Für Angelika

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Peter Schaller

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH

ISBN 978-3-7528-9094-5

INHALT

EINLEITUNG

Schon als Kind packte mich die Sehnsucht nach fremden Ländern. Während der Schulzeit hatte ich kaum Möglichkeiten zu reisen. Mehr als der Möhnesee, der Besuch bei Verwandten in Hamburg, dann als Heranwachsender Fahrten in die Bayrischen Alpen, nach Kärnten oder Spanien waren nicht drin.1 Ich las alles, was ich in der Schulbibliothek an zeitgenössischen Reiseberichten, den großen Entdeckungsreisen der Welt und an entsprechenden historischen Romanen fand. Die Berichte Sven Hedins, die abenteuerliche Seefahrt von Thor Heyerdahl mit dem Balsa-Floß, Marco Polos Reise nach Asien, Bücher über Kolumbus und Pizarro und Dschingis Khan, die Expeditionen von Amundsen und Scott interessierten mich mehr als alles andere. Geographie und Geschichte gehörten auf der Schule zu meinen Lieblingsfächern. Der große Diercke Weltatlas war mein ständiger Begleiter. Reisen wurde meine Leidenschaft.

Während des Studiums machte ich mich daran, meine Reiseträume zu verwirklichen. Mit den Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie und Pädagogik) hatte ich einen Studiengang gewählt, der mich nicht einengte. Er ließ mir Zeit, ausgiebig in Europa, dem Nahen Osten und Asien zu reisen und mich mit außereuropäischen Kulturen und deren philosophischen Konzepten zu befassen.

Eine Tätigkeit, die mich für den Rest meines Lebens an meine Heimatstadt oder Deutschland binden würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Die beste Möglichkeit, die Welt und andere Kulturen kennen zu lernen, schien mir der Diplomatenberuf zu sein. Es war die Erfüllung meines Lebenstraums, als ich in das Auswärtige Amt (AA) eintreten konnte.

In den 34 Jahren, die ich im Auswärtigen Dienst verbracht habe, lebte ich jeweils zwei bis drei Jahre in sieben Ländern. Wenn ich kürzere Arbeitsaufenthalte zwischen zwei und acht Monaten dazu zähle, dann waren es insgesamt zehn Staaten. Während meiner langen Tätigkeit im Protokoll besuchte ich viele Länder, vorzugsweise in Mittelosteuropa einschließlich Russland und im Nahen Osten, aber auch China und Japan sowie nordafrikanische Staaten wie Marokko, Tunesien und Ägypten. Geographisch decken meine Posten einen riesigen Raum auf der nördlichen Halbkugel ab. Er reicht von Havanna bis Pjöngjang, d.h. von 83° westlicher bis 129° östlicher Länge. Würde man von Havanna über Berlin nach Pjöngjang fliegen, würde man nahezu 17.000 Kilometer und damit fast die Hälfte des Erdumfangs zurücklegen. Klimatisch und kulturell hatten meine Posten, was nicht verwundert, eine große Spannbreite.

Zunächst möchte ich einige Worte zu meinen kurzfristigen Stationen sagen. Mein erster Auslandsaufenthalt war in Togo, einer ehemaligen deutschen Kolonie in Westafrika. Hier machte ich unmittelbar nach Abschluss der Attaché-Ausbildung meine ersten Schritte als Diplomat. Die zwei Monate in Togo waren ein Erlebnis: Es war das erste schwarzafrikanische Land, das ich kennen lernte. Im Anschluß daran arbeitete ich fast acht Monate an unserer damaligen EG-Vertretung in Brüssel. Ich erlebte die multilaterale Arbeit und hatte damit eine Erfahrung, die mich nicht zur Wiederholung ermunterte. Im Winter 1986/87 wurde ich für zwei Monate an unsere Botschaft in Ungarn abgeordnet. Budapest, der Inbegriff des strahlenden Europas vor dem Ersten Weltkrieg, städtischer Kultur, der Toleranz und des Kosmopolitismus, schlug mich vom ersten Tag an in seinen Bann. Das alte Europa, das im Ersten Weltkrieg weitgehend zerstört wurde und im Zweiten Weltkrieg endgültig unterging, war hier noch spürbar. Budapest erinnerte mich an die Welt, die Stefan Zweig in seinen Erinnerungen beschreibt, und auf die ich einige Jahre später stieß.2

