Rainer F. Schmidt

Kaiserdämmerung

Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang

Klett-Cotta

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Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Klett-Cotta

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Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-98318-0

E-Book ISBN 978-3-608-11683-0

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Matilda und Helena

1.

Die »Urkatastrophe« und die Frage nach der Verantwortung

Am Anfang standen düstere Vorzeichen. Sie konnten unterschiedlicher nicht sein. Sie zeigten sich auf Ebenen, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun hatten: auf dem Feld der Militärpolitik, der Technik und der Kultur. Das mag der Grund dafür gewesen sein, wenn die Zeitgenossen ihre sinistere Symbolik gar nicht erkannten, wenn sich ihre Botschaften und ihre Bedeutung erst im Rückblick erschlossen. Gleichwohl: In den Ereignissen versinnbildlichte sich, dass die vertrauten Muster des Daseins brüchig geworden waren, dass sich die Regeln der traditionellen Ordnung in Auflösung befanden, ja, dass die Fundamente, auf denen die alte Welt ruhte, ins Wanken geraten waren. Diese Menetekel kündigten etwas Neues, Umstürzendes, ja, Unheilvolles an. Das Tor zur Sintflut stand schon weit offen, als sich die europäischen Großmächte im August 1914 im Akt einer Selbstzerfleischung in den großen Krieg stürzten.

Das erste dieser Vorzeichen kam 1911. In den Jahren vor dem Weltkrieg bot sich den morgendlichen Besuchern des Londoner Hyde Parks ein seltsames Schauspiel. Sie begegneten einem hochgewachsenen, hageren Anglo-Iren(1), der in der Uniform eines Brigadegenerals, aber nur mit einer Morgenzeitung bewaffnet, die er aus der Tasche zog, wenn er außer Atem war, dort seine Runden vor dem Frühstück drehte. Sir Henry Wilson(2) war der Leiter des Operationsbüros im Londoner Kriegsministerium. Er war der entscheidende Mann, wenn es darauf ankam, die britischen Truppen zur Verteidigung der Interessen des Vereinigten Königreichs ins Feld zu stellen. Sein Aufgabengebiet umfasste die Mobilmachung der Landarmee, die er bis ins Kleinste ausgetüftelt hatte: die Unterkünfte für jedes Bataillon, die Zahl der Eisenbahnwaggons, die bereitzustellen waren, die Anweisungen für die Dolmetscher, die Vorbereitung von Chiffren für die Übermittlung von Nachrichten, ja, selbst die Orte und Zeitpunkte der Teeausgabe hatte er präzise festgelegt.

Wilson(3) war wenige Meilen von Belfast Lough von französischen Gouvernanten erzogen worden, sprach fließend Französisch und war ein großer Verehrer der französischen Kultur. Das war auch der Grund, weshalb er über Jahre hinweg im Sommer auf den Kontinent reiste, um dort wochenlang mit Kraftwagen, per Bahn und vor allem mit dem Fahrrad die Schlachtfelder des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 zu besichtigen. Die französischen Festungsanlagen kannte er beinahe ebenso gut wie seine Pariser Kollegen. Das voraussichtliche Kampfgebiet im Raum Elsass-Lothringen und entlang der belgischen Grenze hatte er genau inspiziert. Und die aus Belgien kommenden Einfallstraßen in Nordfrankreich hatte er alle mit dem Fahrrad erkundet. Denn eines stand für Wilson außer Zweifel: Der nächste große bewaffnete Zusammenstoß, der auf England wartete, war derjenige mit Deutschland. Diesmal würden die britischen Truppen Schulter an Schulter mit den Soldaten Frankreichs fechten.

