Cover

David Edmonds

DIE ERMORDUNG
DES PROFESSOR SCHLICK

Der Wiener Kreis
und die dunklen Jahre
der Philosophie

Aus dem Englischen übersetzt
von Annabel Zettel

C.H.Beck

Zum Buch

Moritz Schlick, Otto Neurath, Kurt Gödel, Rudolf Carnap und in seinem Umfeld auch Ludwig Wittgenstein sowie der junge Karl Popper gehörten zu den wichtigsten Persönlichkeiten des Wiener Kreises, der für das Denken des 20. Jahrhunderts höchst einflussreich werden sollte. David Edmonds’ Buch stellt die geistige Welt des Kreises vor und verknüpft die Geschichte seiner Mitglieder mit einem Porträt der Stadt Wien im Schatten des um sich greifenden Faschismus und Antisemitismus. Auch der Kreis, der eine Zeit lang die attraktivste philosophische Bewegung Europas gewesen war, wird diesen feindseligen Tendenzen zum Opfer fallen. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hat er aufgehört zu existieren, und die meisten seiner Mitglieder sind im Exil oder auf der Flucht.

Über den Autor

David Edmonds ist Philosoph und Autor der Bücher «Wittgenstein’s Poker» und «Who would kill the fat man?». Er ist Fellow am Oxford Uehiro Centre for Practical Ethics und arbeitet für die BBC.

Inhalt

Vorwort

Dank

Dank der Übersetzerin

1:
Prolog – Leb wohl Europa

2:
Hähnchen und der Elefant

3:
Die Erweiterung des Kreises

4:
Der kahle französische König

5:
In Wittgensteins Bann

6:
Neurath im Roten Wien

7:
Kaffee und Kreise

8:
Couches und Konstruktionen

9:
Schlicks unliebsames Geschenk

10:
Fremde aus dem Ausland

11:
Der älteste Hass

12:
Schwarze Tage im Roten Wien – «Carnap erwartet dich.»

13:
Philosophische Zwistigkeiten

14:
Die inoffizielle Opposition

15:
Da, du verfluchter Hund!

16:
Der innere Kreis

17:
Entkommen

18:
Miss Simpsons Kinder

19:
Krieg

20:
Exil

21:
Vermächtnis

Dramatis Personae

Chronologie

Anmerkungen

Vorwort

1 Prolog

2 Hähnchen und der Elefant

3 Die Erweiterung des Kreises

4 Der kahle französische König

5 In Wittgensteins Bann

6 Neurath im Roten Wien

7 Kaffee und Kreise

8 Couches und Konstruktionen

9 Schlicks unliebsames Geschenk

10 Fremde aus dem Ausland

11 Der älteste Hass

12 Schwarze Tage im Roten Wien

13 Philosophische Zwistigkeiten

14 Die inoffizielle Opposition

15 Da, du verfluchter Hund!

16 Der innere Kreis

17 Entkommen

18 Miss Simpsons Kinder

19 Krieg

20 Exil

21 Vermächtnis

Ausgewählte Literatur

Abbildungsnachweis

Abbildungen auf Tafeln

Abbildungen im Text

Personenregister

Ernst Mach

Moritz Schlick

Edgar Zilsel

Friedrich Waismann

Herbert Feigl

Hans Hahn

Otto Neurath im Gespräch mit Alfred Tarski

Kurt Gödel

Karl Popper

Frank Ramsey

Ludwig Wittgenstein

Rose Rands farbig kodierte Tabelle

Vorwort

Als Teenager hatte ich keine sehr hohe Meinung von Gott (was aber wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruhte), und ich verachtete die moralischen Wertvorstellungen meiner Eltern. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich das erste Philosophie-Buch, das ich in die Finger bekam, regelrecht verschlungen und mit ihm meine lebenslange Hinwendung zur Philosophie besiegelt habe. A. J. Ayers Sprache, Wahrheit und Logik (Language, Truth and Logic) betrachtet Aussagen über Gott als sinnlos und lehnt die Vorstellung einer «Objektivität» der Moral ab. Es zeichnet sich durch einen wunderbaren, meisterhaften Stil aus und ist frei von allen Zweifeln. Es verhöhnt philosophische Vorgänger: Probleme, die die Philosophie seit zwei Jahrtausenden beschäftigt haben, wie etwa Fragen über Gott, Ethik und Ästhetik, werden entschieden ad acta gelegt.

Ich habe damals nicht ganz begriffen, dass die Ideen dieses Buches im Wesentlichen übernommen worden waren. Sie waren nicht in Oxford, England, entstanden, sondern in Österreich, nämlich in Wien. Sie stammten fast (aber nicht gänzlich) alle von einer Gruppe Mathematiker, Logiker und Philosophen, die man als Wiener Kreis bezeichnet.

Eine kurze Anmerkung zur Terminologie: Die Mitglieder des Kreises waren logische Empiristen, mitunter auch logische Positivisten genannt. Der Positivismus ist die Anschauung, dass unser Wissen von der natürlichen Welt herrührt und dass wir positive Erkenntnisse aus ihr ziehen. Der Kreis kombinierte diese Position mit der modernen Logik; Ziel war es, eine neue Philosophie zu begründen. Der Begriff logischer Positivismus tauchte jedoch erst 1931 in einer amerikanischen Zeitschrift auf, und ich schließe mich der Praxis der meisten Wiener-Kreis-Gelehrten an, indem ich die Bezeichnung «logischer Empirismus» verwende. Aber wie auch immer man ihn nennt, der logische Empirismus war ab den frühen 30er Jahren eine Zeitlang die ambitionierteste und modernste philosophische Strömung, die es gab. Viele ihrer zentralen Grundsätze sind heute diskreditiert, aber ihre Bedeutung ist noch immer spürbar. Die Analytische Philosophie – der dominante Ansatz an den Philosophischen Fakultäten des angloamerikanischen Raums mit Schwerpunkt auf der Sprachanalyse – würde ohne den Kreis nicht in ihrer gegenwärtigen Form existieren. Die Mitglieder des Kreises hatten vielleicht nicht alle Antworten parat, aber sie stellten meist die richtigen Fragen – Fragen, mit denen Philosophen auch weiterhin ringen.