Die Übergänge und Berührungspunkte, wie auch die fundamentalen Unterschiede zwischen Ost und West wurden das Leitthema meiner Interessen und Vorlieben und dann auch meines Lebens im Ausland. Eurasien, diese riesige und vielgestaltige Landmasse, auf der sich über Jahrtausende Völker, Sprachen und Kulturen vermischt haben, hatte mich schon als Kind und Jugendlicher mehr als jede andere Region der Welt interessiert. Die Berichte der Forscher und Reisenden über diese fernen Gebiete und die Romane über ihre großen historischen Gestalten und Ereignisse waren meine erste Begegnung mit diesem gewaltigen Raum der weiten Ebenen, steilen Gebirge, gewaltigen Flüsse und eines harten Klimas, einer Welt, die sich so sehr von dem kleinräumigen, gemäßigten und geordneten Europa unterscheidet. Die Seidenstraße war für mich immer die faszinierendste Route für den Austausch von Waren und Ideen in der ganzen Welt.

Die Zeit meines Studiums nutzte ich für ausgiebige Reisen in den Vorderen Orient und nach Asien. Europa bereiste ich, wann immer ich die Möglichkeit hatte. Meine kleine „Ente“, ein roter Citroen 2 CV, den ich nach meiner Bundeswehrzeit gekauft hatte, brachte mich verlässlich an alle Ziele. 1972 fuhr ich mit der „Ente“ über den Balkan, die Türkei, Syrien und den Libanon bis kurz vor Jerusalem. Hier endete die Fahrt, weil der Zugang in diese berühmte Stadt wegen einer der vielen Krisen gesperrt war. Jerusalem sah ich mehr als zwei Jahrzehnte später als Protokollbeamter. 1973 reiste ich monatelang mit Zug, Bus und Rikscha auf der damals so genannten „Haschroute“ über Land nach Nepal. Am iranischen Ufer des Kaspischen Meeres entging ich nur knapp dem Ertrinken, als mich die Strömung weit hinaustrug. Afghanistan war zentraler Bestandteil der Route als ein Land, das im Westen einen märchenhaften Ruf als eine Art irdisches Paradies hatte. Ich kam nicht hinein: Gegen den König war geputscht worden. Die Grenzübergänge zum Iran waren dicht. Mit diesem Putsch und der dauernden Einmischung von außen versank das Land in Bürgerkriege und innere Kämpfe, die bis heute andauern. Mehr als dreißig Jahre später erlebte ich das Land, unter ganz anderen Umständen freilich und gewiss nicht als Paradies, als ich 2005 mit einer Bundeswehreinheit in Kundus stationiert war. 1975 fuhr ich nach dem Ende des Studiums als Rucksacktourist durch Thailand und Malaysia bis Singapur, schlief im überfüllten Zug im Gepäcknetz und überstand im Hotel eine Drogenrazzia, die sich auf einen Mitreisenden richtete, den ich unterwegs getroffen hatte.

Dieser Blick nach Osten war verbunden mit einem lebhaften Interesse am Sozialismus, als Idee und als real existierende Gesellschaftsordnung. Als „68er“ war dies nicht so singulär, und wer wie ich Anfang der 1970er Jahre Sozialwissenschaften studierte, kam an der Beschäftigung mit sozialistischen und kommunistischen Ideen nicht vorbei. Die Sozialwissenschaften standen ganz unter dem Einfluss marxistisch orientierten Denkens, wobei die Kritische Theorie eine herausragende Rolle spielte. Die „linken Sozialwissenschaften“ forderten, wollte man zu einem tieferen Verständnis gelangen, die Beschäftigung mit den sozialistischen Klassikern und ihren modernen Interpreten. Denen wandte ich mich ausgiebig zu. Allerdings erweiterte ich mein Curriculum um indische und chinesische Philosophie, den Buddhismus, Hinduismus und Schamanismus. Die westliche Wahrnehmung und Interpretation der Welt reichte mir nicht. Ich war, in diesem Alter wohl nicht untypisch, auf der Suche nach alternativen Konzepten.

