Ruby Recked

Don’t Wanna Forgive You

© 2017 Written Dreams Verlag

Herzogweg 21

31275 Lehrte

kontakt@writtendreams-verlag.de

www.writtendreams-verlag.de

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg

ISBN ebook: 978-3-96204-468-8

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses Buch darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlags weitergegeben werden.

Kapitel 1

Januar 2016

Melissa

„Melli, es ist eine Katastrophe“, jammerte meine Cousine Alexa und ließ sich auf mein Sofa fallen, nicht ohne frustriert die Luft auszustoßen.

„Also ich finde ja immer noch die Maus am besten“, gab ich ihr zu verstehen.

„Die Maus!“, stöhnte sie frustriert. „Ich bitte dich. Es soll sexy sein, verspielt, und nicht aussehen wie ein grauer Kartoffelsack. Ich hab dir doch schon dreimal gesagt, dass Finn da sein wird. Da muss ich gut aussehen. Was war denn deine beste Verkleidung? Vielleicht kann ich das als Inspiration nutzen.“

„Lass mich kurz überlegen. Mit Karneval hab ich es ja nicht so, aber ich hatte mal etwas Cooles für Halloween. Als ich siebzehn war, bin ich als Tinkerbell gegangen. Das ist bis heute das beste Kostüm gewesen.“ In meinen Gedanken entstanden Bilder, die ich mir augenblicklich verbot.

„Oh cool“, Lexis Augen funkelten. „Das kann ich mir bei dir richtig gut vorstellen. Hast du das noch oder zumindest Fotos davon?“

„Das müsste bei meinen Amerikasachen liegen, ich kann es dir bei Gelegenheit raussuchen.“

Es war mir peinlich, das zuzugeben, aber ich hatte eine Kiste noch nicht geöffnet und das, obwohl ich nun seit viereinhalb Jahren wieder in Deutschland lebte. In diesem Karton waren so viele Andenken, dass ich es nicht über mich brachte, ihn wegzuschmeißen, aber auspacken konnte ich ihn auch nicht. Hoffentlich würde ich mich für Lexi irgendwann überwinden.

„Lass uns doch jetzt gucken“, schlug sie vor.

„Nein!“, sagte ich streng. „Das mache ich allein.“

Darin befanden sich viel zu viele schmerzhafte Erinnerungen, als dass ich jemanden beim Auspacken dabei haben wollte.

„Du bist so ne Spielverderberin“, schmollte mein Cousinchen und betrachtete mich aus ihren großen, grünen Kulleraugen.

Sie würde diesen Finn ganz sicher um den kleinen Finger wickeln. Bei mir schaffte sie es jedenfalls, denn anders war es nicht zu erklären, dass ich mich dazu überreden ließ, ihr ein paar alte Fotos zu zeigen.

Ich fuhr meinen Laptop hoch und wühlte mich durch das Archiv, bis ich den richtigen Ordner gefunden hatte: Halloween 2008. Meine Güte, war das lange her.

Bevor ich das erste Bild öffnete, überließ ich Lexi meinen Platz. „Klick dich einfach durch, ich mache uns mal einen Tee.“

In meiner Küche holte ich tief Luft, um meine Nerven zu beruhigen. Ich wollte diese Fotos nicht sehen. Die Bilder, die sich ungebeten in meinem Kopf breitmachten, waren schlimm genug.

Melli!“, dröhnte es quer durch meine Wohnung, als ich gerade den Wasserkocher angestellt hatte. „Wer ist denn der heiße Rocker hier neben dir?“

Oh nein!

„Deans Bruder!“, rief ich zurück.

Innerlich flehte ich, dass das Thema damit gegessen sein würde, aber natürlich war es das nicht.

Lexi steckte ihren Kopf zur Küchentür herein. „Warum hast du mir nie erzählt, dass du noch so einen heißen Bruder hast? Du redest immer nur von Dean.“

„Er ist nicht mein Bruder und er ist es auch nie gewesen“, antwortete ich angefressen. Herrgott nochmal, würde dieses Bruder-Thema denn nie aufhören?

Beschwichtigend hob sie die Hände. „Okay, ist ja gut. Chill mal ein bisschen!“

„Entschuldige bitte“, entgegnete ich nun versöhnlicher. „Er ist nur Deans Halbbruder und kommt sehr nach seinem Vater, daher gehört er nicht so richtig zu meiner Familie in Amerika dazu.“ Was laberte ich hier eigentlich für eine gequirlte Grütze? „Er hat auch nur in meinem ersten Jahr in Huntersville gelebt, danach ist er nach L.A. gezogen. Seither hatten wir keinen Kontakt.“

„Das ist aber schade“, sagte sie und zog eine Schnute.

„Na ja, wie man es nimmt …“

Lexi verzog angestrengt das Gesicht. „An wen erinnert mich dieser Typ nur?“

„Keine Ahnung“, erwiderte ich genervt. „Kannst du dich bitte auf mein Kleid konzentrieren? Vielleicht ist das ja etwas für dich?“

Mein Ablenkungsmanöver schien zu funktionieren, denn Lexi ging zurück ins Wohnzimmer und ich folgte ihr mit unseren Teetassen. Sie ließ sich vor meinem Laptop nieder und ich wählte den Sessel, da ich von hier aus nicht auf den Bildschirm gucken konnte. Mir war klar, dass diese Taktik sinnlos war, denn ich wusste genau, was die Fotos zeigten. Wie wir an diesem Abend ausgesehen hatten, wie Travis gerochen hatte. Hörte noch, wie er geknurrt hatte, als er in meine Hand kam. Wusste noch, wie es sich angefühlt hatte, als er mich das erste Mal geleckt hatte. Erinnerte mich an seine Warnung, mich von Brian fernzuhalten.

„… jetzt zeigen?“, drang Lexis Stimme durch meine Erinnerungen. Mir war völlig schleierhaft, was sie von mir wollte.

„Ähm, sorry. Was?“

„Mann, wo bist du denn mit deinen Gedanken?“, erkundigte sich Lexi genervt.

„Das willst du gar nicht wissen“, gab ich zerknirscht zu. „Was hast du denn gesagt?“

„Ich sagte, dass ich dein Kleid klasse finde. Kannst du es mir jetzt zeigen? Biiiittteeeeee!“

Hatte ich ihr nicht vorhin klargemacht, dass ich dabei ungestört sein wollte? „Nein, das mache ich lieber allein, Lexi. Ich schaue morgen nach, versprochen. Danach schreibe ich dir direkt, okay?“, schlug ich ihr vor.

„Hmmm, ja gut. Wenn's sein muss“, entgegnete sie patzig und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob ich mit achtzehn auch so zickig gewesen war.

