Annie Besant

Gedankenkraft

Annie Besant

GEDANKENKRAFT

Durch weises Denken sinnvoll leben


Titel der Originalausgabe: Thought Power

Its Control and Culture

Unter teilweiser Benutzung der Übersetzung von Ludwig Deinhard neu übersetzt und in etwas gekürzter Fassung bearbeitet von Dr. Norbert Lauppert.

1. eBook-Auflage

© Edition Adyar im Aquamarin Verlag

Voglherd 1 • D-85567 Grafing

www.aquamarin-verlag.de

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

ISBN 978-3-96861-027-6

INHALT

Vorwort

Einleitung

Das Selbst als Erkenner

Das Nicht-Selbst als Erkanntes

Das Erkennen

1. Das Wesen des Denkens

Die Kette von Erkenner, Erkennen und Erkanntem

2. Der Erzeuger der Illusion

Der Mentalkörper und Manas

Bildung und Entwicklung des Mentalkörpers

3. Gedankenübertragung (Telepathie)

4. Die Anfänge des Denkens

Die Beziehung zwischen Sinnesempfindung und Denken

5. Das Gedächtnis

Das Wesen des Gedächtnisses

Schlechtes Gedächtnis

Gedächtnis und Vorwegnahme

6. Das Wachstum des Denkens

Das Beobachten und sein Wert

Die Entwicklung der mentalen Fähigkeiten

Die Schulung des Verstandes

Verbindung mit höherstehenden Personen

7. Konzentration

Bewusstsein ist überall, wo ein Gegenstand vorhanden ist, auf den es reagiert

Wie man sich konzentriert

8. Hindernisse der Konzentration

Der ruhelose Verstand

Die Gefahren der Konzentration

Meditation

9. Die Stärkung der Gedankenkraft

Sorgen – ihre Bedeutung und Beseitigung

Denken und Nicht-Denken

Das Geheimnis des Seelenfriedens

10. Wie man anderen durch Gedanken hilft

Hilfe für die sogenannten Toten

Gedankenarbeit außerhalb des Körpers

Die Macht vereinten Denkens

Nachwort

VORWORT

Dieses Buch wurde Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben. Spätere Erkenntnisse der westlichen Psychologie aus dem vergangenen Jahrhundert können in ihm daher ebenso wenig gefunden werden wie Hinweise auf die kulturelle und zivilisatorische Entwicklung der Moderne. Das Buch stützt sich vielmehr auf die zeitlosen Erkenntnisse der dreitausend Jahre alten indischen Psychologie und auf eigene psychische Erfahrungen der Verfasserin. Es gibt dem Studierenden damit, von Zeitströmungen unabhängig, sowohl eine theoretische Grundlage als auch die nötigen praktischen Anweisungen in die Hand, um seine Gedankenkraft systematisch zu entwickeln und wirksam anzuwenden.

EINLEITUNG

Der Wert einer Erkenntnis erprobt sich an ihrer Kraft, das Leben zu läutern und zu veredeln. Alle ernsthaft Strebenden dürften den Wunsch hegen, die bei ihren Studien erlangten theoretischen Erkenntnisse dazu verwenden zu können, die Entwicklung ihres Charakters zu fördern und ihren Mitmenschen hilfreich zu sein. Für derartig Strebende ist dieses kleine Buch geschrieben worden, in der Hoffnung, dass ein besseres Verständnis für das Wesen ihres Intellektes zu einer zweckdienlicheren Ausbildung dessen dienen dürfte, was an ihm gut, und zu einer Ausmerzung dessen, was an ihm schlecht ist. Alle Regungen des Gemüts, die zu einer richtigen Lebensführung anspornen, gehen zur Hälfte verloren, wenn nicht das klare Licht des Intellektes den Weg des Verhaltens erleuchtet; denn wie ein Blinder vom Weg abirrt und stürzt, so wendet sich das von Unwissenheit geblendete Ich vom Pfad der rechten Lebensführung ab, bis es in den Abgrund schlimmer Handlungsweisen fällt. Der Mangel an Erkenntnis (Avidya) ist tatsächlich der erste Schritt, der aus der Einheit heraus zur Absonderung führt, und nur in dem Maße, als dieser Mangel sich vermindert, verringert sich auch die Absonderung, bis endlich ihr gänzliches Verschwinden den ewigen Frieden wiederherstellt.