Es gibt bereits einige hervorragende wissenschaftliche Werke über den Kreis. Dieses Buch soll von allgemeinerem Interesse sein – es soll darlegen, wer die Mitglieder waren, was aus ihnen wurde, warum sie von Bedeutung waren, und vor allem soll es dazu beitragen, sie innerhalb des Milieus zu verstehen, in dem ihre Ansichten gediehen.

Der Wiener Kreis war eine philosophische Gruppierung. Aber er kann nicht isoliert betrachtet werden. Er entstand in einer Stadt, in der Kunst, Musik und Literatur gleichermaßen florierten. Die österreichische Hauptstadt ist eine der zentralen Figuren dieses Buches. Als Geburtsstätte der Moderne war sie die Heimat des Psychoanalytikers Sigmund Freud und des Komponisten Arnold Schönberg, des Publizisten Karl Kraus und des Architekten Adolf Loos, des Schriftstellers Robert Musil und des Dramatikers Arthur Schnitzler. Die Ideen des Kreises ergänzten andere, die in Wien kursierten, oder wetteiferten mit ihnen.

Und dann waren da noch Politik und Wirtschaft. Den Hintergrund des Kreises bildeten die ökonomische Katastrophe und das Aufkommen des politischen Extremismus, dem die Gruppe selbst schließlich zum Opfer fiel. Dieses Buch soll ein Gefühl für den revolutionären Charakter der Philosophie des Kreises und zugleich für die schwierigen Zeiten vermitteln, in denen er agierte. Ganz abgesehen von den wissenschaftlichen Verdiensten des Kreises, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass seine Zielsetzung, vor allem sein Angriff auf die Metaphysik, ihn unweigerlich politisch werden ließ und ihm mächtige Feinde unter den Rechtsextremen bescherte, die letzten Endes seine Zerschlagung herbeiführten.

Wien übt seit jeher eine merkwürdige Faszination auf mich aus. Ein früheres Buch, das ich mit John Eidinow gemeinsam schrieb, Wittgenstein’s Poker (Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte), spielt zu großen Teilen in Wien. Was mich persönlich angeht, so ist meine Mutter halb Wienerin. Meine Großmutter, damals Liesl Hollitscher[1], studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien, ungefähr zur gleichen Zeit, zu der auch die jüngeren Mitglieder des Kreises dort studierten. Wie bei vielen Angehörigen des Kreises bestand meine Familie aus assimilierten Juden der Mittelklasse, die, ebenfalls wie viele aus dem Kreis, die extreme Wende, die die Politik nehmen sollte, nicht kommen sahen.

Das Schreiben dieses Buches stellte mich vor einige Herausforderungen. Eine davon ist die Philosophie. Der Grund dafür, dass zugängliche Texte über den Kreis so rar sind, besteht darin, dass seine Philosophie so komplex ist. Ich habe lediglich eine schematische Beschreibung der philosophischen Positionen des Kreises und der verschiedenen philosophischen Dispute gegeben, welche die Mitglieder sowohl innerhalb des Kreises als auch außerhalb mit ihren Gegnern führten. Ich habe aber auch, ohne Entschuldigung, teilweise (mitunter schwierige) philosophische Betrachtungen eingestreut; eine Darstellung des Kreises, die die Philosophie nicht behandelt, wäre, als schriebe man die Geschichte eines Orchesters, ohne die Musik zu erwähnen.

Und dann sind da noch die Charaktere. Zum Wiener Kreis gehörten einige faszinierende Figuren, darunter mehrere, die ganze eigene Biographien verdienten (und manche, die solche bekommen haben). Es war unvermeidbar, dass einige dieser Figuren mehr ins Blickfeld rücken als andere – wie etwa der bemerkenswerte Otto Neurath, den man außerhalb der Philosophie eigentlich nicht kennt. Es wäre ein fünfmal so langes Buch nötig, um ihnen allen gerecht zu werden.

Wir leben in einer Zeit, in der man mit Begriffen wie postfaktisch oder Fake News nur so um sich wirft. In diesem Umfeld ist der Empirismus relevanter als je zuvor. Und meine Hoffnung ist, dass diese Arbeit zur Wiederbelebung des Interesses an einer Reihe brillanter Denker beitragen kann, die sich in einer untergegangenen Welt entfalteten und deren intellektuelle Qualität Sympathien weckt.

David Edmonds
@DavidEdmonds100

Dank

Ich bitte um Nachsicht, aber ich habe vielen Menschen zu danken. Ich möchte mit denjenigen beginnen, denen ich am meisten Dank schulde.

Ich hatte für dieses Buch schon einige Jahre lang recherchiert, bevor ich an Thomas Uebel herantrat, einen der weltweit führenden Experten für den Wiener Kreis. Ich hatte einige Fragen, die ich ihm gerne stellen wollte, und bat darum, ihn in Manchester, wo er Professor ist, besuchen zu dürfen. Es stellte sich heraus, dass er sich häufig in London aufhält, und wir trafen uns, wie es sich für Leute gehört, die über den Wiener Kreis sprechen, in einem gemütlichen Café. Es war die erste von vielen langen koffeinbefeuerten Sitzungen, in denen er mich hinsichtlich verschiedener Wiener Angelegenheiten eines Besseren belehrte. Überdies las er das gesamte Manuskript und verbesserte Fehler. Er ist weder für meine Interpretation des Kreises verantwortlich noch für die Fehler, von denen zweifellos noch manche übrig sind. Aber danke, Thomas, dass Du mit Deiner Zeit und Deinem Wissen so großzügig warst. Dieses Buch wäre ohne Dich viel schlechter geworden.

