Über das Buch

Westberlin, achtziger Jahre, Hausbesetzung, Punk, Aids, Tschernobyl: Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland schreiben den Roman einer Generation.

»No Future«: Unter dieser Parole besetzt eine Gruppe junger Leute Anfang der Achtzigerjahre ein Haus in Kreuzberg. Aufbruchsstimmung wechselt mit inneren Streitigkeiten unter der ständigen Bedrohung durch die Staatsgewalt. Bis bei einem Unfall eine Besetzerin ums Leben kommt. Was sie hier erzählen, haben Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland so oder ähnlich erlebt. Aufprall spielt in einer Welt von Punk, Straßenschlachten, AIDS, Drogen, rauer Kunst und wilden Theorien, bloßem Sex und tiefer Zuneigung, zu einer Zeit, die keine Kompromisse kannte. Als hinter dem besetzten Haus die Mauer fällt sind die Achtziger vorbei. In diesem großen, impulsiven Roman leben sie noch einmal auf.

Bude | Munk | Wieland

AUFPRALL

Roman | Carl Hanser Verlag

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Inhalt

DIE FIGUREN

PRAG, JANUAR 1982

WESTBERLIN, 1980

WESTDEUTSCHLAND, NACHKRIEG

GESCHICHTE WIRD GEMACHT, JANUAR 1981

DIE VILLA

DAS VERSPRECHEN BERLIN — LUISE

AUTONOM

WIR ALS WIR

WIE LEBEN? — THOMAS

DIE GEGENRICHTUNG — LUISE

AUSSER ATEM, HERBST 1981

KALTE FREIHEIT

DIE WUNSCHMASCHINE — THOMAS

DAS SAXOPHON — LUISE

DIE REISE — THOMAS

WEISSES RAUSCHEN — LUISE

DIE KREUZUNG — THOMAS

DIE SEGELSCHIFFE — LUISE

DIE STADT HINTER DEM EISERNEN VORHANG — THOMAS

DIE ANDERE WELT — LUISE

FORLORN — THOMAS

DIE ENTDECKUNG — LUISE

DIE ÜBERGABE — LUISE

DER BOTE

WAS TUN?

ATTACKEN — THOMAS

DIE LÜCKE — LUISE

KILL THE POOR, SEPTEMBER 1982

LOVE HURTS

DIE O-MEILE — THOMAS

GEFÜHL UND HÄRTE

KEBABTRÄUME — LUISE

WIR UND GOTT

HEROES — THOMAS

ERLÖSUNG AN DER FU — THOMAS

CAPUT MORTUUM — LUISE, 1986

MERVES WELT — THOMAS

BODY AND SOUL

NACHTGEWÄCHS — LUISE

LADEN FÜR NICHTS — THOMAS

DIE SCHUHE — LUISE, 1987

HAMBURG—SPANIEN. DIE REISE — THOMAS

KLASSENSCHICKSAL — THOMAS

NEW YORK — LUISE

DANK

BILDNACHWEIS

Für Dr. Paul Žalud

(1912—1988)

45 die aus den Angeln geratene Zeit

46 die beste Zeit

47 die erste Zeit

48 die ganze Zeit

49 die innere Zeit

50 die kurze Zeit

51 die lange Zeit

52 die meiste Zeit

53 die übrige Zeit

54 die Zeit ist gekommen

Heidi Paris, 365 Zeitwörter Merve Verlag, Berlin 2008

Wir haben diesen Roman zu dritt geschrieben, weil wir eine Zeit vor Augen haben, in der sich etwas gedreht hat. Die Geschlechter, die Herkünfte, die Wahrnehmungen, die Gefühle, das Denken und die Kunst waren in einen anderen Zustand gekommen. Nicht allein für uns als damals Zwanzigjährige, sondern für die Welt der 1980er Jahre, in der wir erwachsen wurden.

Dieser Roman wird von drei Stimmen erzählt. Es gibt die Stimme eines Chors, der weiblich ist und die Geschichte einer Gruppe aufrührerischer Jungmenschen in Westberlin erzählt, sowie eine männliche und eine weibliche Stimme von zweien, die durch ein Schicksal miteinander verbunden sind.

Hier ist nichts frei erfunden. Die Geschehnisse nicht, der Ort nicht. Nur die Figuren, die auftreten, sind Mischfiguren, in denen wie im Traum die Züge verschiedener Gefährtinnen und Gefährten zusammengezogen sind. Die Fiktion ist wahr, und die Fakten stimmen.

DIE FIGUREN

LUISE  Künstlerin, versponnen und konsequent

THOMAS  Philosophiestudent, Arbeiterkind aus Wuppertal, ehrgeizig und schwer durchschaubar

SORAYA  Studentin der Theaterwissenschaften, unnahbar und entschlossen

DER GRANDE  Sorayas Freund, fährt Motorrad, studiert Jura

WOLLE  Berliner, Straßenkämpfer, Taxifahrer, schwermütig und radikal

ROBERT  Berliner, Raubdrucker, Subdramaturg an der Schaubühne, clever und begeisterungsfähig

VRONI  Arbeitertochter aus Wien mit Liebe zur Kunst und zu den falschen Männern, warmherzig und mondän

LENNY  kommunistisch gesinnter Kiffer aus dem Zonenrandgebiet

ULI  Medizinstudent mit diplomatischem Geschick, klug und verlässlich

ANTONIA  Ulis Freundin, eine schöne, aber sterbenslangweilige Studentin der Chemie

MICHAEL  Anarchist, Bayer, Schamane, Yogi, Zen-Meister, Hippie und ein großer Verführer

CLARISSA  Michaels Freundin, genannt Prinzessin Crumb, studiert Literaturwissenschaften mit Schwerpunkt Interpunktion

LARS  Freund und Faktotum von Clarissa und Michael, unscheinbar und scheu

IRENE  Anführerin der radikalen Fraktion, arbeitet halbtags als Hilfskraft auf einem Berliner Gesundheitsamt, kess und militant

MARIANNE  Freundin von Irene, eine leichtsinnige, wandelbare Person, Berlinerin

JOHN  Liebhaber von Irene und Marianne, Macho, Berliner, schwärmt für Pol Pot

LEO  Freund von Thomas, angehender Literaturwissenschaftler aus dem Umkreis von Jacob Taubes mit einer Vorliebe für Splattermovies, Monstermärchen und Trivialmythen

