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Vorwort

»Klassische Musik« ist heute nichts Elitäres mehr, sie ist leicht greifbar. Ein Klick, und schon kann man im Internet die unterschiedlichsten Aufnahmen eines bestimmten Werks hören und danach auf Wikipedia etwas zum Komponisten oder zur Komponistin erfahren. Und das Konzertleben ist heute so vielfältig wie nie zuvor: Neben dem traditionellen Repertoire blüht die Alte Musik genauso wie die zeitgenössische. Doch woher soll man wissen, welche Werke hörenswert, interessant oder musikgeschichtlich wichtig sind?

Eine Auflistung der Werke, die »man« kennen sollte, um eine umfassende Kenntnis der »klassischen Musik« zu erlangen, wird meistens »Kanon« genannt. Kanons sind genauso unverzichtbar wie hochproblematisch. Ob in der Philosophie, der Literatur, der Kunst oder eben der Musik – Kanons existieren immer und wie selbstverständlich. Meistens wird diese Tatsache aber überhaupt nicht reflektiert. In Schulbüchern, Rundfunksendern, großen Institutionen wie Orchestern und Opernhäusern, Musikhochschulen, Lexika oder der Musikwissenschaft operiert man mit Präferenzen, die nicht immer begründet sind. Sie ergeben sich oft aus Tradierungen, eingeschliffener Praxis, Gewohnheit, (uneingestandenen) Vorlieben bzw. Abneigungen oder schlimmstenfalls aus Unkenntnis.

Dieses Buch verhält sich zu der Tradition musikalischer Kanons kritisch. In gewisser Weise setzt es sie fort, weil es die wichtigsten Werke nicht unberücksichtigt lassen kann. Andererseits versucht es einen neuen Ansatz. Das Musikleben hat sich in den letzten fünfzig und vor allem in den letzten zwanzig Jahren grundlegend verändert. Seit einem halben Jahrhundert wurde die sogenannte Alte Musik, grob gesagt: das Repertoire vor Johann Sebastian BachBach, Johann Sebastian entdeckt und entfaltet und ist nun in großem Umfang verfügbar. Und in dieser Zeit ist natürlich auch die zeitgenössische Musik nicht stehengeblieben. Überdies erleben wir seit zwanzig Jahren eine Medienrevolution, in der all diese Musik im Internet verfügbar wird. Damit steigt aber das Bedürfnis nach Orientierung, nach Übersicht und Anregung.

Das Buch versucht in konzentrierten Darstellungen einen ausführlichen Überblick von der Alten bis zur Neuen Musik. Neben den großen Komponisten und Komponistinnen und ihren herausragenden Werken präsentiert es ebenso einige fast unbekannte Werke und solche, die es gleichwohl verdienen, verstärkt gespielt und gehört zu werden.

Für das Buch haben sich Kenner der verschiedenen Musikepochen zusammengefunden, um einen Überblick über gut tausend Jahre Kunstmusik zu verfassen. Die Autoren waren um Ausgewogenheit bemüht: in der Gewichtung der Länder und Kulturen, der Epochen, der Genres und ästhetischen Ansätze. Dennoch ist unsere Auswahl natürlich auch persönlich, denn ohne eine gewisse Emphase für den Gegenstand lässt sich kaum ein Buch über Musik schreiben. Auch in den Beschreibungen der einzelnen Werke soll der persönliche Zugang des jeweiligen Autors durchaus deutlich werden, weshalb wir Namenskürzel verwenden.

Das Buch weiß um die Qualität derjenigen Musikgenres (und um die Berührungspunkte mit ihnen), die es sprengen würden: Leichte Musik, Popmusik, Operette, Musical, Filmmusik, Jazz, von den indigenen Musikkulturen in einer globalisierten Welt ganz zu schweigen. So konnte beispielsweise eine Ausnahmeerscheinung wie Frank Zappa genauso wenig berücksichtigt werden wie herausragende Jazzmusiker. Damit ist kein ästhetisches Werturteil verbunden.

Dieses Buch ist »Werken« (worauf im Essay eingegangen wird) gewidmet und soll dabei zeigen, dass der Werkbegriff keinesfalls auf die Zeit zwischen Beethoven, Ludwig vanBeethoven und Boulez, PierreBoulez beschränkt ist. Ein Werk ist in unserem Verständnis einfach das, was man eine musikalische Arbeit nennen kann, einen Autor hat, verschiedentlich aufgeführt wird und eine einigermaßen fest umrissene Identität besitzt. Schlüsselwerke sind Werke, die das Verständnis einer ganzen Reihe von kategorial verwandten Werken erleichtern, ja manchmal allererst eröffnen. Damit ist, dessen sind wir uns bewusst, eine weitere Einschränkung gegeben: Kollektivkompositionen, Fluxus und Happenings, die ihre historische und ästhetische Berechtigung haben, konnten nicht berücksichtigt werden.

Prekär zu entscheiden war sowohl der Zeitpunkt, an dem unsere Liste beginnen, als auch, wo sie enden soll. Wir haben uns entschieden, den Anfang dort zu setzen, wo Mehrstimmigkeit greifbar wird. Der große Bereich kunstvoller einstimmiger Musik (man denke nur an Hildegard von BingenHildegard von Bingen aus dem Mittelalter), der man auch Werkcharakter zubilligen könnte, bleibt deshalb aus Gründen mangelnder Kapazität außen vor. Die jüngste Zeit ist schwerlich zu erfassen, da das Musikgeschehen nach dem Ende der Nachkriegsperiode der Neuen Musik keinen einheitlichen stilistischen Orientierungen mehr unterliegt, an Breite (global) und Vielfalt (digital) zugenommen hat und sicher erst in der Zukunft einen Überblick erlaubt. Mit Unsuk Chin, UnsukChin haben wir zugegebenermaßen einen etwas willkürlichen Schlusspunkt gewählt, immerhin kann sie aber als Komponistin dort symbolhaft stehen, waren doch in der Musikgeschichte bis dato Komponistinnen eher spärlich vertreten.

