Für Andrea

INHALT

Vorwort

Die Dinge lernen sprechen

Der Traum von der sprechenden Maschine

Die Geschichte der Sprachtechnologie

Geschwätzige Helfer

Die Welt der Chatbots

Von der schnarrenden Roboterstimme zur realistischen Simulation

Wie man Maschinen zum Reden bringt

Sprachassistenten für alle Gelegenheiten

Siri, Alexa und Co.

Verstehen, ohne zu wissen

Die Möglichkeiten und Grenzen statistischer Sprachanalyse

Roboterjournalisten und Fake-News-Generatoren

Der Computer als Autor

Partner oder Werkzeug

Wie wir uns unsere Sprachassistenten wünschen

Anhang

Autorenvita

Zum Buch

VORWORT

Wenn Sie dieses Buch lesen, ist es bereits veraltet. Tut mir leid, aber das ist unvermeidlich. Das Gebiet der Computerlinguistik (auf Englisch Natural Language Processing, NLP) gehört zu den dynamischsten Disziplinen der künstlichen Intelligenz (KI), und die Zyklen der Innovation sind kürzer als der Lebenszyklus eines gedruckten Buchs. Nur ein Beispiel: Ich habe mit Miles Brundage von OpenAI ein Interview über das Sprachmodell GPT-2 geführt (siehe Seite 116), und einen Tag später kündigte die Organisation den Nachfolger GPT-3 an: noch größer, noch verrückter, noch leistungsfähiger. Ich habe dann schnell noch einige Änderungen im entsprechenden Kapitel gemacht – aber wenn das Buch ausgeliefert wird, gibt es wahrscheinlich schon wieder eine neue Entwicklung auf diesem Gebiet, das mit erstaunlichen Leistungen auf sich aufmerksam macht.

Das Buch ist also eine Momentaufnahme des Stands der Technik im Sommer 2020. Aber die Buchform ermöglicht es auch, einen Schritt zurückzutreten und allgemeine Entwicklungen zu beschreiben, die unabhängig von einzelnen Produkten und Trends sind – das habe ich versucht. Wir befinden uns an einer neuen Schwelle der technischen Entwicklung, wir machen den Schritt in ein Zeitalter, in dem Maschinen den von Alan Turing 1950 vorgeschlagenen »Intelligenztest« bestehen und mit uns Konversationen in natürlicher Sprache führen. Wie diese Zukunft gestaltet wird, das wird jetzt entschieden, in wissenschaftlichen Labors und in den Entwicklungsabteilungen der großen Technikkonzerne.

Die heiße Schreibphase des Buchs fiel zusammen mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Eigentlich ideal für jemanden, der sich ohnehin zum einsamen Arbeiten zurückziehen will – aber da ist noch die Familie, die auch nicht mehr das Haus verlässt, um zur Arbeit oder zur Schule zu gehen. Ich danke meiner Frau Andrea Cross und meinem Sohn Oliver, dass wir es zusammen durch diese ungewöhnlichen Monate geschafft haben.

Danken möchte ich außerdem meiner Agentin Heike Wilhelmi und meinen Lektorinnen Juliane von Laffert und Silke Körber, die wertvolle Anregungen gegeben haben. Mein Freund und Kollege John Markoff, der seit über 40 Jahren die Entwicklung im Silicon Valley verfolgt, hat mir bei der Anbahnung einiger Kontakte in der Tech-Welt geholfen.

San Francisco, im Sommer 2020

Christoph Drösser

DIE DINGE LERNEN SPRECHEN

Reden Sie mit Ihrem Smartphone? Ich tue es seit einiger Zeit: »Hey Siri, stell einen Timer auf 20 Minuten!« – »Wie hoch ist der Mount Everest?« – »Überweise 100 Euro an Peter!« Etwas komisch komme ich mir dabei immer noch vor, aber man gewöhnt sich daran. Hätte ich einen Amazon-Echo- oder einen Google-Home-Lautsprecher im Haus, könnte ich auch Kommandos geben wie »Stell die Heizung auf 20 Grad« oder »Mach das Licht im Bad aus«, so wie es zwölf Prozent der Deutschen bereits tun. Die menschliche Stimme ist das neue Interface; mit ihr kann man viele Kommandos leichter und schneller geben als über eine Tastatur oder einen Bildschirm mit vier Untermenüs.