Einige Leute haben das Manuskript teilweise oder ganz gelesen und hilfreiche Anmerkungen gemacht. Zu ihnen gehören Liam Bright, Christian Damböck, Josh Eisenthal, Nathan Oseroff, David Papineau, Ádám Tuboly und Cheryl Misak, die mir, ebenfalls in Manuskriptform, ihre ausgezeichnete Frank Ramsey-Biographie zusandte. Der Direktor des Philosophischen Instituts der Universität London, Barry Smith, gab mir ein unglaublich nützliches Feedback zu diesem Buch. John Eidinow, ein guter Freund, mit dem zusammen ich drei Bücher geschrieben habe, las das Manuskript nicht nur einmal, sondern zweimal, und machte viele hilfreiche Vorschläge. Neville Shack liest stets die Manuskripte zu meinen Büchern und ist mein Komma-Zar. Edward Harcourt kommentierte das Kapitel zur Psychoanalyse. Mein Dank geht auch an Friedrich Stadler, der neben Thomas Uebel eine internationale Kapazität für den Wiener Kreis ist, und das Buch ebenfalls gelesen hat. In der Endrunde, kurz bevor das Manuskript an den Lektor ging, las Christoph Limbeck-Lilienau das Ganze und fand tatsächlich noch einige Fehler, die anderen entgangen waren. Hannah Edmonds bereinigte den gesamten Text.

Einige Kenner gaben mir private Tutorien, etwa David Papineau und Christian Damböck zur Wissenschaftsphilosophie beziehungsweise zu Rudolf Carnap, sowie der Historiker Edward Timms, der mich zu sich nach Hause einlud, um die Wiener Kultur zu diskutieren. Professor Timms, ein großer Österreich-Experte, verstarb 2018. Einige erquickliche Stunden verbrachte ich im Café Landtmann, unweit der Universität Wien, mit Friedrich Stadler, der mir darüber hinaus per Email geduldig viele weitere Fragen beantwortete. (Er steuerte auch etliche der Fotos bei, die in diesem Buch gezeigt werden.) Steve Gimbel mailte mir freundlicherweise eine komplette Liste mit Transkriptionen von Interviews zu, die er mit Verwandten der Kreis-Mitglieder geführt hatte. Peter Smith gab mir Aufschluss über Tarski, und Elisabeth Nemeth half mir mit Zilsel. Ádám Tuboly schickte mir einige sehr nützliche Artikel über Neurath.

Es gab zwei anonyme Referenzen, die sich über Gebühr engagierten, indem sie mir seitenlange detaillierte Kommentare schickten. Es gelang mir, durch Poirot’schen Spürsinn ihre Identitäten zu knacken, aber ich werde die Konvention nicht brechen, indem ich sie hier namentlich nenne. Ihr wisst, wer Ihr seid. Danke.

Im Laufe meiner Recherchen stieß ich auf eine Figur, von der ich schließlich wie besessen war – Miss Simpson. Das Kapitel über Miss Simpson stammt aus einer BBC-Sendung, die ich damals präsentierte und die unter der Regie meines Freundes, des genialen Produzenten Mark Savage, entstanden war. Dieses Material wurde schließlich zu einem Artikel, den der Herausgeber Stephen Pollard im Jewish Chronicle veröffentlichte.

Ich bin hilfsbereiten Archivaren und Bibliothekaren zu Dank verpflichtet. Einen Großteil der Literatur habe ich in der British Library gelesen, einer fabelhaften öffentlichen Ressource, die nur durch überteuertes, Buchförderungsgelder verschlingendes Essen geschmälert wird. Es war ein sonderbar wohliges Gefühl, in einem Gebäude zu arbeiten, dessen Architekt (Colin St. John Wilson) von Wittgenstein inspiriert war. Ich habe verschiedene Archive genutzt – in der London School of Economics (sowohl das Popper-Archiv als auch das Archiv der British Federation of University Women); das ebenfalls in London befindliche Warburg Institute; die Bodleian Library in Oxford (mein Dank gilt hier Sam Lindley und Rosie Burke); und Sammlungen in Konstanz, Minneapolis und Pittsburgh. Ein besonderer Gruß geht an Brigitte Parkenings von der Universität Konstanz, die mir mehrere Anfragen bezüglich Moritz Schlick höflich und effizient beantwortet hat, und an den stets freundlichen Lance Lugar von der University of Pittsburgh. Zwei Joshs, Josh Eisenthal und Josh Fry, haben für mich Archiv-Recherchen in Pittsburgh durchgeführt. Sara Parhizgari schickte mir Dutzende Briefe aus dem Herbert Feigl-Archiv der University of Minnesota. Bereits für einige meiner vorangegangenen Bücher konnte ich mir die paranoide Verfolgung von Linken im Nachkriegs-Amerika zunutze machen, und ich muss einmal mehr zugeben, dass ich in der Schuld des FBI stehe, das mich durch sein fleißiges Ausspionieren harmloser Intellektueller mit Akten über etliche Kreis-Mitglieder versehen hat.

Mehrere Leute halfen mir mit Übersetzungen aus dem Deutschen und Niederländischen. Dafür danke ich Daniel Cohen, Hannah Edmonds und Tim Mansel.

Ein besonderes Dankeschön geht an das Uehiro Centre of Practical Ethics und an Julian Savulescu, Miriam Wood, Deborah Sheehan, Rachel Gaminiratne und Rocci Wilkinson. Ich unterhalte nun seit über zehn Jahren eine nebenberufliche Verbindung zum Centre, und es war immer ein Ort, der mich zum Denken inspirierte und meine Liebe zur Philosophie genährt hat.

Ich bin meiner Agentin bei David Higham, Veronique Baxter, und dem gesamten Team von Princeton University Press dankbar, ganz besonders Robert Tempio, Matt Rohal, Kathleen Cioffi und Anne Cherry (und auch Al Bertrand, bevor dieser abtrünnig wurde und zu einem anderen Verlag wechselte).