Fast alle Musik, von der dieses Kompendium handelt, ist im Internet (YouTube) verfügbar. Ein Abspielen auf einem Computer oder Smartphone ersetzt natürlich nicht den Konzertbesuch oder wenigstens die Wiedergabe auf einem HiFi-Gerät, möge aber den ersten Einstieg erleichtern. Auch denen, welche die Noten betrachten wollen, hilft das Internet (z. B. Petrucci Music Library [imslp.org]). Insofern haben wir auf Empfehlungen für Aufnahmen in der Regel verzichtet.

Dass dieses Buch eine Auswahl treffen musste, versteht sich von selbst. Nicht alle Komponisten und Komponistinnen konnten Erwähnung finden. Bei solchen mit Œuvres von überragender Bedeutung (z. B. Monteverdi, ClaudioMonteverdi, Bach, Johann SebastianBach, Mozart, Wolfgang AmadeusMozart oder Schubert, FranzSchubert) werden mehrere Werke besprochen, und es wird eine kurze biographische Einleitung gegeben. Aber natürlich musste hier wiederum ausgewählt werden, was uns schwerfiel. Wir konnten unmöglich alle Mahler, GustavMahler-Symphonien oder Verdi, GuiseppeVerdi-Opern besprechen. Nicht selten haben wir uns für ein Zugangswerk entschieden, von dem aus das Gesamtwerk entdeckt werden kann. Unter »weitere Werke« finden sich Hinweise auf weitere wichtige Werke, und wir geben gezielte Hinweise auf weiterführende Literatur. Der Zeitstrahl dient der groben Orientierung im geschichtlichen Umfeld, das Glossar hilft beim Verständnis der Fachbegriffe.

Wir versammeln 200 Komponisten und Komponistinnen, erläutern 286 Werke und verweisen auf über eintausend weitere. Nachdem neugierige Musikliebhaber – oder wissbegierige Studierende – all diese Musik kennengelernt haben, mögen sie ausreichend motiviert und stimuliert sein, diesen Kreis nach persönlichen Vorlieben stetig zu erweitern, denn: Der Schlüsselwerke kann es nicht genug geben!

Das Buch ist gemeinsam mit Peter Mischung konzipiert und entwickelt worden. Wir danken ihm für sein Engagement und vielfachen Rat in Sachfragen. Von der Konzeption über die Auswahl und die Darstellung bis hin zum Abschluss hat unser Buch oft auch leidenschaftliche Diskussionen unter den Beteiligten ausgelöst. Viele Lösungen haben wir daher erst nach und nach gemeinsam gefunden. Anregungen und Unterstützung erhielten wir unter anderem von Gisela Bechtel, Nicole Besse, Dániel Péter Biró, Micha Brumlik, Frank Cox, Pouria Eghdami, Junyu Guo, Sophia Menke, Ulrike Menke, Gabriel Teschner, Hakan Ulus und Florian Vogt.

Freiburg/Potsdam/Lörrach, im Mai 2019

Anonymus/Anonyma (ca. 900 – 1200)

| Frühe Mehrstimmigkeit. Erste aufgezeichnete polyphone Kompositionen.

 

Schon aus dem frühen Mittelalter sind kunstvoll komponierte einstimmige Kompositionen überliefert. Viele davon entstanden in den Frauen- oder Männerklöstern, die Autorinnen und Autoren sind meist anonym, andere aber auch namentlich bekannt wie Hildegard von Bingen (10981179). Wahrscheinlich wurde diese Musik auch mehrstimmig aufgeführt. Der erste genauere Hinweis auf mehrstimmiges Musizieren ist ein Traktat: die Musica enchiriadis (Handbuch zur Musik) aus dem späten 9. Jahrhundert. Diese Schrift ist eine späte Frucht der von Karl der GroßeKarl dem Großen in Gang gesetzten Bildungsreform (karolingische Renaissance), die sich auch auf die Musik auswirkte. In der Musica enchiriadis werden die mittelalterlichen Tonarten beschrieben, und es wird ein Tonsystem aufgestellt, mit dem man den Gregorianischen Choral (also die einstimmige liturgische Musik der Kirche) problemlos in parallelen Quinten singen kann. Beim Singen in parallelen Quarten, das auch üblich war, tritt allerdings ein systembedingtes Problem in Form von unschönen übermäßigen Quarten auf. Damit wird es aber erst interessant, denn, um diese zu vermeiden, soll man Haltetöne benutzen und als Intervalle auch Terzen und große Sekunden. Damit steht die Tür offen zu einem Erkundungszug in die Mehrstimmigkeit!

Den frühen mehrstimmigen Gesang nennt man Organum. Sicherlich wird die Praxis des Organum-Singens in den Traktaten idealisiert dargestellt, aber wir können davon ausgehen, dass sie weit verbreitet war. Es muss den Beschreibungen in den Traktaten zufolge ziemlich prachtvoll und wuchtig geklungen haben: Man sang langsam, in mehreren Oktavlagen und zusammen mit Instrumenten. Nach dem 9. Jahrhundert folgen viele weitere Traktate, die eine mehrstimmige Aufführungspraxis des Chorals beschreiben. Sie belegen, wie sich diese Praxis nach und nach immer weiter verfeinert hat. Und man merkt den Autoren an, wie fasziniert sie vom Klang der Mehrstimmigkeit waren, weil in ihr die Stimmen »einmütig verschieden klingen und verschieden klingend übereinstimmen«, wie es bei Guido von ArezzoGuido von Arezzo heißt. Auf diesen Autor gehen übrigens auch unser Tonsystem und die Grundlagen unserer Notation zurück.

Irgendwann genügte es den Musikern nicht mehr, aus dem Stegreif mehrstimmig zu singen, und sie fingen an, Stücke aufzuschreiben. Es entstand ein erstes Repertoire kunstvoller Polyphonie, vor allem im Südwesten Frankreichs (aquitanische Polyphonie). Dabei war der Rhythmus noch nicht exakt festgelegt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist diese Musik nach wie vor sehr faszinierend. (JM)

 

Literatur: Hans Heinrich Eggebrecht, »Die Mehrstimmigkeitslehre von ihren Anfängen bis zum 12. Jahrhundert«, in: Frieder Zaminer (Hrsg.), Geschichte der Musiktheorie, Bd. 5, Darmstadt 1984, S. 987; Rudolf Flotzinger, Das sogenannte Organum. Zu den Anfängen der Mehrstimmigkeit im Abendland, Graz 2011.

