Tanja Voosen

Die Zuckermeister
Die verlorene Rezeptur

Weitere Bücher von Tanja Voosen im Arena Verlag:

Die Zuckermeister – Der magische Pakt

Tanja Voosen arbeitet Vollzeit als Dosenöffnerin für

ihren Kater Tiger und nutzt ihre freien Stunden, um

Kinder- und Jugendbücher zu schreiben. Sie wurde 1989

in Köln geboren, floh aber kurz darauf in die Eifel, wo sie

bis heute auf der Suche nach einem magischen Abenteuer

durch die Wälder irrt. Trotz ihres »süßen Talents« überlässt

sie lieber ihren Romanfiguren das Herstellen von magischen

Süßigkeiten, da ihre Kreationen immer auf seltsame

Weise gleich wieder verschwinden. Wie jeder richtige

Autor hat sie unzählige Regale voller Bücher und findet

ihre Ideen natürlich stets durch völlig absurde Träume.

Mehr von Viktoria Gavrilenko findet man

unter https://viccolatte.artstation.com/.

Für Eva.

Du bist mutig wie Elina.

Du bist lustig wie Charlie.

Du bist loyal wie Robin.

Unser Talent ist Freundschaft.

»Elina, komm da sofort runter!«, rief Robin verärgert.

»Was genau machst du da eigentlich?«, fragte Charlie.

Die Stufen unter Elinas Turnschuhen knarzten und knackten, als sie sich über das Geländer lehnte. Vom Zuckerhut-Turm aus konnte man sooooo weit sehen!

»Spaß haben!«, rief Elina zurück. Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor, rutschte mit einer Hand ab und schnappte erschrocken nach Luft. Aufregung jagte durch ihren Körper. Das war knapp gewesen! Erleichtert lachte sie auf.

»Das reicht jetzt«, bestimmte Charlie und kam zu ihr hoch.

Elina streckte die Arme aus. »Charlie! Lass uns aufs Dach klettern!«

Charlie umfasste ihren Arm. »Ganz bestimmt nicht.«

»Spielverderberin!«, maulte Elina.

Widerwillig ließ sie sich von Charlie die Treppe hinunterziehen. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, überkam Elina ein seltsames Gefühl. All die Abenteuerlust schrumpfte in ihrem Inneren zusammen und – puff – weg war sie.

Sie blinzelte mehrmals und starrte ihre Freunde an. »Was ist passiert?«

»Diese megakatastrophalen Knacksweg-Kirschdinger!«, schimpfte Charlie. »Haben dich voll durchdrehen lassen. Mit Kühnheit hatte das nichts mehr zu tun!«

»Die heißen Kühne Kirschkracher«, korrigierte Robin sie. »Ich konnte doch nicht wissen, dass Elina wegen denen einen auf Trapezkünstlerin machen will.«

Elina rieb sich den Kopf. Stimmt, da war ja was gewesen …

Benommen blickte sie zum Turm mit der Wendeltreppe zurück, der an das Zuckerhut-Haus anschloss. Seit drei Wochen ging Elina hier nun schon ein und aus, doch sattsehen konnte sie sich daran immer noch nicht. Es war so herrlich bunt zusammengewürfelt! Die Fassade war mit verschiedenen Farben gestrichen, der Schornstein wirkte wie ein krummer Hut auf dem Dach und die vielen Verzierungen der Fenster sahen wie süßes Gebäck aus. Es war einfach magisch!

Charlie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht rum. »Hallo! Geht’s dir gut?«

»Ja, alles super«, sagte Elina hastig. »Mir geht’s gut.«

»Ich dachte wirklich, eine Süßigkeit zu testen, wäre lustiger, als weiter im Wohnzimmer zu hocken und in die alten, langweiligen Bücher zu gucken«, sagte Robin kleinlaut. »Tut mir leid, Elina.« Er schloss den samtroten Beutel, aus dem sie sich einen der Kühnen Kirschkracher genommen hatte. »Das Rezept ist wohl ein bisschen zu stark geworden – das wars dann mit der Magie für heute.«

»Ja, ist besser so.« Elina lächelte. »Die Kühnen Kirschkracher zu benutzen, war trotzdem toll. Ich habe mich echt mutig gefühlt und hatte vor nichts mehr Angst!«

»Meine Eltern kriegen das Rezept sicher noch richtig hin«, erwiderte Robin.

»Na ja, jetzt wo sie ihre Süßigkeitenwerker-Lizenz haben, wäre das wohl besser, sonst steht Belony bald wegen magischer Nebenwirkungen kopf«, sagte Charlie. »Wenn Leute Hilfe brauchen und deshalb einen Zettel an den Wunschbaum hängen, verlassen sie sich schließlich auf die Erben Madame Picots, also auf euch.«

»Bisher ging doch auch alles gut«, meinte Robin.

