Ein Wunderwerk der Phantasie und eine einzigartige Reise durch Literatur und Geschichte. Vom Fahrradfahren in der Antarktis bis zu Leonardo Da Vincis geheimer Leidenschaft fürs Kochen – Stefano Massini erzählt ebenso wahre wie verblüffende Geschichten zu Gefühlslagen, die jeder kennt, für die es aber keinen Namen gibt. Zum Beispiel das Gefühl, dem Ziel seiner Wünsche ganz nahe zu sein – und es trotzdem zu verpassen. Dafür schöpft Massini den Begriff 'Birismus', nach dem verkannten Erfinder des Kugelschreibers László Biró und erzählt seine unglückliche Geschichte. Jeder Eintrag dieses herrlichen Buches ist eine Überraschung und zeigt uns die Sprache und Geschichte mit neuen Augen.

 

 

 

Stefano Massini

 

Das Buch der fehlenden Wörter

 

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

 

Die Wörter werden von den Menschen auf der Straße erfunden, nicht von Akademikern an einer Universität. Die Verfasser von Wörterbüchern fangen sie viel zu spät ein und balsamieren sie in einer alphabetischen Reihenfolge ein, wenn der wahre Grund ihrer Entstehung in vielen Fällen bereits verloren gegangen ist.

 

Gabriel García Márquez

 

 

Inhalt

 

A   Luftfahrt mit Ziege

Weshalb Joseph (17401810) und Jacques Montgolfier (17451799) die Jungfernfahrt im Heißluftballon lieber einer Ziege, einem Hahn und einer Ente überlassen, Charlie Bud Cowart dagegen 1932 mit dem Luftschiff Akron abhebt – allerdings nicht an Bord.

 

B   Die Murmel in der Pfütze

Wie ein Kinderspiel László Biró (18991985) zur Erfindung des Kugelschreibers inspiriert. Er verkauft sein Patent aber an den Marquis Marcel Bich, der damit steinreich wird.

 

C   Sturm und Schnaps entscheiden die Schlacht von Caransebeş (1788)

Die Aussicht, einen gefürchteten Feind leicht zu besiegen, verschafft dem Menschen die größte Genugtuung – bis er merkt, dass es der Feind in seinem Inneren ist, der ihm die größten Niederlagen bereitet.

 

D   Eine Stufe vom Paradies entfernt

Die Journalistin Dorothy Parker, für ihren erbarmungslosen Humor bekannt, stellt 1938 fest, dass eine glückliche Frau immer ein bisschen weniger glücklich ist als ein glücklicher Mann. – So erfahren das auch die Gräfin Henriette d’Angeville, die 1838 den Mont Blanc als erste Frau besteigt, und Alfonsina Morini, die 1924 am Giro d’Italia als Mann verkleidet teilnimmt, auffliegt und disqualifiziert wird.

 

E   Showdown in Downtown Manhattan

Zwei Fürsten der New Yorker Unterwelt und ihr erbitterter Kampf um den Thron von Manhattan. Wie Monk »Affengesicht« Eastman und Paul »Latin Lover« Kelly 1903 in den Boxring steigen und warum ihre ewige Manie des Vergleichens im Zeitalter der sozialen Medien moderner ist denn je.

 

F   Großer Kopf und kleiner Mann – was nun?

Von den Minderwertigkeitskomplexen des Michael Faraday (17911867), einem der wichtigsten Naturforscher und Physiker aller Zeiten, der sich von der anmaßenden Frau seines Förderers wie ein Laufbursche behandeln lässt.

 

G   Freundschaft überwindet jedes Hindernis, oder?

Man sagt, dass sich in der Liebe Gegensätze anziehen, aber gilt das auch für Freundschaften? Oder scheitert eine Freundschaft an den Unterschieden? Die Geschichten von Franz Kafka, Giacomo Leopardi und König Ludwig XVI. zeigen uns, was möglich ist – und unmöglich.

 

H   Vom Wankelmut stolzer Menschen

Der Medienmogul William Randolph Hearst (18631951) lehnt sich im Namen der Pressefreiheit gegen Hitler auf, verbietet aber nur wenige Jahre vorher aus persönlichem Stolz den Film Citizen Kane von Orson Welles, in dem er wenig schmeichelhaft dargestellt wird.