Perotinus MagnusPerotinus Magnus (ca. 1170 – 1238)

Pariser Musiker. Einer der ersten namentlich überlieferten Komponisten mehrstimmiger Musik in Europa.

Sederunt principes. Vierstimmiges Organum (frühes 13. Jahrhundert), ca. 1214 Minuten.

 

| Erster Höhepunkt notierter Polyphonie, Notre-Dame-Schule.

 

Im 12. und 13. Jahrhundert herrschte kulturelle Aufbruchstimmung: Die Städte blühten, Universitäten wurden gegründet, die Philosophie (Scholastik) stand hoch im Kurs, in ganz Frankreich wurden gotische Kathedralen errichtet, wie Notre-Dame in Paris. Und auch die mehrstimmige Musik erlebte dort einen Höhepunkt mit einer Vielzahl von zwei-, drei- und sogar vierstimmigen Kompositionen, die im Magnus liber organi überliefert sind. In einer ersten Periode (bis ca. 1200) entstanden zweistimmige Organum-Sätze, deren Rhythmus noch nicht exakt festgelegt war. Ein Theoretiker dieser Zeit (den man später auf den schönen Namen »Anonymus IVAnonymus IV« getauft hat) bezeichnet den Komponisten LeoninusLeoninus (2. Hälfte 12. Jahrhundert) als »optimus organista« (bester Organumkünstler). In einer zweiten Periode (nach ca. 1200) würdigt Anonymus IV nun Perotinus Magnus als »optimus discantor« (besten Diskantkünstler) und fügt hinzu, er sei besser als Leoninus! Anonymus IV führt sogar einen kleinen Werkkatalog Perotins an (s. u.). Für ihn gibt es einen klaren Fortschritt, und mit den Begriffen »organum« und »discantus« unterscheidet er auch zwei Etappen in der Geschichte der Polyphonie.

Perotinus benutzte die sogenannte Modalrhythmik. Dabei stehen sechs rhythmische Modelle (Modi) in jeweils drei unterschiedlich langen Varianten zur Verfügung. Damit lassen sich die Melodien rhythmisieren, und man kann dabei auch verschiedene Rhythmen gleichzeitig singen – wovon Perotinus ausführlich Gebrauch macht.

Das Organum Sederunt principes ist für die Messe am Stephanustag (26. Dezember) komponiert. In der Haltestimme, dem Tenor, erklingt der Choral des Graduale. Ihm hat Perotinus drei Stimmen hinzugefügt. In den Partien, in denen der Tenor eine Silbe lange aushält, entstehen bewegte Klangflächen. Wenn der Tenor schneller vorangeht, erklingt ein dichter vierstimmiger Satz. Insgesamt ergibt sich eine imposante Klangarchitektur aus wechselnden Texturen. Ihre Wirkung entspricht der gotischen Architektur mit ihren bunten Glasfenstern und lichtdurchfluteten Räumen.

Perotinus wurde erst im späten 19. Jahrhundert wiederentdeckt, übt aber seitdem Einfluss auf die zeitgenössische Musik aus: Steve Reich, SteveReich berief sich auf ihn, und auch für Klaus Huber, KlausHuber war die Begegnung mit Perotinus prägend. (JM)

 

Weitere Werke (nach Anonymus IV): Viderunt omnes, Alleluja. Navitatis, Alleluia. Posui, Salvatoris hodie, Dum sigillum summi patris, Beata viscera.

 

Literatur: Perotinus Magnus (Musik-Konzepte 107), München 2000.

Guillaume de Machaut, Guillaume deMachaut (ca. 1300 – 1377)

Französischer Dichter und Komponist.

Motette 23: Felix virgo / Inviolata genetrix / Ad te suspiramus. Isorhythmische Motette (möglicherweise 1359/60), ca. 45 Minuten.

 

| Ars nova: Kunstvolle »moderne« Musik für Gebildete.

 

Im frühen 14. Jahrhundert wurde die Räderuhr erfunden und verbreitete sich in ganz Europa. Auch in der Musik spielt die genau gemessene Zeit eine entscheidende Rolle. Kunstvolle mehrstimmige Musik wurde auch »musica mensurata« (gemessene Musik) genannt. Die Notation der Zeit nennt man »schwarze Mensuralnotation« (weil sie nur ausgefüllte Notenköpfe hat). Sie beruht auf dem Prinzip, dass Notenwerte auf verschiedenen Ebenen zweifach (imperfekt) oder dreifach (perfekt) geteilt werden. Dieses Prinzip wirkt sich bis auf die heutigen Taktarten aus. Mit Hilfe der Mensuralnotation lassen sich auch kompliziertere Rhythmen genau komponieren. Ab 1300 etabliert sich eine ars nova (so der Titel eines Traktats, der Philippe de Vitry, Philippe deVitry [12911361] zugeschrieben wird), in der die Möglichkeiten dieser neuen Notation ausgeschöpft werden. Die Zeit davor nennt man deshalb auch ars antiqua.

Machaut gilt als wichtigster französischer Komponist des 14. Jahrhunderts. Seine späte Motette 23 zeigt typische Merkmale der ars nova, aber auch seines Personalstils. Eine Motette ist gemäß der Definition des Theoretikers Johannes de Grocheio, Johannes deGrocheio (um 1300) ein mehrstimmiges Stück, in dem mehrere Texte gleichzeitig erklingen. Dies können geistliche oder auch weltliche Texte sein, oft sogar in verschiedenen Sprachen. Eine Motette richte sich, so Grocheio, an Gebildete und solle nicht vor dem Volk gesungen werden!

In der Motette 23 werden drei lateinische Texte kombiniert, die alle einen Bezug zur Gottesmutter Maria haben. Das Konstruktionsprinzip ist isorhythmisch: Nach einer kurzen Einleitung sind die beiden Unterstimmen streng organisiert; eine rhythmische Reihe (Talea) läuft dreimal durch, während die Tonhöhenreihe (Color) sich nicht wiederholt. Danach läuft alles noch einmal im doppelten Tempo ab. Die Oberstimmen sind frei komponiert und haben schnellere Figuren. Im zweiten Teil bringen die Oberstimmen einen sogenannten Hoquetus: durch Pausen zerhackte Melodien, die damals sehr in Mode waren. Der Zusammenklang ist wohlorganisiert durch das neue Verfahren des contrapunctus, das im 14. Jahrhundert aufkommt. Dabei lösen sich spannungsreiche »imperfekte« Konsonanzen (aus Terzen und Sexten) in reine »perfekte« Klänge (aus Quinten und Oktaven) auf. MachautMachaut, Guillaume de war ein Meister in der formalen und melodischen Gestaltung dieser harmonischen Spannung. (JM)

 

Weitere Werke: Messe de Nostre Dame, 22 weitere Motetten, Balladen, Rondeaux, Virelais und Lais.