»Auf Zuckerhut-Chaos-Art«, scherzte Elina.

Die drei lachten und gingen zurück ins Haus. Im Wohnzimmer trafen sie auf Juna, Robins ältere Schwester. Sie hielt einen leeren Teller in der Hand und blickte entsetzt auf die im ganzen Raum verteilten Bücher, in denen die drei zuvor gelesen hatten.

»Hallo, Juna«, begrüßte Elina sie.

»Hallo«, grummelte Juna. Eigentlich war das älteste Zuckerhut-Mädchen stets die gute Laune in Person, aber heute wirkte sie mit den wirren Haaren und dem großen Mayonnaise-Klecks auf dem Shirt ziemlich durch den Wind. Nun sah sie empört zu Robin. »Ich wollte nur kurz in die Küche, aber an dieser Unordnung kann ja kein Mensch vorbeigehen! Es sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen!«

»Na und?«, meinte Robin. »So lerne ich am besten.«

»Lernen? Ihr wart doch gerade draußen. Was habt ihr da gemacht?«

»Wir haben uns nur ein bisschen abgelenkt, um den Kopf frei zu kriegen«, sagte Elina. »Ist ja kaum auszuhalten, wie viel Theorie man für eure Süßigkeitenwerker-Prüfungen büffeln muss. Und draußen ist so schönes Wetter.«

Charlie grinste. »Genau! Sogar Elina ist die Lust vergangen und die lernt gerne.«

Juna hob skeptisch eine Augenbraue. »Eine kleine Pause ist ja auch okay«, sagte sie, fixierte aber dann wieder Robin. »Doch du nimmst deine Prüfung nicht ernst. Das mit deinen Pausen geht schon die ganze Woche so!«

Robin machte ein finsteres Gesicht. »Das stimmt gar nicht!«

Juna überging seinen Protest. »Dabei hast du es so gut«, sagte sie und seufzte. »Die ersten drei Prüfungen sind immerhin nur reine Theorie, da kann man nicht viel falsch machen! Ich muss bald schon die erste handwerkliche Prüfung ablegen.«

»Robin hat wirklich viel gelernt«, kam Elina Robin zu Hilfe.

»Er kann schon superviel Zeug auswendig«, fügte Charlie hinzu.

»Mag schon sein«, sagte Juna trotzig. »Aber ich glaube …«

»Mir doch egal, was du glaubst!«, stieß Robin aus. Wütend stampfte er in den Flur und verschwand laut polternd die Stufen hinauf.

Juna verdrehte die Augen und schlenderte in die Küche.

»Manchmal denke ich, in diesem Haus ist irgendwas in der Luft, und je länger man es einatmet, desto verrückter wird man«, meinte Charlie kopfschüttelnd.

»Nee«, sagte Elina. »Diese Süßigkeitenwerker-Prüfungen machen bloß verrückt.«

»Aber das wollten die Zuckerhuts doch!«, murrte Charlie.

Elina schmunzelte. »Verrückt werden?«

»Wunder wirken«, sagte Charlie.

»Mit Wundern hat Auswendiglernen aber nichts zu tun«, erwiderte Elina. Hier ging es schließlich um Magie! Wer wollte denn seine Nase in Bücher stecken, wenn er stattdessen gute Taten vollbringen konnte? Elina spürte sofort ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. »Stell dir mal all die Rezepte vor, die Juna und Robin irgendwann ausprobieren können! Und wir könnten mit Robin die Süßigkeiten testen!«

»Lieber nicht«, sagte Charlie sofort. »Mit Magie geht immer was schief.«

Elina wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. »Bist du sauer wegen den Kühnen Kirschkrachern?«, fragte sie und sah Charlie entschuldigend an.

Charlie schob schmollend die Unterlippe vor. »Mir war ja selbst langweilig, nachdem wir Stunden im Wohnzimmer gesessen und Robin Dinge abgefragt haben. Ich hätte nur lieber was Normales mit euch gemacht.«

Elinas schlechtes Gewissen meldete sich. Kein Wunder, dass Charlie so reagiert hatte! Sie selbst war vor einer Weile durch eine verdorbene magische Schokolade verflucht worden und hatte mit unberechenbaren Nebenwirkungen gekämpft.

»Tut mir leid«, sagte Elina leise. »Beim nächsten Mal machen wir etwas so Stinknormales, dass du vor Langeweile nur noch gähnen musst, so wie in Englisch.«

Charlie grinste. »Bitte nicht! Lieber was Cooles wie Kino!«

»Gut!«, sagte Elina. »Beste-Freundinnen-Ehrenwort!«

»Beste-Freundinnen-Ehrenwort? Finde ich super!«

Im nächsten Moment polterte Robin die Treppe hinunter.