Auf seinen Touren hatte er mit dem damaligen Direktor der obersten Kriegsschule der französischen Armee, General Ferdinand Foch(1), Freundschaft geschlossen. Wilson(4) fragte ihn bei einer Plauderei beim Tee vor dem Kamin geradeheraus, wie umfangreich eine britische Streitmacht sein müsse, die für Frankreich von Nutzen sein könne? Die Antwort Fochs kam blitzschnell und wie aus der Pistole geschossen. Sie ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. »Ein einziger gemeiner Soldat«, so replizierte er, »und wir würden schon dafür Sorge tragen, dass er getötet wird.«[1] Die französischen Militärs um Generalstabschef Joseph Joffre(1) und dessen Stellvertreter Noël de Castelnau(1) lüfteten Wilson(5) gegenüber sogar ihr bestgehütetes militärisches Geheimnis: Sie besaßen eine Abschrift des deutschen Feldzugplans für den Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland, mitsamt den handschriftlichen Notizen, die der deutsche Generalstabschef von Moltke(1) darauf angebracht hatte.[2]

Das war die Trumpfkarte, die Wilson(6) gegenüber den Londoner Politikern ausspielte, um Premierminister Asquith(1), den »Trunkenbold«, wie er ihn mit Verachtung nannte, und sein »dreckiges Kabinett« auf Linie zu bringen.[3] Für die Versammlung des Committee of Imperial Defence im August 1911, bei der er die Weichen hierfür zu stellen gedachte, hatte er eine Denkschrift über die Notwendigkeit der Unterstützung Frankreichs durch England im Kriegsfall mit Deutschland verfasst.[4] Nur ein Zusammenwirken mit Frankreich und die Entsendung eines britischen Expeditionskorps, so hatte er zu Papier gebracht, könne Deutschland daran hindern, »in eine dominierende Stellung auf dem europäischen Kontinent einzurücken«. Eine solche aber werde sich auf Dauer für England »als verhängnisvoll« erweisen. Für die Sitzung der Londoner Spitzenpolitiker hatte Wilson sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. In seinem Büro befand sich eine riesige Karte von Belgien, die dort eine ganze Wand bedeckte und auf der jede einzelne Straße markiert war, die nach Nordfrankreich führte. In einem großen, mit Pferden bespannten Wagen ließ er diesen virtuellen Schauplatz des Geschehens ins Regierungsviertel schaffen. Dort erklärte er den anwesenden Politikern geduldig und über fast zwei Stunden hinweg, Punkt für Punkt und in allen strategischen Details, die Logik und das Siegesrezept des deutschen Kriegsplans: den zu erwartenden simultanen Krieg an zwei Fronten in zwei nacheinander zu führende Einfrontenkriege aufzulösen; mittels einer Umfassung der französischen Truppen durch den aus Belgien vorstoßenden rechten Heeresflügel im Westen einen schnellen Sieg zu landen; und dann alles nach Osten gegen Russland zu werfen, das circa sechs Wochen benötigte, um seine gigantische Armee gefechtsbereit zu machen. Wilson(7) beschrieb alles genau so, so hielt Churchill(1) später fest, wie die deutschen Aktionen im Herbst 1914 dann tatsächlich ablaufen sollten.[5]

In dieser Sitzung des Verteidigungsrates stellte Wilson die militärischen Weichen für Englands Position im kommenden Krieg. Bis dahin hatte die Insel als neutrale Macht die Rivalitäten in Europa von außen gesteuert und, statt die Kräfte dort zu verschwenden, eine »balance of power«-Politik befolgt. London gehörte keinem der waffenstarrenden Bündnissysteme an, die sich auf dem Kontinent belauerten: weder dem russisch-französischen Zweibund noch dem Dreibund mit Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Die Zustimmung der entscheidenden Männer des Kabinetts in der Sitzung vom August 1911 war ein Triumph für Wilson(8). Deshalb begab er sich im September 1911 erneut auf den Schauplatz der künftigen Auseinandersetzung.