 

Literatur: Wulf Arlt, »Machaut«, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 15, Oxford 2001, S. 478490; Elizabeth Eva Leach, Guillaume de Machaut. Secretary, Poet, Musician, Leuven 2011; Felix Diergarten, Komponieren in den Zeiten Machauts, Habil., Würzburg 2016.

Landini, FrancescoFrancesco Landini (13251397)

Florentiner Komponist und Instrumentalvirtuose.

Così pensoso. Dreistimmige Caccia, ca. 23 Minuten.

 

| Trecento: Die erste Blüte italienischer Polyphonie.

 

Im 14. Jahrhundert erwacht mit Dante AlighieriDante Alighieri (12651321), Francesco Petrarca, FrancescoPetrarca (13041374) und Giovanni Boccaccio, GiovanniBoccaccio (13131375) die italienische Literatur. Damit machen sich die ersten Frühlingsknospen der Renaissance bemerkbar, und das zeigt sich auch im Musikleben. Francesco Landini gehört zu den herausragenden Musikern dieser Zeit. Wegen einer Pockenerkrankung erblindete er bereits in seiner Jugend. Umso mehr wandte er sich der Musik zu und wurde ein Virtuose auf mehreren Instrumenten, darunter auf der Orgel, der Lyra und der Flöte. Daneben sang er natürlich auch.

Landini komponierte fast nur weltliche Musik und bediente sich dabei vorzugsweise der Form der Ballata und des Madrigals. Così pensoso ist die einzige Caccia, die von ihm überliefert ist. Mit Caccia bezeichnete man damals Stücke, in denen ein Kanon, d. h., eine wörtliche Imitation von zwei Stimmen stattfindet, oft von einer Unterstimme begleitet.

»Caccia« heißt eigentlich »Jagd«. Bildlich gesprochen jagen sich die Stimmen gegenseitig durch Imitation. Diese Bedeutung schwingt auch bei der späteren »Fuge« (lat. fuga = Flucht) noch mit. Die Texte von Caccia-Kompositionen handeln tatsächlich oft von der Jagd. In unserem Fall geht es vordergründig um den Fischfang und hintergründig um die amouröse Jagd der Beteiligten bzw. nach den beteiligten Damen. Durch die zwei Bedeutungsebenen bekommt das Stück etwas Spielerisch-Frivoles. Strukturell ist Landinis Stück so gebaut, dass die Oberstimmen einen strengen Kanon singen und dabei von einer einfacheren Unterstimme begleitet werden. Wegen des Kanons bringen die Oberstimmen auch den Text zeitversetzt, so dass man immer zwei Verse auf einmal hört. Auf diese Weise entstehen humorvolle Textverknüpfungen, die auch musikalisch geistreich gestaltet werden.

Die italienische Musik des Trecento ist nicht so kompliziert wie die französische Ars nova und spätere Ars subtilior, doch ebenso feinsinnig und kultiviert. Eine wichtige Quelle ist der Codex Squarcialupi. Die meisten Werke darin stammen von Landini, andere von Bartolino da PadovaBartolino da Padova, Niccolò da PerugiaNiccolò da Perugia, Andrea da FirenzeAndrea da Firenze, Jacopo da BolognaJacopo da Bologna und anderen Komponisten. (JM)

 

Weitere Werke: 141 Balladen, 12 Madrigale, vier Motetten.

 

Literatur: F. Alberto Gallo (Hrsg.), Il codice Squarcialupi, Florenz 1992; Alessandra Fiori, Francesco Landini, Palermo 2004.

SolageSolage (spätes 14. Jahrhundert)

Vermutlich französischer Komponist.

Fumeux fume par fumée. Dreistimmiges Rondeau für »Raucher« (spätes 14. Jahrhundert), ca. 56 Minuten.

 

| Ars subtilior: hochverfeinerte Musik mit durchaus manieristischen Tendenzen.

 

Genauso wie die Architektur, Buchmalerei, Dichtung oder Mode wurde auch die französische Musik im ausgehenden 14. Jahrhundert immer feiner und ausgeklügelter. Man bezeichnet sie daher auch als Ars subtilior. Vor allem die rhythmische Raffinesse und der Gebrach von Versetzungszeichen (Akzidentien) wurde immer weiter getrieben. Mit deren Hilfe wird ein Ton chromatisch nach oben oder unten verändert (z. B. von f zu fis oder von e zu es). Manche Akzidentien notierten die Komponisten, manche verstanden sich von selbst; dann spricht man von musica ficta.

Der Komponist Solage, über dessen Person wir nichts wissen, trieb den Gebrauch von Akzidentien in seiner Chanson Fumeux fume par fumée auf die Spitze. Als Chansons bezeichnet man die kunstvollen höfischen Lieder des Spätmittelalters, die den Formen Rondeau, Ballade und Virelai folgen.

Schon der Titel macht stutzig: Hier wird ganz offensichtlich schon mit dem Klang der Silben sprachlich komponiert und mit Wortbedeutungen gespielt: »Der Raucher raucht, durch Rauch rauchige Vermutungen.« Dabei ist weniger das Rauchen gemeint, denn erst Ende des 15. Jahrhunderts gelangte Tabak aus Amerika nach Europa. Solage war Mitglied eines Pariser Intellektuellenzirkels um den Dichter Eustache Deschamps, EustacheDeschamps, die sich »fumeurs« nannten. Deschamps (13451404), ein stilistisch innovativer Dichter des französischen Mittelalters – vermutlich ein Neffe Machaut, Guillaume deMachauts –, von dem gut 1100 Balladen überliefert sind, verfasste eine Poetik metrisch gebundener Texte, bei der es ihm selbst mehr auf die »musique naturelle« der Sprache als auf die »musique artificielle« der Melodie ankam.