Ich habe noch vielen anderen Leuten zu danken. Ich sandte mehrere Aufrufe an Menschen, die Kreismitglieder gekannt haben. Einer wurde über Leiter Reports, eine Philosophie-Website, weitergeleitet. Andere wurden durch Universitäten in den USA übermittelt. Dutzende Menschen kamen miteinander in Kontakt. Überdies versahen mich viele andere Leute mit Informationen oder wiesen mich auf nützliche Artikel und Bücher hin. Wie ich fürchte, gibt es sicher manche, die ich vergessen habe – und bei denen möchte ich mich entschuldigen –, aber den folgenden möchte ich danken:

Albert Aboody, Laird Addis, Joseph Agassi, Thomas Allen, Bruce Aune, Harold Barnett, Mike Beaney, Bernhard Beham, Robert Bernacchi, Jeremy Bernstein, Albert Borgmann, Robert Borlick, Alisa Bokulich, Liam Bright, Karen Briskey, Paul Broda, Sylvain Bromberger, Panayot Butchvarov, David Casacuberta, David Chalmers, Robert Cohen, Susan Cohen, John Corcorol, Vincent Cushing, Richard Darst, Freeman Dyson (nun verstorben), Gary Ebbs, Evan Fales, Lorraine Foster, Liz Fraser, Curtis Franks, John Gardner, Rick Gawne, Rebecca Goldstein, Leonie Gombrich, Robert Good, Irving Gottesman, Adolf Grünbaum, Alex Hahn, Phil Hanlon, Henry Hardy, Gilbert Harman, Rom Harré, Colin Harris, Alan Hausman, Miranda Hempel, Peter Hempel, Michelle Henning, Herbert Hochberg, Gerald Holton, Mathias Iven, Charles Kay, Anthony Kenny, Mead Killion, William Kingston, Richard Kitchener, John Komdat, Georg Kreisel (verstorben), Matt LaVine, Christoph Limbeck-Lilienau, Hugh Mellor, Daniel Merrill, Elisabeth Nemeth, Ines Newman (für ihre unglaublichen Bemühungen um das Tagebuch ihres Großvaters, meines Urgroßvaters), Nathan Oaklander, Van Parunak, Michael Parish, Charles Parsons, Alois Pichler, George Pieler, Ann Plaum, Mika Provata-Carlone, Douglas Quine, Irv Rabowsky, Sheldon Reaven, Harold Rechter, Maria Rentetzi, Wayne Roberts, Lawrence Rosen, Felix Rosenthal, David Ross, Markus Säbel, Albie Sachs, Adam Sanitt, Kenneth Sayre, Scott Scheall, Reinhard Schumacher, Eugene Sevin, James Smith, Peter Smith, Raymond Smullyan, Alexander Stingl, Markus Stumpf, Thomas H. Thompson, Alexandra Tobeck, Ádám Tuboly, Joe Ullian, Frederick Waage, Brad Wray, John Winnie, Stephen Wordsworth, Leslie Yonce-Meehl, Michael Yudkin, Anton Zettl.

Und zu guter Letzt möchte ich jenen Menschen gegenüber meine Zuneigung ausdrücken, die während all der Zeit, die ich gebraucht habe, um dieses Buch zu schreiben, am meisten erdulden mussten – Liz, Saul und Isaac.

Dank der Übersetzerin

Die Übersetzerin dankt Jacob Neal vom Department of History and Philosophy of Science der University of Pittsburgh für seine außerordentliche Hilfsbereitschaft und Unterstützung bei der Zitatrecherche. Großer Dank gilt ebenso Jochen Dreher vom Sozialwissenschaftlichen Archiv Konstanz, Reinhard Schumacher von der Universität Potsdam und Gerhard Hubmann von der Handschriftensammlung der Wienbibliothek.

1


Prolog

Leb wohl Europa

Je nachdem, wie man es betrachtet, war der Zeitpunkt entweder glücklich oder unglückselig.

Der Fünfte Internationale Kongress für Einheit der Wissenschaft fand vom 3. bis 9. September 1939 in Harvard statt. Am 1. September 1939 rollten deutsche Panzer in Polen ein: Großbritannien und Frankreich hatten Verträge mit Polen geschlossen, die seine Grenzen garantierten. Zwei Tage nach der deutschen Invasion reagierten die beiden westlichen Verbündeten Polens, indem sie Deutschland den Krieg erklärten. Der Kongress wurde also genau zu dem Zeitpunkt eröffnet, als der Zweite Weltkrieg begann.

Am Abend des ersten Tages lauschten die Teilnehmer der Rundfunkansprache Präsident Franklin D. Roosevelts aus dem Weißen Haus. Er versicherte seinen Hörern, er wolle nicht zulassen, dass die Vereinigten Staaten in diesen Krieg hineingezogen würden. «Ich habe nicht nur einmal, sondern viele Male erklärt, dass ich den Krieg gesehen habe, und dass ich Krieg hasse. Ich sage das immer und immer wieder. Ich hoffe, die Vereinigten Staaten werden sich aus diesem Krieg heraushalten. Ich bin überzeugt, dass sie das tun werden. Und ich versichere mit Nachdruck, dass sich jede Anstrengung der Regierung auf dieses Ziel richten wird.»

Angesichts der Tragweite dieser Ereignisse erschien eine Konferenz zur Wissenschaftsphilosophie sicherlich belanglos oder sogar unangemessen. Aber für einige Teilnehmer war es ein Glück und zudem lebensverändernd – im Grunde sogar lebensrettend –, dass die Konferenz in genau dieser Woche stattfand.

Der Naturwissenschaftler und Philosoph Richard von Mises, Bruder des renommierten Wirtschaftswissenschaftlers Ludwig von Mises, war aus der Türkei nach Boston gereist. Er ging nicht mehr zurück. Der polnische Logiker Alfred Tarski, der mit dem letzten Schiff gekommen war, das Polen vor der deutschen Invasion verließ, blieb ebenfalls. Offenbar blind gegenüber der unmittelbaren Bedrohung seines Heimatlandes, hatte er das falsche Visum (ein temporäres Besuchervisum) und keine Winterkleidung bei sich. Viel schwerer wog allerdings, dass er nun von seiner Familie in Warschau abgeschnitten war. Aber hätte er die Einladung zu diesem Kongress nicht angenommen, dann hätte er sehr wahrscheinlich das schreckliche Schicksal drei Millionen polnischer Juden geteilt.