»Kommt ihr? Solange meine Eltern weg sind, kann ich euch die Geheimkammer unterm Dach zeigen.«

»Hier gibt es eine Geheimkammer?«, fragte Elina. Das klang spannend!

»Den ganzen magischen Kram im Turm zu verstecken, wäre ja wohl zu offensichtlich«, sagte Robin. »Ich brauche noch ein Buch daraus. Also, was ist?«

Elina wandte sich Charlie zu, legte den Kopf schief und lächelte sie an. Sie musste die Frage gar nicht stellen, ob das für Charlie okay war, denn Charlie verstand sie auch ohne Worte. Sie nickte Elina zu.

Geheimkammer, wir kommen!

»Bewahrst du oben deine magischen Schokoladen-Action-Figuren auf oder wieso bist du so aus dem Häuschen?«, ärgerte Charlie Robin, als sie hinter ihm die Stufen erklommen. Robin war beim Treppensteigen wirklich ziemlich hibbelig.

»Vielleicht mach ich ja eine Schokoladenfigur aus dir!«, erwiderte er herausfordernd.

Elina schmunzelte. Immerzu mussten sich die zwei kabbeln!

Sie kam als Letzte oben an. »Hier sieht’s aber normal aus«, murmelte sie.

Das Zuckerhut-Haus hatte mehrere Stockwerke und so weit oben war sie zum ersten Mal. Irgendwie hatte sie ein gruseliges Kabuff voller Spinnweben und altem Krams erwartet, so wie es das Bittersüß, der magischste Ort in ganz Belony, war. Im ehemaligen Laden von Madame Picot, der ersten Süßigkeitenwerkerin, schlugen massenhaft Besucher auf, um alte Schokokessel und Backformen zu bewundern. Hier gab es nicht mal das – es war eine stinknormale Etage, voller gerahmter Bilder an den Wänden und mehreren Holztüren zu beiden Seiten.

»Wo ist jetzt diese ominöse Geheimkammer?«, fragte Charlie.

»Wenn sie jeder finden könnte, wäre sie ja nicht mehr geheim!«, murrte Robin.

»Dann erleuchte uns mal, oh großer Brummbart!«, sagte Charlie.

Robin wandte sich ab und ging den Flur hinunter zu einem der Gemälde, auf dem eine Zuckerstange abgebildet war, und dann – klappte er es einfach beiseite. Dahinter lag ein kleiner schwarzer Tresor, auf dem ein verschnörkeltes Z zu sehen war. Robin gab einen Code in die Tasten ein und die Tresortür schwang auf.

»Krass, hier gibt’s echt viele Verstecke!«, staunte Elina.

»Die Kombination ist ja Arthurs Geburtstag! Bestimmt, weil er am besten von euch allen aussieht!« Charlie klang ganz verträumt. Sie war nicht die Einzige, die Robins fünfzehnjährigem Bruder nachschmachtete. Alle fanden ihn soo süß!

Elina mochte Arthur zwar, verstand aber diesen Wirbel um ihn nicht. »Weil er am besten aussieht?«, wiederholte sie belustigt. »Das macht gar keinen Sinn.«

»Woher kennst du denn Arthurs Geburtstag?«, fragte Robin.

»Och«, druckste Charlie herum. »Den kennen viele.«

Bestimmt alle aus dem Arthur-Fanclub, dachte Elina grinsend. »Wie kommen wir denn in die Geheimkammer?«, wechselte sie das Thema.

Robin holte eine durchsichtige Tüte aus dem Tresor, in der winzige Schlüssel lagen. Sie waren kristallweiß, als hätte man sie aus purem Zucker geschnitzt. »Die sind aus Zugänglichem Zucker gemacht. Und der einzige Weg, um Zugang zur Geheimkammer zu erhalten. Ihr müsst also einen davon essen.«

Charlie seufzte. »Gut. Bei denen weißt du ja, was passiert. Oder?«

Robin öffnete die Tüte. »Jup! Kein Risiko!«

Nachdem sich jeder einen Zucker-Schlüssel in den Mund geschoben hatte, deutete Robin auf die Wand zu seiner Rechten. »Einfach Augen zu und durch!«

»Du willst, dass wir wie bei Harry Potter gegen die Wand rennen?«, fragte Elina.

»Bloß durchgehen. Ihr werdet schon sehen.«

Und mit diesen Worten verschwand Robin durch die Wand.