In seiner Chanson schreibt Solage eine Musik, die heute noch bizarr und extravagant klingt – ein »psychedelischer« Stil des Mittelalters. Technisch gesehen entsteht diese Wirkung dadurch, dass Solage zu seiner Zeit ungewöhnliche Akzidentien wie des und ges, im selben Stück aber auch cis und gis verwendet.

Die Werke von SolageSolage sind uns im Codex Chantilly überliefert. Dieses Manuskript enthält über 100 Kompositionen der Ars subtilior. In vielen von ihnen wird mit der Notation experimentiert, eines ist z. B. in Form eines Herzens notiert (Belle, bonne von Baude Cordier, BaudeCordier, 2. Hälfte des 14. Jh.s), ein anderes in Form einer Harfe (La Harpe de melodie von Jacob Senleches, JacobSenleches, um 1400). (JM)

 

Weitere Werke: Neun Balladen, zwei Virelais.

 

Literatur: Yolanda Plumley (Hrsg.), A Late Medieval Songbook and its Context: New Perspectives on the Chantilly Codex, Turnhout 2009; Blog des Musikforschers Marc Lewon: https://mlewon.wordpress.com/2013/05/28/fa-mi-fa-mi-spells-fumeux-fume/.

Ciconia, JohannesJohannes Ciconia (ca. 1370 – 1412)

In Italien wirkender franko-flämischer Komponist und Theoretiker.

O Padua, sidus praeclarum. Dreistimmige Motette zum Lobpreis der Stadt Padua (frühes 15. Jahrhundert), ca. 3 Minuten.

 

| Trecento/Frühe Renaissance.

 

Der in Lüttich geborene Johannes Ciconia ist einer der ersten von vielen Komponisten des 15. und 16. Jahrhunderts, die aus dem franko-flämischen Raum stammen und in Italien arbeiten. Weil sie aus den Gebieten jenseits der Alpen herkommen, nennt man sie auch die »Oltremontani«. Nach Tätigkeiten in Rom hielt sich Ciconia seit 1401 in Padua auf, wo er bis zu seinem Tod Kantor am Dom war. Seiner Wahlheimat widmete er die weltliche Motette O Padua, sidus praeclarum – »O Padua, glänzender Stern«. Im Text wird die norditalienische Stadt in all ihren Facetten gepriesen: ihre Lage, die Fruchtbarkeit des Bodens, die Architektur bis hin zu den Wissenschaften und Künsten. Am Schluss wird der Komponist selbst genannt, dessen Motette den Ruhm der Stadt in alle Welt tragen soll.

Noch heute wird uns der damalige Glanz Paduas musikalisch veranschaulicht, wenn wir sie in einer guten Aufführung hören. Die Anlage des Satzes ist typisch für CiconiaCiconia, Johannes: Eine Tenorstimme bildet das Fundament. Sie liegt immer unter den beiden Oberstimmen und wird fast schon wie eine Bassstimme in späterer Musik eingesetzt. Die beiden oberen Stimmen tragen den Text in lebendigen Rhythmen vor. Dabei werden oft einzelne Worte entweder besonders deutlich herausgestellt oder mit virtuosen Ornamenten verziert. Die Komposition wirkt nie konfus, sondern stets klar und plastisch. Am Anfang glaubt man fast Fanfaren zu hören, die den Glanz Paduas verkünden. Später gibt es sogar Tonmalereien: Wenn von den versammelten Künstlern die Rede ist, erklingt eine synkopisch-schwungvolle Akkordfolge, die Flüsse werden durch sich abwärts windende, schnelle Melodien versinnbildlicht.

Verglichen mit anderen Stücken dieser Zeit klingt die Motette zukunftsweisend, ihre Harmonik wirkt fast wie das festliche C-Dur in späterer Musik. Dabei ist das Stück ohne erkennbare Vorlage komponiert. Es gibt keine vorgegebene Stimme (Cantus firmus) und keine strengen Satzkonstruktionen. Der Komponist hat sich ganz auf die Wirkung seines Stückes konzentriert, auf die Gestaltung des Kontrapunkts, die Modellierung der Melodien und die Farben der Klänge. (JM)

 

Weitere Werke: Einzelne Messsätze, zehn weitere Motetten, zahlreiche Lieder, Madrigale und Balladen, außerdem drei theoretische Traktate.

 

Literatur: Annette Kreutziger-Herr, Johannes Ciconia (ca. 1370 – 1412): Komponieren in einer Kultur des Wortes, Hamburg 1991; Steffen Seiferling, O felix templum jubila. Musik, Text und Zeremoniell in den Motetten Johannes Ciconias, Berlin 2004.

Dunstaple, JohnJohn Dunstaple (ca. 1390 – 1453)

Englischer Komponist mit internationalem Ruhm.

Veni Sancte Spiritus/Veni creator Spiritus. Vierstimmige isorhythmische Motette für Pfingsten, ca. 6 Minuten.

 

| Frühe Renaissance, Contenance angloise.

 

Der französische Dichter Martin Le Franc, MartinLe Franc pries in seinem Gedicht Champion des Dames (1441/42) die zeitgenössischen Komponisten Gilles Binchois, GillesBinchois und Guillaume Dufay, GuillaumeDufay, weil sie auf eine neue, »erfrischende« Weise Konsonanzen gebrauchen würden. Dies hätten sie von John Dunstaple übernommen, weshalb der Dichter den neuen Stil »contenance angloise« nannte. Der Theoretiker Johannes Tinctoris, JohannesTinctoris äußerte etwas später sogar die Meinung, die Musik sei überhaupt erst seit dieser Zeit »hörenswert«, und bezeichnet Dunstaple als »primus inter pares«.

Was hat es nun mit den frischen Konsonanzen auf sich, für die Dunstaple so gepriesen wurde? Technisch gesprochen handelt es sich um die sogenannten »imperfekten« Konsonanzen: Terzen und Sexten. Man nimmt diese Intervalle bis heute als besonders wohlklingend wahr. Mit ihnen lassen sich Dur- und Molldreiklänge zusammensetzen und auch zwei Stimmen parallelführen. Dissonanzen behandelt Dunstaple hingegen sehr vorsichtig. Damit entsteht ein eingängiger und klangvoller Stil, den man auch als »pankonsonant« bezeichnet hat. Noch heute besteht die Harmonik tonaler Musik (wie z. B. Pop-Musik) aus den damals in Mode gekommenen Elementen.