Auf den Schlachtfeldern von Mars-La-Tour hatte er bei seinen Radwanderungen ein französisches Denkmal entdeckt, zu dem er seither immer wieder zurückgekehrt war. Es war ein Mahnmal für die französischen Gefallenen in den Schlachten des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71, erbaut mit Unterstützung des französischen Präsidenten Marschall de Mac-Mahon(1) im Jahre 1875. In allegorischer Überhöhung zeigte es die trauernde Marianne, die einen toten französischen Soldaten in ihren Armen hielt. Ihr Haupt war mit einem Siegeskranz geschmückt. Er barg das Versprechen, die dort erlittene Schmach dereinst zu rächen. Zu ihren Füßen waren zwei Kinder zu sehen. Das eine ergriff das Gewehr des Sterbenden, um erneut in den Kampf zu ziehen und die Scharte der Niederlage auszuwetzen. Das andere stützte sich auf den Anker der Hoffnung und blickte unverwandt gen Osten in die Ferne: auf den Tag der Revanche gegen das Deutsche Kaiserreich.

Ungezählte Male hatte Wilson(9) schon vor dem Denkmal gestanden. Jetzt aber war er sich sicher, dass die Stunde der Abrechnung nicht mehr fern war. Diesmal würde England an der Seite Frankreichs stehen. Inmitten der wabernden Herbstnebel, die ihn umfingen, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Die »Frankreich«, so hielt er in seinem Tagebuch fest, war »schön wie immer«. Und dann bückte er sich nieder und vollzog eine rituelle Handlung, die einem Versprechen gleichkam. Zu den Füßen der Marianne legte er »ein Stückchen der Karte« nieder, »welche die Versammlung der britischen Streitkräfte auf Frankreichs Boden zeigte«.[6]

Ein halbes Jahr nach dieser Begebenheit kam das zweite Menetekel. Mitte April 1912 jagte der Oceanliner Titanic dem Blauen Band nach, der prestigeträchtigen Prämie für die schnellste Atlantiküberquerung auf der Route Southampton – New York. Die Jungfernfahrt des hochmodernen Schiffes war ein gesellschaftliches Ereignis, wie es in Europas ziviler Hochseeschifffahrt seinesgleichen suchte. Sie führte, um Zeit zu gewinnen, ein wenig nördlicher als üblich über den Atlantik. Keine zwei Wochen zuvor war die Titanic durch die White Star Linie in Dienst gestellt worden. Sie war mit mehr als 46 000 Bruttoregistertonnen der größte Passagierdampfer der Epoche. Die Konstruktion, die auf den Erfahrungen des Schlachtschiffbaus basierte, galt den Ingenieuren als Garantie der Unsinkbarkeit. Aber dieses Wunderwerk der Technik legte niemals in der neuen Welt an. Am Abend des 14. April 1912 saßen die Passagiere beim festlichen Abenddinner. Es gab eine Auswahl erlesener Speisen am Buffet: Lachs, Krabben, Sardellen, Hering und Sardinen als Vorspeise; Roast Beef, Kalbsbraten und gewürztes Rindfleisch, mit Kalbs- und Schinkenpastete, als Hauptgericht. Wenige Stunden später, kurz vor Mitternacht, während viele der gut 1300 Passagiere noch dinierten und tanzten, rammte das Schiff einen Eisberg. Innerhalb von kaum drei Stunden war alles zu Ende. Nur wenige Hundert Menschen wurden aus den eisigen Wassern des Nordatlantik gerettet.

Die funkelnagelneue Titanic war das Schmuckstück des alten Kontinents gewesen: der Inbegriff seiner Ingenieurkunst und Intelligenz, das Symbol seiner führenden Rolle in der Welt und, wie der Name verriet, der Ausdruck von Unverwundbarkeit und Überlegenheit. Ihr Untergang wurde zum Memento mori der Überheblichkeit, der trügerischen Sekurität, der fatalen Selbstgewissheit und des unbegrenzten Fortschrittsglaubens. Die Zivilisation, die dieses Wunderwerk der Technik hervorgebracht hatte, sollte bald am Eisberg des totalen Krieges zerschellen.