Wir tranken schweigend unseren Tee und Lexi klickte sich wahllos durch meine Fotos. „Du siehst darauf glücklich aus. Warum bist du eigentlich zurückgekommen? Du scheinst ein schönes Leben gehabt zu haben.“

„Es ist nicht immer so, wie es aussieht“, setzte ich zu einer Erklärung an. „Die Andersons sind toll, aber meine Wurzeln, meine Familie mütterlicherseits und meine Freunde sind nun einmal hier in Deutschland.“

Vielleicht würde ich mir diese Begründung irgendwann selbst glauben, wenn ich sie immer wieder erzählte. Die Wahrheit war, dass ich nicht wegen der Leute in Deutschland hierher zurückgekehrt war, sondern wegen der einen Person, die nicht hier lebte.

Ich hatte es geschafft, Travis seit dem Thanksgiving-Desaster vor über sechs Jahren nicht mehr zu sehen. Eine Leistung, auf die ich stolz war, schließlich war es nicht einfach gewesen, ihm so konsequent aus dem Weg zu gehen. In den anderthalb Jahren, die ich danach noch bei den Andersons gelebt hatte, war er zwar nur zweimal für mehrere Tage zu Besuch gewesen, aber für mich hatte das bedeutet, dass ich das Haus komplett verlassen musste, ohne dabei Verdacht zu erregen, um ihm nicht über den Weg zu laufen.

Aber weder die lange Zeit, die seither vergangen war, noch die räumliche Distanz konnten verhindern, dass ich an ihn dachte. Zumindest ab und zu. Er war nicht mehr das allumfassende Thema in meinem Kopf, aber ich konnte ihn nicht vergessen oder aus meinen Gedanken verbannen.

Spätestens an den Wochenenden war es unvermeidlich, dass er in meinem Kopf herumspukte, denn sonntags wurden NFL-Spiele im Free-TV übertragen und ich hatte es geschafft, Linda für den Sport zu begeistern. Vielleicht auch nur für die Spieler, manchmal war ich mir da nicht so sicher. Somit stand unsere sonntägliche WG-Routine fest: NFL und Junkfood.

In diesem Jahr spielten ausgerechnet die Panthers die Saison ihres Lebens. Cam Newton führte sie von einem Sieg zum nächsten und ich war mir sicher, dass sie es in das Spiel um den Superbowl schaffen würden. Und wo sollte der Superbowl 50 stattfinden? In L.A.! Was versuchte das Schicksal, mir eigentlich zu sagen?

„Du siehst auf den Fotos aber nicht aus, als würde dir Deutschland fehlen“, warf Lexi ein und riss mich damit aus meiner Grübelei.

„Natürlich nicht. Wem sieht man das denn an? Als ich dort war, habe ich euch vermisst und jetzt vermisse ich sie. Ich schätze, dass das auf ewig mein Los sein wird“, gab ich geknickt zu. So langsam wurde ich richtig wehmütig.

„Flieg doch mal rüber“, schlug Lexi voller Begeisterung vor. „Am besten im Sommer, wenn ich Ferien habe, dann könnte ich dich begleiten.“ Sie klimperte mit den Wimpern.

„Ich denk mal drüber nach, okay?“

„Danke Melli, du bist die Beste.“ Mit diesen Worten sprang sie mir an den Hals und umarmte mich fest. Dass ich noch nicht Ja gesagt hatte, schien sie nicht zu interessieren.

Am Abend saß ich mit Linda beim Essen. Sie erzählte ausführlich von ihrem stressigen Alltag als Arzthelferin in einer Psychologenpraxis, als mein Handy piepste. Es war eine Nachricht von Lexi.

Alexa: Jetzt weiß ich, an wen der heiße Typ mich erinnert: An Trav McE!

Melissa: An wen? Ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst.

„Melli, leg das Handy weg! Du bist unhöflich“, brummte Linda mit vollem Mund.

„Ach, halt die Klappe“, wies ich sie im Spaß zurecht. „Wie lange wartest du schon darauf, mir das zu sagen? Wochen? Oder sind es Monate?“

Normalerweise war es Linda, die ihr Handy nicht aus der Hand legte und ich diejenige, die sie darauf aufmerksam machte.

Bevor sie antworten konnte, meldete mein Handy die nächste Nachricht. Es handelte sich um ein Bild, nicht um einen Text. Als ich es öffnete, blieb mir das Herz stehen, und ich verschluckte mich an meinem Brokkoli, weil ich geschockt nach Luft schnappte.

Da war er: Travis. Ganz so, wie ich mich an ihn erinnerte und doch anders. Die Haare trug er oben nun deutlich länger als früher, dafür waren sie an den Seiten kurz geschoren. Durch seine kantigen Gesichtszüge wirkte er noch männlicher und seine graublauen Augen fesselten mich genau wie damals, denn sein Blick wirkte verdammt verrucht und sexy.

Sein Oberkörper war nackt und mir fiel sofort auf, dass seine Brust noch breiter geworden war, dafür aber die Hüfte schmaler. Außerdem präsentierte er ein ausgeprägtes Sixpack. Durch meinen Job als Fitnesstrainerin wusste ich, wie viel Training und Disziplin hinter so einem Körper steckten. Viele Männer versuchten so auszusehen, aber nur die wenigsten schafften es.

Um die Hüften hatte er sich ein Handtuch gebunden, und zwar so verdammt tief, dass der Knoten, der es zusammenhielt, auf seinem Schaft sitzen musste. Heilige Scheiße! Travis war als Teenager umwerfend gewesen, aber dieser Körper grenzte an Perfektion. Seine Arme und sein Brustkorb waren bedeckt von Tattoos, der Bauch war, ebenso wie seine Hände und der Hals, frei.

Plötzlich wedelte eine Hand vor meinem Gesicht herum. „Erde an Melli! Du wirkst, als hättest du einen Geist gesehen.“

Ich fühlte mich auch genauso.

Wortlos hielt ich Linda mein Handy hin.

„Oh“, lautete die erste Reaktion. „Wer hat dir das geschickt? Lexi?“

Ich nickte. „Mist!“, grummelte Linda.

„Warum Mist?“, wollte ich wissen. „Und warum wirkst du nicht im Geringsten überrascht? Wusstest du, dass es solche Bilder von ihm gibt?“

Linda senkte den Blick und presste die Lippen aufeinander. Eine ausführlichere Antwort brauchte ich nicht.

„Warum hast du mir nichts gesagt?“, fragte ich und meine Stimme überschlug sich beinahe.

„Du wolltest doch nie mehr über ihn reden oder dir Fotos ansehen, auf denen er abgebildet ist“, erklärte sie mir. „Du vernachlässigst deine Familie, weil du immer Angst hast, ihm zu begegnen, oder davor, dass sie dir etwas von ihm erzählen könnten. Ich wollte deine Wünsche respektieren. Deshalb hab ich nichts gesagt.“ Entschuldigend zuckte Linda mit den Schultern.