Andere Redner dieser Harvard-Konferenz hatten Europa schon in den Jahren zuvor verlassen. Als Tarski in New York von Bord ging, erwartete ihn dort schon der in Deutschland geborene Philosoph Carl Gustav (Peter) Hempel. Hempel war Student des Wissenschaftsphilosophen Hans Reichenbach gewesen, der 1938 nach Amerika gegangen und ebenfalls unter den Kongressteilnehmern war. Rudolf Carnap, von sanftem Wesen und riesenhafter Statur – über den wir noch sehr viel mehr hören werden –, war 1935 in die USA ausgewandert. Philipp Frank, Physiker und Philosoph, hatte Prag verlassen und hielt sich bereits seit einem Jahr in den Vereinigten Staaten auf. Edgar Zilsel, ein angesehener Wissenschaftssoziologe war zur Zeit des «Anschlusses», der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich 1938, noch in seinem Heimatland geblieben und konnte von den Gräueltaten der Nazis aus eigener Anschauung berichten. Ebenso der Rechtsphilosoph Felix Kaufmann. Da er über finanzielle Mittel verfügte, hatte er sich naiverweise vor dem Antisemitismus sicher gefühlt und erst im letzten Moment seine Flucht angetreten. Indessen war die schillerndste Figur von allen, Otto Neurath, aus Den Haag eingetroffen, wo er sich nach seiner Flucht aus Wien 1934 niedergelassen hatte. Ein zeitgenössischer Artikel im Time Magazine beschrieb ihn als «kahlen, dröhnenden, Energie verströmenden Soziologen und Wissenschaftsphilosophen».[1] Obwohl seine Freunde ihn drängten, in den USA zu bleiben, war ihm wichtiger, in die Niederlande zurückzukehren, zu der Frau, die seine dritte Ehefrau werden sollte.

Im Ganzen waren es etwa zweihundert Teilnehmer. Die ersten Sitzungen der Konferenz drehten sich um die Frage, ob die Wissenschaften vereint werden könnten: Was hatten Naturwissenschaften wie Physik mit Sozialwissenschaften wie Psychologie und Soziologie zu tun? Konnten sie auf denselben Grundlagen aufbauen? Über diese Themen hinaus wurde eine bunte Vielfalt anderer Fragen diskutiert, unter anderem Wahrscheinlichkeit, Wahrheit, Psychologie, Unendlichkeit, Logik, die Geschichte und Soziologie der Wissenschaft und die Grundpfeiler der Physik.

Viele der wegweisenden Arbeiten auf diesen Gebieten waren in Europa entstanden, insbesondere in Wien. Die Konferenz war von Neurath gemeinsam mit Charles Morris organisiert worden, ein in Chicago ansässiger Philosoph mit engen Verbindungen zum Wiener Kreis, der dafür brannte, dessen Ideen in den Vereinigten Staaten bekannt zu machen. Der amerikanische Philosoph W. V. O. Quine schrieb über die Zusammenkunft in Harvard, dass dort hauptsächlich «der Wiener Kreis mit seiner Akkretion im internationalen Exil» vertreten war.[2] Er selbst war eine unverzichtbare ‹Akkretion›.

Der Wiener Kreis – und sein sogenannter logischer Empirismus – war im Begriff gewesen, sich eine beherrschende Position in der Welt der Philosophie ganz allgemein, im Besonderen aber in der Wissenschaftsphilosophie zu erobern. Der Kreis hatte ein kühnes Projekt gehabt. Er hatte versucht, alten Empirismus mit neuer Logik zu vereinen. Er hatte eine Stellung für die Philosophie, Seite an Seite mit der Wissenschaft durchsetzen wollen. Er glaubte, dass wissenschaftliche Aussagen bekannt und bedeutsam sein konnten und dass das die echten Sätze von den Pseudosätzen unterschied; dass es das war, was die Wissenschaft von der Metaphysik abgrenzte. Er zählte viele brillante Denker zu seinen Mitgliedern, wie etwa Kurt Gödel, weithin bekannt als der bedeutendste Logiker des 20. Jahrhunderts, und stand mit vielen weiteren in Verbindung, darunter zwei der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein und Karl Popper.

Als die Harvard-Konferenz in Gang kam, stürzte Europa mit immer größerer Geschwindigkeit in die Barbarei ab, und jeder Tag brachte neue Gewalttaten und Grausamkeiten, die in den folgenden sechs Jahren zur Routine werden sollten. Am 3. September wurden in der Ortschaft Truskolasy in Südpolen Dutzende Bauern zusammengetrieben und erschossen. Nur etwa 30 Kilometer weiter zwang man 20 Juden, sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Unter ihnen befand sich der 64 Jahre alte Israel Lewi. «Als seine Tochter Liebe zu ihrem Vater lief, befahl ihr ein Deutscher, ‹zur Strafe für ihre Impertinenz›, den Mund zu öffnen. Dann schoss er eine Kugel hinein.»[3] Die Exekution aller übrigen Juden folgte bald darauf. An dem Tag, an dem sich die Konferenz dem Ende neigte, wurden 630 politische Gefangene aus Tschechien ins bayerische Konzentrationslager Dachau abtransportiert.

Im Laufe der Harvard-Konferenz nahm Horace Kallen, ein jüdisch-amerikanischer Gelehrter der New School for Social Research, bekannt dafür, dass er den kulturellen Pluralismus verfocht und angriff, was er als allzu vereinfachte Antworten auf philosophische Fragen ansah, einen provokativen Standpunkt ein. Er vertrat die Ansicht, dass der Versuch, die Wissenschaften zu vereinheitlichen, ein gefährliches Unterfangen sei, das Ähnlichkeiten zur faschistischen Ideologie aufweise. Neurath, ein entfernter Verwandter Kallens, entgegnete, dass der Vereinheitlichung im Gegenteil eine demokratische Motivation zugrunde liege und sie die Kritik in jedem einzelnen Fachgebiet erleichtern würde. Neurath war eines von mehreren Kreismitgliedern, die glaubten, dass der Logische Empirismus ein wesentliches Instrument im Kampf gegen den Faschismus sei. Der Logische Empirismus repräsentiere die aufklärerischen Werte von Vernunft und Fortschritt, er sei ein Schutz gegen finstere und irrationale Emotionen. Der Logische Empirismus stehe für Sinn gegenüber Unsinn, Wahrheit gegenüber Fiktion. Dieser Kampf sei wichtiger denn je.

