auf dem Beifahrersitz zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, Sir!“, maulte sie trotzig.

Nun tat es mir leid, dass ich sie so angeschrien hatte.

„Sorry, ich wollte dich nicht so blöd anmachen“, gab ich mich betont kleinlaut. „Du hast mich gerade nur extrem schockiert.“

„Schon gut. Mach’s einfach nicht noch einmal.“ Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass sie nicht nachtragend zu sein schien.

„Wo wohnt sie? Auf dem Campus? Kommt sie morgen wieder?“

„Von ihrer Wiederkehr gehe ich aus, wenn sie ihr Studium ernst meint“, erwiderte meine Beifahrerin. „Aber wie soll sie denn mit einem Kleinkind auf dem Universitätsgelände wohnen?“

„Ja, okay, die Frage war dumm“, gab ich zu. „Ich bin nur so aufgeregt.“

„Das kann ich gut verstehen, aber sieh es doch mal so: Deine Suche hat ein Ende. Sie wohnt hier in der Stadt oder zumindest in der Nähe. Vermutlich werde ich sie jeden Tag sehen, also kannst du dir ganz in Ruhe überlegen, was du unternehmen willst.

So wie es aussah, hatte sich Collins bereits einige Gedanken für mich gemacht, was ich irgendwie süß fand. „Könntest du versuchen, ihre Adresse herauszufinden?“, bat ich sie, denn ich wollte das ungern zwischen zwei Vorlesungen klären.

„Ich weiß nicht, Ben. Sie wird sicherlich nicht gut auf dich zu sprechen sein. Vielleicht solltest du es erstmal auf neutralem Boden probieren, anstatt sie zu Hause zu überfallen“, schlug Collins vor. „Außerdem könnte es sein, dass sie mich ohnehin für eine Irre hält, weil ich sie so angestarrt habe. Wenn ich jetzt auch noch nach ihrem Wohnort frage, denkt sie, ich sei eine Stalkerin oder so.“

„Hmmm, damit könntest du Recht haben“, überlegte ich laut. „Kannst du mir dann wenigstens aufschreiben, welche Kurse ihr zusammen habt und wo diese stattfinden?“

„Natürlich, das kann ich tun.“

Am nächsten Morgen wartete ich mit Collins vor der naturwissenschaftlichen Fakultät auf Sadies Ankunft. Dummerweise kam sie nicht und das, obwohl es nur noch fünf Minuten bis zum Vorlesungsbeginn waren.

Wiederholt warf ich einen Blick auf die Uhr meines Smartphones und seufzte frustriert. Bis zu dem Gebäude, in dem meine Vorlesung stattfand, waren es mehrere hundert Meter und wenn ich nicht zu spät kommen wollte, musste ich sofort los.

„Ich habe dir doch gesagt, dass sie gestern auch erst im letzten Moment erschienen ist“, informierte mich Collins. „Jetzt hättet ihr eh keine Zeit zum Quatschen, also hau schon ab. So langsam möchte ich reingehen. Versuch es in der Mittagspause.“ Freundschaftlich klopfte sie mir auf die Schulter, ehe sie im Inneren des Hauses verschwand.

Angefressen schulterte ich meinen Rucksack und machte mich im Laufschritt auf den Weg. Kurz, bevor ich um die Ecke bog, näherte sich ein alter, blauer Buick, der direkt vor dem Gebäude hielt. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen, als ich den blonden Lockenschopf erkannte, der aus dem Wagen stieg.

Schwungvoll schloss sie die Beifahrertür des Autos und begann, die Stufen hinaufzulaufen. Die Haare trug sie noch wie früher und obwohl ich sie nur von hinten sah, konnte ich bereits jetzt sagen, dass sie nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt hatte. Ihr Arsch, der ihre Jeans perfekt ausfüllte, schwang bei jedem Schritt hin und her. Ihre Schultern waren schmal und grazil wie eh und je.

„Sadie!“, rief ich. „Sadie, warte mal!“ So schnell ich konnte, rannte ich in ihre Richtung, doch sie blieb nicht stehen, sondern legte sogar noch einen Zahn zu.

„Fuck!“, fluchte ich, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Entweder hatte sie mich nicht gehört oder sie hatte es bewusst ignoriert.

Ich folgte ihr in das Gebäude, fand aber nur einen leeren Flur vor, als ich ihn betrat. Jetzt war offensichtlich nicht der richtige Zeitpunkt, doch spätestens heute Mittag würde ich die Möglichkeit, mit ihr zu reden, nicht verstreichen lassen.