ELENA  Freundin von Luise, Soraya brachte sie aus Turin auf dem Sozius über die Alpen, Zögling katholischer Nonnen

FOUAD  aus dem Iran geflohen vor der Islamischen Revolution, Affäre von Marianne, einsilbig und elegant

TIBOR  ungarischer Dissident, Herausgeber einer Untergrundzeitschrift, still und empfindsam

ELISABETH und FRIEDER POHL  Eltern von Luise

PAULINE und TOBIAS POHL  Schwester und Bruder von Luise

DR. MAX KOLO  Chefarzt der Klinik in Ústí nad Labem, Mitglied der tchechoslowakischen KP, unideologisch und hilfsbereit

DR. FRANZ LÍPA  Primar der Abteilung für Anästhesie und Wiederbelebung, treu und furchtlos

DR. SIMON MALY  Arzt auf der Station von Dr. Lípa, zurückhaltend mit honigfarbenen Augen

DR. JONAS DEN  Arzt auf der Station von Dr. Lípa, spricht Französisch, Reformanhänger

LYNN  höhere Tochter aus Hamburg, zäh und zerbrechlich

JAN  Lynns ostfriesischer Freund, ein begabter Gauner und Pfuscher, arbeitsam und eigentlich sorglos

RABE  geflohen aus Ostberlin, herumschweifender Rebell, witzig und gefährlich

DIANA POHL  Tante von Luise, Chirurgin, ausgewandert nach New York, Einzelgängerin

SVEN  ein schillernder Berliner aus dem Wedding, Unterstützer

CLAUDIUS  Impresario, Dealer, Spieler, bester Liebhaber Kreuzbergs

ANSELM  Lebensgefährte von Lynn, Bio-Subkultur-Aktivist, gewandt und geschäftstüchtig

PRAG, JANUAR 1982

Nach einer halben Stunde Fahrt war sie bereits eingeschlafen. Die Monotonie des Motorengeräuschs hatte sie schläfrig gemacht. Zu zweit saßen sie auf dem Rücksitz der alten Mercedes-Limousine. Kurz unruhig, suchte sie nach einer bequemen Schlafposition. Sie drehte sich halb herum, lehnte die Arme auf die obere Kante der Rückpolster und legte den Kopf in ihre Arme. Ein Knie war hochgezogen, ihr Rücken dem Fahrersitz zugewandt.

Die Entscheidung, wer nach Hause fahren sollte, war zwischen ihr und Soraya gefallen. Elena hatte keinen Führerschein, und Thomas fühlte sich unwohl. Soraya fuhr leidenschaftlich gerne Auto, sie nicht. Als sie am Morgen einstiegen, war die Frage, wer fährt, schnell geklärt.

Prag lag bereits hinter ihnen. Sie fuhren durch die seltsam märchenhafte Landschaft Nordböhmens auf einer geraden Landstraße zwischen grün schimmernden Feldern auf die Grenze zu. Es war Winter, aber ob Schnee lag, wusste sie im Nachhinein nicht mehr zu sagen.

Als sie einschlief, waren alle Geräusche um sie herum verschwunden. Im entscheidenden Moment ihres Lebens hat sie geschlafen.

WESTBERLIN, 1980

Wir lebten in Berlin. Wir waren in diese Stadt gekommen, von der wir nicht wussten, dass die Toten einem hier den Platz zuwiesen. Hätten wir doch Heiner Müller gelesen. Doch wir waren jung und interessierten uns nicht für den Tod.

Das zweigeteilte Berlin lag mitten in der Deutschen Demokratischen Republik. Den sowjetischen Sektor hatte man zur Hauptstadt des ersten deutschen sozialistischen Staates gemacht. Berlin, Hauptstadt der DDR. Auf der Autobahn gab es nur Schilder, die dieses Berlin anzeigten. Der Westteil, unser Berlin, war ein permanentes Provisorium und blieb unerwähnt auf den breiten Straßen, die schnurgerade in die ehemalige Reichshauptstadt führten. Die Bundesrepublik hatte sich längst etabliert, und dieser ferne Stadtrest blieb der Ausnahmezustand. Durch die amerikanische Luftbrücke wurde er zum Symbol der freien Welt. Als wir dorthin zogen, war dieser schwere Sinn Westberlins fast aufgebraucht. In der properen Bundesrepublik hatte man sich damit abgefunden, die Agonie der halben Stadt weiter zu subventionieren. Berlin war eine Frontstadt mit einer übrig gebliebenen Population. Keiner, der glaubte oder hoffte, eine Zukunft zu haben, ging damals nach Berlin.

Die Abwesenheit all dessen, was wir so gut kannten, zog uns dorthin. Die Stadt stand für das Traditionslose, Offene, Fragmentarische und Provisorische. Der Mythos Berlins handelt von einem riesigen Museum von Behauptungen, die von den Sentimentalen wiederbelebt und von den Destruktiven gebrochen werden. Wir kamen hierher, weil Berlin anscheinend nur darauf wartete, geprägt, benutzt und vereinnahmt zu werden. Doch wir hatten uns getäuscht. Wir Zugezogenen aus der westlichen Provinz wanderten staunend über riesige, mit Unkraut bewachsene Brachen, steckten die Finger in die Einschusslöcher, die an den Häuserwänden von den Straßenkämpfen der letzten Kriegstage übrig geblieben waren, und entdeckten an den Brandmauern die geisterhaften Zimmerumrisse der im Krieg zerstörten Wohnungen. Erst allmählich begriffen wir, dass in dieser Leere eine vergangene Zeit verborgen war. Die Stadt war übersät mit Hinweisen auf Menschen und Dinge, die nicht mehr existierten und die ihre Spuren hinterlassen hatten. Wir spürten eine unüberwindbare Demarkationslinie, die sich wie eine Spur des Schmerzes durch die Stadt zog. Wir waren orientierungslos und ohne inneren Kompass. Woran sich halten?