Die Geheimkammer entpuppte sich genau als das: geheim und eine Kammer. Durch zwei kleine Fenster fiel Licht herein. Viel Platz gab es nicht, weil alles vollgestellt war. Regalbretter schlängelten sich die Wand empor und bogen sich unter dem Gewicht dicker Wälzer, Fläschchen und Gläser voller verschiedener Zutaten. Einige davon hatten seltsame Farben und leuchteten sogar.

»Hier macht ihr aber nicht eure Süßigkeiten, oder?«, fragte Elina.

»Nein, hier bewahren wir nur allerhand Zeug auf«, sagte Robin. Er ging zu einem der Regalbretter und suchte eine Weile, bis er das richtige Buch fand.

»Und wo macht ihr dann die Süßigkeiten?«, hakte Charlie nach. »Oder zieht ihr wie bei Dornröschen die Fensterläden zu, um zu backen und eure Magie zu wirken?«

»Haha. Wir haben eine geheime Süßigkeiten-Küche.«

Mehr sagte er dazu nicht, aber Elinas Aufmerksamkeit wurde ohnehin gerade von dem Glaskasten angezogen, der zwischen den zwei Fenstern stand und in dem sich verschiedene Küchenutensilien befanden. Genau genommen zwei Löffel, zwei Schneebesen und etwas, das nach einer Art Kuchenspachtel aussah. Eine Stelle war frei. Neugierig trat sie näher heran. Da bemerkte sie die eingravierten Namen der Zuckerhut-Familienmitglieder unter den unterschiedlichen Gegenständen.

»Sind die für eure Süßigkeiten?«, fragte sie.

Charlie stellte sich neben Elina. »Wieso sind die weggeschlossen?«

»Wir dürfen unsere Pon nur unter Aufsicht benutzen«, erklärte Robin. »Jeder Süßigkeitenwerker bekommt sein magisches Werkzeug schon kurz nach seiner Geburt. Die Pon sind sehr wichtig für uns, mit ihnen wirken wir Magie.«

Ein magisches Werkzeug, wow! Elina durchströmte ein freudiges Gefühl. Dass es so was gab, war einfach cool! Dagegen hätte sie sofort ihren Hockeyschläger getauscht!

Charlie lachte. »Wofür soll ›Pon‹ denn die Abkürzung sein? Person ohne Nase? Wer hat sich das ausgedacht? Lord Voldemort? Wie lustig!«

Elina beugte sich vor, um die Pon besser betrachten zu können. »Mensch, Charlie! Siehst du nicht, dass die was Besonderes sind? Der Griff von diesem einen Löffel hat so goldene Beschläge und ganz unten … das sieht richtig hübsch aus! Wie ein Zuckerkristall!« Das beschriebene Pon gehörte laut dem Namen darunter Robin.

»Ja, gut … sie sehen schon ganz cool aus«, murmelte Charlie.

»Sind sie auch!«, beharrte Robin. »Wobei ich manchmal gar nicht so stolz bin, eins zu besitzen … « Er drückte niedergeschlagen das Buch an seine Brust.

»Du machst dir wieder Sorgen, oder?«, fragte Elina mitfühlend.

Schon damals, als sie gemeinsam auf der Suche nach den Zuckermeistern gewesen waren, um Charlie von den Nebenwirkungen der verdorbenen magischen Schokolade zu befreien, hatte Robin ihnen anvertraut, dass er sehr damit kämpfte, ein magisches Talent zu besitzen. Denn damit ging eine ziemlich große Verantwortung einher, der er sich die meiste Zeit nicht gewachsen fühlte.

»Ich dachte, wenn meine Eltern die Süßigkeitenwerker-Lizenz haben und nicht mehr heimlich Süßigkeiten herstellen müssen, wird der Druck weniger«, sagte Robin und sah bedrückt zu Boden. »Sie sind damit auch sehr glücklich, aber ich bin dadurch nicht weniger ein Süßigkeitenwerker und sie haben noch immer Erwartungen an mich. Jetzt sind da diese Prüfungen und ich habe Angst, dass ich sie nicht schaffe. Ich bin nun mal nicht Juna.«

»Nein, das bist du nicht«, sagte Elina. »Doch du gibst dir genauso viel Mühe, auf deine Art eben. Charlie und ich glauben ganz fest an dich. Du kannst das schaffen.«

Robin ließ traurig den Kopf hängen. »Aber schaut euch doch Juna an! Sie ist so clever und hat schon drei Prüfungen abgelegt und bestanden, als wäre sie ein magisches Ass! Dagegen stinke ich doch total ab und hab keine Chance.«

Charlie trat vor und knuffte Robin in den Arm. »Das ist wie mit dem Zeichnen, weißt du? Ich denke, ich bin schlechter als alle anderen, aber ich habe in der Kunst-AG gelernt, dass jeder etwas besonders gut kann. Dann kannst du eben nicht so gut auswendig lernen, machst dafür aber die praktischen Prüfungen mit links. Wirst schon sehen! Du schwingst dein Pon bestimmt wie ein obermagisch-mächtiger Zuckermeister!«

»So wie du deinen Zeichenstift?«, fragte Robin.