DAS SELBST ALS ERKENNER

Wenn wir die menschliche Natur untersuchen wollen, dann müssen wir den Menschen von den von ihm benutzten Werkzeugen, das lebendige Selbst von den Hüllen trennen, in die es gekleidet ist. Das Selbst ist eine Einheit, wie unterschiedlich auch die Formen sein mögen, in denen es sich manifestiert, wenn es durch verschiedene Arten von Materie und mittels ihrer Prägung in Wirkung tritt. Es ist selbstverständlich durchaus wahr, dass es im vollen Sinne des Wortes nur ein Selbst gibt, so wie von der Sonne Strahlen ausgehen und die einzelnen, den wahren Menschen darstellenden Selbste nichts als Strahlen des höchsten Selbstes sind, so dass jedes einzelne Selbst von sich sagen kann: »Ich bin ER.« Für unseren gegenwärtigen Zweck aber möchten wir darauf hinweisen, dass jeder einzelne dieser Strahlen auch in seiner Absonderung eine eigene ihm innewohnende Einheit besitzt, wenn diese sich auch hinter seinen verschiedenen Hüllen verbirgt. Das Bewusstsein stellt eine Einheit dar, und seine Zerlegung in Teile geschieht entweder zum Zweck des Studiums oder diese Teile sind nur Illusionen, die dem begrenzten Wahrnehmungsvermögen unserer Organe zuzuschreiben sind, durch die es in den niederen Regionen der Welt wirkt. Die Tatsache, dass die einzelnen Kundgebungen des Selbstes von seinen drei Aspekten des Erkennens, Wollens und Wirkens ausgehen – aus denen die einzelnen Gedanken, Wünsche und Handlungen entstehen – darf uns nicht für die andere Tatsache blind machen, dass eine Teilung der Substanz nach nicht existiert, denn das ganze Selbst erkennt, das ganze Selbst will, das ganze Selbst handelt. Ebenso wenig sind auch die Funktionen des Selbstes untereinander getrennt; wenn es erkennt, dann handelt und will es auch; wenn es handelt, dann erkennt und will es auch; und wenn es will, dann erkennt und handelt es auch. Immer ist eine dieser drei Funktionen vorherrschend, und zuweilen in einem solchen Grad, dass dadurch die anderen gänzlich verschleiert werden. Aber auch bei der tiefsten Konzentration des Erkennens – also bei derjenigen Funktion, die sich am meisten absondert – ist stets doch auch ein latentes Wirken und ein latentes Wollen vorhanden, die sich deutlich unterscheiden lassen, wenn wir eine sorgfältige Analyse vornehmen.

Wir haben diese drei Funktionen »die drei Aspekte des Selbstes« genannt; eine etwas genauere Erklärung wird uns dem Verständnis näher bringen. Wenn das Selbst ruhig ist, dann gibt sich der Aspekt der Erkenntnis kund, der sich zum Abbild jedes Gegenstandes macht, der sich ihm darbietet. Wenn das Selbst sich konzentriert, begierig, seinen Zustand zu ändern, dann tritt der Aspekt des Willens auf. Wenn das Selbst in Gegenwart irgendeines Gegenstandes Energie ausstrahlt, um mit dem Gegenstand in Berührung zu kommen, dann zeigt es den Aspekt des Handelns. Es geht daraus hervor, dass diese drei Aspekte nicht voneinander getrennte Teile des Selbstes, nicht drei Dinge sind, die sich zu einem Ganzen vereinigen, sondern dass wir ein unteilbares Ganzes vor uns haben, das sich auf dreifach verschiedene Weise offenbart.

Es ist nicht leicht möglich, das Wesen des Selbstes anders begrifflich klarer zu machen als durch einfache Nennung mit seinem Namen. Das Selbst ist das bewusste, fühlende, stets existierende Eine, das sich in jedem von uns als existierend erkennt. Kein Mensch kann jemals sich selbst als nicht existierend denken oder zu sich selbst mit Bewusstsein sagen: »Ich bin nicht.« Die Selbstbejahung »Ich bin« kommt vor allen Dingen und steht über und jenseits aller Beweise. Sie kann durch keinen Beweis verstärkt, durch keine Widerlegung geschwächt werden. Beweis und Widerlegung treffen im »Ich bin«, diesem nicht weiter auflösbaren Fühlen der eigenen Existenz, zusammen, von dem wir nur aussagen können, dass es zunehmen oder abnehmen kann. »Ich bin mehr« ist der Ausdruck der Lust. »Ich bin weniger« ist der Ausdruck der Unlust.