Das Wort »Kommando« beschreibt es allerdings schon recht treffend: Auf dem Exerzierplatz findet die Kommunikation meist in einer Richtung statt, vom Offizier zum Untergebenen. Es wird keine Antwort erwartet, sondern eine bestimmte Aktion. Von einem Gespräch kann nicht die Rede sein. So ist es im Moment auch noch mit unseren Geräten, aber in Zukunft wird die Maschine immer öfter antworten. Wir treten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in einen Dialog mit nichtmenschlichen Entitäten – »Wesen« möchte ich nicht sagen. Die Sprachfähigkeit der Dinge um uns herum hat sich in wenigen Jahren sprunghaft verbessert, und dieses Buch soll einen Überblick darüber geben, wie gut Maschinen unsere Sprache heute schon beherrschen.

Aber reden die Dinge wirklich schon mit uns, wie es der Titel dieses Buchs suggeriert? Sicherlich sollen sie den Eindruck erwecken – die schnarrenden Roboterstimmen sind abgelöst worden von sanften, täuschend echt klingenden Männer- oder (meistens) Frauenstimmen, die teilweise sogar »Ähs« und »Hms« in ihren Redefluss einbauen. Wir können gar nicht anders, als in ihrem Tonfall und ihrer Stimmmelodie nach Anzeichen für eine Persönlichkeit zu suchen. Um diese Wirkung zu verstärken, haben Designer den Geräten einen ganzen Katalog an vorgefertigten Antworten mitgegeben, die sie witzig, ironisch oder sogar sexy erscheinen lassen. Allerdings handelt es sich derzeit noch um »auswendig gelernte« Phrasen, die uns Menschlichkeit suggerieren sollen. Und viele lassen sich gern davon verführen, auch wenn echte Liebesgeschichten zwischen Mensch und Maschine noch Stoff für Science-Fiction sind – wie in dem Film »Her« von 2013, in dem ein Nutzer sich in seine digitale Assistentin verliebt.

Dass sich die Sprachfähigkeit der Geräte um uns herum in den letzten Jahren so explosionsartig verbessert hat, ist vor allem auf Techniken zurückzuführen, die seit 2010 das gesamte Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI) revolutioniert haben: neuronale Netze und Deep Learning. Solche Netzwerke erkennen in selbstfahrenden Autos die Verkehrslage, sie schlagen menschliche Gegner im japanischen Go-Spiel – und sie erwerben auch auf eine ganz neue Art sprachliche Fähigkeiten. Sie werden in diesem Buch des Öfteren auf Sätze wie diesen treffen: »Seit neuronale Netze dafür eingesetzt werden, hat sich die Leistung der Systeme sprunghaft verbessert.« Es gibt auf dem Gebiet der natürlichen Sprachverarbeitung (NLP, von Natural Language Processing, im Deutschen spricht man auch von Computerlinguistik), keine Unterdisziplin, die von dieser Technik nicht tangiert worden wäre.

Kurz gesagt, erlauben neuronale Netze es Maschinen zu lernen, ähnlich wie ein Mensch lernt. Bei aller Euphorie ist es wichtig, das Wort »ähnlich« zu betonen – ein neuronaler Computer ist kein biologisches Gehirn, und die Netze stoßen zunehmend an Grenzen. Dennoch ist es faszinierend zu sehen, was diese auf sehr simplen Prinzipien beruhende Technik in wenigen Jahren geleistet hat und wahrscheinlich noch leisten wird.