 

I   Von Feinden, die nicht aus ihrer Haut können

Wie es kommen kann, dass das Andenken an den großen Universalgelehrten Robert Hooke (16351703) von seinem Rivalen Isaac Newton für immer getilgt wird und dass auf den Bildern des großen walisischen Malers James Dickson Innes (18871914) keine einzige menschliche Figur zu sehen ist.

 

L   Täuschen wie ein Opossum

Der große Lügner Henry Louise Grin (18471921) ist tot. Seine Kunst des Lügens und Täuschens überragt alles in einem Maße, dass nicht einmal sein Tod glaubwürdig scheint. Eine Geschichte über bereichernde Lügen und die Kunst der Verstellung am Beispiel des Opossums.

 

M   Das vernunftbegabte Herz

Wie die griechische Göttin Ate den ehrgeizigen Hass von Diego de Almagro (14791538) gegen Francisco Pizarro (14761541) anstachelt, um mit dem Arauco-Krieg der Mapuche den längsten Kampf der Menschheitsgeschichte zu entfachen.

 

N   Die Banalität des Bösen

Oft hat der Mensch seinen schlimmeren und skrupellosen Instinkten nachgegeben. Auch 1933 in Nasino (Sibirien) führt ein bürokratisches Experiment zu einer der dunkelsten Seiten der modernen Geschichte.

 

O   Broterwerb und Arbeitshunger

Wenn der Tag mehr Stunden hätte, hätte der Graf von Olivares (15871645), Berater von König Philipp IV., mehr gearbeitet, so groß war seine Geltungssucht. Das gilt auch für den Psychologen Wayne Oates (19171999), der über seine Arbeitstrunkenheit schreibt und dabei den Begriff des Workaholics prägt.

 

P   Ungleichheit in öffentlichen Verkehrsmitteln messen

Über die plötzliche Hellsichtigkeit von Unterdrückten und wie der Bus als minutiöses Messinstrument von Ungleichheit zum Ort des Aufbegehrens wurde.

 

Q   Fahrrad fahren in der Antarktis

Literatur trifft Wissenschaft: Was Falcon Scott, Edward Wilson und Ernest Shackleton im 19. Jahrhundert von »Signor Emilio« hätten lernen können. Warum der Mensch im Allgemeinen sich das Leben gerne unnötig schwer macht und manch einer aus seinen Fehlern rein gar nichts lernt.

 

R   Die Fesseln des Todes

Die Geschichte des Zauberers Houdini, der sich selbst aus allen Ketten und die junge Bess Rahner (18761943) aus den Gefängnissen ihrer Ängste befreit, der Umklammerung des Todes letztlich aber auch nicht entkommen kann, sodass am Ende ein zwei Menschen auf ewig verbindendes Gefühl übrig bleibt.

 

S   Von einem Mann, der alles verliert – sogar seinen Namen

Der russische Offizier Afanassi Afanassjewitsch Fet-Šenšin (18221892) kämpft auf dem Schlachtfeld, um wieder seinen Adelstitel zu erwerben, den ihm eine missgünstige Bürokratie aberkannt hat. Doch die Zahl der erforderlichen Medaillen steigt von Mal zu Mal.

 

T   Mit Beharrlichkeit am Ziel vorbei und in die Katastrophe

Trotz größter Gefahren jagen die Grubenarbeiter der Goldmine TauTona in den gespenstischen Tiefen des Erdinneren dem edelsten aller Metalle und dem Sinnbild des Lichts hinterher. – Der Leiter des Auswärtigen Amtes Arthur Zimmermann bekennt sich 1917 unbeirrt zu seiner Depesche mit verheerenden Auswirkungen.

 

U   Nichts ist, wie es scheint

Wie die amerikanische Journalistin Nellie Bly (18641922) sich für eine Woche als Verrückte ausgibt und der britische Diplomat Donald Duart Maclean (19131983) sein Leben lang für die Sowjetunion spionierte und dies offen gestand, ohne dass ihm jemals jemand glaubte.

 

V   Warum Leonardo Törtchen liebt

Leonardo da Vinci fasziniert das Kochen mehr als die Malkunst und er ernennt seine Köchin Battista de Villanis zur Alleinerbin. Sein Zeitgenosse Cesare Vecellio (15211601), der einer berühmten Künstlerdynastie entstammt, liebt die Mode und erfindet den Fashion-Blog – beide folgen unbeirrbar ihrer wahren Berufung.