Das dritte Menetekel kam ein Jahr später. Es hing mit einem Musikskandal zusammen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Am Abend des 29. Mai 1913 stand in Paris im neu erbauten Théâtre des Champs-Élysées in der Avenue Montaigne die Uraufführung von Igor Strawinskys(1) Ballett »Le Sacre du Printemps« an. Paris, das war nicht nur die Hauptstadt der künstlerischen Avantgarde, sondern auch das Zentrum des grazil dahinschwebenden, ästhetisch perfekten Balletts der Primaballerinas. Aber was den Zuschauern an diesem Abend geboten wurde, sprengte alle Konventionen und führte zum Eklat.

Schon die Eröffnungsmusik quittierte das Publikum mit Missfallen und Protest. Kaum setzte der erste Ton des hohen Fagottsolos ein, begann im Saal ein abfälliges Getuschel und Gelächter. Aber dabei blieb es nicht. Die Unruhe und die Buhrufe schwollen zum Tumult an, als die Tänzer auf der Bühne in der Hauptstadt des romantischen Balletts erschienen. Von Aufführungsästhetik keine Spur, stattdessen ein rasendes Durcheinander, stampfende Beine, stakkatohafte Bewegungen, ekstatische Verrenkungen und geometrisch-abstrakte Tanzfiguren. Bald ging die gesamte Musik im Protestgeschrei unter, als sich die Entrüstung der aufgebrachten Zuschauer in Handgreiflichkeiten und einer veritablen Schlägerei entlud. Am Ende zählte die Polizei 27 Verletzte. Es war nur der stoischen Ruhe des Dirigenten Pierre Monteux zu verdanken, dass die Aufführung überhaupt zu Ende gebracht werden konnte. Entsprechend vernichtend fielen die Kommentare aus. »Reine Kakophonie«, »Das Werk eines Wahnsinnigen«, »Ein von Idioten gemachtes Ding«, so lauteten die Schlagzeilen der Kritiker. Und noch eine Woche nach der Premiere war in der »New York Times« zu lesen: »Pariser pfeifen das neue Ballett aus / Das Frühlingsopfer, ein Reinfall / Die Lichter mussten angemacht werden, um die feindseligen Demonstrationen zu unterbinden«. Musikalische Dissonanzen statt harmonische Wohlklänge; ekstatische Zuckungen statt anmutige Tanzfiguren, so sah es das Publikum, das sich verhöhnt und beleidigt fühlte.

Die harschen Reaktionen verdeckten freilich, dass sich in dem Erscheinungsbild des Zerstörerischen und Barbarischen, mit seinen unrhythmischen Klängen und dem rauschhaften Ballettanz, nicht nur die Abkehr von der traditionellen Ballettform vollzog. Hinter der Zertrümmerung der klassischen Form stand eine Symbolik des Untergangs. In Strawinskys(2) meisterhaft inszeniertem Umschlagen eines ausgelassenen, übermütigen Frühlingstreibens in die unheilschwangere Düsternis eines grausamen Todesrituals kündigte sich die kommende Katastrophe an. Der Frühlingsreigen, in dem nach wilden, heidnischen Tänzen dem Frühlingsgott eine Jungfrau zum Opfer dargebracht wird, wurde zum Vorboten des Weltkriegs. Gleich einer die Zukunft weissagenden Glaskugel fing das Stück wie im Brennspiegel die ganze Bestialität und Entmenschlichung des nahenden Krieges ein: die Rauschhaftigkeit der durch Propaganda aufgepeitschten Massen; das sinnentleerte, viehische Verrecken auf den Schlachtfeldern; den alles verschlingenden, grenzenlosen Vernichtungswahn; die barbarische Verrohung der Sitten an der Front; die durch keine Vernunft abzubremsende Opferbereitschaft, für die Ehre der Nation das Leben hinzugeben, und die wilde, unkontrollierbare Ekstase des Zerstörungsrausches.