Sie hatte ja recht, dennoch war ich fassungslos und verwirrt.

„Aber, ich versteh nicht … Woher wusstest du das? Und woher kennt Lexi ihn?“

„Die Frage ist wohl eher, warum du ihn nicht kennst, und die Antwort kann ich dir auch gleich geben“, setzte sie zu einer Erklärung an. „Weil du die sozialen Medien meidest. Hättest du Facebook oder Instagram, wäre er dir sicher mal aufgefallen. Bei Snapchat macht er auch viel.“

„Was? Woher weißt du das alles?“ Ich hatte das Gefühl, im falschen Film zu sein.

„Weil ich seine Seiten abonniert habe, ganz einfach“, erwiderte sie, als sei nichts dabei.

„Du hast was?“, fauchte ich. „Willst du mich verarschen? Seit wann?“

„Keine Ahnung. Zwei Jahre, vielleicht auch drei. Ist ganz nett, mal ein bisschen Eye Candy zwischendurch.“

Linda!“, schnauzte ich sie an. „Ich fasse es nicht! Du kannst doch nicht einfach den Kerl anschmachten, der mir das Herz gebrochen hat.“

„Ich gucke nur und ganz ehrlich, wer solche Bilder veröffentlicht, will angehimmelt werden. Er weiß ganz genau, wie er auf Frauen wirkt.“

Sie verstand offensichtlich nicht, worauf ich hinauswollte. „Mag sein, dass er das will. Aber bist du mal auf die Idee gekommen, wie es mir dabei geht? Ich fühle mich hintergangen. Als meine beste Freundin solltest du ihn gemeinsam mit mir hassen und zum Teufel wünschen. Stattdessen bist du jetzt sein Fangirl. Prima!“

Heftiger als nötig donnerte ich mein Besteck auf den Teller und stand auf, um mein Geschirr in die Küche zu bringen. Der Appetit war mir gründlich vergangen.

„Melli, komm schon. Hab dich nicht so“, versuchte Linda, mich zu beruhigen. „Schließlich will ich ihn ja nicht heiraten. Ich gucke mir nur gerne seine Fotos an. Da kann man doch gar nicht widerstehen.“

„Blödsinn! Ich bin so verdammt sauer, dass du seit drei Jahren meinen … ähm … Travis stalkst und es mir noch nicht einmal erzählst!“ Ich war drauf und dran, in mein Zimmer zu gehen. Heute Abend wollte ich Linda nicht mehr sehen.

Stalken ist wohl kaum der richtige Begriff“, versuchte sie klarzustellen, traf bei mir aber auf taube Ohren.

„Das ist mir scheißegal! Hör mit der Klugscheißerei auf“, spie ich ihr entgegen. „Ich gehe schlafen. Gute Nacht!“

„Genau, geh ins Bett!“, rief sie mir hinterher. „Das ist das Beste, was bockige Kinder machen können. Es ist schließlich fast halb acht.“

Ich ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, atmete tief durch und überlegte, wann ich mich das letzte Mal mit Linda gestritten hatte. Mir fiel nichts Vergleichbares ein. Schließlich wurde ich erneut sauer, und zwar auf Travis. Es konnte doch nicht sein, dass dieses blöde Arschloch schuld an einem Streit mit meiner besten Freundin war. Auf keinen Fall wollte ich ihm die Macht geben, auch noch Jahre später mein Leben auf den Kopf zu stellen.

Also ging ich zurück ins Wohnzimmer und stürzte mich auf Linda, die auf dem Sofa saß. „Es tut mir leid, ich habe überreagiert. Das macht dieser Kerl mit mir. Immer noch. Wahrscheinlich ist es tatsächlich besser, dass du mir nichts gesagt hast.“

„Mir tut es auch leid. Wenn du willst, entlike ich seine Seiten, kein Problem“, bot sie mir an. „Du gehst natürlich vor.“

Sie war die Beste. Ich schüttelte den Kopf, weil es kindisch von mir wäre, wenn ich das verlangte. „Schon gut. Es geht mich schließlich nichts an, wen du dir als deine geistige Vorlage nimmst, wenn du es dir selbst machst.“

„Na, na, na, na“, fiel sie mir ins Wort. „Schließ bloß nicht von dir auf andere!“

„Touché!“

Wir lachten, bis uns die Bäuche weh taten, wobei in unserem Scherz auch ein Funke Wahrheit steckte, was mich betraf.

Kapitel 2

Melissa

An diesem Abend fiel es mir schwer, einzuschlafen. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu Travis. Was machte er jetzt? Warum kannten ihn meine Freundinnen? War er inzwischen berühmt?

Das alles sollte mich nicht interessieren, aber ich konnte mich nicht gegen meine eigene Neugier wehren. Ich erwischte mich, wie ich mein Handy zur Hand nahm und mir wieder und wieder das Bild ansah, das Lexi mir geschickt hatte.

Es war unglaublich, wie perfekt er aussah. Er war ganz eindeutig eine Zehn auf meiner Skala. Die anderen Männer, mit denen ich zusammen gewesen war, hatten auch gut ausgesehen, keine Frage, aber optisch konnte keiner mit Travis mithalten.

Der Erste war Brian gewesen. Nachdem Travis mich so hintergangen hatte, war ich wie von allen guten Geistern verlassen gewesen und hatte mich Hals über Kopf in eine Beziehung mit ihm gestürzt.

Ich erinnerte mich an Deans Standpauke, als er bemerkt hatte, wie ich mich schamlos an Brian rangeschmissen hatte. Er war der Meinung gewesen, dass sein Freund zu gut war, um als Trostpflaster für mich herhalten zu müssen. Im Brustton der Überzeugung hatte ich ihm jedoch versichert, dass ich in ihn verliebt war und nicht vorhatte, ihm das Herz zu brechen.

Zwei Tage nachdem ich mit Brian zusammengekommen war, bereute ich meinen Entschluss zutiefst, denn meine Gedanken, mein Herz und meine Seele hatten nach wie vor Travis gehört, obwohl er das nicht verdient hatte. Aber ich musste Dean und mir selbst beweisen, dass ich das durchziehen konnte. Wenn Travis mich nicht wollte, dann wollte ich ihn auch nicht. Ganz einfach in der trotzköpfigen Theorie eines Teenagers, aber leider nicht in der Praxis. Dennoch war ich bis zu unserem Highschool-Abschluss mit Brian zusammen geblieben.

Mit der Zeit hatte ich sogar gelernt, ihn zu lieben. Nicht auf diese alles beherrschende Art wie Travis, eher auf die brüderliche Weise, wie es auch bei Dean der Fall war.