 

Z   Von kleinem und großem Ruhm

Wer hat das Fernrohr erfunden? – Ein teuflischer Streit dreier Holländer verbirgt den wahren Erfinder und gibt dem den Ruhm, der sich selbst vergrößert. Ein anderer sucht das Kleinste in der Welt und hat dafür wahren Ruhm verdient.

 

Nachwort   Worte, die dir fehlen

 

 

A

 

Annonayiker und Attachose

 

Luftfahrt mit Ziege

 

Etwas verbindet alle Menschen – jeder von uns entwirft seinen Fluchtplan. Manche setzen ihn dann wirklich in die Praxis um, während andere sich ihr ganzes Leben lang damit begnügen, die Wände ihrer Zelle blau anzumalen, um sich grenzenlose Himmel und offene Meere vorzugaukeln. Na gut, eigentlich ist der Unterschied nicht so groß, denn was uns zu Menschen macht, ist weniger die konkrete Tat des Flüchtens, als die Sehnsucht danach und mit ihr das inständige Bedürfnis, zu wissen, dass es einen Fluchtweg gibt – es muss ihn geben! Unsere Ausbruchsfantasien haben letztlich immer mit einem Mangel zu tun: Wir ertragen es einfach nicht, dass wir nicht fliegen können. Diese Tatsache, mit der wir uns nie und nimmer abfinden werden, ist unser einziges echtes Problem. Denn mit Flügeln, o ja, mit Flügeln könnten wir uns überall und jederzeit dieser verfluchten Schwerkraft entziehen, die uns in jeder Hinsicht am Boden festhält. Wie gut also, dass es Dädalus und Ikarus gibt, Leonardo da Vincis fliegende Maschinen, dicke Bücher voller Mythen und Legenden, in denen Engel und Götter die Sterblichen mit einem Flügelschlag demütigen.

Nun bringen wir Menschen es aber fertig, uns sogar bei unserer Gier nach Eroberung des Himmels widersprüchlich zu verhalten. Davon erzählen zwei Franzosen, die Brüder Joseph und Jacques, die ihr ganzes Leben dem Vorhaben gewidmet hatten, das Reich der Vögel zu erstürmen. Doch kaum hatten sie – als Erste – eine Flugmaschine entwickelt, mit der sie vom Boden abheben konnten, bekamen sie Angst. Dabei war alles fix und fertig, entworfen und ausgeführt: Die an einem Ballon (den sie stolz auf ihren Nachnamen Montgolfier tauften) hängende Kabine wartete nur darauf, sie endlich nach oben, hoch und noch höher hinauf zu bringen, dorthin, wo nur Unsterbliche Zutritt hatten. Doch die Brüder machten einen Rückzieher, nicht sie, sondern eine Ziege, ein Hahn und eine Ente sollten die Ersten sein, die die Wege des Himmels erforschen würden. Man schrieb das Jahr 1783, als diese Arche Noah sich in die Lüfte erhob, verfolgt von den staunenden Blicken Tausender Menschen, die allesamt am Boden zwischen den Häusern von Annonay geblieben waren. Darum birgt der Name dieser lieblichen Ortschaft der Ardèche sowohl die Erinnerung an unseren Überfall auf den Himmel als auch an unseren Waffenstillstand. Aber warum nur verzichteten die Brüder Montgolfier auf das, was sie sich sehnlichst erträumt hatten? War es Feigheit? Oder ein Übermaß an Vorsicht? In beiden Fällen wohnt ein Joseph und ein Jacques in jedem von uns, sind wir doch alle hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu fliegen und der Angst, es wirklich zu tun, also unser inneres Gleichgewicht in Gefahr zu bringen. Der Mensch versucht sich zu retten, doch gleichzeitig fürchtet er sich davor und überlässt das einzige Rettungsboot einer Ziege, einem Hahn und einer Ente, den Lufttouristen von Annonay.

Doch ich glaube, dahinter steckt noch etwas anderes.