Sonst war alles ganz schön trübe. In einem Laden für Obst und Gemüse Ecke Oranienstraße/Adalbertstraße in SO 36 waren die Äpfel und Orangen in hölzernen Verschlägen wie Kohlen aufgeschüttet, am Ku’damm konnte man in einer Peepshow zusammen mit anderen ins Rund stierenden Augen für eine Minute nackt sich räkelnde Frauen verschiedenen Alters betrachten, im Café Kranzler saßen böse blickende Krawallschachteln vor mächtigen Buttercremestücken, im Grunewald bedienten einen im »Chalet Suisse« schwule Kellner, die so taten, als würden sie Schweizerdeutsch reden, und beim Chinesen am Zoopalast wurde einem von originalen Berlinern das Hähnchen süßsauer serviert. Der Potsdamer Platz war eine staubige Steppe, Schloss Charlottenburg stand blöd am Rande, und der Reichstag dämmerte einsam an seinem angestammten Platz, nun an der Systemgrenze. Man hatte ihn nicht als melancholische Ruine stehen lassen wollen, sondern aufwendig renoviert. Die Aufschrift »Dem deutschen Volke« war geblieben. An wen sie sich richtete, wusste man nicht mehr.

Wir lebten inmitten eines Rings aus Beton. Heller Beton, Platte an Platte drei Meter sechzig hoch, mit einem aufgesetzten Wulst an der Oberkante. Meter um Meter kroch der Wulst durch die Stadt, durchschnitt Straßen, Plätze und Häuser. Das war die Mauer von Berlin, ein Wall wie aus einer anderen Zeit, fast lächerlich anzusehen. Es war der Wulst, der die Mauer so obszön machte. Der Wulst bot den Flüchtenden, die es bis dahin geschafft hatten, keinen Halt. Sie rutschten ab und waren verloren.

In der Sonne sah die Mauer von Westen wie ein langer weißer Engerling aus. Viele hatten sich die Mauer mächtiger und höher vorgestellt. Doch das Bedrohliche barg sie auf der Rückseite. Die Mauer war keine ungeschützte Wand, eine zweite Mauer oder manchmal ein Zaun lief parallel rund um die Westsektoren und schloss einen breiten Streifen Land mit ein. Grasflächen, unter denen sich Minen versteckten, fein gerechter Sand, auf dem jeder Fußabdruck zu sehen war, Wachtürme, Spanische Reiter, Schäferhunde, in kurzen Abständen gesetzte Bogenleuchten und asphaltierte Wege für die wachhabenden Soldaten mit Schießbefehl: Ein Todesstreifen, an dessen Perfektionierung stetig geforscht und gearbeitet wurde, zog sich durch die Stadt. Das zum ersten Mal zu sehen, von den kleinen Plattformen der Aussichtstürme aus, war verblüffend. Diese Holztürme standen entlang der Mauer auf der Westseite, wo sie an besonders abenteuerlichen Stellen zum schaulustigen Blick nach drüben einluden. Die Nachrichten über DDR-Bürger, die über den Todesstreifen von Ost nach West zu fliehen versuchten, tauchten mittlerweile beinahe unbemerkt in den Zeitungen auf. Zwischen 1961 und 1989 ließen 140 davon ihr Leben. Sie erlitten tödliche Unfälle, wurden von den Grenzsoldaten erschossen oder aber begingen, als sie entdeckt wurden, Selbstmord. Nur die spektakulären Fälle behielt man auf der Westseite für länger als einen Tag im Gedächtnis. Die Mauer war ein Faktum, das keinen Zweifel ließ.

Wir fanden die Mauer okay. Sie beruhigte den Verkehr, bildete Nischen, und was in ihrem Schatten nicht genutzt werden konnte, lag verlassen als leeres Land. Als richtige Berliner kletterten wir später nicht mehr auf die Holzaussichtstürme. Wir sparten die andere Seite aus. Hinter Ostberlin mit seinen langen, stillen, gelb beleuchteten Straßen schien sich die gigantische Weite des Ostens aufzutun. Wenn der Wind besonders eisig von dort wehte, fühlten wir uns Sibirien nah.

Berlin, das ist die Stadt mit den breiten Trottoirs, die viel Platz zwischen den Passanten lassen, mit den Mietshäusern, durch deren große Eingangstüren Langsame und Eilige verschwinden, und mit der Mauer, die teilt und eint. Eine Stadt aus Schutt, die zu einem Symbol der Politik des Kalten Krieges geworden war.

Als Insel im Osten genügte Westberlin irgendwann sich selbst. Das Eingeschlossensein verstärkte das von jeher raue Klima hin zu einer ruppig fatalistischen Grundstimmung. Bald gaben wir unseren ordentlichen Personalausweis ab und schwenkten den »Behelfsmäßigen Personalausweis«, der an den Grenzen der damaligen Welt verwundert betrachtet und herumgereicht wurde. Das acht Seiten dicke grüne Heftchen machte uns zu provisorischen Deutschen. Das gefiel uns. Der Sonderstatus Westberlins hatte es uns besonders angetan. Es gab keinen Wehrdienst und keine Polizeistunde, andere Ausweispapiere, andere Briefmarken und Abgeordnete, die nicht im Bonner Parlament abstimmen durften. Wer hier in den Sektoren der Alliierten, also der Franzosen, Engländer und Amerikaner, lebte, war herausgebrochen aus dem Gefüge der Bundesrepublik Deutschland. Die Stadt sog uns völlig auf. So sehr, dass die DDR nur dann noch real existierte, wenn wir Berlin verließen. Manche trampten. Mit Schildern, auf denen »Goslar« oder »Memmingen« oder »Kaiserslautern« stand. Stundenlang warteten wir am Übergang Dreilinden oder Staaken und wechselten die Radiosender zwischen SF-Beat (West) und DT 64 (Ost), bis dann endlich die Grenztruppen-Frage »Bücher, Funk oder Waffen?« gestellt wurde. Nach monatelangem Blick auf Brandmauern und bröckelnde Fassaden öffnete sich auf der Transitstrecke mit einem Mal die weite Landschaft. Spazieren gehen war nicht erlaubt. Wir Transitreisende mussten uns so schnell wie möglich nach Westen begeben, der Zeitpunkt des Reiseantritts wurde vermerkt. Wir ließen den Blick schweifen, fuhren ungerührt hinüber ins ehemalige Zuhause, das wir jetzt Westdeutschland nannten.