Den eigentlichen Clou aber hatte Strawinsky(3) effektvoll am Ende platziert: den Todestanz der geopferten Jungfrau. Ihr Opferritual wurde zur Chiffre für den Totentanz der europäischen Zivilisation. Denn Strawinsky hatte das Geschehen auf der Bühne mit einem dröhnenden, aufwühlenden Schlussakkord des Orchesters untermalt, bei dem die wuchtigen Bässe den Ton bestimmten. Sie intonierten in ständiger Wiederkehr, in eindringlichem und stampfendem Rhythmus, immer wieder vier Töne: D-E-A-D, das Symbol für den Tod, der kein Entrinnen kannte und kein Entkommen zuließ.

Strawinskys(4) Stück traf den Nerv der Zeit. Es versinnbildlichte den Schock der Moderne in Kunst und Musik. Er und die avantgardistischen Künstler seiner Zeit witterten, was in der Luft lag: der Untergang einer Epoche. Sie spürten, dass sich etwas Neues, Unbekanntes, Unheilschwangeres ankündigte: die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich wurde der Erste Weltkrieg, wie ihn der britische Offizier Sir Charles Repington(1) in seinen Kriegserinnerungen schon 1920 nannte, zur Keimzelle der kommenden Katastrophen. Denn das vierjährige verbissene Ringen öffnete, wenn man einen Vergleich aus der Antike bemühen will, die Büchse der Pandora. Ganz wie aus Zeus’ hinterlistigem Hochzeitsgeschenk für den Bruder des Prometheus das Unheil für die antike Menschheit hervorkroch und einzig die Hoffnung eingeschlossen blieb, so brach mit diesem Krieg das Unheil über die Menschen des 20. Jahrhunderts herein. Der Krieg wurde zum Laboratorium der Vernichtung, zur Brutstätte menschenverachtender, rassistisch aufgeladener Ideologien und zum Treibhaus für neue Konflikte und Kriege, die bis in unsere Tage reichen. Die Hoffnung des britischen Schriftstellers H. G. Wells(1), dies sei der Krieg, der endlich alle Kriege überflüssig machen und einen ewigen Frieden heraufführen werde,[7] eine dem grausigen Geschehen sinngebende Losung, die sich der amerikanische Präsident Woodrow Wilson(1) schnell zu eigen gemacht hatte, verkehrte sich damit geradezu in ihr Gegenteil. Nie zuvor bewahrheitete sich die Heraklit zugeschriebene Sentenz, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, so, wie in den dem Krieg folgenden Jahrzehnten.

Zugespitzt lässt sich sagen, dass nahezu alles, was danach kam, in den Kanonenrohren des Krieges gezeugt wurde. Das galt nicht nur für die Politik der einzelnen Staaten, die fortan im Schatten der großen Katastrophe stand. Es galt auch für das Feld der Erinnerungskultur, das ganz vom grausigen Kriegserlebnis beherrscht war. Es galt für das Netzwerk der globalen Finanzströme, das mit dem in Versailles und auf der Konferenz von Spa inaugurierten Transfer gigantischer Geldsummen und Reparationsleistungen aufgespannt wurde. Es galt für die labile und konfliktträchtige Territorialordnung auf dem Kontinent, welche die Pariser Verträge von 1919 begründeten und an der sich ein neuerlicher Krieg entzünden sollte. Und es galt für das künftige Selbstverständnis der Nationen, das zwischen Sicherheitsdenken und Revanchestreben oszillierte. Der Kampfeslärm von 1914 sollte nie mehr verstummen. Der Erste Weltkrieg wurde zur fundamentalen Epochenscheide, die das 19. vom 20. Jahrhundert trennte. Jetzt begann in einem unaufhaltsamen Prozess das Abtreten des alten Kontinents von der Bühne der Weltpolitik. Seit den Tagen des Kolumbus hatte er der Erde für mehr als vierhundert Jahre seinen Stempel aufgedrückt.