Die sozialistischen Ideen hatten Verführungskraft. Sie regten zum Nachdenken an, verschafften Einsichten, die man sonst nirgendwo las, und entwarfen ein Gegenbild zur existierenden Gesellschaft. Arbeit für alle, billige Wohnungen und eine von der Wiege bis zur Bahre gesicherte Existenz des sozialistischen Lagers erschienen als Pluspunkte in einer Zeit, in der die goldenen Jahre des Wirtschaftswunders mit der Ölpreiskrise 1973 zu Ende gegangen waren. Gegen die Verführungen sozialistisch-kommunistischer Utopien war ich weitgehend gefeit. Trotz vieler Erkenntnisse, die mir etwa die Lektüre der Schriften von Karl Marx, der Austromarxisten, der Frühsozialisten und auch Lenins Werke vermittelten, waren mir Sozialismus und Kommunismus mehr ein Glasperlenspiel als Aufforderung zum Handeln. Drei Jahre Bundeswehr hatten für eine gewisse Erdung gesorgt und meinen Blick für die Wirklichkeit geschärft, den viele, die ohne Unterbrechung von der Schulbank in den Hörsaal rutschten, nicht hatten. Hinzu kam: Die Diktatur des real existierenden Sozialismus konnte kein vernünftig denkender Mensch übersehen.

Das „Pendeln zwischen Ost und West“ zog sich wie ein roter Faden durch mein Studium. Verbunden mit diesem Blick nach Osten, und in gewisser Weise sein Zentrum, war Russland, zu dessen Kultur und Befindlichkeit ich mich schon seit frühester Kindheit hingezogen fühlte. Es ist schwer zu sagen, welche Faktoren für diese Disposition verantwortlich waren, bei der das meiste unbewusst und auf emotionaler Ebene abläuft. Einen großen Anteil hatten sicherlich meine Großeltern mütterlicherseits, bei denen ich praktisch aufwuchs. Sie stammten aus dem Landkreis Bromberg in Westpreußen, der bis zum Ende des Ersten Weltkrieges an das Russische Reich grenzte. Meine Großmutter erzählte ausgiebig aus der Zeit in Klein Bartelsee. Auch die angeheiratete Verwandtschaft aus Ostpreußen und Schlesien vermittelte mir viel aus einer Welt, die hinter dem Eisernen Vorhang versunken war, und die, das spürte ich schon als Kind, mit einem ganz anderen Lebensgefühl verbunden war.

Es reichte dann allerdings nicht zum Studium der russischen Sprache und Kultur: Mich störte der real existierende Sozialismus. Ein Land, wo nicht nur das eigene Volk, sondern vor allem auch die Ausländer überwacht wurden und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt waren, schreckte mich dann doch ab. Mein Interesse für die Sozialwissenschaften war stärker als das an einem linguistischen Studium. Aber die Lektüre über und aus Russland wurde fester Bestandteil meiner Interessen. Viele Jahre später lernte ich ernsthaft russisch, wurde Generalkonsul in St. Petersburg und lebte drei Jahre in Russland, womit ein Wunsch, den ich seit meinen frühen Jahren hatte, in Erfüllung ging.

Meine Auslandsposten waren, was nach dieser Vorgeschichte nicht erstaunen wird, durchweg solche in sozialistischen oder postsozialistischen Ländern. China erlebte ich, als die Öffnungspolitik unter Deng Xiao-ping Anfang der 80er Jahre in Fahrt kam. Es war eine Zeit, in der die deutsch-chinesischen Beziehungen einen gewaltigen Schwung im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich bekamen. Es war atemberaubend, wie China ideologischen Ballast abwarf und sich der Welt öffnete, und mit welcher Konsequenz und Zielstrebigkeit die Führung daran ging, den Anschluss an die entwickelten Länder zu finden. Niemand konnte sich seinerzeit vorstellen, dass China in so kurzer Zeit den heraus gehobenen Platz erreichen könnte, den es heute in der Welt einnimmt. Die Entwicklung dieses Landes in den letzten Jahrzehnten ist immens, die damit verbundenen Probleme sind es ebenfalls.

Auf meinem zweiten Auslandsposten Havanna spürte man Ende der 80er Jahre noch nichts von Veränderung, selbst als Kuba mit der Perestroika in der UdSSR und dem damit verbundenen unaufhaltsamen Wegfall der sowjetischen Subventionen in wirtschaftlich schwere See geriet. Kuba hatte seinen eigenen Reiz: Das sonnenreiche und warme Klima, die riesigen, weißen Strände, die Musik und die Lebensfreude der Kubaner verfehlten nicht ihre Wirkung. Der „socialismo tropical“ entwickelte seine eigenen Merkmale und milderte die sozialistischen Ecken und Kanten, was aber nichts daran änderte, dass Castro die Gesellschaft hart in seinem Griff hielt und jeden Widerspruch unterdrückte.