Nachdem Travis nach L.A. gezogen war, hatte Dean den Platz meines besten Freundes und Bruders eingenommen und Brian die Rolle des Lovers. Mit all meiner Willenskraft hatte ich versucht, die Lücke, die Travis bei mir hinterlassen hatte, mit den Beiden zu füllen. Nur hatte es leider nie funktioniert.

Mit Brian zusammen zu sein, war nett gewesen. Nicht nett wie der kleine Bruder von Scheiße, sondern einfach nur angenehm. Rückblickend war die Beziehung mit Brian, die über anderthalb Jahre angedauert hatte, meine beste und ernsthafteste gewesen. Irgendwie erbärmlich in Anbetracht der Tatsache, dass sie auf Lügen aufgebaut war. Angefangen damit, dass ich nicht in ihn verliebt gewesen war, bis dahin, dass ich ihm erzählt hatte, ich sei noch Jungfrau. Warum hatte ich das getan? Weil ich ihn mir körperlich länger vom Hals halten wollte. Ich hatte mich dazu durchringen müssen, mit ihm zu schlafen, denn es hatte sich falsch angefühlt.

Als wir es nach einem halben Jahr unserer Beziehung taten, war es für mich furchtbar gewesen. Bis dahin hatte ich gedacht, dass mein erstes Mal scheiße gewesen war. Ich hatte unterschätzt, wie überfordert männliche Jungfrauen sein konnten. Im Nachhinein sollte ich vermutlich froh sein, dass es schnell vorbei gewesen war. Zum Glück hatte Brian das mit der Ausdauer nach einer Weile in den Griff bekommen.

Trotzdem hatte er es nie geschafft, mich zum Orgasmus zu bringen, obwohl er sich wahnsinnig bemüht hatte. Er küsste, leckte, fingerte, streichelte und liebkoste mich, wo er nur konnte. Teilweise wurde er sogar richtig kreativ und ich vermutete, dass er seine Tricks aus dem Playboy oder einem Porno hatte. Zur Belohnung täuschte ich ihm den ein oder anderen Höhepunkt vor. Mir war bewusst, dass das nicht fair war, aber ich wusste nicht, wie ich ihm sonst für seine Mühen Anerkennung zeigen sollte. Es lag schließlich nicht an ihm, sondern an mir … vielleicht auch an Travis. Der schien nämlich meine Fähigkeit, zum Orgasmus kommen zu können, mit sich genommen zu haben, genauso wie den Großteil meines Herzens.

Sogar der Versuch, mich selbst zu befriedigen, hatte keinen Erfolg bringen können. Immer wenn ich kurz vor der Erlösung stand, war es, als würde ich falsch abbiegen. Ich schaffte es einfach nicht, die Ziellinie zu überqueren, selbst dann nicht, wenn ich mir vorstellte, es wäre Travis, der mich berührte.

Nach Brian ging es weiter bergab mit den Männern. Seitdem ich in Deutschland war, hatte ich wenige Affären und kurze Beziehungen gehabt, aber nichts, was der Rede wert gewesen wäre. Der Sex war mittelprächtig bis schlecht und die meisten Kerle langweilten mich nach kurzer Zeit. Da meine Gefühle für sie ohnehin nicht besonders tief gingen, fiel es mir nie schwer, die Typen abzuschießen.

Vielleicht war die Liebe nichts für mich, denn ich schien gar nicht mehr in der Lage zu sein, tiefe Gefühle zuzulassen. All das hatte er mir genommen: Die körperliche Befriedigung und die Fähigkeit, zu lieben. Damals stand für mich außer Frage, dass ich ihn aufrichtig, aus tiefstem Herzen und aus tiefster Seele liebte. Jedoch fragte ich mich heute gelegentlich, ob die damaligen Emotionen nur eine außer Rand und Band geratene Teenagerschwärmerei gewesen waren.

Nach dem Tod meiner Eltern war Travis mein Rettungsanker gewesen, meine Bezugsperson und Droge. Ab und zu glaubte ich sogar, dass es sich bei meinen Gefühlen eher um eine Sucht als um Liebe gehandelt hatte.

Auch jetzt fühlte ich mich wie ein Junkie, denn immer, wenn ich das Handy auf den Nachttisch legte, um zu schlafen, kam mir ein Gedanke in den Kopf: „Komm schon, nur noch einmal.“ Oder noch schlimmer: „Schau, ob du noch mehr Fotos findest.“

Zweimal gab ich diesem Bedürfnis nach und betrachtete das Bild erneut. Doch dann siegte meine Disziplin und ich löschte die Aufnahme, schließlich hatte ich keine Lust, wieder angefixt zu werden.

***

Am Freitagabend hatten Linda und ich uns verabredet. Wir wollten etwas trinken gehen und Spaß haben. Eine anstrengende Woche lag hinter uns und wir hatten es verdient, mal abzuschalten.

Weit nach Mitternacht versuchten zwei Typen namens Florian und Martin ihr Glück bei uns. Martin hatte es auf mich abgesehen. Dummerweise war er nicht mein Typ. Aber Linda schien Gefallen an Florian gefunden zu haben und so machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Was tat man nicht alles für die beste Freundin?

Mein Handy vibrierte in meiner knallengen Jeans und ließ mich in Panik geraten. Anrufe um zwei Uhr morgens waren nie etwas Gutes. Schnell fischte ich es aus meiner Hosentasche und war erstaunt, als ich Deans Namen auf dem Display sah. Eigentlich rief er nie spontan an und achtete immer auf den Zeitunterschied. Was könnte er wollen?

„Sorry, ich muss da rangehen“, entschuldigte ich mich bei den anderen und versuchte, schnell aus dem Club herauszukommen. Hier drinnen war es zu laut zum Telefonieren. Trotzdem nahm ich ab, damit Dean nicht auf meiner Mailbox landete und drückte mir den Hörer nah ans Ohr.

„Hey Dean, was gibt’s?“, begrüßte ich ihn fröhlich.

„Er hat es getan!“, kreischte eine schrille Stimme in den Hörer, die definitiv nicht zu Dean gehörte. „Mel, er hat es endlich getan!“

„Gemma, beruhig dich erst mal“, bat ich sie. „Warte bitte kurz, gleich kann ich dich besser verstehen.“ Im selben Moment erreichte ich die Tür, die aus dem Club führte. „So, jetzt nochmal in Ruhe. Wer hat was getan?“

„Dean. Er hat mir endlich einen Antrag gemacht“, sprudelte es aus ihr heraus. „Kannst du das glauben, Mel? Ich nämlich nicht so richtig. Wir werden heiraten. Hei-ra-ten! Oh Gott, ich bin so glücklich! Und du musst meine Brautjungfer sein und herkommen. Die Feier soll auf jeden Fall im Sommer stattfinden, aber wir wissen noch nicht genau wann. Schließlich hat er mir gerade erst den Antrag gemacht. Einen Antrag! Oh mein Gott! Ich werde …“

„Gemma, stopp!“, unterbrach ich ihren Redefluss. Es mochte unhöflich wirken, aber von Zeit zu Zeit musste man das bei ihr tun, sonst hörte sie von allein nicht mehr auf zu reden. „Herzlichen Glückwunsch! Ich freu mich so für euch.“ Das tat ich wirklich.