»Und Elina ihren Hockeyschläger«, fügte Charlie hinzu.

Elina lächelte. Krise abgewendet!

»Und wofür steht das Wort Pon jetzt?«, fragte sie.

»Früher nannte man die Werkzeuge ›Pont vers la magie‹, das heißt aus dem Französischen übersetzt ›Brücke zur Magie‹«, erklärte Robin. »Weil unsere Werkzeuge eben die Brücke der Magie zwischen den Süßigkeitenwerkern und den Süßigkeiten sind. Daraus wurde irgendwann einfach ›Pon‹.«

»Wieso denn Französisch?«, fragte Elina.

»Madame Picot hatte französisch-belgische Wurzeln und viele ihrer Ideen und Erfindungen haben deshalb französische Namen«, sagte Robin.

Charlie erschauderte. »Da muss ich an die Münze denken.«

Elina ging es nicht anders. Die Erinnerung an die Münze war nur eine von vielen, die an ihr magisches Abenteuer geknüpft waren, das noch gar nicht allzu lange zurücklag. Eine Frau namens Althea, die auch Charlie mit der Schokolade verflucht hatte, hatte Elina eine magische Münze untergejubelt – eine Feindesmünze mit französischer Inschrift am Rand: Ehre im Blut. Mit der Münze hatte Althea Elina jederzeit aufspüren können und versucht, an den Notfallkoffer mit den magischen Süßigkeiten heranzukommen. Von den Zuckermeistern, die Charlie geholfen hatten, wussten sie, dass Althea in Wahrheit Vivien Aldric hieß und ihre Süßigkeitenwerker-Magie schon lange nicht mehr für Gutes nutzte.

Und sie war noch irgendwo da draußen …

Für einen Moment hatten alle ihren Gedanken nachgehangen und Elina wollte auf keinen Fall, dass die Erinnerung an Vivien die ganze Stimmung kaputt machte.

»Wie funktioniert so ein Pon denn?«, fragte Elina.

»Das Pon leitet die Magie des Süßigkeitenwerkers weiter, dem es gehört«, erklärte Robin. »Jedes Pon ist einzigartig, genau wie sein Besitzer. Deshalb funktioniert ein Pon auch nur für diesen.«

»Deine Mutter hat einen Pfannenwender, richtig?«, warf Elina ein.

»Genau. Pon können viele Formen haben. Pfannenwender, Löffel, Schneebesen … Stellt euch die Pon wie eine Antenne vor, die Magie leitet. Und wir brauchen diese Antenne, um einen magischen Sender einstellen zu können. Ohne Pon kann ein Süßigkeitenwerker seine Magie nämlich nicht fokussieren und manifestieren.«

»Du klingst wie ein weiser Oberlehrer«, lobte Charlie.

»Ja! Du weißt viel mehr, als du denkst«, sagte Elina und strahlte ihn an.

Robin wurde wieder nachdenklich. »Aber ob es für die Prüfung reicht … «

»Du kriegst das hin!«, sagte Elina. »Du hast uns doch neulich erklärt, dass man die erste Prüfung mit dreizehn machen darf. Und dann jedes Jahr wieder eine, bis man alle sechs bestanden hat. Überleg mal, Juna ist viel älter als du. Sie kann direkt mehrere Prüfungen ablegen und aufholen.

Und sie hat von deinen Eltern schon viel mehr beigebracht bekommen, weil sie dir eben einige Jahre Unterricht voraushat.«

»Oder denk an Arthur«, sagte Charlie. »Der wird nie eine Prüfung machen. Der Arme! Wann kommt er denn heim? Ich würde ihm gerne Hallo sagen.«

»Hallo sagen? Wohl eher anhimmeln«, zog Robin sie auf.

Elinas Augen klebten derweil wieder am Glaskasten. »Hey, Robin … darf ich … darf ich vielleicht dein Pon mal halten? Ich würde so gerne wissen, wie sich das anfühlt!«

Er warf Elina einen zögerlichen Blick zu, nickte dann aber. »Okay. Warum nicht.« Robin öffnete den Glaskasten und nahm den Kochlöffel heraus, um ihn Elina zu reichen.