WESTDEUTSCHLAND, NACHKRIEG

So wie wir will heute keiner mehr heißen. Wir gehören zu der Generation mit Namen, die eine eigentümliche Mischung aus Modernitätswillen und Naziverbundenheit ausstrahlen. Die Jungs nannte man nicht mehr Adolf, aber man verpasste ihnen gerne den Vornamen Horst, Frank, Harald oder Heinz, weil der Onkel oder der Bruder so geheißen hatte, der bei der Waffen-SS gewesen und gefallen war. Es konnte passieren, dass ein Junge an einem Grabstein stand, auf dem sein eigener Name eingemeißelt war. Wie sollte man das je verstehen können? Bei Mädchen war man fast schon mutig, wenn man sie nach der Modezeitschrift Brigitte oder nach einer biederen Filmheldin Ingeborg nannte. Wir sind zwischen den mittleren fünfziger und den frühen sechziger Jahren geboren worden. Wir waren immer zu viele. Im Kindergarten, in der Schule, bei der Arbeitssuche, an der Uni. Immer war schon einer vor uns da, oder es wartete eine, die uns ersetzen wollte. Bombennächte, Flucht, Vertreibung und Spiele in den Trümmern des Krieges haben wir nicht erlebt. Wir sind die Kinder eines Anfangs. Mit unserer Existenz sollte der neugeschaffene Staat gesichert sein. Wir gingen noch in die Grundschule, als der dicke Kanzler Erhard zum ersten Mal die Nachkriegszeit für beendet erklärte. Davon wussten wir nichts, wie wir auch nichts wussten vom Bau der Mauer 1961, der Kubakrise 1962 und den Auschwitz-Prozessen 1963. Berlin war weit weg, die Amerikaner waren gut, und obwohl man die Erwachsenen häufig von »Juden« sprechen hörte, konnten wir uns nicht erklären, was sie damit meinten. Es gab für dieses Wort keine Entsprechung in unserer Wirklichkeit.

Der Einbruch der Politik in unsere Kalte-Kriegs-Kindheit war der Einmarsch der Sowjets 1968 in Prag. Die Eltern saßen mit ernsten Gesichtern am Radio und vor dem Fernseher. »Einmarsch« war ein Wort, das wir nur aus ihren Kriegserzählungen kannten. Wir ahnten, dass das, was in Prag vor sich ging, nicht gut war. Als Kind und als Jugendlicher verstand man, dass auf der einen Seite die Fröhlichen waren und auf der anderen Seite die Bösen. Unbewaffnet stellten sich die Fröhlichen vor die Panzer der Bösen. Die Fröhlichen und die Bösen hatten junge Gesichter. Die Fröhlichen hatten Sommerkleider an und die Bösen Uniformen. Die Fröhlichen wollten in einem ewigen Frühling leben, und die Bösen kamen aus Russland, wo immer nur Winter ist. Die Bösen beendeten den Frühling und brachten den Fröhlichen den Winter. Obwohl für uns alles wie gehabt weiterging, konnten wir nicht vergessen, dass es Menschen gab, in deren Macht es lag, einen Frühling mit Panzern, Waffen und Uniformen zu beenden.

Der Kalte Krieg sei ein glückliches Zeitalter gewesen, behaupten heute die Historiker. Der Westen modernisierte sich durch einen staatlich regulierten Markt, der Osten durch staatliche Planung. In beiden Himmelsrichtungen glaubte man, dass der jeweils eingeschlagene Weg zum gesellschaftlichen Wandel und zum Glück der Menschen führen werde. Als Kinder des Anfangs im Westen sollten wir die Begrenzungen und die Möglichkeiten eines Lebens in einer hochmodernen Gesellschaft erfahren und erlernen. Wir waren die erste Generation des Fernsehers, der Atomkraft und der Raumfahrt. Wohlstand, Innovationen, Sicherheit und Bildung für alle waren die Versprechen der rationalen und universalen Gegenwart. Unsere Familien hatten ein Auto, ein Badezimmer und einen Fernseher, wir fuhren in den Urlaub und gingen aufs Gymnasium. Dort saßen nicht mehr nur die Kinder der Honoratioren. Auch Arbeiter- und Bauernkinder sollten Gymnasialschüler sein dürfen. Und sogar für Mädchen war Aufstieg durch Bildung vorgesehen. Wie die Republik sich innerhalb nur weniger Jahre wandelte, erlebten wir hautnah. In der Grundschule setzte man uns Lehrer vor, die kein Problem damit hatten, ihre bei den Nazis erlernten Methoden weiter anzuwenden. Zur Strafe musste man in der Ecke stehen, es wurden »Kopfnüsse« verteilt, oder man musste sich vor der Klasse an der Tafel aufstellen, um mit flach ausgestreckter Hand die präzise mit dem Rohrstock ausgeführten Tatzen des Lehrers entgegenzunehmen. Zuckte man vor einem Schlag zurück, gab’s einen Satz Tatzen mehr. Später dann, im Gymnasium, stürmten die jungen Referendare in Cordhosen mit Schlag und die Referendarinnen mit kurzen Röcken in unsere Klassenzimmer. Der Englischlehrer hatte tatsächlich in England studiert, die Geschichtslehrerin zog ein Buch namens »Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik« eines gewissen Urs Jaeggi aus der Tasche, und die Biologielehrerin hatte sich eine Lehrprobe über Empfängnisverhütung ausgedacht. Der pädagogische Eifer der jungen Lehrer war darauf ausgerichtet, uns das kritische Denken beizubringen. Die Bildung, die sie im Sinn hatten, hatte nichts mit Schulbüchern wie »Lebensgut«, »Formende Kräfte der Erde« oder »Ährenfibel« zu tun. Das neue Zauberwort hieß »Gesellschaft«. Wir lernten schnell, dass es für Kritik an der Gesellschaft gute Noten gab. In einem Klassenarbeitsaufsatz über Werbung mussten die »geheimen Verführer« vorkommen. Fast schien es uns, als sei der kritische Ton die Voraussetzung einer guten Bildung. Wir ertrugen die alten Lehrer und wunderten uns über die freudig trotzige Entschlossenheit, mit der ihre jungen Kollegen alles infrage stellten. Weshalb das so war, darauf konnten wir uns noch keinen Reim machen.