Seit acht Jahren waren sie ein Paar und immer noch glücklich miteinander. Mit ihrer Teenagerliebe. Das schafften nicht viele.

Ich begann zu zittern und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich im Januar in einem dünnen Top auf der Straße stand, oder ob der Gedanke, dass ich bald in die Staaten reisen müsste, die Ursache dafür war.

„Wir könnten vielleicht im Juni feiern“, plapperte Gemma weiter. „So könntest du zu Cliffs Sechzigstem kommen und direkt für die Hochzeit dableiben. Ja, genau, das ist doch die Idee!“ Es knackte in der Leitung, kurz darauf hörte ich Gemmas Stimme von weiter weg. „Darling, was hältst du von Anfang Juni?“ Deans Stimme war im Hintergrund zu hören, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte. „Hast du das gehört, Mel? Er hat gesagt, ich könne tun, was immer mich glücklich macht. Mal ehrlich, ich hab doch den besten Mann des Universums abbekommen. Und dieser Mann will mich heiraten. Kannst du dir das vorstellen? Ich werde eine Anderson! Bis es so weit ist, ist noch so viel zu tun. Deine Hilfe brauche ich auch. Es wäre nett, wenn …“

„Gemma!“, stoppte ich sie erneut mitten im Satz. „Können wir bitte morgen reden? Es ist hier mitten in der Nacht und darüber hinaus arschkalt. Ich stehe draußen vorm Club und friere mir den Allerwertesten ab. Wie soll ich mich auf das konzentrieren, was du zu erzählen hast?“

„Oh, okay“, entgegnete sie enttäuscht und in mir wuchs das schlechte Gewissen. „Ich rufe dich morgen noch einmal an, ja?“

„Gerne, Gemma. Ich freu mich drauf, ehrlich“, versicherte ich ihr. „Grüß deinen Verlobten ganz lieb von mir.“

„Das mache ich.“ Jetzt kicherte sie wieder wie ein Teenager. „Hab dich lieb, bis morgen.“

„Ich dich auch, bye.“

Als ich in den warmen Club zurückkehrte, fiel mir als Erstes auf, wie stickig die Luft hier drinnen war. Ich drängelte mich zu Linda durch, bei der immer noch unsere beiden Verehrer standen. Martin versuchte erneut, ein Gespräch mit mir anzufangen, aber ich war in Gedanken ganz woanders und konnte mich nicht konzentrieren.

In ein paar Monaten würde also das Unvermeidliche passieren und ich müsste Travis gegenübertreten. Zwar freute ich mich wahnsinnig für Dean und Gemma, aber für mich glich diese Reise einem Horrortrip.

Ich erzählte Linda, dass es mir nicht gut ging und dass ich nach Hause wollte. Zu meiner Überraschung wollte sie mit mir kommen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie mit Florian nach Hause gegangen wäre. Die beiden tauschten Nummern aus und wir verabschiedeten uns von den Männern.

Auf dem Nachhauseweg erzählte ich Linda von dem Telefonat. „Schöne Scheiße!“, lautete ihre Einschätzung.

Dem war nichts hinzuzufügen.

***

Nachdem ich mich am Samstag gegen Mittag aus dem Bett gequält und geduscht hatte, widmete ich mich der Kiste des Grauens. Lexi fragte jeden Tag und heute wollte sie vorbeikommen, also musste ich allmählich das Kleid heraussuchen. Ich holte den Karton aus dem Keller und stellte ihn auf mein Bett.

Langsam, um den Moment noch weiter hinauszuzögern, öffnete ich die Kiste. Viel kam nicht zum Vorschein. Den meisten Platz nahm das Kleid mitsamt Schuhen und Flügeln ein. Also hätte ich nur hineingreifen, das Outfit herausnehmen und die Box wieder schließen müssen. Aber offenbar reichte es mir noch nicht mit der Selbstgeißelung, denn ich zog auch den Schuhkarton heraus. Er gehörte zu einem der Paare, die mir Travis in L.A. gekauft hatte. Darin befanden sich Fotos von ihm und mir. Von unserem ersten Sommer am Lake Norman, wo er seinen Ferienjob hatte, und von unseren Ausflügen, bei denen er mir die Gegend gezeigt hatte. Es folgten die Halloweenbilder, die ich auch auf meinem Laptop hatte, sowie die Aufnahmen von Weihnachten und aus dem Panthers-Stadion, gefolgt von vielen Fotos aus L.A.

Da waren die Schnappschüsse, die ich von ihm und Gavin gemacht hatte, und auch die, auf denen wir vorm Hollywood-Sign knutschten. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen. Schließlich kamen noch Erinnerungsstücke an den Prom. Travis sah umwerfend aus in diesem Anzug und er hatte die Farbe seiner Krawatte tatsächlich meinem Kleid angepasst.

Hinter den ganzen Fotos war ein Briefumschlag, in den ich diverse Eintrittskarten gesteckt hatte, unter anderem die der Eislaufbahn von unserem Nicht-Date und die des Panthers-Spiels. Außerdem die Flugtickets und der Kassenbon vom Foot Locker in L.A., sowie andere Kleinigkeiten aus unserer gemeinsamen Zeit.

Das letzte Teil im Schuhkarton war eine kleine Schmuckschachtel. Als ich sie öffnete, blitzte mir das Silberarmband entgegen, das ich von Travis zu Weihnachten bekommen hatte.

Ich nahm es aus seiner Dose und ließ meine Finger über die drei kleinen Anhänger gleiten, das Kleeblatt, den Anker und das Herz. Glück, Halt und Liebe. Travis‘ gute Wünsche für mich. Dabei hätte er es mir gar nicht wünschen brauchen. Genau diese drei Gefühle verband ich ohnehin mit ihm. Er hatte sie mir gegeben und sie mir abrupt wieder entrissen. Einfach so.

Erst als mir eine Träne auf die Hand tropfte, bemerkte ich, dass ich weinte.

***

Als Lexi meine Zimmertür öffnete, hielt ich noch immer das Armband in der Hand und meine Tränen liefen weiterhin über meine Wangen. Linda musste sie in die Wohnung gelassen haben, ich hatte die Klingel nicht gehört.

„Hey Melli, was ist denn mit dir los?“, wollte sie wissen und kam zu mir aufs Bett, um mich in den Arm zu nehmen.

„Geht gleich wieder“, schluchzte ich und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen.