Freilich klingt die Musik DunstaplesDunstaple, John überhaupt nicht wie Pop-Musik. Im Falle unserer Motette liegt das unter anderem an einer aufwendigen musikalischen Architektur. Es werden zwei verschiedene Texte kombiniert, was für die Motette in dieser Zeit durchaus typisch ist: die Pfingstsequenz Veni Sancte Spiritus in den beiden oberen Stimmen (Triplum und Motetus) und der Pfingsthymnus Veni creator Spiritus in den beiden unteren Stimmen (Tenor und Contratenor). Wenn der Tenor pausiert, übernimmt das Triplum (die Oberstimme) die Melodie des Hymnus Veni creator Spiritus in verzierter Form, allerdings mit dem Text der Sequenz Veni Sancte Spiritus.

Die Melodie des Tenors erklingt dreimal in unterschiedlichen »Taktarten« (Mensuren), wobei das Tempo jedes Mal schneller wird. Auf diese Weise entstehen drei kürzer werdende Formteile. Eine solche Klangarchitektur ist durchaus typisch für isorhythmische Motetten dieser Zeit (vgl. MachautMachaut, Guillaume de, S. 26). Neuartig und zukunftsweisend aber sind der Wohlklang und die geschmeidige Melodik der Oberstimmen. (JM)

 

Weitere Werke: Messen und Messsätze, Magnificat-Vertonungen, Hymnen, geistliche Motetten (darunter Quam pulchra es), Liedsätze (darunter O rosa bella).

 

Literatur: Margaret Bent, Dunstaple, London 1981; Rebekka Sandmeier, Geistliche Vokalpolyphonie und Frühhumanismus in England. Kulturtransfer im 15. Jahrhundert am Beispiel des Komponisten John Dunstaple, Göttingen 2012.

Binchois, GillesGilles Binchois (ca. 1400 – 1460)

Franko-flämischer Komponist am Hof von Burgund.

Adieu, Adieu, mon joieulx souvenir. Dreistimmiges Rondeau, ca. 67 Minuten.

 

| Abschied vom Mittelalter, burgundische Chanson.

 

Wer kennt das nicht: Man muss Lebewohl sagen, möchte es aber nicht. Viele Komponisten haben sich mit diesem Thema beschäftigt, man denke an Beethoven, Ludwig vanBeethovens Klaviersonate Les adieux. Im Text des Rondeaus von Gilles Binchois geht es darum, wie kummervoll das Adieu-Sagen ist: Der lyrische Protagonist schaffe es kaum, den Mund zu öffnen, heißt es. Binchois gelingt eine ganz anrührende Umsetzung: Das »Adieu« in der Musik ist die Schlusswendung, die Kadenz. Die Kadenzen sind in beiden Teilen des Stückes so gestaltet, dass die üblichen Wendungen entweder gar nicht vorkommen oder ein offener Schlussklang mit Terz entsteht. Normalerweise waren Kadenzen damals standardisiert und so gestaltet, dass der Schlussklang keine Terz hatte.

Die Tonart des Stückes klingt für unsere heutigen Ohren wie ein trauriges Dur. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Melodie plagal ist: Sie bewegt sich die ganze Zeit nur wenige Töne oberhalb des Schlusstons (Finalis). Dadurch wirkt die Melodie genauso »bedrückt«, wie es die im Text dargestellte Gemütsverfassung ist.

Die weltlichen Gattungen sind im französischen Sprachraum dieser Zeit überwiegend dreistimmige Lieder (Chansons), die den poetischen Formen der Ballade, des Virelai und vor allem des Rondeau folgen. In der Regel wird nur die Oberstimme (der Cantus) textiert. Die tiefere Gegenstimme zum Cantus ist der Tenor. Ein Contratenor tritt zwischen oder auch unter die beiden, kann gegebenenfalls sogar weggelassen oder durch andere Versionen ersetzt werden.

Der Abschied war ein beliebtes Thema der burgundischen Chansons. Allein sechs der von Binchois überlieferten Sätze beginnen mit »Adieu«. Die Herzöge von Burgund führten im frühen 15. Jahrhundert ein glanzvolles Hofleben, das in ganz Europa nachgeahmt wurde, aber 1477 mit dem Tod des letzten Herzogs in einer Schlacht ein abruptes Ende fand. Johan Huizinga, JohanHuizinga hat in seiner berühmten historischen Studie Der Herbst des Mittelalters (1924) diese Kultur eindrücklich als einen Abschied vom Mittelalter beschrieben. BinchoisBinchois, Gilles war seit den 1430er Jahren Mitglied der Hofkapelle und prägte mit seinen Werken den Stil der höfischen Musik ganz maßgeblich. Ein wehmütig-nostalgischer Ton durchzieht all seine Chansons. (JM)

 

Weitere Werke: Messsätze, Motetten, Hymnen, über 50 überlieferte Chansons (darunter Comme femme desconfortée, De plus en plus, Triste plaisir).

 

Literatur: Wolfgang Rehm, Das Chansonwerk von Gilles Binchois, Diss., Freiburg 1952; Andrew Kirkman / Dennis Slavin (Hrsg.), Binchois Studies, Oxford 2000; David Fallows, Composers and Their Songs, 14001521, Farnham 2010.

Dufay, GuillaumeGuillaume Dufay (13971474)

International tätiger französischer Musiker, führender Komponist seiner Zeit.

Puisque vous estez campieur. Dreistimmiges parodistisches Rondeau, ca. 34 Minuten.

 

| Frühe Renaissance. Strenger und zugleich komischer Kontrapunkt.