Wien war bis dahin ein kreativer Schmelztiegel gewesen. Es hatte sich dort irgendwie eine ungewöhnliche Mischung aus politischen, sozialen und ökonomischen Kräften ergeben, die erstaunliche kulturelle und wissenschaftliche Leistungen hervorbrachte, wie eben auch die des Kreises. Aber dann war der Schmelztiegel übergelaufen. Der Wiener Kreis war 1934 gewaltsam aufgelöst worden, und sein führender Kopf, Moritz Schlick, wurde schließlich ermordet.

Schlicks Mörder, Johann Nelböck, ein psychisch labiler ehemaliger Student, behauptete, politische und ideologische Motive hätten ihn dazu getrieben. Ob das nun stimmte oder nicht – und es erscheint höchst fragwürdig –, so nahmen doch mehrere österreichische Zeitungen Nelböck beim Wort: Der logische Empirismus war schädlich, antireligiös, antimetaphysisch. Er war eine jüdische Philosophie, und Professor Schlick verkörperte alles, was daran schlecht war. In diesem Kontext, so die Argumentation, war Nelböcks Tat keineswegs schwachsinnig. Ein Artikel legte sogar nahe, dass Schlicks Tod möglicherweise die Suche nach einer Lösung für die «Judenfrage» erleichtere.

Nach Schlicks Tod machte der Wiener Kreis informell, wenn auch schwer angeschlagen, weiter. Aber der «Anschluss» und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren Wendepunkte, an denen es kein Zurück mehr gab. Wenn ihre Ideen überleben sollten, dann mussten sie nun gehen und in der angloamerikanischen Welt Fuß fassen. Das war ein Zukunftsprojekt.

Was also war der Wiener Kreis, die «Gelehrten-Republik»[4], wie Otto Neurath ihn einmal bezeichnet hatte, und warum war er von Bedeutung? Warum hatten die Machthaber ihn zerschlagen? Warum mussten seine Mitglieder ins Exil gehen? Und hatte er sein ultimatives Ziel erreicht – die Metaphysik zu überwinden und die mannigfaltigen Arten von Scheinwissen zu bannen?

2


Hähnchen und der Elefant

«Der Empirist sagt dem Metaphysiker nicht:
‹Deine Worte behaupten etwas Falsches›, sondern
‹Deine Worte behaupten überhaupt nichts!›.»[1]

Moritz Schlick

1905 veröffentlichte Albert Einstein, damals noch Physik-Doktorand, der als Angestellter in einem schweizerischen Patentamt sein Geld verdiente, vier Arbeiten und seine Dissertation. Das Jahr 1905 gilt den Wissenschaftlern als Einsteins annus mirabilis – ein mirakulöses Jahr, denn diese Arbeiten schenkten der Welt E=mc², die spezielle Relativitätstheorie und die These, dass Licht sowohl Eigenschaften von Teilchen als auch von Wellen besitzt. Die klassische Physik von Isaac Newton und James Clerk Maxwell war gekippt worden. Eine neue Ära einer mitunter höchst kontraintuitiven Wissenschaft hatte begonnen. Insbesondere Zeit und Raum waren keine Konstanten mehr; sie waren relativ, weil sie vom Beobachter abhingen, der sie bemaß.

Einstein sollte in den kommenden anderthalb Jahrzehnten noch kein bekannter Name werden. Aber zu jenen, die schnell begriffen hatten, was für ein Durchbruch ihm gelungen war, gehörte ein junger, ernsthafter, wortgewandter, bebrillter, schnurrbärtiger Mathematiker und Philosoph namens Hans Hahn, von seinen Freunden auch Hähnchen genannt, ein ironischer Spitzname für einen hochgewachsenen Mann.

Hahn war der Initiator dessen, was später als der Wiener Kreis bekannt werden sollte. Er war 1879 in einer Wiener Mittelstandsfamilie zur Welt gekommen (sein Vater war Journalist, dann schließlich hochrangiger Beamter) und studierte an der Universität Wien zunächst Rechtswissenschaften, bevor er sich der Mathematik zuwandte, in diesem Fach einen Doktortitel erhielt und sich habilitierte. Er sollte internationales Ansehen erringen, und nach ihm sind heute verschiedene komplexe Theoreme benannt, wie etwa der Hahn’sche Einbettungssatz oder der Hahn’sche Zerlegungssatz. Er sollte außerdem ein wichtiger Anwerber für den Wiener Kreis werden: Einige seiner Studenten übertrafen ihn schließlich noch in ihrer Bedeutung auf der Weltbühne, vor allem Kurt Gödel.

Von 1907 an hielt Hahn – für gewöhnlich in einem Kaffeehaus – regelmäßige Treffen mit einer kleinen Gruppe anderer junger, jüdischer, promovierter, wissenschaftlich interessierter, in Wien lebender Philosophen ab, um mit ihnen über die philosophischen Grundlagen der Wissenschaft und des Weiteren über eine ganze Reihe politischer, historischer und religiöser Fragen nachzudenken.[2] Neben Hahn waren das Otto Neurath, der in Berlin promoviert hatte, und Philipp Frank, mit seinen 23 Jahren der Jüngste unter ihnen, ein kleiner Mann, der hinkte, seit er von einer Straßenbahn angefahren worden war, und bereits eine wissenschaftliche Arbeit nach der anderen veröffentlichte, darunter viele zur Relativität. Gelegentlich schloss sich ihnen auch der Naturwissenschaftler Richard von Mises an, ein enger Freund sowohl Hahns als auch Franks. Diese Männer diskutierten über die französischen Mathematiker bzw. Physiker Pierre Duhem und Henri Poincaré, ebenso wie über den Philosophen und Naturwissenschaftler Ernst Mach. Sie alle waren fasziniert und verblüfft angesichts des Wandels, der in der theoretischen Physik vor sich ging. Sie interessierten sich für die Methodik, die Sprache, den Anspruch und Status der Wissenschaft und die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Sie wollten die empirischen Wissenschaften, die sich auf Experimente und Evidenz gründeten, von anderen Untersuchungsformen abgrenzen. Sie waren interessiert an den Grundlagen von Geometrie und Mathematik. Sie wollten verstehen, wie man mit der Wahrscheinlichkeit sinnvoll umgehen konnte. Sie waren der Ansicht, dass die traditionelle Praxis der Philosophie hoffnungslos esoterisch und oftmals unsinnig war. Sie teilten die Überzeugung, dass Philosophie und Naturwissenschaften kollaborativer und enger miteinander verbunden sein sollten. Sie glaubten, dass die Philosophie der Wissenschaft nützen konnte, indem sie das wissenschaftliche Vorhaben klarer definierte. Sie zeichneten sich durch eine weitgehend linksgerichtete politische Orientierung aus. Und wie wir sehen werden, waren Politik und Philosophie untrennbar miteinander verbunden.