Unsicher schaute Lexi sich um. „Was ist das alles hier?“ Ihr Blick fiel auf die Fotos, die um mich herum verteilt lagen, und sie griff danach. „Darf ich?“ Ich nickte und sie blätterte die Aufnahmen durch. „Oh mein Gott! Das ist tatsächlich Trav McE“, stieß sie hysterisch aus, als sie die Ablichtungen von Gavin und Travis entdeckte. „Und ich dachte, er sähe ihm nur extrem ähnlich.“ Ich zuckte mit den Schultern, weil ich nichts darauf zu sagen hatte.

„Jetzt verstehe ich auch, warum du gesagt hast, dass er nicht dein Bruder ist. Das sieht nicht nach Geschwisterliebe aus“, sagte sie und hielt mir den Abzug vorm Hollywood-Sign unter die Nase.

„Nicht so wirklich, hm?“ Meine Tränen hatte ich halbwegs unter Kontrolle gebracht und so konnte ich mit ihr sprechen.

„Und nun heulst du seinetwegen?“

„Gut erkannt, Sherlock.“

„Was hat der Mistkerl mit dir gemacht?“, erkundigte sie sich besorgt.

Bisher wusste nur Linda über alles Bescheid. Na ja, und Dean konnte sich wahrscheinlich das Meiste denken. Ich war ohnehin aufgewühlt, was machte es da schon, noch einmal über die Vergangenheit zu sprechen?

So erzählte ich ihr meine ganze Geschichte mit Travis und konnte sie zum Teil mit den Fotos hinterlegen.

„… und auf einmal brachte er Thanksgiving dieses Mädchen mit. Tricia.“ Lexis Augen wurden groß wie Untertassen. „Ich habe die beiden beim Knutschen erwischt. Dann stellte er sie mir als seine Freundin vor und mich … nun, als seine Schwester.“

Was? Dieser Scheißkerl!“ Lexi war so empört, dass sie vom Bett aufsprang.

Ich nickte resigniert. „Das Gleiche habe ich auch gedacht.“

„Und dann? Wie hast du reagiert? Ich hoffe, du hast ihm in die Eier getreten oder ihm richtig eine verpasst.“ Um ihre Worte zu untermalen, ballte Lexi die Hand zur Faust und holte weit aus.

„Mit ihm habe ich gar nichts gemacht, aber Tricia habe ich auf die Füße gekotzt.“

„Hast du nicht!“, rief Lexi ungläubig aus.

„Oh doch.“

„Und was hat sie gemacht?“, wollte sie wissen, als sie sich wieder zu mir aufs Bett setzte.

„Keine Ahnung. Ich hab mich in mein Zimmer zurückgezogen und allen eine Magen-Darm-Grippe vorgespielt, bis Thanksgiving vorbei war und Travis mit Tricia abgereist war.“

„Ich hoffe, du hast ihm inzwischen die Meinung gegeigt?“

„Ich habe ihn seither nicht gesehen oder gesprochen“, entgegnete ich. „Jetzt wird es allerdings Zeit, dass ich damit klarkomme, denn in diesem Sommer werde ich ihm nicht aus dem Weg gehen können. Cliff wird sechzig und Dean und Gemma heiraten. Demnach muss ich rüber fliegen und er wird garantiert auch anwesend sein.“

Ich setzte eine Leidensmiene auf, aber Lexi schüttelte belustigt den Kopf. „Was?“, fragte ich verwirrt.

„Du bist wahrscheinlich die einzige Frau auf diesem Planeten, die ne Fresse zieht, weil sie Zeit mit diesem sexy Bastard verbringen muss. Der vögelt doch bestimmt wie ein junger Gott, oder?“

„Lexi!“

„Was denn? Der ist doch bestimmt ne Granate … oder … oder warte … Muss er mit diesem durchtrainierten Body irgendwas kompensieren?“ Ihre Augen leuchteten vor lauter Sensationsgier richtig auf.

„Muss er nicht.“ Ich schlug beide Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. Es konnte nicht sein, dass ich tatsächlich dieses Gespräch führte. „Trotzdem habe ich nicht vor, ihn noch einmal so nah an mich heranzulassen“, murmelte ich in meine Handflächen.

„Wirklich nicht?“ Lexi hielt mir ihr Handy hin. Darauf zu sehen war ein kurzes Video in Endlosschleife. Travis lag im Bett und bewegte den Zeigefinger vor und zurück. Eindeutig eine Einladung, zu ihm unter die Laken zu steigen.

Da Travis mich heute schon viel zu lang beschäftigte, versuchte ich ein Ablenkungsmanöver. „Was sagst du zum Kleid?“

„Sehr subtiler Themenwechsel, Melli. Hätte ich fast nicht bemerkt.“ Lexi lachte. „Zeig mal her den Fummel.“

Lexi probierte das Kleid an und es passte wie angegossen, da wir die gleiche schmale Statur hatten. Generell sahen wir uns, durch die glatten, blonden Haare und die großen Augen ziemlich ähnlich. Der einzige Unterschied war, dass ihre grün und nicht dunkelblau wie meine waren. Ich musste ihr versichern, dass das Kostüm seine Wirkung bei Finn nicht verfehlen würde, ehe sie glücklich meine Wohnung verließ.

***

Als Gemma mich am Abend erneut bat, ihre Brautjungfer zu werden, war ich drauf und dran abzulehnen, weil ich nicht wusste, wie ich ihr über die Distanz eine Hilfe sein sollte.

Gemma versicherte mir aber, dass sie meine Unterstützung auf eine andere Art benötigte. Sie hatte im College ein paar Pfunde zugelegt und wollte als Braut rank und schlank sein. Meine Aufgabe stellte also ein Personal Coaching mit Sport- und Ernährungsplan dar. Das bekam ich auch über tausende Meilen hinweg hin.

Als Termin hatten sie den 11. Juni ausgesucht, was bedeutete, dass ich mindestens drei Wochen Urlaub brauchte, um den Geburtstag und die Hochzeit abzudecken.

Drei Wochen USA, drei Wochen Huntersville, drei Wochen Travis.

Ich war geliefert.

Kapitel 3

Travis

„Dreiundvierzig … Vierundvierzig … Fünfund…“

Mein Handy klingelte und unterbrach somit Luke beim Zählen meiner Liegestütze. Ich stoppte in der Bewegung, um mein Telefon aus der Tasche zu ziehen.

„Ernsthaft, Trav? Die Fünfzig hättest du auch noch vollmachen können“, maulte Luke, woraufhin ich ihm den Stinkefinger zeigte.

Auf dem Display erkannte ich, dass Dean mich anrief.