Sie fuhr mit den Fingern über die Holzmaserung des Griffs. Am unteren Rand saß ein goldener Beschlag, der in den weißen Kristall überging. Das Pon fühlte sich kalt an. Leider sprühten keine Funken und auch nichts anderes Magisches geschah. Cool war es trotzdem!

»Ich will auch mal!«, sagte Charlie. »Bitte!«

Elina sah zu Robin, aber der zuckte bloß mit den Schultern.

Als Charlie an der Reihe war, bestaunte auch sie den Kochlöffel. »Echt hübsch!«

Plötzlich hörten sie von draußen Motorengeräusch.

»Oh, Mist! Das sind sicher meine Eltern«, sagte Robin panisch. Aufgeregt huschte er zu einem der Fenster und spähte hinaus. »Sie sind es wirklich. Charlie, das Pon!«

Charlie hatte wohl dasselbe gedacht wie Robin. Sie hielt ihm den ausgestreckten Arm mit dem Pon entgegen, während er sich eilig vom Fenster abwandte.

»Aufpassen!«, rief Elina, doch es war zu spät.

Robin stieß gegen Charlies Handgelenk und Charlie flog das Pon aus den Fingern. Für einen Herzschlag hörte man nichts außer dem Geräusch, mit dem das magische Werkzeug auf dem Boden aufschlug. Alle waren wie erstarrt. Dann schüttelte Elina sich und bückte sich, um das Pon aufzuheben. Dem Kristall fehlte eine winzige Ecke!

»Nein, nein, nein!«, flüsterte Robin. »Es ist kaputt! Mein Pon ist kaputt!« Er stand so dicht neben Elina, dass die Panik in seinem Gesicht fast auf sie übersprang.

Robin riss ihr das Pon aus den Händen und drehte sich zu Charlie herum. »Du hast es heruntergeworfen!«

Charlie hob abwehrend die Hände. »Das war keine Absicht.«

»Es war ein blöder Unfall«, sagte Elina beschwichtigend. »Bestimmt ist alles …«

»Nichts ist okay!«, regte Robin sich auf. »Ich werde solchen Ärger kriegen!«

Zu allem Überfluss erklangen nun Schritte auf der Treppe.

»Robin! Juna! Wir sind wieder da!«, rief Frau Zuckerhut.

»Raus hier!«, fuhr Robin sie an.

Charlie ließ sich nicht zweimal bitten. Verärgert stampfte sie durch die Wand und verschwand. Elina zögerte. Robin starrte verbissen auf sein Pon.

»Robin?«, fragte sie vorsichtig.

Innerhalb von Sekunden hatte Robin das Pon zurück an seinen Platz gestellt und den Glaskasten verschlossen. Robin huschte durch die Wand und Elina ihm hinterher. Sie schafften es haarscharf in sein Zimmer, ehe Frau Zuckerhut anklopfte.

Robins Mutter steckte den Kopf zur Tür herein. »Mensch, Robin! Unten ist ja vielleicht ein Chaos!«, setzte sie an, doch dann fiel ihr Blick auf Elina und Charlie und all ihr Ärger schien auf einen Schlag vergessen. »Wie schön, euch zu sehen, ihr zwei!«

Sofort wirbelte sie ins Zimmer und drückte erst Elina, dann Charlie an sich, als hätte sie die beiden seit vielen Monaten nicht mehr in die Arme schließen können.

»Mama, das ist voll peinlich! Hör auf!«, ging Robin dazwischen.

Frau Zuckerhut rückte nach Robins Ausruf etwas von ihnen ab. »Peinlich ist nur, dass du den beiden nicht mal was zu essen angeboten hast!« Sie strahlte Elina und Charlie an. »Möchtet ihr vielleicht etwas selbst gemachtes Grünkohl-Eis?«

»Klingt, ähm, sehr verlockend«, murmelte Elina.

»Die beiden wollten gerade gehen«, sagte Robin bestimmt.

»Nichts lieber als das!«, schnaufte Charlie sofort.

»Wie schade. Seid ihr sicher, dass …«

»JA!«, riefen Charlie und Robin wie aus einem Mund.

Elina sah besorgt zu ihren Freunden, aber die Stimmung zwischen ihnen war echt hinüber. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Bis zum nächsten Mal, Frau Zuckerhut!«

Piet schnappte Elina die letzte Scheibe Toast weg und grinste dabei, als würde ihm für diesen Sieg am Frühstückstisch ein Orden zustehen. »Ich brauch die Butter!«

»Das heißt: ›Kannst du mir bitte die Butter geben?‹«, sagte ihre Mutter. »Elina, ist alles in Ordnung? Du siehst heute Morgen so blass aus und wirkst bedrückt.«

Piet legte sich fast auf sie drauf, damit er über den Tisch langen konnte.