Meine Tätigkeit im Protokoll Mitte der 80er Jahre führte mich auf Reisen meist in die europäischen sozialistischen Staaten. Die Mängel des real existierenden Sozialismus waren unübersehbar. Aber ich spürte den nicht zu brechenden Willen der Menschen zum Leben und Überleben. Diese Mischung von alter europäischer Kultur und aufgepfropfter sozialistischer Lebens- und Wirtschaftsweise war faszinierend. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als ich eine zweite „Runde“ im Protokoll drehte, waren diese Staaten wiederum ein Schwerpunkt. Mittlerweile hatten sie den Sozialismus abgelegt und kämpften um eine neue Zukunft.

Im Januar 1991 trat ich als erster Vertreter des wiedervereinten Deutschlands in Nordkorea an. Ich übernahm die ehemalige DDR-Botschaft und baute dort eine neue Vertretung auf. Ich kam in ein singuläres Land, das es auf der Welt nicht noch einmal gab. Es war die ultimative Betonvariante einer in Leerformeln, absoluter Unterdrückung und im Führerkult erstarrten Gesellschaft. Über dieses Land musste ich ein Buch schreiben. Wer konnte dort schon drei Jahre leben?3 Nordkorea war eine besondere persönliche Herausforderung nicht nur aufgrund der allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Lage im Lande, sondern auch wegen der damit verbundenen Anforderungen an das handwerkliche Können als Diplomat.4

Der nächste Posten lag in Zentralasien. In Turkmenistan, das im Laufe des Zusammenbruchs der Sowjetunion wie die anderen ehemaligen sozialistischen Sowjetrepubliken seine Unabhängigkeit erklärt hatte, errichtete ich 1993 mit einer Mannschaft aus deutschen und einheimischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die deutsche Botschaft. Es waren drei spannende, herausfordernde Jahre. Vieles kam zusammen. Mit der Auflösung der UdSSR ordnete sich der riesige Raum zwischen Kiew und dem Pazifik neu. Aus den sozialistischen Sowjetrepubliken entstanden 15 neue Staaten. Der Ost-West-Gegensatz, der die Welt über 40 Jahre lang geprägt hatte, verschwand fast über Nacht. Der Westen verkündete das „Ende der Geschichte“, überzeugt davon, dass sich nun das westlich-demokratische Modell weltweit durchsetzen würde. Schließlich hatte es seine Überlegenheit gegenüber Kommunismus und Sozialismus bewiesen. Man prägte den Begriff des „Transformationslandes“ oder der „Transformationsgesellschaft“. Implizit war damit die Erwartung verbunden, dass sich diese Transformation in unserem Sinne und damit hin zu demokratischen Gesellschaften westlichen Stils vollziehen würde. Es war nicht nur die Erwartung: Der Westen trat so auf, dass man manchmal den Eindruck hatte, es würde missioniert.

In den 1990er Jahren waren die zentralasiatischen und kaukasischen Länder der GUS „der wilde Osten“, genau wie der größte Staat Russland. Alles war im Fluss, alles schien möglich. Altes und Neues rangen miteinander. Die Menschen zeigten unter den veränderten Verhältnissen nie gekannte Initiative und Energie. Aber es gab auch Widerstände gegen neue Entwicklungen. Es waren chaotische, manchmal fast anarchische Zeiten. Dieses Bild zeigte sich in allen Ländern, die ich damals und später wiederholt besuchte: In Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan, auch in Armenien, Aserbaidschan und Georgien. In der Ukraine, Moldawien und Weissrussland kam es ebenfalls zu Turbulenzen. Die Entwicklungen in Zentralasien verdeutlichten, dass die Geschichte nicht zu Ende war. Ganz im Gegenteil: Sie kehrte zurück. Entgegen allen im Westen und speziell in den USA gehegten Hoffnungen, die mit verschiedenen Mitteln befördert wurden, setzte sich die westliche Demokratie in diesem Raum nicht durch. Sie fand in der Geschichte der neuen unabhängigen Staaten keine Elemente, an die sie anknüpfen konnte. Weder in der kommunistischen Herrschaft, noch in der Geschichte und Kultur vor den Bolschewiki. Die Erwartung, dass in diesen abgeschiedenen Regionen die Demokratie mit fliegenden Fahnen einziehen würde, war Ausdruck einer Verkennung der Geschichte dieser Staaten und Völker und geprägt von westlichem Wunschdenken.