 

Dufay war der uneheliche Sohn von Marie Du Fayt, MarieDu Fayt und einem Priester. Diese nicht ganz optimale Startposition hinderte ihn aber nicht daran, der berühmteste und erfolgreichste Musiker seiner Zeit zu werden. Er nahm am Konzil von Konstanz (14141418) und am Konzil von Basel (14311449) teil, war als Sänger in Rimini, als Kapellmeister in Florenz und als Mitglied der päpstlichen Kapelle in Rom tätig und war überhaupt sehr viel unterwegs. Zeitlebens blieb er aber der Kathedrale von Cambrai verbunden, wo er ausgebildet wurde, später verschiedene Posten übernahm, sich in der zweiten Lebenshälfte niederließ und wo er auch starb. Dufay war so berühmt, dass er ziemlich prestigeträchtige Kompositionsaufträge bekam: Er komponierte die Motette Supremum est mortalibus für ein Treffen von Kaiser und Papst im Jahr 1433 oder die Motette Nuper rosarum flores für die Einweihung des Domes von Florenz (mit der berühmten Kuppel von Filippo Brunelleschi, FilippoBrunelleschi) im Jahr 1436.

Im heimatlichen Cambrai übte Dufay auch Verwaltungstätigkeiten aus, er war dort u. a. verantwortlich für den Weinkeller. Der Wein spielt überhaupt immer wieder eine Rolle in seinem Leben und Schaffen. Eine seiner frühen Chansons hat den Titel Adieu ces bons vins de Lannoys (»Lebt wohl, ihr guten Weine von Laon«). In der später entstandenen Chanson Puisque vous geht es um die Folgen übermäßigen Weinkonsums. Im Text prahlt jemand gegenüber einem anderen, er sei ein besserer Trinker und Kämpfer. Schon der Text parodiert mit seinen ständigen Wiederholungen die Redeweise eines Betrunkenen. DufayDufay, Guillaume geht in seiner Komposition einen Schritt weiter und bezieht den ebenfalls betrunkenen Kontrahenten mit ein. Der musikalische Kampf darum, wer der bessere Trinker und Kämpfer sei, wird in Form eines strengen Kanons zwischen Tenor und Cantus ausgetragen. Die beiden Stimmen bemühen sich, seriöse Melodien zu singen, nur ab und zu, vor allem gegen Ende, fallen sie dann doch aus der Rolle. Zwischen beiden hüpft ein freier Contratenor herum, der das pseudo-seriöse Gebaren der noblen Betrunkenen wie ein Hofnarr kommentiert. Zwar hat der Contratenor keinen Text, seine bizarre Melodik wirkt aber so, als würde er fragen: »Wisst ihr eigentlich, wie albern ihr seid?« (JM)

 

Ave regina caelorum/Miserere tui labentis Dufay. Vierstimmige Motette, ca. 89 Minuten.

 

| Renaissance. Ausdrucksmusik mit bewusst persönlicher Note.

 

Marienverehrung war im späten Mittelalter sehr populär. Sie war Ausdruck einer ganz persönlichen Spiritualität, wie die vielen privaten Andachtsbilder oder auch die vielen Marienmotetten aus dieser Zeit zeigen. Im Falle Dufay, GuillaumeDufay kommt hinzu, dass seine Mutter Marie hieß und er in Florenz und Cambrai an Marienkirchen tätig war.

Als Dufay 67 Jahre alt wurde, hatte er ein für die damalige Zeit schon recht hohes Alter erreicht. In diesem Jahr (1464) schrieb er eine Vertonung der Antiphon Ave regina caelorum und verfügte in seinem Testament, dass diese Motette an seinem Sterbebett gesungen werden solle. Eine solche bewusste Vorbereitung auf den eigenen Tod war damals weit verbreitet, man sprach von der »Ars moriendi«. So schnell starb Dufay aber nicht, sondern lebte weitere 10 Jahre, in denen er u. a. noch eine Messe komponierte, die aus dem Material dieser Motette aufgebaut ist.

Der Text der Motette ist »tropiert«. Das bedeutet, dass in den üblichen liturgischen Text der Antiphon neue Textzeilen eingefügt sind. Diese ergeben ein persönliches Gebet, in dem der Komponist darum bittet, von den Höllenqualen verschont und in den Himmel aufgenommen zu werden. Dabei wird auch zweimal sein Name genannt, wodurch hervorgehoben wird, dass es hier um ein ganz persönliches Anliegen geht. Wenn der Text der Antiphon vorgetragen wird, stützt sich Dufay, GuillaumeDufay auf die Melodie des gregorianischen Chorals, die er der jeweils obersten Stimme anvertraut. Natürlich wird die altehrwürdige Melodie dabei an den aktuellen Geschmack angepasst und entsprechend rhythmisiert und verziert. Wenn zum ersten Mal der Tropus-Text einsetzt, bekommt man beim Hören einen Schock: Auf das erste Wort »Miserere« (»Erbarme dich«) setzen alle Stimmen mit einem vollkommen unvorbereiteten c-Moll-Akkord ein. Im weiteren Verlauf folgen viele solcher expressiven Moll-Klänge und Licht-und-Schatten-Wechsel.

Insgesamt besteht die Motette aus einer beeindruckenden Vielzahl unterschiedlichster Satzstrukturen: Mal ist sie zweistimmig, mal dreistimmig, mal vierstimmig, mal dicht wie ein Gestrüpp, mal ganz schlicht. Nichts wird wiederholt, stets kommt etwas anderes. Der Theoretiker Johannes Tinctoris, JohannesTinctoris hat eine solche Gestaltung ein wenig später mit dem Schlagwort »varietas« beschrieben und sogar als oberste ästhetische Maxime gefordert. (JM)

 

Weitere Werke: 7 Messen (darunter die Missae Ave regina caelorum, Ecce ancilla Domini, L’homme armé, Se la face ay pale und Sancti Jacobi); Messsätze, Hymnen für das ganze Kirchenjahr, über 20 Motetten, über 80 italienische und französische Liedsätze.

 

Literatur: David Fallows, Dufay, London 1982; Peter Gülke, Guillaume Du Fay. Musik des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2003.

Ockeghem, JohannesJohannes Ockeghem (ca. 1410 – 1497)

Franko-flämischer Komponist, Sänger und Schatzmeister am französischen Königshof.

Intemerata Dei mater. Fünfstimmige Motette, ca. 78 Minuten.

 

| Klangdramaturgie, musikalisches Pendent zur Altniederländischen Malerei.