Wenn wir dieses »Ich bin« näher betrachten, dann finden wir, dass es auf dreierlei Weise zum Ausdruck gelangt: a) als innere Widerspiegelung eines Nicht-Selbstes, als Erkenntnis, die Wurzel des Denkens; b) als innere Konzentration, als Wille, die Wurzel des Verlangens; c) als Hervortreten nach außen, als Energie, die Wurzel des Wirkens. »Ich erkenne« oder »ich denke«; »ich will« oder »ich verlange«; »ich strahle Energie aus« oder »ich wirke«. Dies sind die drei Bejahungen des unteilbaren Selbstes oder des »Ich bin«. Alle Kundgebungen des Selbstes lassen sich unter die eine oder die andere dieser drei Überschriften einteilen; das Selbst manifestiert sich in unseren Welten nur in diesen drei Arten. Wie alle Farben aus den drei Primärfarben entstehen, so entstehen auch die zahllosen Manifestationen des Selbstes aus Willen, Energie und Erkenntnis, und das Selbst als Wollender, das Selbst als Wirkender, das Selbst als Erkennender – dies ist das in Ewigkeit Eine und auch die Wurzel der Individualität in Zeit und Raum. Das Selbst in seinem Denk-Aspekt, das Selbst als Erkennender – dies ist es, was wir hier zu untersuchen haben.

DAS NICHT-SELBST ALS ERKANNTES

Das Selbst, dessen »Wesen Erkenntnis ist«, findet in sich gespiegelt eine große Zahl von Formen vor und lernt durch Erfahrung, dass es in diesen und durch diese nicht erkennen, nicht wirken und nicht wollen kann. Es macht die Entdeckung, dass es diese Formen nicht beherrschen kann, wie dies mit der Form der Fall ist, deren es sich zuerst bewusst wird und mit der es sich (irrtümlicher- und doch notwendigerweise) identifiziert. Es erkennt, und diese Formen denken nicht; es will, und sie zeigen kein Verlangen; es sendet Energie aus, und sie zeigen keine Bewegung als Antwort. Es kann nicht in ihnen sagen »ich erkenne«, »ich will«, »ich wirke«, und so erkennt es sie schließlich als andere Selbste in mineralischen, pflanzlichen, tierischen, menschlichen und übermenschlichen Formen und fasst sie alle unter dem Begriff des Nicht-Selbstes zusammen als das, worin es als ein für sich bestehendes Wesen nicht enthalten ist, worin es nicht erkennen, nicht wollen und nicht wirken kann. Es wird von nun an auf die Frage »Was ist das Nicht-Selbst?« für lange Zeit die Antwort bereit haben: »Alles das, worin ich nicht erkennen, nicht wollen und nicht wirken kann.«

Obwohl es bei genauer Untersuchung tatsächlich finden wird, dass auch alle seine eigenen Hüllen, mit Ausnahme der zartesten, vermöge deren es zu einem Selbst wird, Teile des Nicht-Selbstes sind, Gegenstände der Erkenntnis, das Erkannte und nicht das Erkennende, so ist doch für alle praktischen Zwecke die obige Antwort durchaus zutreffend. Es kann in der Tat diese zarteste Hülle, die es erst zu einem abgetrennten Selbst macht, niemals als etwas von ihm Trennbares erkennen, da deren Gegenwart zu seiner eigenen Abtrennung notwendig ist und weil der Umstand, sie als ein Nicht-Selbst zu erkennen, einem Untertauchen im All gleichkäme.

DAS ERKENNEN

Damit das Selbst zum Erkennenden und das Nicht-Selbst zum Erkannten wird, muss zwischen ihnen eine bestimmte Beziehung hergestellt werden. Das Nicht-Selbst muss auf das Selbst, und das Selbst muss auf das Nicht-Selbst einwirken. Es muss zwischen den beiden eine Wechselwirkung bestehen. Erkennen ist eine Beziehung zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst, und die Natur dieser Beziehung muss daher das nächste Thema sein, das wir hier zu behandeln haben, doch ist es gut, wenn wir zuerst ganz klar die Tatsache erfassen, dass Erkennen eine Beziehung bedeutet. Erkennen schließt zwei Dinge in sich – das Bewusstsein eines Selbstes und die Anerkennung eines Nicht- Selbstes. Es ist das Vorhandensein dieser beiden einander gegenübergestellten Dinge erforderlich, damit eine Erkenntnis stattfinden kann.