Diese Entwicklung konnte ich in Aschgabat verfolgen, wo ich 1993 meinen Dienst als erster deutscher Vertreter nach Erlangung der Unabhängigkeit antrat. In Turkmenistan, wie auch in den anderen zentralasiatischen Staaten, hatte sich nach dem Sturz der kommunistischen Herrschaft das sowjetische Herrschaftssystem eng mit orientalischen Herrschaftsprinzipien verbunden. Der ehemalige 1. Parteisekretär Nijasow wurde Präsident eines nunmehr unabhängigen Landes, das er in bester zentralasiatischer Tradition als Autokrat regierte. Das Land versank in autoritären Strukturen, Personenkult und Korruption.

In Turkmenistan erfuhr ich zum ersten Mal die Verwerfungen, die die Transformation von einem sozialistischen Staat in ein anderes –ja, welches denn? – System brachte. Auch am eigenen Leibe und trotz des diplomatischen Status, was zum Beispiel die Versorgung betraf. Die ukrainische Butter schlug ich mit dem Beil im Winter aus einem riesigen Block, der auf der Ladefläche eines Lastwagens lag. Der Fleischkauf auf dem Markt kostete wegen der hygienischen Verhältnisse Überwindung, so dass wir uns aus einer Kolchose ein halbes Schwein besorgten. Die Schweinehälfte zerlegte ich zuhause auf dem Küchentisch mehr schlecht als recht, wobei mir eine Skizze aus dem Kochbuch half, auf der die Lage der verschiedenen Fleischstücke angegeben war. Fast jeder in der Botschaft hatte Magenprobleme. Eine hartnäckige Hepatitis setzte mich für Monate außer Gefecht.

Die ersten Jahre der Unabhängigkeit in Turkmenistan waren eine Zeit des Mangels und der Entbehrungen. Das Land hatte aufgrund seiner riesigen Gasvorräte (einschließlich Erdöl) zwar ein großes Entwicklungspotential, aber eine verfehlte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik konnte dieses Potential nicht nutzen und führte zu gravierenden Problemen. Turkmenistan wurde brutalen Veränderungen unterworfen, als es aus der Sowjetunion austrat. Dies gilt genauso für die anderen zentralasiatischen wie auch kaukasischen Republiken. Es wurde im Westen, wo man sich in der Position des Siegers gefiel, viel zu wenig gewürdigt, dass die Entwicklung Zentralasiens trotz vieler innerer Auseinandersetzungen im Großen und Ganzen friedlicher und stabiler verlief, als man dies angesichts des vielen Konfliktstoffs, der sich in fast siebzig Jahren sozialistischer Herrschaft angesammelt hatte, befürchten konnte.

Natur und Landschaft Turkmenistans waren großartig. Die Übernachtungen auf der alten russischen Forschungsstation Repetek in der Karakum-Wüste unter klarem Sternenhimmel mit reichlich Tee, Hammelfleisch, getrockneten Aprikosen und Nüssen und der ruhigen, gleichmäßig dahinfließenden Unterhaltung mit turkmenischen Freunden zählen zu dem Schönsten, was man erleben kann.

Die Kapverden, eine ehemalige portugiesische Kolonie, waren von 1999-2001 die nächste Auslandsstation. Die Kapverden sind ein Archipel, dessen Inseln über eine große Fläche im Atlantik verstreut sind, 500 km von der Westküste Afrikas entfernt. Es ist eine vergessene Inselgruppe im Atlantik, fernab von den großen Handels- und Verkehrslinien dieser Welt. Klimatisch gehört der Archipel zur Sahelzone. Das Klima ist dementsprechend das ganze Jahr über warm und trocken und sehr angenehm.