Genervt drückte Elina ihren kleinen Bruder von sich weg und schob ihm die Butter zu. »Hab nur schlecht geschlafen«, antwortete sie und goss sich Orangensaft nach.

Dabei war das nur die halbe Wahrheit – schlecht geschlafen hatte sie zwar wirklich, doch der eigentliche Grund war die Funkstille im Gruppenchat mit Charlie und Robin, die seit gestern herrschte, und die machte ihr echt zu schaffen.

Ihre Mutter beäugte sie skeptisch und trank nebenbei einen Schluck Kaffee. Wie üblich stapelten sich Zettel und Ordner auf dem Tisch um sie herum – nur die übliche Schleuse zum Durchgucken war frei.

Tja, eine Chaotin zur Mutter und einen Nerv-Zwerg zum Bruder – daraus ließe sich bestens eine verrückte TV-Show machen. Fehlte nur noch ihr Vater, der wie immer was verlegt hatte und die allmorgendliche, verzweifelte Suche danach startete. Der war allerdings noch einige Tage auf einer Maklertagung.

»Ich merke doch, dass etwas los ist«, versuchte ihre Mutter es erneut.

Piet kratzte energisch den Rest der Marmelade aus dem Glas und Elina rückte mit ihrem Stuhl von ihm ab. Sie wollte es mit einem sauberen Shirt aus dem Haus schaffen – denn leider war das beim Frühstück mit Piet nicht selbstverständlich.

Wobei ein chaotisches Ablenkungsmanöver jetzt nicht schlecht wäre. Ihre Mutter sah Elina nämlich erwartungsvoll an … eigentlich hätte Elina ihr gerne von gestern Abend erzählt, von der Magie, dem Pon und dem kleinen Streit. Aber mit Zuckermeistern und Süßigkeitenwerkern hatte ihre Familie nichts am Hut. Nach ihrem ersten magischen Abenteuer hatten die Zuckermeister Elina und Charlie die Erinnerungen an die Magie genommen, denn normale Menschen durften nichts von dem magischen Geheimnis wissen. Und Elina wollte nicht, dass ihrer Familie mal etwas Ähnliches passierte. Es war schließlich ein echtes Belony-Wunder gewesen, dass Charlie und sie ohne Erinnerungen trotzdem Freundinnen geblieben waren. Robin hatte ihnen ihre Erinnerungen mit den Vergiss-mein-nicht-Pralinen zurückholen können, aber wer wusste schon, ob das immer klappte?

»Charlie ist gleich da«, sagte Elina. »Ich geh mal meinen Rucksack holen.«

Nach diesem gelungenen Ablenkungsmanöver hakte ihre Mutter kein weiteres Mal nach – und Charlie stand fünf Minuten später wirklich bei ihnen auf der Matte.

Als Elina mit ihrem Rucksack die Treppe herunterkam, wartete Charlie im Flur. Zu ihrer Verwunderung mit Piet, der ganz still und artig ebenfalls wartete. Normalerweise trödelte er immer ohne Ende, wenn sie zur Schule mussten.

»Hast du ihm Benimm-dich-Bonbons in den Mund geschoben?«, fragte Elina.

»So was gibt’s doch gar nicht«, meinte Charlie und grinste. »Er hat’s wohl eilig.«

»Heute hat Benni Geburtstag und der bringt Kuchen mit!«, sagte Piet.

»Natürlich«, murmelte Elina. Nur was Süßes konnte Piet locken.

Die drei verließen das Haus und machten sich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Früher war Elina mit ihrem Bruder allein zur Schule gegangen und das hatte manchmal echt genervt. Doch seit Charlie dabei war, hatte Elina morgens richtig gute Laune!

Piet hob einen Stock auf und klapperte damit die Zäune ab.

Charlie und Elina gingen in kleinem Abstand hinter ihm her.

»Deine Frisur ist hübsch«, sagte Elina. »Steht dir gut.«

Das Kompliment brachte Charlie zum Lächeln. »Meine Mutter hat mir gezeigt, wie ich mein Haarband in den Zopf mit reinflechte. Sie hat sich gestern bei mir entschuldigt und dann haben wir lange geredet. Du weißt ja, sie war nicht begeistert, dass ich mit Feldhockey aufgehört habe, um in die Kunst-AG zu wechseln. Jetzt ist alles wieder gut zwischen uns! Und ich kenne einen neuen Flecht-Trick.«

»Das freut mich für dich!«, sagte Elina beschwingt. Deshalb hatte Charlie also nicht geantwortet. Elina war richtig erleichtert, nun den Grund zu kennen. »Ich vermisse dich trotzdem. Ohne dich wird es nicht mehr dasselbe sein.«

Charlie stupste sie leicht an. »Hey! Sei nicht traurig. Ich komme zum nächsten Spiel und feure dich aus der ersten Reihe an! Fest versprochen!«

Diese Aussicht munterte Elina sofort auf. »Das wäre super!«

»Meinst du, Robin ist wegen gestern noch sauer auf uns?«, fragte Charlie.