Ende der sechziger Jahre waren Politiker an der Macht, die aus der Tiefe eines uns unbekannten Raumes kamen. Die alten Nazis glaubte man an ihrer Frisur zu erkennen. Diese glatt nach hinten gekämmten und mit »Fit« in Form gehaltenen Haare bei den Herren und die wie zur Tarnung gar nicht so streng geflochtenen Knoten bei den Damen. Einer wie Kanzler Kurt Georg Kiesinger, der gerne ein fieses Lächeln zur Schau trug, war ein Paradebeispiel. Doch einer wie Kiesinger gehörte zur abziehenden Vergangenheit. Auf der politischen Bühne dominierten unangefochten die Figuren der Linken. Herbert Wehner zum Beispiel, der, grimmig an seiner Pfeife saugend, Altmännerobszönitäten um sich werfend, nur auf die Schwäche seines Gegners zu lauern schien. Warm konnte man mit dem nicht werden. Von seinen Genossen wurde er »Onkel« genannt. Wehner hatte etwas Tückisches an sich. Ihn mochte keiner. Erst später verstanden wir, dass Wehner, der Mitglied des Zentralkomitees der KP und Sekretär von Ernst Thälmann gewesen war und das »Hotel Lux« in Moskau überlebt hatte, unter dem Phantomschmerz des nicht erfüllten Kommunismus litt. Wie Ulbricht und Honecker, seine ehemaligen Genossen, die nun in der DDR an der Macht waren, galt er als ein Intrigant mit einem Sitzungsgesicht. Sein Gegenspieler war Willy Brandt, den Kiesinger und Konsorten einen »Vaterlandsverräter« nannten. Brandt hatte seinen Kampfnamen aus dem sozialistischen Widerstand gegen Hitler beibehalten. Willy Brandt umgab ein Geheimnis. Mit seiner eigentümlich heiseren Stimme, seiner auffallend eleganten Körpersprache und dem hochgezogenen Schädel wandelte er somnambul durch die Bonner Republik. Immer wieder stockte er bei seinen Reden und fand dann wundersame Begriffe, die ihm von seinen Schutzengeln zugeflüstert worden sein mussten. Mit Willy Brandt als Kanzler war die Bundesrepublik nicht länger ein schicksalsloses Land. Wir waren zu jung, um Brandts Bedeutung wirklich zu verstehen, aber als im April 1972 das Misstrauensvotum gegen ihn zur Abstimmung stand, verfolgten wir das mit den Eltern vor dem Fernseher. Das war eine Lektion über Sieg und Niederlage, Haltung und Hochmut, die man nicht so schnell wieder vergaß. Von der Aufregung um Brandts Regierungserklärung »Mehr Demokratie wagen« und von den Redeschlachten um die Ostpolitik nahmen wir die Ahnung eines anderen Deutschland mit.

Der Glaube an die schöne neue Welt war im Schwinden begriffen. 1973 kollabierte das Weltwährungssystem des Westens. 1972 veröffentlichte der »Club of Rome« seinen Bericht »Grenzen des Wachstums«. Jetzt hieß es, die Menschheit befinde sich an einem Scheideweg. Die Gefahr ging nicht mehr nur von der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten aus, sondern lauerte überall. Wir schrieben unzählige dialektische Besinnungsaufsätze über die notwendige Abkehr vom Fortschrittsglauben und freuten uns über den Ölschock, der uns an den autofreien Sonntagen leere Straßen zum Rollschuhfahren bescherte. Willy Brandt trat zurück, und der nächste Kanzler hieß Helmut Schmidt. Die fast schon unwirkliche Aura, die Brandt umgeben hatte, wich nüchternem Pragmatismus. Selbstbewusst und präzise kühlte Schmidt die bundesrepublikanische Politik aus. Die Zeit der Verheißungen und der politischen Empfindsamkeiten war vorüber. Sprach man von Schmidt, so sprach man von Kompetenzen und nicht von Gefühlen wie bei Brandt.

Diskussionen über den Haupt-und Nebenwiderspruch, den dialektischen Materialismus und die Entwicklung der Produktivkräfte gehörten zu unserer Pubertät. Politik konnte man jetzt als Hobby pflegen. In schäbigen Hinterzimmern anrüchiger Bahnhofshotels trafen sich die Kommunisten. Durch den Radikalenerlass freigesetzte und nun erst recht radikal gewordene Lehrer mit fahler Gesichtsfarbe und im ausgeleierten Wollpullover unterwiesen die kommunistischen Schülergruppen in Marxismus. Vorne im Schankraum plärrte die Musikbox, und die bereits betrunkenen Arbeiter von der nahe gelegenen Fabrik tanzten mit den nicht weniger betrunkenen Putzfrauen unserer Schule, während wir im Hinterzimmer über dem »Kapital« schwitzten. Die, die vorne rauchten, tranken, grölten und lachten, waren angeblich dazu auserwählt, die »Diktatur des Proletariats« zu errichten. In dieser Welt des politischen Wahns fühlten wir uns ernst genommen. Jedes in der Schule gehaltene Referat wurde ab sofort im Kommunistensound vorgetragen. In den kommunistischen Schülergruppen — kommunistische Lehrlingsgruppen scheiterten an mangelndem Zuspruch — ging es streng hierarchisch zu. Vor den Selbsteinschätzungen, die im leninistischen Stil abgehalten wurden, graute es uns. In den Sitzungen herrschte ein heiliger Ernst, den wir nur aus pubertärer Langeweile ertrugen. Unsere Marx-Lehrer hatten eigentlich alle einen Schatten. Sie waren entweder verdruckste Gläubige mit Mundgeruch, groß geworden in Wohnküchen mit Resopaltischen, oder sie waren mal gut im Sport gewesen und hatten es vor allem auf die Mädels mit großem Busen abgesehen. Auf dem Nachhauseweg fiel kein Wort mehr über Marx. Die große Befreiung hatte nichts mit unseren kleinen Verhältnissen zu tun. Wenn man sich an den Eltern im Wohnzimmer vorbeigeschlichen hatte, pflegte man sein Mutterseelenalleinsein mit der Musik von Roxy Music oder Cat Stevens und träumte von einem richtigen eigenen Leben. Solange der Kapitalismus noch nicht endgültig besiegt war, durfte es jedoch keine Freude geben. Pop hören und die »Kommunistische Volkszeitung« verteilen war angeblich ein Widerspruch in sich. Einleuchten wollte uns das nicht. Wir liebten den Pop, trugen unterm Parka Hippieblusen, saßen begeistert inmitten von glimmenden Räucherstäbchen, glaubten, wir seien Kommunistinnen, suchten die blaue Blume und rochen nach Patschuli.

