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1. Auflage 2020

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ISBN 978-3-9525097-3-9 (Print)

ISBN 978-3-9525097-6-0 (E-Book)

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In jenem unscheinbaren Sommer geschah etwas Unvorhersehbares. Etwas, das mein Leben grundlegend veränderte und die Zeit stillstehen liess.

»Muss ich jetzt schon sterben?« Diese Vermutung, oder besser, diese tiefe Angst, vor der sich wohl jeder Mensch fürchtet, setzte sich in jenem Moment immer stärker in mir fest.

Jedoch in Verbindung mit einer zarten, kaum wahrzunehmenden Stimme, die leiser geworden war, aber dennoch nicht ganz schwieg: »Ich werde wieder gesund werden – ich will leben!«

Ein Gedanke liess mich während meiner zweijährigen Bettlägerigkeit nie los: Wenn doch alles nie passiert wäre, alles nur ein böser Traum wäre und ich einfach genau an dem Punkt, wo ich war, bevor die Krankheit ausbrach, wieder anknüpfen könnte! Diese undefinierbare Sehnsucht nach Freiheit und nach einem Neuanfang erfüllte mich in den schier endlosen Nächten.

Nur draussen spielt ein Leben, so wohltuend vergnügt! Diese Vorstellung vom Glück drang fortdauernd wie durch ein Fenster tief in mein Bewusstsein.

Sonnenstrahlen, die sich an einem lauen Sommerabend an den Zimmerwänden verfingen, das fröhliche Lachen der Kinder von aussen und mein Lauschen auf den Klang der Natur jenseits der Wände liessen mich erahnen, dass sich eine Realität fernab von der meinen abspielen musste.

Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr war alles grundlegend normal verlaufen. Hier und da war ich mal verliebt, traf gerne Freunde, ging zur Schule und trieb regelmässig Sport. Früher gab es oft Zeiten, in denen ich mir intensiv Gedanken über unser Dasein und den Lebenssinn machte. Ich war überzeugt, dass die Suche nach Sinn wertvoller ist als das Streben nach Erfolg. Das Privileg, dass ich in einem der sichersten Länder der Welt lebe, genoss ich sehr dankbar.

Die erste Juliwoche ging zu Ende. Als ich an jenem Morgen erwachte und aufstand, hatte das Wetter sich zum Guten gewendet. Es war so ein Hochsommertag, in dem etliche Sonnenstunden und ein glänzend blauer Himmel unser Wohlbefinden steigern sollten. Für manche Leute gibt es nichts Schöneres als einen Sommer, bei dem einem die glühende Hitze bis in die Knochen geht. Zu diesen Leuten gehöre auch ich.

Und dann geschah das für mich bis zu jenem Zeitpunkt Unvorstellbare, etwas, das plötzlich und unerwartet eintraf. Ein Eingriff am Lumbalbereich, welcher ursprünglich der Fehlregulierung meines vegetativen Nervensystems am Bein Linderung versprechen sollte, geriet ausser Kontrolle.

Während des Eingriffes verspürte ich einen grauenhaften, starken Schmerz. Dieser fühlte sich an, als ob jemand an meinen Organen zerren würde. Unmittelbar wurde mir bewusst, dass etwas schiefläuft. Dieser eine Moment, welcher mein Dasein bis heute prägt, bleibt mir in fester Erinnerung.

In der Folge breiteten sich stärkste chronische Schmerzen in meinem Körper aus. Gerade mal zwanzig Jahre alt war ich. Ich konnte vor Schmerzen kaum mehr aufrecht sitzen.

Selten vermochte ich, einige Schritte zu gehen. Nur sehr mühsam war es mir möglich, meine rechte Hand zu bewegen. Sehstörungen stellten sich ein. Nicht nur das Lesen, auch das Schreiben wurde zeitweise unmöglich. Täglich kämpfte ich um mein geistiges Überleben. »Nur nicht in Depressionen und Verzweiflung verfallen!« Zahlreiche Ärzte und auch Spezialisten konnten in meinem Falle kaum etwas zur Heilung beisteuern. Starke Medikamente wurden wieder abgesetzt, weil diese sich bei mir als wirkungslos erwiesen.