Menschen lernen eine Sprache auf zwei sehr unterschiedliche Weisen. Beginnen wir mit der Zweit- oder Drittsprache in der Schule oder im Erwachsenenalter: Wenn wir uns eine Fremdsprache aneignen wollen, dann müssen wir Vokabeln lernen (also die Bedeutung der Wörter anhand ihrer Übersetzung in unsere Muttersprache) und grammatische Regeln verinnerlichen: Welche Endungen bekommen die Wörter je nach Fall oder Zeit (Deklination und Konjugation), in welcher Folge werden sie in einem korrekten Satz aneinandergereiht (Subjekt/Prädikat/Objekt)? Alle frühen Versuche, Computern Sprache beizubringen, haben sich an diese Vorgehensweise angelehnt. So musste – im Fall von gesprochener Sprache – der Strom von akustischen Signalen zunächst in einzelne Laute, »Phone« genannt, segmentiert werden, aus denen Wörter zusammengesetzt wurden. Letztere mussten dann auf ihre grammatische Funktion hin überprüft werden, um den Sinn des Gesprochenen zu analysieren.

Diese abstrakte, auch »symbolisch« genannte Methode der Sprachverarbeitung ist schwer in die maschinelle Praxis zu überführen, etwa in Übersetzungssysteme. Sie ist mit viel »Handarbeit« der Programmierer verbunden und hat in der Vergangenheit zu wenig befriedigenden Ergebnissen geführt. Die neuen Verfahren maschinellen Lernens orientieren sich weniger an abstrakten Grammatikregeln, sondern nehmen sich eher den Erwerb unserer Muttersprache zum Vorbild, die jedes Kind auf dem Globus nach maximal fünf Jahren fast perfekt beherrscht.

Ein Kind kommt auf die Welt, ohne ein einziges Wort zu sprechen oder zu verstehen. Es kann jede Sprache erlernen und verfügt prinzipiell über den gesamten Vorrat an Lauten, die in den Sprachen der Welt benutzt werden. Von Anfang an imitieren Babys die Laute, die in ihrer Umgebung gesprochen werden, und nehmen jedes Wort begierig auf. Als »Sprachinstinkt« hat der Linguist Steven Pinker dieses fast suchtartige Lernbegehren bezeichnet. Später im Leben sind wir längst nicht mehr so aufnahmefähig. Stellen Sie sich nur vor, Sie würden in eine ferne Kultur mit einer völlig fremden Sprache versetzt, ohne Dolmetscher und ohne Schrift als Krücken. Würden Sie in wenigen Jahren lernen, diese Sprache fließend zu sprechen?

Babys aber schreien sogar schon nach wenigen Wochen in ihrer Muttersprache. Forscher haben herausgefunden, dass die Schreimelodie französischer Babys sich von der ihrer deutschen Altersgenossen unterscheidet1 – der Ton geht eher nach oben als nach unten, so wie im Französischen üblich. Auch das Repertoire der Töne, die man artikulieren kann, wird im Verlauf der Kindheit immer weiter auf die der Muttersprache reduziert. Mit zunehmendem Alter wird es daher schwerer, eine Fremdsprache akzentfrei zu erlernen.

Ähnliches gilt für die Grammatik. Die Zahl der möglichen korrekten Sätze im Deutschen ist nahezu unendlich: Man hört zwar im Lauf der Kindheit nur eine gewisse Menge, aber trotzdem kann jedes Kind nach ein paar Jahren einen grammatisch korrekten Satz von einem falschen unterscheiden. Und das, ohne eine einzige Regel ausdrücklich gelernt zu haben. Selbst Erwachsene sind sich vieler Regeln nicht bewusst, die sie jeden Tag anwenden. Welcher der folgenden beiden Sätze klingt für Sie »richtiger«: »Ich habe einen großen grünen Apfel gegessen« oder »Ich habe einen grünen großen Apfel gegessen«? Die überwiegende Mehrheit deutscher Muttersprachler wird zur ersten Version neigen. Und wenn Sie auch noch sagen wollen, dass der Apfel reif war – wo käme dieses Adjektiv hin? Offenbar haben wir nicht nur die Stellung des Adjektivs zwischen Artikel und Substantiv verinnerlicht, sondern auch die Reihenfolge unterschiedlicher Kategorien von Adjektiven. Für das Englische habe ich im Internet diese Abfolge gefunden: »Anzahl, Bewertung/Meinung, Größe, Temperatur, Alter, Form, Farbe, Herkunft, Material«. Im Deutschen gibt es keine so starren Regeln, aber wir alle haben ein Gefühl dafür, ob ein Satz richtig ist oder nicht.