Der Erkenner, das Erkannte und das Erkennen – dies sind die drei in einem, die verstanden werden müssen, wenn das Denken seinem eigentlichen Zweck zugeführt werden soll, dem Zweck, der Welt zu helfen. Nach der Terminologie des Westens ist der Verstand das Subjekt, welches erkennt, und das Objekt ist das, was erkannt wird; die Beziehung zwischen beiden ist das Erkennen. Wir müssen also das Wesen des Erkenners verstehen lernen und ebenso das Wesen des Erkannten, und endlich auch das Wesen der zwischen ihnen hergestellten Beziehung – und wie diese Beziehung entsteht. Wenn es uns gelingt, diese Dinge zu verstehen, werden wir der Selbsterkenntnis, die Weisheit ist, in der Tat einen Schritt näher gekommen und fähig sein, zu Helfern der uns umgebenden Welt zu werden; denn dies ist der eigentliche Zweck der Weisheit, dass sie, von Liebe angefeuert, die Welt aus der Trübsal zu jener Erkenntnis emporhebt, in der alles Leid für immer verstummt. Dies ist der Gegenstand unseres Studiums; und es steht mit Recht in den Büchern jenes Volkes, welches die frühesten und zugleich auch genauesten Kenntnisse in der Psychologie besaß, dass es der Endzweck aller Philosophie ist, dem Leid ein Ende zu setzen. Zu diesem Zweck denkt der Erkenner, zu diesem Zweck suchen wir beständig nach Erkenntnis. Dem Leid ein Ende zu setzen, ist der tiefste Grund aller Philosophie, und nur die Weisheit ist echt, die dazu führt, den Frieden zu finden.

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DAS WESEN DES DENKENS

Das Wesen des Denkens kann von zwei Standpunkten aus untersucht werden – von der Seite des Bewusstseins aus, das Erkenntnis ist, oder von der Seite der Form aus, durch die Erkenntnis erlangt wird und deren Empfänglichkeit für Modifikationen das Erlangen von Erkenntnis ermöglicht. Diese Möglichkeit hat in der Philosophie zu zwei extremen Richtungen geführt, die wir beide vermeiden müssen, weil jede von ihnen eine Seite des manifestierten Lebens unbeachtet lässt. Die eine Richtung betrachtet alles als Bewusstsein und ignoriert die Wesentlichkeit der Form als Bedingung des Bewusstseins, die dieses erst möglich macht. Die andere betrachtet alles als Form und ignoriert die Tatsache, dass die Form nur vermöge des sie beseelenden Lebens existieren kann. Leben und Form, Geist und Materie, das Bewusstsein und sein Träger können sich nur unzertrennlich miteinander verknüpft manifestieren; sie sind die untrennbaren Aspekte des einen, das beiden innewohnt, das weder Bewusstsein ist noch dessen Träger, sondern die Wurzel von beiden. Eine Philosophie, die alles durch die Formen zu erklären versucht und dabei das Leben ignoriert, wird auf Probleme stoßen, die sie nicht lösen kann. Eine Philosophie, die alles durch das Leben zu erklären versucht und dabei die Formen ignoriert, wird vor Mauern stehen, die sie nicht übersteigen kann. Das letzte Wort hierüber ist, dass das Bewusstsein und seine Träger, Leben und Form, Geist und Materie, die zeitweiligen Ausdrucksweisen der beiden Aspekte des einen bedingungslosen Seins sind, das unerkannt bleibt, außer wenn es sich als die Wurzel des Geistes (von den Hindus Pratyagatman genannt), als das abstrakte Sein, der abstrakte Logos, von dem alle individuellen Selbste stammen, und als die Wurzel der Materie (Mulaprakriti), von der alle Formen stammen, manifestiert. Wann immer eine solche Manifestation stattfindet, bringt diese Wurzel des Geistes ein dreifältiges Bewusstsein und diese Wurzel der Materie eine dreifältige Materie hervor; hinter diesen steht die Eine Wirklichkeit, dem beschränkten Bewusstsein stets unerkennbar. Die Blume sieht die Wurzel nicht, aus der sie hervorgegangen ist, obwohl sie ihr ganzes Leben aus ihr zieht und ohne sie nicht existieren könnte.