Der Zug brachte uns in die große weite Welt. Im Gepäcknetz liegend, auf Bahnhöfen schlafend, mit einem überdimensionierten Rucksack auf dem Rücken und die meiste Zeit übermüdet, erschlossen wir uns Europa. Diese Interrailfahrten, bei denen sich unser Raum über Deutschland hinaus weitete, verwiesen uns letztendlich zurück auf unser Land. Wir wurden nicht als das wahrgenommen, als was wir uns fühlten, nämlich jung und neugierig, sondern als Nachfahren der Nazis, die wir ja auch waren. In Schottland wollten sie mit uns auf Hitler anstoßen, in Bergen war es mit deutschem Akzent aussichtslos, ein Zimmer zu bekommen, und in Frankreich kamen wir von selbst drauf, in der Bäckerei am Morgen an der Theke über das unglaublich leckere Baguette nicht zu laut auf Deutsch zu jubeln. Zurück in Deutschland, der Schock: Auf den Bahnhöfen standen mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten herum. An den Litfaßsäulen hingen Fahndungsplakate, die Gesichter zeigten, die auch die unsrigen würden sein können. Bangen Herzens fragten wir uns, ob die RAF nicht recht hatte: War die Bundesrepublik Deutschland ein latent faschistischer Staat?

Als wir Kinder gewesen waren, hatte sich die »Rote Armee Fraktion« gegründet. Als Jugendliche erlebten wir, wie sie mit Entführungen, Banküberfällen und Morden den Staat herausforderte. Die Mitglieder der RAF lebten im Untergrund. Was das bedeutete, beschäftigte uns sehr. Wie die als Bürger getarnten Terroristen wirklich aussahen, wusste man nicht, denn der Untergrund war und blieb bilderlos. Deshalb benutzte man für die Fahndungsplakate Jugendbildnisse oder alte Polizeifotos. Vom stumpfen Orange der siebziger Jahre hoben sich die unscharfen, grauen Porträts schlechtgelaunter junger Frauen und Männer auf den poppostergroßen Plakaten ab. Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Holger Meins und Jan-Carl Raspe waren die allgegenwärtigen Geister unserer Jugend: Ihr Steckbrief hing an Busstationen, auf Bahnhöfen, in Raststätten und sogar in unseren Schulen. Erinnert man sich heute an diese Bilder, so ist das wie ein lautes, undeutliches Rauschen. Die Gefangennahme und den Prozess gegen das wie aus einem Nouvelle-Vague-Film stammende RAF-Führungsliebespaar Andreas Baader und Gudrun Ensslin verfolgten wir mit großer Spannung. Der Streit ging darum, ob wir welche von ihnen oder ob sie welche von uns waren. Diese Frage blieb ungeklärt, keiner traute sich, sie in letzter Konsequenz zu beantworten. Im »Deutschen Herbst« 1977 begingen Baader, Ensslin und Raspe in ihren Gefängniszellen in Stuttgart-Stammheim gemeinsam Selbstmord. Daraufhin bereiteten ihre Mitstreiter der »kläglichen und korrupten Existenz« des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer ein Ende. Man fand seine Leiche im Kofferraum eines Audi 100. Kanzler Schmidt hatte sich nicht erpressen lassen und sich für die Einhaltung der Staatsraison entschieden. Was sollten wir von all dem halten? Drohte ein neuer Faschismus, oder war die Demokratie verteidigt worden? Die RAF blieb unsere treue Begleiterin, denn ab jetzt galt sie unter Linken als Maßstab politischer Radikalität.

Wir hielten es mit Janis Joplin: Freiheit heißt, nichts zu verlieren zu haben. Damit zogen wir nach Berlin.

GESCHICHTE WIRD GEMACHT, JANUAR 1981

Wir kamen aus den sozialistischen Wohnhöfen Wiens, Hamburger Vororten, süddeutschen Reihenhäusern, Bergarbeitersiedlungen des Ruhrgebiets, niedersächsischen Bungalows, Heidelberger Professorenhaushalten, idyllischen Berliner Suburbs, Kaschemmen im Zonenrandgebiet, Bauernhöfen im Bergischen Land, Kleinbürgeroasen Oldenburgs, bayerischen Dörfern, fränkischen Weilern und saarländischen Kleinstädten: In einer kalten, mondlosen Nacht besetzten wir zusammen ein Haus. Am Tag zuvor waren zwanzig Zentimeter Schnee gefallen, doch wir ließen uns nicht von unserem Plan abbringen. Die Zeit drängte. Wir wohnten zuletzt zu sechst in Zweizimmerwohnungen mit Außentoilette, kampierten auf der Gästecouch im Esszimmer von Bekannten, schrieben unzählige Bewerbungen, verbrachten Nächte am Bahnhof Zoo mit Warten auf die ersten Zeitungen mit Immobilienbeilage, sparten lächerliche Summen an, um Vermieter bestechen zu können, und gingen immer leer aus. Es gab in dieser großen Stadt keinen Wohnraum für uns. Weil wir nicht wieder landen wollten, wo wir herkamen, mussten wir uns etwas einfallen lassen.

Irgendeiner von uns hatte vor Wochen eine Anzeige aufgegeben und verschlüsselt nach Gleichgesinnten gesucht. Man kann nicht sagen, dass wir uns sonderlich füreinander interessierten, als wir zum ersten Mal in der Küche einer schäbigen Moabiter Hinterhofwohnung zusammentrafen. Unauffällig musterten wir einander. Äußerlichkeiten waren vollkommen unwichtig, uns verband der kleinste gemeinsame Nenner, nämlich das gemeinsame Besetzen. Weil keiner von uns damit Erfahrung hatte, glaubten wir, dass es von Vorteil sein könnte, wenn wir möglichst viele waren. Das genau war das Problem, denn anscheinend gab es zu wenig Häuser für die vielen potentiellen Besetzer. Es war ein solcher Hype um das Besetzen ausgebrochen, dass man glaubte, sich beeilen zu müssen, um noch dabei sein zu können. Kreuzberg war der heißbegehrte Bezirk, doch die geeigneten Objekte wurden dort mittlerweile rar. Es gab in diesen Monaten viele heimliche Treffen, favorisierte Häuser und Termine zum Besetzen in der Nacht.