Dieses Lernen ohne Regeln kann man als »statistisch« bezeichnen, ein Begriff, der in der Wissenschaft erstmals 1996 aufkam.2 Das Kleinkind lernt bevorzugt die Laute, wissenschaftlich Phone genannt (siehe Seite 51), die in seiner Umgebung gesprochen werden. Die äußerst schwierige Aufgabe, aus dem kontinuierlichen Strom der Sprache einzelne Wörter zu segmentieren, meistert es, weil bestimmte Kombinationen von Silben wahrscheinlicher sind als andere. Und auch die Grammatik der Sprache, also die richtigen Endungen der Wörter und ihre korrekte Position im Satz, lernen wir, weil bestimmte Formen einfach nicht vorkommen. Das hat man in Experimenten mit frei erfundenen Kunstsprachen nachweisen können.

Die neuronalen Netze, die in den vergangenen Jahren so beeindruckende Erfolge erzielt haben, arbeiten mit sehr ähnlichen statistischen Mechanismen. Auch sie lernen, Wörter zu erkennen und korrekte Sätze zu identifizieren, weil sie mit unzähligen korrekten Beispielen trainiert worden sind.

Einen deutlichen Unterschied gibt es allerdings: Die neuronalen Netze benötigen Tausende, besser noch Millionen von Trainingsbeispielen, um zuverlässig zu lernen. Menschen können Regeln viel schneller verinnerlichen und anwenden, oft mithilfe weniger Beispiele, manchmal nur mit einem. Der Vater zeigt auf ein Tier und sagt: »Das ist ein Hängebauchschwein«, und das Kind kann danach zuverlässig Hängebauchschweine von anderen Vierbeinern unterscheiden und sie benennen. Das schafft heute noch kein Computerprogramm.

In diesem Buch will ich Ihnen davon erzählen, wie weit die Sprachlernfähigkeiten von Computern heute fortgeschritten sind. Wir beginnen mit den Versuchen, ihnen die Artikulation von Wörtern beizubringen – dabei geht es um Chatbots (siehe Seite 31), die schriftlich kommunizieren, um sprechende Assistenten auf dem Handy sowie um die sogenannten Smart Speaker. Wir behandeln die Frage, ob Sprachprogramme den Inhalt von Texten verstehen können und wie gut sie selbst Texte verfassen können. Damit befinden wir uns an der vordersten Front: Teilweise geht es um Innovationen, die zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Manuskripts gerade ein Jahr alt sind. Einen ganz großen Bereich habe ich bewusst ausgespart: Auf dem Gebiet der automatischen Übersetzung tut sich auch sehr viel – aber dabei geht es ja um die maschinengestützte Kommunikation zwischen Menschen.

Die Zukunft der sprechenden Maschinen verheißt aufregende Entwicklungen, aber natürlich besteht bei jeder neuen Technik die Möglichkeit des Missbrauchs. Deshalb schreibe ich auch darüber, wie Social Bots automatische Falschmeldungen erzeugen können und dass die Konzentration der Sprachtechnik in Händen weniger Firmen den freien Austausch von Informationen behindert. Dennoch sind sprechende Maschinen eine faszinierende und verführerische neue Technik, die unsere Zukunft entscheidend prägen wird.