Die Vorahnung, Verfall und Vergänglichkeit so früh am eigenen Leibe zu erfahren, hielt mich im Würgegriff, und immer wieder wollte sich die bange Frage einnisten: »Was wäre, wenn mein Leben heute endete? Was bliebe ungelebt, was wäre vollendet?«

In dieser Verzweiflung kam mir ein Gedanke: »Nicht die Ärzte und die Krankheit haben das letzte Wort! Gott ist der Arzt über meinem Arzt, und wenn er mir Leben wieder einhauchen will, dann kann ihn nichts aufhalten, selbst wenn mein Herz aufhören würde zu schlagen.«

Die Gewissheit, dass ein wahrhafter Lebenssinn und ein damit verbundener Lebensauftrag existieren, erwies sich für mich als ermutigend.

In diesem Kontext sind wir kein Zufallsprodukt und unsere Lebenszeit ist eine uns bewusst verliehene, geschenkte Zeit. Somit gewinnt jeder Tag an tieferem Sinn und kraftvoller Bedeutung.

Selbst in den dunkelsten Momenten unseres Daseins leuchtet immer ein Licht! Sobald wir uns dessen bewusst sind, tröstet uns jene Gewissheit. Sie schenkt uns Hoffnung und stärkt unseren Entschluss weiterzumachen, bis wir an einem Ort sind, an dem das Licht wieder scheint. Denn es gibt eine Kraft, die enorm stärker ist als das, was wir in unserem Umfeld wahrnehmen. Und gewisse Dinge lassen sich nicht rational erklären.

Es überfiel mich für einen Moment ein geradezu kühnes, oder besser gesagt: schamloses Gottvertrauen, das mich aus meinem Grübelmodus herausriss. Die Erwartung auf Zukunft und Besserung stellte sich wie das erste graue Licht einer Morgendämmerung ein.

Noch aber vergingen weitere Monate in Bettlägerigkeit. Erstaunlich, wie lange sich ein Tag anfühlt, wenn man nichts unternehmen kann. Wie schleppend die Zeit verrinnt. Sie scheint stillzustehen. Und wie rasant die Zeit vergeht, wenn man beschäftigt ist und einen normalen Alltag durchlebt.

Wie in einer Seifenblase lebte ich. Ich betrachtete meine Umwelt wie durch eine dicke Scheibe, und mir kam es vor, als ob ich immer mehr ihre oberflächlichen Gesetzmässigkeiten durchschauen konnte. Draussen zog der Wandel der Jahreszeiten an mir vorüber wie eine einzig verbliebene Orientierung, aber doch in gewisser Orientierungslosigkeit.

Wenn man mehr Zeit zum Nachdenken besitzt als Zeit, irgendetwas anderes zu tun, entgleiten einem Hektik und Strukturen eines normalen Alltagslebens. Ein anderes Zeitgefühl entwickelt sich, und der einzelne Tag an sich spielt nicht mehr eine bedeutende Rolle.

Während meiner Krankheitszeit besass ich weder einen Fernseher noch Zugang zu sozialen Netzwerken. Selbst mein Mobiltelefon war ausser Betrieb und jegliche Anrufe erhielt ich nur über das Festnetztelefon. De facto konnte man mich über zwei Jahre lang lediglich persönlich besuchen oder telefonisch erreichen.

Somit wollte ich während dieser Zeit bewusst verschont bleiben von den zahlreichen Zeitvertreibern und grenzenlosen Unterhaltungsmöglichkeiten, welche uns letzten Endes von uns selbst ablenken.

Ich war dort, wo keiner in der Blüte eines jungen Lebens sein möchte. Wie eine angefahrene Katze kam ich mir vor – nicht tot, aber auch nicht lebendig.

Meist schwebte ich in Gedanken, vertieft in Gebeten und Erinnerungen an meine unbeschwerte Kindheit, als wollte diese mir eine unbeschreibliche Kraft und einen immensen Drang des Weiterlebens in Aussicht stellen.