Der Hauptkatalysator für diese Entwicklung war nicht nur der vier Jahre lang unerbittlich geführte Kampf, der blanken Hass hervorgerufen und tiefe, unheilbare Wunden auf allen Seiten geschlagen hatte. Es war vor allem der am 28. Juni 1919 in Versailles geschlossene Frieden. In Paris gelang es, anders als im 19. Jahrhundert und davor, keineswegs, die Welt des Krieges in eine Welt des Friedens zu überführen. Der große Krieg gebar nur einen kleinen Frieden, der zudem nichts als ein Scheinfriede war. Er beruhte nicht wie ehedem auf dem Prinzip des Vergebens und Vergessens. Er übte Vergeltung. Er war gekennzeichnet vom kurzsichtigen Eifer der Siegermächte, ihre eigenen Interessen auszutarieren, statt diejenigen von Siegern und Besiegten in eine neue, funktionsfähige Balance zu bringen. Er schloss die bevölkerungsreichsten Staaten des Kontinents, das Deutsche Reich und Sowjetrussland, vom Geschäft des Friedensschließens aus. Ja, er erzwang die Annahme des Friedens mit Androhung von Gewalt und Einmarsch, mit Ultimaten und strangulierender Fristsetzung. Und er übersah vollkommen, dass eine Ordnung nur dann funktionieren kann, wenn sie bei der Mehrzahl der Betroffenen auf Akzeptanz und Einsicht stößt.

Gerade das aber war im Nachkriegsdeutschland nicht der Fall. Der Diktatcharakter des erpressten Friedens, das Ultimatum, mit dem man die Unterschrift erzwang, die Zumessung der alleinigen Kriegsschuld, wie dies in Artikel 231 des Vertrages und noch weit stärker in der alliierten Mantelnote vom 16. Juni 1919 zum Ausdruck kam, die sogenannten »Ehrenpunkte«, wie die geforderte Auslieferung der »Kriegsverbrecher« genannt wurde, der Versailler Blankoscheck für Reparationszahlungen in unbekannter Höhe und nicht limitierter Dauer, die Ächtung und Wehrlosmachung des Deutschen Reiches, die Besetzung weiter Teile des Reichsgebiets, die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes für die Deutschen sowie die Demütigungen, welche die deutsche Delegation vom Waffenstillstand im November 1918 bis zur Unterschriftsleistung im Juni 1919 hatte hinnehmen müssen, all das verstetigte das Klima von Rache und Vergeltung.

Versailles spaltete die Staatenwelt in Herausforderer und Bewahrer des Status quo: in die Siegermächte und in verfemte, ja, geächtete Staaten, was die grandiose Idee des Völkerbundes als friedensbewahrende Gemeinschaft der Nationen entwertete. Versailles verstellte damit fast in allen Ländern, in Deutschland zumal und anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, die Chance zur kritischen Besinnung und zum konstruktiven Neuanfang. Hier wurde die Saat ausgebracht für einen neuerlichen Weltkrieg, der alles Dagewesene übertraf und der in der Ausrottung ganzer Völker gipfelte. Marschall Foch(2), der französische Oberkommandierende der alliierten Armeen, sollte fast auf den Tag genau recht behalten, als er Ende August 1919, kurz nach der Unterzeichnung des Versailler Friedens, hellsichtig feststellte: »Das ist kein Frieden. Es ist ein Waffenstillstand auf zwanzig Jahre.«[8]