Ihr Eintreten für eine progressive Politik und die neue Wissenschaft gefiel denjenigen, die den Status quo vor dem Ersten Weltkrieg aufrechterhalten wollten, wohl kaum. Wien war zu dieser Zeit Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie unter Franz Joseph I., und der Katholizismus, die vorherrschende Religion des Landes, war eine gewaltige kulturelle Macht, die sozialen und politischen Reformen weitgehend feindlich gegenüber stand; auch die Universität sperrte sich gegenüber Veränderungen.

Bis 1912 traf sich diese informelle Diskussionsrunde immer wieder. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 hatten sich ihre Mitglieder jedoch zerstreut. Hahn hatte Eleonore (Lilly) Minor geheiratet, die ebenfalls Mathematikerin war, und einen Ruf an die Universität von Czernowitz angenommen, 1000 Kilometer östlich von Wien, am äußersten Rand Österreich-Ungarns (auf dem Gebiet der heutigen Ukraine). Von Mises wurde Professor für Angewandte Mathematik in Straßburg. Frank bekleidete den Lehrstuhl für theoretische Physik an der Deutschen Universität in Prag, wo er bis kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs blieb. Er kehrte jedoch regelmäßig in seine Geburtsstadt Wien, die er als seine Heimat ansah, zurück. Hahn, von Mises und Neurath kämpften im Ersten Weltkrieg, und Hahn wurde an der italienischen Front durch einen Schuss verwundet, dessen Kugel bis zu seinem Lebensende in seinem Rückgrat steckte und nicht entfernt werden konnte.

Vor dem Ersten Weltkrieg waren diese frühreifen Gelehrten nicht selbstsicher genug, ihrer kleinen Gruppe einen Namen zu geben, aber wir können sie als Embryonalform des Wiener Kreises betrachten. Sie sahen sich selbst weder als komplett originär noch als Anstifter einer philosophischen Revolte. Vielmehr stellten sie sich in eine Tradition – eine empiristische oder positivistische Tradition. Nicht zuletzt fühlten sie sich als Schüler und Erben von Ernst Mach.

Mach ist uns vermutlich am geläufigsten, da sein Name fällt, wenn es um die Fluggeschwindigkeit von Düsenjets geht. Die Mach-Zahl ist das Verhältnis der Geschwindigkeit eines Objektes zur Schallgeschwindigkeit (letztere verändert sich, je nachdem durch welches Medium das Objekt sich bewegt, z.B. Luft oder Wasser). Die Mach-Zahl ist so benannt zu Ehren von Ernst Mach, einem physikalischen Multitalent, der Druckwellen erforschte. Er fotografierte viele seiner Experimente, und es gelang ihm, Geschosse mitten im Flug aufzunehmen.

Mach war jedoch nicht nur kreativer Experimentator, sondern auch Philosoph. Viele geistige Vorläufer des Wiener Kreises, darunter der im 18. Jahrhundert geborene Schotte David Hume und der im 19. Jahrhundert lebende Franzose Auguste Comte, hatten den Begriff Positivismus bereits verwendet. Aber der direkteste historische Vater des Zirkels war Mach. Ohne Mach hätte es den Kreis nicht gegeben.

Was ihn auszeichnete, war seine Art, Philosophie und Wissenschaft zu einer Wissenschaftsphilosophie zu kombinieren. Die älteren Kreismitglieder waren alle in einer «Mach-Tradition» aufgewachsen, wie Neurath es formulierte.[3] «Nur wenige Männer», so schrieb der Philosoph Karl Popper, «haben auf die geistige Entwicklung des 20. Jahrhunderts einen ähnlich großen Einfluss gehabt wie Ernst Mach».[4] Er hinterließ einen entsprechenden Eindruck auf Menschen, die ihm persönlich begegneten. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James führte mit ihm in Prag mehrere Stunden lang ein «unvergeßliches Gespräch. Ich glaube nicht, daß irgend jemand zuvor auf mich je so stark den Eindruck eines reinen, intellektuellen Genies gemacht hat».[5]

Mach gehörte einer nachaufklärerischen Ära an, in der eine deistische Weltsicht ständig unter Beschuss stand: In seinem 1882 veröffentlichten Buch Die fröhliche Wissenschaft hatte Nietzsche den Tod Gottes[6] proklamiert, und in bestimmten Kreisen herrschte der Drang, Wissen basierend auf rein säkularen, naturwissenschaftlichen Begriffen zu erneuern. Wenn Wissen nicht durch Gott garantiert werden konnte, was war dann sein Garant? Und wie konnte man Wahrheit von Falschheit unterscheiden? Allein schon das Aufwerfen solcher Fragen stellte für die meisten Österreicher eine Provokation dar.

Mach promovierte an der Universität Wien und beschloss seine Karriere dort mit einer Professur, nachdem er drei Jahrzehnte lang an der Deutschen Universität in Prag gelehrt hatte. Er betrachtete sich selbst nie als Philosoph, sondern als Wissenschaftler, der über wissenschaftliche Praxis nachdachte. Philipp Frank und Mach trafen sich und korrespondierten miteinander, obwohl Frank nicht bei ihm studiert hatte, sondern bei seinem Nachfolger, Ludwig Boltzmann, ebenfalls Philosoph und Physiker zugleich, auch wenn er, anders als Mach, eher Theoretiker als Experimentator war. Von Boltzmann und Mach übernahm Frank eine bedeutende Einsicht – dass die Wissenschaft eine soziale Praxis darstellte, mit der interessante und für gewöhnlich praktische Probleme zu lösen waren, und keineswegs die Suche nach platonischen und ewigen Wahrheiten, zumindest nicht für die meisten Wissenschaftler.