Bevor Elina antworten konnte, brüllte Piet: »Wir verpassen den Bus!«

Oh, Mist! Hatten sie so sehr getrödelt?

Die letzten Meter sprinteten die drei – und schafften es noch.

An seiner Haltestelle stieg Piet aus und Elina sah ihn schnell im Schulgebäude verschwinden – er konnte den Kuchen wohl wirklich nicht abwarten.

Der nächste Stopp war Elinas und Charlies. Auf dem Pausenhof standen einige ihrer Mitschüler in Grüppchen herum und unterhielten sich. Dieser Anblick hatte Elina eine Weile sehr traurig gemacht, denn sie hatte nie so richtig dazugehört, aber heute war das anders! Sie hatte mit Charlie und Robin zwei beste Freunde.

Wo der wohl steckte? Elina grinste in sich hinein. Das war typisch! Er kam wie so oft zu spät. Kurz warteten sie, doch dann klingelte es zu ersten Stunde und sie mussten in ihre Klasse.

Später in der Pause entdeckten Charlie und Elina Robin auf dem Weg zum Hof. Er lehnte lässig neben dem Schwarzen Brett und quatschte mit einem Jungen aus der Unterstufe, der Valentin hieß. Elina hatte einmal auf der Suche nach Antworten über die Zuckerhuts mit ihm gesprochen. Denn wie ihr hatte Juna ihm mit einem magischen Karamellbonbon geholfen, als es ihm schlecht gegangen war.

Charlie und Elina begrüßten die beiden Jungs.

»Wo warst du heute Morgen?«, fragte Elina Robin.

»Ist doch egal«, antwortete dieser und klang richtig abweisend.

Valentin rückte seine Brille gerade, machte sich klein und murmelte ein »Tschüss«, ehe er sich verkrümelte. Vielleicht spürte er, dass eine Gewitterwolke im Anflug war.

»Bitte sei nicht mehr wütend auf uns«, sagte Elina. »Das gestern war ein Versehen.«

Robin presste die Lippen fest zusammen und sah noch immer grummelig aus. »Ist doch egal, ob Versehen oder nicht.« Er senkte die Stimme. »Mein Pon ist kaputt. Wisst ihr, was los ist, wenn meine Eltern das merken? Die killen mich!«

»Vielleicht funktioniert es ja noch«, meinte Charlie hoffnungsvoll.

»Tja, spätestens nächsten Sonntag finde ich es heraus, wenn wieder Süßigkeitenwerker-Lektionen anstehen«, sagte Robin frustriert.

Elina sah aus den Augenwinkeln, dass ein Lehrer im Anmarsch war. Sie packte ihre Freunde, zog sie in ein offenes Klassenzimmer und schloss die Tür hinter ihnen.

»Wir kriegen das schon wieder hin, ehe jemand etwas merkt.«

»Ach, kannst du etwa mein Pon reparieren?«, fragte er.

»Nein. Aber wir kennen jemanden, der es vielleicht kann.«

Charlie und Robin sahen Elina verständnislos an.

»Hallo! Herr Schnotter!«, meinte sie. »Ihr wisst schon, Robins Nachbar, der rein zufällig auch ein Süßigkeitenwerker ist? Von dem wir dachten, er wäre hinter dem Notfallkoffer her? Der uns schon mal geholfen hat? Klingelt’s da?«

»Das ist ein genialer Einfall!«, sagte Charlie begeistert.

»Genial?«, hinterfragte Robin skeptisch. »Der hilft uns nie!«

»Doch!«, sagte Elina. »Wir werden ihn gemeinsam überzeugen.«

»Okay«, murmelte Robin. »Er scheint ja echt viel zu wissen.«

Elina strahlte. »Seht ihr? Freunde finden immer eine Lösung!«

»Wieso ist sie nur immer so zuversichtlich?«, fragte Robin Charlie.

»Weil sie Miss Sonnenschein ist«, antwortete die. »Typisch Elina eben.«

Elina schüttelte belustigt den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich nerviger finde: wenn ihr beide euch streitet oder wenn ihr euch zusammentut.«

Darüber mussten sie alle lachen. Aber es stimmte – Freunde fanden immer eine Lösung! Das hatten sie schon mehr als einmal bewiesen.