 

In der Musikgeschichtsschreibung teilt man die Komponisten der Renaissance der Übersichtlichkeit halber gerne in fünf Generationen ein. Mit Ockeghem kommen wir in deren zweite. Vielleicht ist die Rede von den Generationen gar nicht so verkehrt, denn die franko-flämischen Sängerkomponisten, die alle aus derselben Region stammten und als Kinder und Jugendliche an denselben Kathedralschulen ausgebildet worden waren, empfanden sich womöglich tatsächlich als eine große Familie. Dies kommt in den Totenklagen zum Ausdruck, die sie sich gegenseitig komponierten: Ockeghem schrieb eine Totenklage für Binchois, GillesBinchois, Josquin DesprezJosquin eine für Ockeghem, Gombert, NicolasGombert eine für Josquin DesprezJosquin.

 

Mit der Motette Intemerata Dei mater und zwei Messen hat Ockeghem auch fünfstimmige Kompositionen hinterlassen, was ein gewisses Novum darstellte. In der Marienmotette setzt er alle Stimmen auffällig tief und bringt gleich zwei Bassstimmen zum Einsatz. Ockeghem möchte aber nicht, dass sein Stück gleichförmig klingt, im Gegenteil: Er benutzt die fünf Stimmen wie ein Maler seine Farben und stellt immer wieder andere Konstellationen zusammen. Im ersten Teil der Motette bilden die fünf Stimmen einen kompakten Satz, im zweiten Teil werden verschiedene Trios gebildet, der letzte Teil beginnt mit einem hohen Duo, dann treten die tieferen Stimmen hinzu, und der Satz wird immer dichter.

OckeghemsOckeghem, Johannes Werke sind zwar sehr unterschiedlich, zeichnen sich aber immer durch eine gewisse Ernsthaftigkeit, noble Eleganz der Melodien und farbige Klanglichkeit aus. Damit ist sein Stil vergleichbar mit dem des großen zeitgenössischen Malers Rogier van der WeydenRogier van der Weyden (ca. 1400 – 1464). (JM)

 

Weitere Werke: Über 12 Messen (darunter die Missae Caput, Cuiusvis toni, L’homme armé, Mi-mi, Prolationum), 1 Requiem, 6 Motetten, 20 Liedsätze.

 

Literatur: Philippe Vendrix (Hrsg.), Johannes Ockeghem: actes du XLe colloque international d’études humanistes, Paris 1998; Anna Maria Busse Berger (Hrsg.), The Cambridge History of Fifteenth-Century Music, Cambridge 2015.

Finck, HeinrichHeinrich Finck (ca. 1440 – 1527)

Deutscher Komponist

Missa in summis, sechs- bis siebenstimmige Messe, ca. 30 Minuten.

 

| Imposante Klangarchitektur mit eigenwilligem Stil.

 

Der deutsche Sprachraum steht um 1500 in der Musikgeschichtsschreibung im Schatten der franko-flämischen Meister mit ihrem »Star« Josquin Josquin DesprezDesprez. Tatsächlich aber repräsentieren deutsche Musiker wie Heinrich Finck, Paul Hofhaimer, PaulHofhaimer (14591537) oder auch Thomas Stoltzer, ThomasStoltzer (14751526) eine Blüte der Musikkultur dieser Zeit, in der wir auch Künstler wie Schongauer, MartinMartin Schongauer, Riemenschneider, TilmanTilman Riemenschneider oder Dürer, AlbrechtAlbrecht Dürer antreffen. Über das Leben von Finck sind wir nur lückenhaft informiert. Wechselnde Anstellungen führten den vielleicht aus Bamberg stammenden Musiker in verschiedene polnische Städte, danach nach Stuttgart, Salzburg und schließlich an den Habsburgerhof nach Wien. Finck war eine über 60-jährige Schaffenszeit vergönnt, in der sich ein stilistischer Wandel zutrug, der sich auch in seinen Werken spiegelt. Durch seinen eigenwilligen und rauen Personalstil unterschied er sich, wie auch sein flämischer Kollege Alexander Agricola, AlexanderAgricola (14461506), vom Mainstream seiner Zeit, war jedoch auch nach seinem Tod hochgeschätzt.

Die in einer Stuttgarter Handschrift überlieferte Missa in summis ist ein monumentales sechsstimmiges Werk, das womöglich 1511 für die Hochzeit von Herzog Ulrich von Württemberg, HerzogUlrich von Württemberg und Prinzessin Sabine von Bayern, PrinzessinSabine von Bayern geschrieben wurde. Das Kyrie basiert auf dem Cantus firmus des Kyrie magnae Deus potentiae, der im Tenor geführt und teilweise von den anderen Stimmen imitiert wird. Besonders eindrucksvoll ist der dritte Teil: Finck benutzt nicht nur eine andere Rhythmisierung der Tenorstimme, sondern einen vollkommen andersartigen Satz, der eine tendenziell doppelchörige Anlage aufweist. Auch die anderen Sätze basieren auf unterschiedlichen Cantus firmi. Fincks Satz ist in seiner ganz unterschiedlichen Dichte geradezu zerklüftet: Klangvolle vollstimmige Passagen wechseln manchmal abrupt mit ausgedünnten zwei- oder dreistimmigen Episoden ab. Dadurch werden bestimmte Textpassagen hervorgehoben, etwa im Gloria das »Deus pater omnipotens« (»Gott, allmächtiger Vater«) durch einen wuchtigen Tuttieinsatz nach einer Generalpause oder das »Qui tollis peccata mundi« (»Der du die Sünden der Welt hinwegnimmst«) mit einem überraschend intimen Duo der Oberstimmen. Im Credo wird sogar noch eine siebte Stimme hinzugefügt, womit weitere Möglichkeiten der Klangdramaturgie entstehen. (JM)

 

Weitere Werke: Messen und Messsätze (darunter Missa super »Ave praeclara« und Missa dominicalis), über 40 Motetten (darunter O Domine Jesu Christe), 28 Hymnen, 38 Lieder und Instrumentalstücke (darunter Ach herzigs Herz, O schönes Weib, Greiner zanner).

 

Literatur: Lothar Hoffmann-Erbrecht, Henricus Finck – musicus excellentissimus (14451527), Köln 1982.

Josquin DesprezJosquin Desprez (ca. 1450/55 – 1521)

Franko-flämischer Sänger und Komponist, Hauptvertreter der mittleren Renaissance-Generation, »Der Noten Meister«.

Josquin war schon zu Lebzeiten eine Legende. Luther, Martin