Auch angehende Revolutionäre können Streber sein. Manche Gruppen bereiteten sich auf die Besetzung wie auf ein Examen vor. Sie teilten sich in Arbeitsgruppen auf, gingen aufs Katasteramt, besuchten Bezirksverordnetenversammlungen, fragten Architekten um Rat und hatten den Plan zur Sanierung ihres Hauses im Kopf, bevor sie es überhaupt besetzt hatten. Sie wollten Bausubstanz bewahren und eine gute Wohnung für sich finden. Bei uns war das anders. Der Protest gegen die vielen leerstehenden und verwahrlosten Häuser sollte nur der Anfang sein. Schon bald ging es nicht mehr um verfehlte Wohnungspolitik, sondern um ein Lebensgefühl. Die Rebellion entzündete sich an konkreten Missständen und verwandelte sich in eine Revolte ohne große Theorie. Wir hatten genug von der Besserwisserei der 68er-Generation und den wahnhaften Theoriegebilden der K-Gruppen. Wir suchten das gelebte Experiment mit offenem Ausgang.

Ein pockennarbiger Freund von Freunden gab den Hinweis. Mit seiner leicht kratzigen Stimme erzählte er, dass er, wenn er Zigaretten holen ging, an einem offenbar schon lange leerstehenden Haus vorbeikomme. Es muss einst prachtvoll gewesen sein, jetzt aber stand es vollkommen heruntergekommen zwischen zweckmäßigen Nachkriegsbauten herum. Er hatte nicht den Eindruck, als ob sich schon andere dafür interessiert hätten. Da er trotz des dünnen Lächelns, das sein Sprechen begleitete, vertrauenswürdig schien, machte sich kurze Zeit darauf ein Spähtrupp von uns auf, das Objekt zu begutachten. Für solche Aufgaben fanden sich immer Jungs, die sich dafür prädestiniert betrachteten. Sie erkannten sich gegenseitig und wussten sofort, wer für diese Aufgabe geeignet war und wer nicht. Sechs dieser Spezis zogen mit Einbrecherwerkzeug und unseren guten Wünschen versehen eines Nachts los. Stunden später kehrten sie mit leuchtenden Augen zurück. Für ihre Verhältnisse relativ aufgekratzt, berichteten sie, dass es kinderleicht gewesen sei, über den rückseitigen Teil in das Haus einzubrechen. Sie hatten darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen, denn das hätte unser Vorhaben gefährden können. Bekam die Polizei von einer geplanten Besetzung Wind, musste man damit rechnen, dass fortan eine Wanne — Jargon für einen vergitterten Mannschaftswagen — vor dem Haus postiert wurde.

Das Objekt lag in einer ruhigen Straße, bestand aus Vorderhaus, Hinterhaus und Seitenflügel, die miteinander verbunden waren. Es war so groß, dass sie gar nicht genug Zeit gehabt hatten, alle Stockwerke zu inspizieren. Schon was sie gesehen hatten, war schlichtweg großartig! Zimmerfluchten, hohe Decken, Balkone, Kachelöfen mit Jugendstilmotiven und ein großer Hinterhof warteten auf uns. Die Entscheidung war gefallen: Wir würden das Haus am S-Bahngelände besetzen. Die coolen Jungs sahen der Aktion gelassen entgegen. Zur Vorbereitung fachsimpelten sie mit anderen coolen Jungs über Verhaftungen, Einbrüche, Knast und Haftstrafen. Dann machten sie sich daran, die Taktik der Besetzung zu planen. Oberstes Ziel war es, unbemerkt in das Haus zu kommen. Wurde man nämlich beim Einsteigen erwischt, galt die Besetzung als gescheitert, und die Besetzer wurden nach der erkennungsdienstlichen Behandlung wieder nach Hause geschickt. Diese Blamage galt es zu vermeiden, aber man musste mit allem rechnen. Also füllten wir brav Prozessvollmachten für einschlägig bekannte Anwälte aus und kamen uns dabei ganz schön gefährlich vor. Die Tage vor der Besetzung fühlten wir uns, als müssten wir uns für lange Zeit aus unserem bisherigen Leben mit unbekanntem Ziel verabschieden. Und das, obwohl wir in der gleichen Stadt bleiben würden.

Wir trafen uns mitten in einer eiskalten Nacht. Die Straße lag im Dunkeln. Wir waren in kleine Gruppen eingeteilt. Die Starken brachten Sixpacks Kohlen mit. Einige trugen ihren Schlafsack unter den Arm geklemmt, andere hatten Bier und Werkzeug im Rucksack. Die Mutigen bildeten den Vortrupp. Sie brachen ins Haus ein, dann schlich einer von ihnen zurück, um die Gruppe der Zaghaften abzuholen. Schließlich kam er nochmals, um die letzte Gruppe, die der Entschlossenen, zu begleiten. Bei dieser Reihenfolge blieb den Zaghaften kein Weg zurück. Wir verständigten uns mit nur wenigen Gesten. Sprachen kein Wort. Einige der Mutigen hatten sich schon im Haus verteilt und beobachteten die Straße. Eine von ihnen wartete mit der Taschenlampe am Einstieg zum Seitenflügel. Sie führte die neu Eintreffenden durch das Treppenhaus in das oberste Stockwerk. Wir hatten vereinbart, uns auf zwei Räume zu verteilen. Von dem einen aus konnte man die Straße und von dem anderen das rückseitige S-Bahngelände im Blick behalten. Alles blieb ruhig. Schwarze Nacht. Wir hatten es geschafft.

Als kurz vor acht Uhr die Sonne aufging, sahen wir, was wir die Nacht über geahnt hatten: Das Haus war in einem ruinösen Zustand. Das milchige Januarlicht enthüllte das ganze Elend. Die Dielen waren größtenteils verfeuert worden, der holzgezimmerte Unterbau freigelegt. Dazwischen als Schüttung märkischer Sand. Fensterscheiben waren zerschlagen, Tapeten hingen in Streifen von den Wänden, es gab nur noch wenige Türen, an den Kachelöfen fehlten die meisten Kacheln. Wahrscheinlich waren sie — wie auch Teile des gedrechselten Treppengeländers — auf dem Flohmarkt vertickt worden. Die Wände waren feucht, Rohre herausgerissen, Waschbecken und Toiletten zu Bruch geschlagen. Das Haus machte einen maroden und morbiden Eindruck. Hier sollten wir leben? Es stank und starrte vor Dreck. Keiner wagte auszusprechen, dass das Haus unbewohnbar war. Doch am schlimmsten waren die Mitbewohner, von denen uns unsere Avantgarde nichts berichtet hatte und die wir in der Nacht gehört hatten. Das Haus hatte in den letzten Jahrzehnten den Tauben gehört. Der Taubenkot lag zentimeterdick. Überall gurrte und flatterte es. Der silbrig graue Ton des Taubengefieders schimmerte in den Ecken. Es war zum Grausen. Was tun?