Sowohl Mach als auch Boltzmann vertraten die Ansicht, dass letztlich alle empirischen Behauptungen einer experimentellen Prüfung standhalten mussten und dass die Messungen grundlegend auf den Sinnen beruhten; man konnte die Welt sehen, fühlen, riechen, hören und schmecken. Weder Metaphysik noch Mystik hatten in der Wissenschaft etwas zu suchen. Zu behaupten, dass Dinge außerhalb unserer Sinneseindrücke existierten (das «Ding an sich»), war, zumindest für Mach, eine Art verlockender Unsinn.

Der Ursprung des Begriffs Metaphysik geht auf die Kategorisierung von Aristoteles’ Werken im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurück, als einige seiner Schriften unter «Physik» und andere unter «nach der Physik» eingeteilt wurden. Die Metaphysik wurde das Studium der grundlegenden Natur der Wirklichkeit jenseits ihrer subjektiven Erscheinung. Machs Skepsis, dass man nicht sinnvoll über eine Welt jenseits der Wissenschaft sprechen könne, führte schließlich zu einer regen Debatte mit Boltzmann über die Existenz von Atomen. Mehrere wissenschaftliche Theorien postulierten ihre Existenz, aber für Mach waren «Atome» lediglich mentale Konstrukte, da man sie (zu dieser Zeit) weder messen noch wahrnehmen konnte. Viele berühmte Physiker der Zeit beteiligten sich an dieser Atomdebatte, und manche schlugen sich auf Machs, andere auf Boltzmanns Seite. Tatsächlich sollte die Wissenschaft Boltzmann recht geben, wenngleich die tiefgreifendere philosophische Frage, welche Bedeutung, wenn überhaupt, Aussagen über nicht beobachtbare Entitäten zugestanden werden kann, ungelöst blieb.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erwarb sich Mach eine beträchtliche Anhängerschaft. Er beeinflusste sogar Einsteins intellektuellen Werdegang. Mach hatte Newtons Raum- und Zeitbegriff bereits kritisiert, bevor Einstein seine gewagten neuen Theorien veröffentlichte. Was sollte das bedeuten, von «absoluter Zeit» zu sprechen, wenn man diese nicht exakt messen konnte, fragte sich Mach. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen drückt Einstein mehrfach seine Bewunderung für Mach aus; er geht sogar so weit, ihn als lebenden Wegbereiter seiner allgemeinen Relativitätstheorie zu rühmen. Über Machs Werk Die Mechanik in ihrer Entwicklung schrieb Einstein, dieses Buch habe «einen tiefen Eindruck» auf ihn als Student ausgeübt, und Machs Größe läge für ihn in seiner «unbestechlichen Skepsis und Unabhängigkeit».[7] Mach jedoch konnte die Relativitätstheorie zunächst nicht verstehen, und Philipp Frank musste sie ihm erklären. Frank beschrieb Mach später als «einen Mann mit einem grauen, etwas wilden Bart, der wie ein slowakischer Arzt oder Rechtsanwalt aussah».[8]

Die führende linke Kraft in Österreich, die Austromarxisten, waren ebenfalls Bewunderer Machs und seines Empirismus, besonders als Philosophie und wissenschaftliche Entwicklungen in den 1920er und 1930er Jahren von der politischen Rechten angegriffen wurden. Mach unterhielt eine enge Freundschaft zu Victor Adler, dem führenden Kopf der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Einige zukünftige Mitglieder des Kreises sollten sich später dafür aussprechen, dass die Wissenschaft im Grunde unpolitisch sei – auch wenn Politiker sie womöglich für ihre eigenen Zwecke manipulierten. Aber auch wenn diese Ansicht in einigen Teilen der Welt gelten mochte, ließ sie sich in Österreich, wo alles politisiert wurde, kaum aufrechterhalten.

Das hieß aber keineswegs, dass Mach von der Linken durchweg geschätzt wurde. Ein scharfer Kritiker veröffentlichte 1909 ein Buch, in dem Mach mit Solipsismus, Relativismus und Antirealismus in Verbindung gebracht wurde. Machs Behauptung, dass alles Wissen durch die Sinne erworben werde, so argumentierte der Autor, führe unweigerlich zu dem absurden Schluss, dass es eine Realität außerhalb der eigenen Sinne womöglich nicht gebe. Der Titel seiner gegen Mach gerichteten Schmähschrift Materialismus und Empiriokritizismus war wenig eingängig. Acht Jahre später, als der Autor, geboren als Wladimir Iljitsch Uljanow, unter dem Pseudonym W. I. Lenin agierte, sollte seine Parole Frieden, Land und Brot stärkere populistische Wirkung entfalten.

Materialismus und Empiriokritizismus war im Zuge von Lenins Machtkampf mit seinem bolschewistischen Rivalen Alexander Bogdanow verfasst worden, der die Meinung vertrat, die Ideen einer «absoluten Wahrheit» und der Realität der Außenwelt seien bourgeois und altmodisch. «Heutzutage kann ein Philosoph nicht anders, als sich für einen ‹Realisten› und ‹Feind des Idealismus› ausgeben», konterte Lenin. «Es ist an der Zeit, dies zu begreifen, ihr Herren Machisten!»[9] Eine Auflistung von Lenins Gegnern umfasste die Menschewiki, die Romanow-Dynastie, Kapitalisten und Imperialisten. Die spezielle Verachtung, die er gegenüber Mach hegte, ist weniger bekannt. Dennoch schreibt ein Biograph Lenins, dass Materialismus und Empiriokritizismus nach der Revolution von 1917 «zur philosophischen Bibel der offiziellen Sowjetintelligenz» wurde.[10]

Otto Neurath wurde bereits kurz erwähnt. Von der ersten bis zur letzten Stunde des Kreises war er immer präsent, und er war kein gewöhnliches Kreismitglied. An Neurath war eigentlich überhaupt nichts gewöhnlich.

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