Das Selbst, als Erkenner, hat die charakteristische Funktion, dass es das Nicht-Selbst in sich spiegelt. Wie die lichtempfindliche Platte des Fotografen von den Gegenständen zurückgeworfene Lichtstrahlen in sich aufnimmt und wie diese Strahlen dann in der Materie, auf die sie fallen, Modifikationen verursachen, so dass man Bilder dieser Gegenstände erhalten kann, so verhält sich auch das Selbst in seinem Aspekt der Erkenntnis gegenüber der ganzen Außenwelt. Sein Träger ist eine Sphäre, auf der das Selbst vom Nicht-Selbst die reflektierten Strahlen des einen Selbstes empfängt, die auf der Oberfläche dieser Sphäre Bilder hervorrufen, Spiegelungen von dem, was nicht es selbst ist. Der Erkenner erkennt, solange sein Bewusstsein noch auf den Anfangsstufen steht, nicht die Dinge selbst. Er erkennt nur die Bilder, die durch die Einwirkung des Nicht-Selbstes auf seinem empfänglichen Gehäuse hervorgebracht werden, Fotografien der Außenwelt. Darum wird auch der Verstand, der Träger des Selbstes, mit einem Spiegel verglichen, in dem die Bilder aller Gegenstände zu sehen sind, die vor ihn hingestellt werden. Wir erkennen nicht die Dinge selbst, sondern nur die Wirkung, die von ihnen in unserem Bewusstsein hervorgerufen wird; es sind nicht die Gegenstände, sondern die Bilder dieser Gegenstände, die wir in unserem Verstand vorfinden. Wie der Spiegel die Gegenstände in sich zu enthalten scheint, diese scheinbaren Gegenstände aber nur Bilder, nur Illusionen sind, die durch die von den Gegenständen reflektierten Lichtstrahlen hervorgerufen werden, und nicht die Gegenstände selbst, so lernt auch der Intellekt bei seiner Erkenntnis der Außenwelt nur die täuschenden Bilder kennen und nicht die Dinge selbst. Diese im Träger hervorgerufenen Bilder werden vom Erkenner als Gegenstände wahrgenommen, und diese Wahrnehmung besteht darin, dass er sie in sich selbst reproduziert. Die Analogie des Spiegels und die Anwendung des Wortes »Spiegelung« im vorhergehenden Absatz sind ein wenig irreführend, denn das mentale Bild ist eine Reproduktion, nicht eine Spiegelung des Gegenstandes, der sie verursacht. Die Materie des Intellektes wird tatsächlich in ein Abbild des aufgezeigten Gegenstandes geformt, und dieses Abbild wird dann seinerseits vom Erkenner reproduziert. Wenn er sich so selbst zu einem Abbild eines äußeren Gegenstandes umgestaltet, sagt man, er erkenne den Gegenstand; aber in dem in Betracht gezogenen Fall ist das, was er erkennt, nur das in seinem Träger von diesem Gegenstand hervorgerufene Bild und nicht der Gegenstand selbst. Außerdem ist dieses Bild aus Gründen, die wir im nächsten Abschnitt besprechen werden, keine genaue Reproduktion des Gegenstandes.

Es mag nun gefragt werden: »Wird dies immer so sein? Werden wir nie die Dinge selbst erkennen?« Das führt uns zu der wichtigen Unterscheidung, die zwischen dem Bewusstsein und der Materie zu machen ist, in der das Bewusstsein wirkt; dadurch werden wir eine Antwort auf diese ganz natürliche Frage des menschlichen Intellektes finden. Wenn das Bewusstsein nach langer Entfaltung die Kraft entwickelt hat, in sich alles zu reproduzieren, was außerhalb existiert, dann fällt die materielle Hülle, in der es sich betätigt hat, ab, und das Bewusstsein, das Erkenntnis ist, identifiziert sein Selbst mit allen den Selbsten, unter denen es sich entwickelt hat, und betrachtet den Stoff, der mit jedem Selbst in gleicher Weise verbunden ist, als das Nicht-Selbst. Das ist der »Tag sei mit uns«, die Vereinigung, die der Triumph der Entwicklung ist, wenn das Bewusstsein sich selbst und die anderen kennt – und die anderen als sich selbst. Durch die Gleichheit des Wesens wird vollkommene Erkenntnis erlangt, und das Selbst erlebt jenen wunderbaren Zustand, in dem die eigene Identität nicht aufhört, die Erinnerung nicht verlorengeht, aber die Gesondertheit ihr Ende findet – und Erkenner, Erkennen und Erkenntnis eins sind.

Es ist diese wunderbare Natur des Selbstes, das sich in uns gegenwärtig durch wachsende Erkenntnis entwickelt, die wir zu studieren haben, um das Wesen des Denkens verstehen zu lernen; und dazu ist es nötig, klar die illusorische Seite zu durchschauen, damit wir diese dazu benutzen können, über sie hinauszuschreiten. Wir wollen also nun untersuchen, wie das Erkennen – die Beziehung zwischen Erkenner und Erkanntem – herbeigeführt wird, und dies wird uns dann zu einer tieferen Einsicht in das Wesen des Denkens führen.

DIE KETTE VON ERKENNER, ERKENNEN UND ERKANNTEM