Die Erde, wiewohl in Teilen noch unerforscht, ist ein Abstellkämmerchen, verglichen mit dem Himmel, und obwohl wir unsere Begrenzungen hassen, ziehen wir es doch vor, uns an ihnen festzuklammern. An den unermesslichen Weiten der Luft erschreckt uns das, was uns anzieht: die totale, unendliche Freiheit, in der man sich verlieren und sich vergessen kann.

Ein gutes Thema für ein neues Wort: die Angst, sich selbst zu verlieren oder den anderen verloren zu gehen, so wie wir den Flug eines Vogels verfolgen und dann unvermeidlich aus den Augen verlieren. Doch wo – oder besser, bei wem – beginnen wir mit dem Aufbau des Wortes? Sofort haben wir die Qual der Wahl zwischen Malern, Dichtern und Wissenschaftlern, vielen von ihnen wird man auf den folgenden Seiten begegnen, und manche dieser Namen erinnern sofort an das ruhmvolle Schaffen ihrer Träger. Doch der Zufall will, dass uns hier ein unbekannter amerikanischer Marinesoldat mit Namen Charlie Bud Cowart zu Hilfe kommt. Und wer weiß, wie er an jenem berühmten Morgen des Jahres 1932 reagiert hätte, wenn man ihm gesagt hätte, dass er viele Jahre später nichts Geringeres als ein Substantiv ins Leben rufen sollte.

Wer war Charlie? Ein Heranwachsender von nicht ganz siebzehn Jahren, der allerdings um einiges älter wirkte. Korpulent, stämmig, ja elefantös mit seinem stets nach vorn gebeugten Gang, war Charlie ein lebender Beweis jenes seltsamen Naturgesetzes, demzufolge Jungen erst nach einem längeren Larvenstadium, in dem sie meist plumpen Gnomen ähneln und obendrein ein bisschen stumpfsinnig wirken, zur Reife gelangen. Darum sah der Rekrut Cowart, obwohl er bei der Marine der Vereinigten Staaten diente, eher wie ein draller Matrosenkobold aus. Sein Gesicht, ein einziges Wangenpolster, trug den vagen Ausdruck eines narkotisierten Menschen, wie er viele Heranwachsende kennzeichnet, als trennte ein mysteriöser Schleier sie von der Außenwelt. Womöglich eine Art Schutz? Nein, bei ihm nicht. Charlie fühlte sich einfach nur seit eh und je wie einer, der in der Tür stehen geblieben ist, ohne einzutreten oder wegzugehen, und aus diesem Limbus hatte er sein Zuhause gemacht. Wer ihn kannte, machte sich Sorgen. Offenbar konnte nichts und niemand ihn auch nur antasten, geschweige denn beeindrucken, so ein dickes Fell hatte er. Manchmal schien er nicht einmal wahrzunehmen, was um ihn herum geschah, er schwamm in der Wirklichkeit wie ein in der Strömung dahintreibender Körper. Schwäche? Eher Unsicherheit, würde ich sagen. Dabei fehlte es ihm nicht an körperlicher Kraft. Charlie trat bei Boxkämpfen an, wo er sogar ein gewisses Talent bewies. Aber außerhalb des Rings konnte er einfach keinen Treffer landen, im alltäglichen Durcheinander einen Gegner zu finden, war viel zu kompliziert für ihn. Beim Boxen dagegen kriegst du jedes Mal ein Gegenüber hingestellt, und obendrein bleibt dir die Mühe erspart, deine Schläge zu rechtfertigen. Also begnügte sich unser guter Charlie mit sporadischen Anfällen von Vitalität, wenn er seine Boxhandschuhe trug, aber alles andere lief um ihn herum ab, als ginge es ihn nichts an. Wenn er keine Uniform trug, sah man ihn immer in derselben Leinenjacke, ob es regnete, stürmte oder die unbarmherzigste Hitzewelle des Jahres nahte. Und so wie er nie die Kleidung wechselte, blieb auch sein Gesichtsausdruck stets derselbe, freundlich, aber distanziert, treuherzig gleichgültig.

Just in dieser gewohnten Form trat Charlie Cowart mit den anderen in Camp Kearney an, ohne im Mindesten zu ahnen, was ihn an diesem 11. Mai 1932, anderthalb Jahrhunderte nach dem Flug der Montgolfiere von Annonay, erwartete.