Begriff und Bedeutung der »Urkatastrophe«

Wenn man die ganze Dimension des dramatischen Wandels erfassen will, der vom Ersten Weltkrieg ausging und der sich im Begriff der »Urkatastrophe« verdichtet, so muss man mindestens sieben Umbruchsfaktoren ins Auge fassen, die sich gegenseitig bedingten und potenzierten. Zum ersten Mal etablierte sich im Vorfeld und im Verlauf des Weltkriegs ein Primat des Militärs über die Politik. Die Kriegführung und das militärische Kalkül verselbständigten sich. Sie erlangten eine von allen politischen Erwägungen abgelöste Dominanz. Das hatte es so zuvor nicht gegeben. Das war ein qualitativ neues Phänomen: anders als in den deutschen Einigungskriegen, anders als in den zahlreichen Balkankriegen zuvor und anders als in allen bisherigen Großmachtkriegen nach dem Wiener Kongress von 1815. Stets hatten Vernunft und Augenmaß der Politik über die militärischen Zwänge und Argumente triumphiert und einen Ausweg gewiesen. Zum ersten Mal und, wie sich zeigen sollte, für lange Zeit, war es nun umgekehrt. Seit 1914 setzte sich das Übergewicht des Krieges über die Politik auf breiter Front durch.

Dieses Phänomen wurde schon in der Julikrise, jener fünfwöchigen Zeitspanne, die dem Krieg vorausging, sichtbar, als die Rationalität der politischen Entscheidungen von den militärischen Zwängen der Mobilmachung und des Zeitdrucks beiseitegefegt wurde. So in England, als Marineminister Churchill(2) die Flotte schon mobilmachen ließ, noch bevor er dazu vom Kabinett autorisiert war. So in Russland, wo Kriegsminister Suchomlinow(1) aus der vom Zaren am 25. Juli genehmigten Teilmobilmachung eine Gesamtmobilmachung machte und damit einen »point of no return« markierte. So in Frankreich, wo die Militärs um Generalstabschef Joffre(2), gedeckt durch den Staatspräsidenten Poincaré(1), jahrelang die russische Aufrüstung forcierten, den Aufmarsch des Riesenheeres gegen Ostpreußen lenkten, die Mobilmachungszeit des gigantischen Heerestrosses durch mit französischem Geld gebaute Eisenbahnlinien halbierten und damit die Einkreisungsobsessionen der Deutschen bis zur Hysterie steigerten. Und so in Berlin, wo unter dem Situationszwang von Präventivkriegsdenken, Zeitdruck und Zweifrontenkriegsbedrohung die Militärs um Generalstabschef Moltke(2) alle politischen Versuche zur Lokalisierung des österreichisch-serbischen Konflikts hintertrieben.

Die Dominanz des Militärischen zeigte sich auch im Krieg selbst, als alle Friedensinitiativen von den Militärs im Keim erstickt wurden. So Ende Dezember 1916, als die Ententemächte, gedrängt von den Militärs, ein deutsches Friedensverhandlungsangebot schroff zurückwiesen. So im Frühjahr 1917, als, gegen den Widerstand von Kaiser(1) und Reichskanzler(1), mit der Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges die USA gegen Deutschland in den Krieg gezogen wurden. Sie zeigte sich, wenn die Dritte Oberste Heeresleitung unter Hindenburg(1) und Ludendorff(1) seit 1916 in diktatorischer Weise selbst alle Entscheidungen fällte, den Kaiser beiseiteschob und den Reichskanzler bald durch eine Marionette ersetzte, ohne dafür im Geringsten legitimiert zu sein. Und sie zeigte sich, wenn es wiederum Ludendorff und Hindenburg waren, die das Ruder im Oktober 1918 plötzlich herumwarfen und die Reichsleitung bestimmten, schnellstens einen Waffenstillstand herbeizuführen. Es kam daher nicht von ungefähr, wenn der erste aussichtsreiche Anstoß zum Frieden von außen kam: von den erst spät in den Krieg eingetretenen Vereinigten Staaten und deren Präsidenten Woodrow Wilson(2). Mit seiner im Januar 1918 verkündeten Kongressbotschaft der »Vierzehn Punkte« besaß man endlich den Anker, der zur Grundlage des Waffenstillstandes vom November 1918 werden sollte.