Samstagmorgen. Auf der Straße nur vereinzelt alte Frauen, die ihren Hund ausführen. Achtlos gehen sie an unserem Haus vorbei. Bis jetzt hat uns noch niemand entdeckt, wir könnten die Sache ohne Gesichtsverlust abblasen. Für die Mutigen ist klar, dass sie nicht weichen werden. Wer wolle, könne ja gehen. Wir kennen uns kaum, haben so gut wie nicht geschlafen, frieren, haben Hunger, fühlen uns wie betäubt. Teilnahmslos sehen wir dabei zu, wie die Mutigen zusammen mit den Entschlossenen die Situation definieren. Sie hängen die vorbereiteten Transparente aus dem Fenster. Auf dem einen steht »Besetzt« und auf dem anderen »Enteignet«. Damit ist das Haus an uns übergegangen. Es dauert nicht lange, und ein Polizeiauto fährt vor, bleibt mit laufendem Motor vor dem Haus stehen. Als es weiterfährt, wissen wir, das Taubenhaus ist in unseren Händen. Unsere Besetzung ist polizeilich registriert. Es bricht kein Jubel aus. Einer geht Brötchen holen. Er kommt zurück und meint, dass die Leute beim Bäcker schon von uns wissen würden. Beiläufig erwähnt er, sie hätten ihm erzählt, dass unser Haus einem Juden gehöre. Es ist der Morgen des 31. Januar. Vor 48 Jahren auf den Tag genau standen Joseph Goebbels Tränen in den Augen. Hitler war tags zuvor Reichskanzler geworden. Die Geister Berlins hatten uns im Griff.

DIE VILLA

Drei Frauen und sechs Männer. Irgendwie sahen alle neun gleich aus. Trugen Einheitsschwarz und Pferdeschwanz. Wochenlang waren wir das einzige besetzte Haus auf weiter Flur gewesen, und dann besetzten diese neun eine Villa ganz in unserer Nähe. In der Szene hieß es, damit sei ihnen ein Coup gelungen. Ihre unmittelbaren Nachbarn seien ein millionenschwerer Unternehmer mit Köchin, Ferrari, Schnöselsohn und Butler. Das wollten wir sehen, und deshalb gingen wir sie besuchen. Zunächst waren sie misstrauisch, doch nachdem sie uns mit sichtbarem Stolz durch ihre Villa geführt und wir uns beeindruckt gezeigt hatten, war das Eis gebrochen. Wir rauchten Gras, aßen Gemüsesuppe und erzählten uns Polit-Geschichten. Auch sie gehörten zur Fraktion der Nichtverhandler. An der spätklassizistischen Fassade hatten sie ein Bauschild angebracht: »Hier renoviert die Firma: Besetzer. Bauherrin: Die Bewegung. Verhandeln wollen wir mit niemand.«

Das zweigeschossige, denkmalgeschützte Gebäude betrat man durch einen mit korinthischen Säulen geschmückten Eingang. Ein prächtiges Treppenhaus führte hinauf zur Beletage. Der erste Stock war ernüchternd. Von hier an war alles Großartige verschwunden. In Wirtschaftswunderzeiten hatte der Besitzer anscheinend versucht, mit Wurstkonserven Geld zu machen. Er ließ in die Villa Büros einbauen, in den Innenräumen wurde alles Repräsentative getilgt. Die Besetzer rissen die schäbigen Trennwände und mickrigen Normtüren wieder heraus, karrten Akten- und Papierberge aus dem Haus und schufen sich Platz zum Wohnen. Das Erdgeschoss war völlig unbrauchbar. Man hatte es als Kühlhaus genutzt. Der große Raum war bis zur Decke weiß gekachelt, die Fensterrahmen aus dem 19. Jahrhundert zugemauert und mit Styropor abgedichtet. An den Wänden hingen verloren die Haken zum Aufhängen der Schweine- und Rinderhälften. Im Hof hinter der Villa befand sich die Konservenfabrik, ein gewaltiges, verlassenes Fabrikgebäude, das durch einen schmalen Korridor im ersten Stock mit der Villa verbunden war. Ein irritierendes Ensemble. Die Besetzer erzählten uns, dass sie mitten in der Nacht orientierungslos durch die gespenstischen Hallen gestolpert seien. Der Duft von Wacholder, Lorbeer und schwarzem Pfeffer hing noch in der Luft, es gab Unmengen von Gewürzen zur Wurstherstellung, die in großen Haufen aufgeschüttet auf dem Holzboden lagerten. Die Fließbänder schienen mitten in der Produktion, beim Füllen der Wurstbüchsen, gestoppt worden zu sein. Offene und geschlossene Büchsen verstaubten seit Jahren nebeneinander auf dem Band. Um die Ecke standen Eimer voll altem Blut. Verwesungsgeruch lag in der Luft. Die Umkleideräume der Arbeiter, vollgestellt mit metallfarbenen Spinden, sahen aus, als wären die Arbeiter davongerannt. Männerkleider lagen auf dem Boden verstreut. Keiner wusste, was sich hier abgespielt hatte. Die Villa war ein unheimlicher Ort, doch sie beschlossen zu bleiben.

Wir waren jetzt Teil einer Bewegung. Seit Monaten trieben wir den Senat vor uns her. Im Wochentakt wurden Häuser besetzt. Der Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe — ein Mann mit einem pausbäckigen Jungengesicht — war durch seine schlechte Wohnungspolitik sowie durch den Immobilienskandal um den Bauunternehmer Garski geschwächt und wusste sich nicht mehr zu helfen. Schließlich hatte er vor der vitalen Energie, die in seine subventionierte Stadt eingebrochen war, kapituliert und war mit seinem Senat im Januar 1981 zurückgetreten. Sein Nachfolger Hans-Jochen Vogel sollte die Koalition der SPD mit der FDP