Während die Rekruten auf den Stützpunkt zufuhren, fiel ihnen die freudig erregte Menschenmenge am Weg auf. Was konnte an einem Militärgebiet solche Begeisterung erregen? Die Antwort erhielten sie von einem vierjährigen Jungen, der strahlend auf den Schultern seines Vaters saß. Charlie fixierte ihn vom Mannschaftswagen aus, als fragte er ihn nach dem Grund für sein glückseliges Lächeln, und der Junge hob nur die Augen zum Himmel, als hätten sich dort mindestens die Tore von Walhall geöffnet. Träge wie üblich, beugte Charlie sich gähnend nur so weit über die Plane hinaus, um nach oben blicken zu können … und was er sah, war tatsächlich nicht weniger beeindruckend als Walhall. Über ihnen schwebte die USS Akron, der Gigant der Luftschiffe und ganze Stolz der amerikanischen Luftwaffe. Ein fliegendes Ungeheuer von 239 Meter Länge, wahrhaft immens, in dessen Bauch, so erzählte man, mindestens fünf kampfbereite P26-Jagdflugzeuge Platz fanden, weshalb die Akron allgemein als »Flugzeugträger der Lüfte« bekannt war. Die Akron, der jüngste Nachfolger des Montgolfier-Patents, war der neueste spektakuläre Entwicklungsschritt unseres Aufstiegs zum Himmel.

Darum also hatte die Marine sie nach Camp Kearney beordert. Mindestens hundert Männer wurden nämlich zum Vertäuen dieses Luftschiffkolosses gebraucht, der gleichmütig, scheinbar harmlos, wie ein Pottwal mit Flügeln über ihren Köpfen wogte.

»Zum Glück weht heute kein Wind«, murmelte jemand, wurde aber sofort von seinem Nachbarn belehrt, der sich zum Priester der modernen Luftschifffahrt aufschwang: Es brauche schon weit mehr als bloß Wind, um dieses Ungetüm zum Zittern zu bringen.

Mag sein. Unterdessen hatte eine Mischung aus Begeisterung und Angst den ganzen Stützpunkt ergriffen. Denn die Akron war zwar ein Wunder der Technologie, sie konnte ohne Zwischenhalt von New Jersey bis nach Kalifornien fliegen, doch alle erinnerten sich noch an die vielen Zeppeline, die während des Ersten Weltkriegs jeder Art Unfall zum Opfer gefallen waren. Als wären Luftschiffe empfindliche Riesen, die aus dem kleinsten Anlass in einer Katastrophe enden konnten.

Während ringsumher der Adrenalinpegel stieg, wurden die Rekruten in ihre Aufgabe eingeführt. Gedruckte Handzettel mit Illustrationen erklärten ihnen, dass das Monstrum an einer Reihe gigantischer, in die Erde eingemauerter Eisenringe verankert werden musste. Jeder Matrose wurde einem nummerierten Seil zugewiesen, Charlie Cowart bekam die Nummer 14. Nur durch ein perfektes Mannschaftsspiel würden sie alle Seile gleichzeitig festmachen können, und zwar unmittelbar nachdem die Haupttrosse – dicker als eine Hand – am Ankermast vertäut war. Leichter gesagt als getan. Die Vorbereitungen dauerten mindestens eine Stunde, und als alles bereit war, gab ein Offizier das vereinbarte Zeichen. Sofort machten die jungen Matrosen sich eifrig ans Werk, legten die Taue um die Seilwinden und schrien sich gegenseitig den Rhythmus des Aufwickelns zu, damit die Landung der Akron schrittweise und gleichmäßig vonstattengehen konnte. Sie boten ein echtes Schauspiel, so dass die Menge der Neugierigen mehrmals in einen gerührten, zustimmenden Applaus ausbrach.

Nun hat auch jeder Applaus seine eigene Sprache, und wie im Tonfall menschlichen Sprechens kann man auch im Applaus unendlich viele Bedeutungsnuancen wahrnehmen. An diesem Tag wurde das allen klar, als die Menge langsam Zweifel beschlichen und der Beifall die leuchtende Färbung der Anerkennung verlor, um sich in ein Händeklatschen zu verwandeln, das höchstens als Aufmunterung gelten durfte.

Und die war nötig.