„Hey Bruderherz“, begrüßte ich ihn. „Was verschafft mir die Ehre?“

„Hi Trav“, erwiderte er. „Was geht?“

„Ich trainiere gerade“, informierte ich ihn. „Und bei dir? Was gibt es Neues?“

„Letzte Woche habe ich Gemma einen Antrag gemacht“, erzählte er stolz. „Sie hat Ja gesagt.“

„Wow“, stieß ich beeindruckt aus. „Herzlichen Glückwunsch.“

„Danke. Hast du im Juni schon etwas vor?“, erkundigte er sich.

„Spontan fällt mir nichts ein“, antwortete ich, nachdem ich einen Moment überlegt hatte. „Aber selbst wenn, sage ich das halt ab, wenn du da heiraten willst. Du gehst vor.“ Obwohl Dean und ich uns nur noch selten sahen, gab es nicht viele Personen, die mir so wichtig wie mein kleiner Bruder waren.

„Sehr gut“, freute er sich. „Könntest du dir vorstellen, mein Trauzeuge zu sein?“

„Gerne. So richtig mit Tischrede und allem Pipapo?“, fragte ich nach.

„Die brauchst du nicht zu halten“, beruhigte er mich. „Das wird Brian als mein Best Man machen.“

Crawford. Allein, wenn ich an diesen kleinen Pisser dachte, kam mir die Galle hoch. Die Aussicht, meinem Bruder mit ihm gemeinsam zur Seite zu stehen, verdarb mir die Laune. Dean zuliebe wollte ich allerdings versuchen, mir davon nichts anmerken zu lassen.

„Okay.“ Ich versuchte, meine Stimme möglichst emotionslos zu halten. „Dann soll er mal sein Glück versuchen.“ Er würde es eh nicht besser hinkriegen als ich.

„Trav“, Deans Stimme klang mahnend. „Sei nett.“

„Ich hab doch gar nichts gesagt“, verteidigte ich mich. Wenn er mir direkt so kam, hatte ich keine Lust mehr auf eine Fortsetzung dieses Gesprächs. „Dean, hör zu, ich muss hier weitermachen. Luke scharrt mit den Füßen.“

Als Luke seinen Namen hörte, zeigte er mir den Vogel.

„Es ist übrigens der 11. Juni“, setzte Dean mich noch in Kenntnis. „Bye, bis bald.“

„Bye.“

Als ich auflegen wollte, hörte ich Dean noch ins Telefon rufen: „Ach Travis, Melissa hat auch zugesagt.“

So schnell wie möglich beendete ich die Verbindung. Vielleicht würde er ja annehmen, dass ich den letzten Satz nicht mehr gehört hatte.

„Argh!“, schrie ich laut heraus. Das konnte doch nicht wahr sein. Vor Jahren hatte sie das Land verlassen und auf einmal kam sie wieder? Von mir aus sollte sie bleiben, wo der Pfeffer wuchs.

Nachdem ich mein Handy zurück in die Hosentasche gesteckt hatte, marschierte ich mit großen, schnellen Schritten auf den Sandsack zu und verpasste ihm einen gezielten Schlag, sodass die Kette quietschte, die ihn an der Decke hielt.

Luke kam zu mir gesprintet und fixierte sofort den Sack, damit ich weiter auf ihn einschlagen konnte. Mit bloßen Fäusten lief ich zwar Gefahr, mir die Knöchel aufzuschürfen, aber mir konnte gerade nichts egaler sein. Ich war auf hundertachtzig.

„Was ist los?“, wollte mein Freund wissen.

„Dean heiratet“, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, während ich weiter auf das Trainingsgerät eindrosch.

„Und was genau ist daran das Problem?“

„Crawford wird da sein“, erklärte ich ihm. „Als Best Man.“

„Klar.“ Luke schüttelte den Kopf. „Da hätte ich auch selbst drauf kommen können.“

Ich hörte auf, den Sack zu verprügeln, und schüttelte meine Arme aus. „Kann mein Bruder sich nicht einen anderen besten Freund suchen?“

„Mach es ihm nicht so schwer“, forderte Luke mich auf.

„Jetzt fang du nicht auch noch an“, stöhnte ich genervt.

„Ich meine ja nur, dass es scheiße ist, wenn sich der Bruder oder die Schwester nicht mit dem besten Freund versteht“, erläuterte er mir. „Dean sitzt zwischen den Stühlen. Ich weiß noch, wie ich mich gefühlt habe, als das mit Anna und dir vorbei war. Da wusste ich auch nicht, wie ich mich verhalten soll.“

„Also soweit ich mich erinnere, hast du dich ganz klar auf ihre Seite gestellt“, frischte ich seine Erinnerung auf.

„Am Anfang, ja“, gab er zu. „Was sollte ich denn sonst bitte tun? Meine Schwester hatte ein gebrochenes Herz und war am Boden zerstört. Natürlich habe ich ihr beigestanden.“

„Na und?“, erwiderte ich schroff. „Mir ging es auch beschissen und das war ihre Schuld.“

„Aber du hast es dir nicht anmerken lassen“, versuchte er, sein damaliges Verhalten zu rechtfertigen. „Nicht so wie bei … na ja … du weißt schon.“

Natürlich wusste ich, wen er meinte. Nachdem Melissa mir Crawford vorgezogen hatte, war meine Welt zusammengebrochen. Luke hatte mich damals auf seine Art wieder aufgebaut.

Die kommt übrigens auch.“ Frustriert presste ich die Luft durch meine Lippen.

„Wie lang hast du sie jetzt nicht gesehen?“, hakte er nach.

„Über sechs Jahre“, kam es wie aus der Pistole geschossen von mir.

„Oha.“ Luke schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten wir dir Valium besorgen, damit du die Hochzeit nicht crashst.“

„Wahrscheinlich nicht die schlechteste Idee“, gab ich ehrlich zu.

Es hatte keinen Sinn, Luke anzulügen. Er wusste genau, dass es für mich hart zu ertragen sein würde, Brian und Melissa in einem Raum zu sehen. Die Vorstellung, einen von beiden zu treffen, machte mich rasend. Zusammen würde sich diese Wirkung mindestens verzehnfachen.

Kapitel 4

Melissa

Nach dem Telefonat mit Gemma setzte ich mich an meinen Schreibtisch, um einen Plan für sie auszuarbeiten. Es klopfte an der Tür und Linda steckte ihren Kopf herein. „Störe ich?“

„Gar nicht. Komm doch rein!“ Ich deutete auf mein Bett, auf das sie sich sogleich setzte.

„Was machst du da?“

„Einen Trainingsplan für Gemma“, erklärte ich. „Sie will bis zur Hochzeit etwas abnehmen.“

„Oh, deine erste Kundin. Ziehst du es jetzt durch?“

Ich träumte seit Längerem davon, mich als Personal Trainerin selbständig zu machen, aber ich hatte keine Idee, wie ich Kunden akquirieren sollte. Ich hatte in dem Studio, in dem ich als freie Mitarbeiterin tätig war, zwar ein paar Mitglieder angesprochen, aber die meisten wollten lieber im gleichen Umfeld bleiben und meinten, dass sie für ihr Geld dort denselben Service bekamen.