Denn der klare Himmel hatte sich mit weißen Wolken überzogen, und die imposante Masse des Luftschiffs zeichnete sich jetzt am Himmel ab wie ein Tintensee auf einem Blatt Papier. Wie um die Verankerung zu erschweren, hatte sich jetzt auch noch der Wind hinzugesellt, der urplötzlich aufgetaucht war, als wollte er am großen Fest teilnehmen, ein ganz und gar ungebetener Gast. Mehrmals driftete die Akron sichtlich zur Seite ab, doch das Geflecht der Seile konnte sie unter den Schreien der Offiziere am Boden in die richtige Position zurückbringen. »Die Hundeleine!«, brüllte der Aufseher über die Operation ins Megaphon. Mit diesem technischen Begriff war das Hauptseil gemeint, das die Spitze des Luftschiffs tatsächlich wie einen Hund an der Kette an dem hoch aufragenden, metallenen Obelisken festmachen sollte. Sofort ergriffen mindestens dreißig Matrosen das Ende der Trosse und vertäuten sie in ihrem Ring dort oben an der Spitze des Ankermastes, zur Freude ihrer Kollegen, die die anderen Seile kaum mehr festhalten konnten. Charlie Cowarts Hände brannten fürchterlich, trotz der Handschuhe, die er trug, und er fragte sich, ob der Grund für sein drückendes Angstgefühl der Schmerz oder der immer stärker auffrischende Wind war, der schon mindestens zwanzig Matrosen die Mützen vom Kopf gerissen hatte.

Kaum war die Hundeleine vertäut, breitete sich immerhin ein erleichtertes Lächeln in der Menge aus, als hätte der Mensch das Wüten der Elemente nunmehr bezwungen. Doch das Aufatmen währte nur kurze Zeit. Denn durch eine jähe, sehr viel stärkere Bö verloren fast alle Rekruten die Kontrolle über ihre seitlichen Taue, und das nur noch vom Hauptseil gehaltene Luftschiff stieg senkrecht in die Luft auf wie ein Kinderdrachen. Das Unvorstellbare war geschehen: Der ruhmreiche Nachfahre der Gebrüder Montgolfier war jetzt steuerlos, hilflos dem Wind ausgesetzt, und da er kopfüber in der Luft stand, verlor er sein gesamtes Ballastwasser, so dass er mit jeder Minute leichter und unkontrollierbarer wurde, zumal die letzten drei, vier Matrosen ihre Seile losgelassen hatten und auf die Erde hinabgestürzt waren. »Kappt die Hundeleine!«, schrie jemand, und in der allgemeinen Panik wurde das als ein Befehl verstanden, egal, wer ihn ausgesprochen hatte. Ein Matrose kam mit einer Axt gelaufen und hieb auf das Ankertau ein, das die Akron daran hinderte, sich in die Luft zu erheben. Und so verloren sie das Ungetüm wirklich: Das Luftschiff war nun endgültig außer Kontrolle, sie sahen es aufsteigen und wie ein Blatt im Wind hin und her schwanken.

Mindestens zwei Stunden vergingen, ohne dass man irgendetwas tun konnte. Der Sturm wütete mit voller Wucht, unmöglich, die herabhängenden Seile zu ergreifen, um die gedemütigte Akron an den Ankerplatz zurückzubringen. Die Zuschauer waren inzwischen verschwunden, hatten sich einer nach dem anderen zurückgezogen, weil ihnen bewusst wurde, dass es recht unpatriotisch war, zu bleiben, um dem Supergau eines Wunders der Aeronautik zuzuschauen, nachdem das Unglück schon mehrere junge Matrosen das Leben gekostet hatte. Und so gab es am kalifornischen Himmel von Camp Kearney bald nichts mehr zu sehen. Es wurde still am Stützpunkt, eine dünne, hilflose Stille, bis nach mehreren Stunden jemand durch ein Fernglas schaute und mit dem Finger auf einen Punkt unterhalb der Akron zeigte, die schon sehr hoch am Himmel schwebte.

»O Gott, nein, das darf doch nicht wahr sein …«, stammelte der Offizier, der offenbar erst jetzt erkannte, was dort oben Ungeheures geschah. Vor Schreck ließ er das Fernglas fallen und rief wie besessen um Hilfe, dort oben am Luftschiff gehe etwas Entsetzliches vor sich. Die Herbeigerufenen kniffen die Augen zusammen, um zu erspähen, was es dort Entsetzlicheres geben könnte als die zum Spielball des Windes gewordene Akron … Und schon bald begriffen sie, was es war.

Der Rekrut Charlie Bud Cowart war unbegreiflicherweise an seinem Seil hängen geblieben, er hatte es sich um die Hüften knoten können und kreiste nun wie die Akron seit Stunden dort oben in unfassbarer, himmelwärts führender Höhe, bis hinauf auf zweitausend Fuß, wohin keiner sich allein wagt. Zu winzig, um vom Boden aus mit bloßem Auge gesichtet zu werden, hing er seit geraumer Zeit unter dem Luftschiff, und an Bord war niemandem eingefallen, dass einer der Festmacher sich womöglich in seinem Seil verfangen haben könnte. Darum war Charlie wirklich stundenlang von der Welt vergessen worden, keiner hatte mehr nach ihm gefragt, keiner hatte seine Abwesenheit bemerkt, keiner hatte seine Schreie dort oben gehört, während er vom Wind in alle Richtungen gepeitscht wurde. Seltsames Schicksal: Ein junger Mann, der sich von der Realität treiben ließ, ohne ihr je als einer ernsten Angelegenheit entgegenzutreten, trieb jetzt in der Luft, ohne dass der Rest der Welt sein Verschwinden ernst nahm. Charlie erlebte am eigenen Leib, was Joseph und Jacques Montgolfier im Himmel zu finden fürchteten: die Abwendung der menschlichen Gemeinschaft, den Verlust des Selbstgefühls, vielleicht sogar eine extreme, an den Tod grenzende Erfahrung, da die Seelen ja in den Himmel fliegen. Im Grunde etwas zutiefst Menschliches, denn wir sind irdische Geschöpfe, geschaffen, um gemeinschaftlich zu leben und den Reflex unseres Selbst im Blick der anderen zu suchen. Es ist also ganz natürlich, Angst davor zu haben, dass die menschliche Gemeinschaft die Erinnerung an uns verliert, wodurch unser kleines Ich in einen endlosen Raum, in ein Niemandsland abdriftet. Von allen Geschichten, die ich gesammelt habe, erzählt Charlies Abenteuer am eindringlichsten von der wahren Bedeutung des Wortes Einsamkeit. Es bedeutet nicht, sich von den anderen abzusondern, nein, einsam ist, wer erkennt, dass er in einem anderen Raum lebt als dem gemeinschaftlichen Ort aller Menschen, dass er woanders ist, zweitausend Fuß hoch, an einem Seil hängend, und niemand scheint es zu bemerken.

Von dem Tag an erhielt Cowart den Spitznamen »the attached«, der Angehängte. Verrückt, wenn man bedenkt, dass Charlie während jener verzweifelten Stunden, in denen er, von der Welt vergessen, am Himmel umhergeirrt war, sich genau entgegengesetzt gefühlt hatte: nicht angehängt, sondern abgehängt von allem, vom Menschenvolk, das er von dort oben aus der Höhe betrachtet hatte. Und auch nachdem er wieder zum Stützpunkt zurückgekehrt war, verließ ihn das schreckliche Gefühl seines einsamen Fliegens nie mehr. Nur mit den Füßen am Boden sind wir menschliche Wesen.

Vielleicht vom Wunsch nach Flügeln erschöpfte Wesen.

 

 

Annonayiker [ʔaṇoːˈnaːjɪkɐ], Subs., der, Ableitung aus dem Namen der Ortschaft Annonay, wo der erste Flug einer Montgolfiere stattfand (1783), allerdings unbemannt. Bezeichnet einen Menschen, der an einem inneren Widerspruch leidet, weil er auf jede erdenkliche Weise seine Befreiung gesucht hat, sich dann aber davor fürchtet, sie bis auf den Grund auszukosten, und verzichtet.

 

Attachose [ʔataːˈçoːzə], Subs., die, abgeleitet vom Spitznamen »the attached« des amerikanischen Marinesoldaten Charlie Bud Cowart. Bezeichnet den Zustand des Menschen, der sich, hilflos an seinem eigenbrötlerischen Wesen hängend, von der Welt vergessen fühlt, weil er sieht, dass das Leben um ihn herum ungeachtet seines Leidens unverändert weitergeht.