Wie sollte ich also auf mich aufmerksam machen? Poster? Flyer? Eine Homepage? Ich hatte keine Ahnung und daher schob ich dieses Vorhaben bereits ewig vor mir her.

„Nicht wirklich“, gestand ich. „Sie hat mich darum gebeten. Das ist meine Aufgabe als ihre Brautjungfer.“

„Brautjungfer?“, wiederholte sie und ich nickte. „Lässt du dich von ihr auch in eines dieser hässlichen Kleider stecken?“, fragte Linda amüsiert.

Ich zuckte mit den Schultern, zum einen hatte ich keine Ahnung, zum anderen war es mir egal. „Darüber haben wir noch nicht gesprochen, aber ich denke, dass die Kleider hübsch sein werden. Gemma hat einen sehr guten Geschmack.“ Jedenfalls einen besseren als ich. Das galt sowohl für Kleider als auch für Männer.

Linda zog ihre Beine zum Schneidersitz zu sich heran. „Freust du dich auf die Hochzeit?“
„Ich freue mich riesig darauf, alle wiederzusehen“, erwiderte ich ehrlich. „Dean, Gemma, Cliff und Britt. Und Brian vielleicht. Hoffentlich ist es zwischen ihm und mir nicht komisch.“

„Du wolltest sagen, dass es schlimm genug ist, mit zwei Ex-Freunden auf der gleichen Feier zu sein? Da könnte zumindest einer nett zu dir sein?“

„So ungefähr“, gab ich mit einem frustrierten Seufzen zu. „Ich hab Schiss davor, Travis zu begegnen, und weiß gar nicht, wie ich mich verhalten soll. Bestimmt erstarre ich zur Salzsäule, sobald er den Raum betritt. Gar nicht peinlich. Oder ich kotze ihm wieder vor die Füße. Ich bekomme ja schon Schweißausbrüche, wenn ich die Fotos von ihm sehe, die Lexi mir zeigt.“

„Das liegt daran, dass er so verdammt heiß ist.“ Ich verdrehte die Augen aufgrund des schlechten Wortwitzes. Auch Linda schüttelte den Kopf und lachte. „Mal im Ernst, Melli. Du musst etwas abstumpfen, was ihn angeht. Wie wäre es mit einer Konfrontationstherapie?“

„Wie soll das bitte funktionieren?“ Da ich keine Ahnung hatte, wie sie sich ihren Plan vorstellte, reagierte ich skeptisch.

„Na ja, du meldest dich jetzt bei Facebook an und abonnierst seine Seiten“, unterbreitete sie mir begeistert ihren Vorschlag. „Wenn du ihn täglich siehst, stumpfst du irgendwann ab und denkst nur noch Ach, da ist ja wieder der Hottie ohne Shirt, und scrollst einfach weiter.“

„Wenn du meinst …“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Methode funktionierte.

Linda kam zu mir und schob mich auf meinem Schreibtischstuhl beiseite, damit sie Zugang zu meinem Laptop hatte. Kurze Zeit später besaß ich einen Account. Ich hatte darauf bestanden, nicht meinen richtigen Namen zu verwenden, stattdessen hatten wir uns dazu entschieden, mich Tinker Bell zu nennen. Da es für mich ebenso wenig infrage kam, ein Foto von mir hochzuladen, suchte Linda eine Comiczeichnung von einer tätowierten und gepiercten Tinkerbell heraus. Linda erklärte mir kurz die verschiedenen Funktionen und zeigte mir Travis‘ Seiten, damit ich sie abonnieren konnte.

***

Die folgenden Wochen flogen nur so dahin. Gemma machte tolle Fortschritte, was mich wahnsinnig freute. Sie zeigte eine eiserne Disziplin, was meinen Trainings- und Ernährungsplan anging. Offenbar schien sie große Ziele zu haben, was das Brautkleid betraf.

Ob ich selbst auch Fortschritte in meiner Konfrontationstherapie machte, konnte ich nicht sagen. Manchmal kam es mir so vor, da ich nicht mehr bei jedem Foto von Travis Herzrasen oder Schnappatmung bekam. Die meiste Zeit waren es allerdings Rückschritte, denn ich entwickelte zu meiner eigenen Schande eine regelrechte Obsession, was ihn betraf. So viel zum Thema Junkie, der nicht wieder angefixt werden wollte.

Am Anfang fühlte ich mich beim Betrachten seiner Bilder wie ein Spanner, da er auf den meisten mehr Haut zeigte, als er verdeckte. Es gab nicht nur seine eigene Seite, sondern auch The Shirtless Guys. Hierbei handelte es sich um eine Gruppe von elf Männern, unter anderem Travis und Luke, die sich in verschiedenen Situationen fotografieren ließen.

Es waren nicht immer alle elf auf einer Aufnahme abgelichtet. Mal waren es nur zwei, beim nächsten Mal wieder acht. Das Einzige, was sich wie ein roter Faden durchzog, war, dass sie nie ein Shirt trugen, und das hatten sie auch nicht nötig. Alle waren durchtrainiert und ihre Körper ausgesprochen gut definiert. Für jeden Geschmack war etwas dabei. Travis war und blieb allerdings mein Favorit.

Auf seiner eigenen Seite zeigte er Bilder aus seinem Privatleben. Meistens waren es Selfies bei ihm zu Hause oder in Alltagssituationen.

Was mich den Kopf schütteln ließ, war, wie plump er sich zum Teil verkaufte, etwa bei dem Bild, auf dem er einen Hammer in der Hand hielt und die Überschrift Ich hab gehört, ich soll hier etwas nageln? lautete.

War das Absicht?! Früher war er nicht so ein oberflächlicher Idiot gewesen. Noch schlimmer waren die Kommentare unter den Bildern, da viele Frauen darauf ansprangen und sich ihm schamlos anboten.

Allerdings konnte man auch Links, Bilder und Videos finden, die zeigten, dass er durchaus eine ernsthafte Karriere hatte. Er schien sowohl als Tattoo-Model als auch als Fashion-Model zu arbeiten, denn egal ob Werbung, Modenschauen oder Cover-Shootings, er hatte offenbar alles schon gemacht. Abgerundet wurde das Ganze von einer Komparsenrolle, die er bei Sons of Anarchy ergattert hatte, wie passend.

Leider merkte ich, dass meine Konfrontationstherapie immer weiter in die falsche Richtung lief. Meine Neugier war so groß, dass ich ständig checkte, ob es etwas Neues von ihm gab.

Wie konnte ich nur so bescheuert sein? Ich war eindeutig ein Fall für die Klapsmühle.