Die Kultur Kap Verdes, die sich vorrangig in Musik und Liedern manifestiert, ist erfüllt von der Schwermut einer jahrhundertelangen prekären Existenz. Bis in die neueste Zeit waren die Menschen jedes Jahr bedroht von Hunger und Tod, wenn der spärliche Regen ausblieb. Kaum eine Gesellschaft in der Welt ist so geprägt von der Emigration, der Suche nach Arbeit und Unterhalt in Europa und Nordamerika. Mit dieser einher geht die Sehnsucht nach der Heimat, die man aus Not verlassen musste. Portugiesen und Afrikaner haben sich in Kap Verde fast völlig vermischt. Französische Einflüsse sind stark. Das Land gehört, obwohl lusophon, auch zur Gemeinschaft der frankophonen Länder. Der Archipel ist erstaunlich vielfältig, ein „Kontinent ohne Land“. Ich besuchte alle bewohnten Inseln des Archipels, von denen jede ihren eigenen Charakter hat, und war beeindruckt von ihrer Schönheit und Ursprünglichkeit. Die Kapverden bezauberten mich trotz aller Probleme und Widersprüchlichkeiten, und ich schrieb ein Buch über diese abgelegene Welt.5 Die Botschaft allerdings, die besondere Kennzeichen wie sonst keine andere hatte, löste ich mit dem Ende meiner Dienstzeit auf. Zwei Vertretungen eröffnen und eine schließen: Diese Erfahrungen macht nicht jeder.

Nach den Kapverden war mein nächster „exotischer“ Posten der des Protokollchefs in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg. Das war 2001, elf Jahre nach der Wiedervereinigung. Die Hinterlassenschaft des DDR-Regimes war noch längst nicht abgearbeitet. Die Ex-DDR war auch ein „Transformationsland“, wenn auch unter anderen Vorzeichen als die anderen ehemaligen sozialistischen Staaten und Sowjetrepubliken. Die neuen Bundesländer hatten in Gestalt der alten einen starken Partner, auf den die anderen sich nicht stützen konnten.

Ende 2004 kehrte ich aus Potsdam in das Auswärtige Amt zurück. Der neue Posten als Leiter des Referats Offizielle Besuche wurde erst im Sommer 2005 frei. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, ging ich nach einer kurzen Tätigkeit als Berater des Protokolls für fünf Monate in das Provinzaufbau-Team nach Kundus in Nordafghanistan. Es handelte sich um ein Militärlager, einen Stützpunkt der Bundeswehr unter der militärischen Leitung eines Oberst. Ich war der Leiter des politischen Teils und für den außenpolitisch-diplomatischen Bereich zuständig.

In Afghanistan wurde gekämpft. Es war eine gefährliche Mission. Wenige Monate zuvor waren Raketen in dem Stützpunkt eingeschlagen. Aber mich reizte die Aufgabe und die Möglichkeit, mir ein eigenes Bild von der Situation und unserem Einsatz dort zu machen. Afghanistan war zudem das Land, das ich seit meiner Studienzeit besuchen wollte. Ich war als Zivilist in Afghanistan, aber zu meiner Ausrüstung gehörten Splitterweste und Stahlhelm. Ich arbeitete mit meinem Team von Zivilisten inmitten schwer bewaffneter deutscher und amerikanischer Soldaten. Meine aus Sperrholz gezimmerte Baracke war durch aufgeschichtete Sandsäcke geschützt. Alarme trieben uns wiederholt in den Bunker. Es wurde geschossen und es gab tote Soldaten in Afghanistan, aber nach offizieller Definition handelte es sich 2005 noch nicht um einen Krieg.

Im Sommer 2007 endete meine Zeit als Referatsleiter. Damit hatte ich insgesamt elf Jahre im Protokoll in verschiedenen Funktionen und mit zeitlichen Abständen verbracht: Jeweils drei Jahre als Referent und stellvertretender Referatsleiter, drei Jahre als Protokollchef eines Bundeslandes und zwei Jahre als Referatsleiter. Dem Protokoll habe ich ein eigenes Kapitel reserviert.

Als sich die Frage meiner nächsten Verwendung stellte, eröffnete sich die Möglichkeit, ein Jahr lang Russisch zu lernen, mit dem Ziel, dann einen Posten als Leiter einer Vertretung im russischsprachigen Raum zu übernehmen. Ich wollte nach Russland. Mich interessierte das Generalkonsulat in Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, dessen Leiterposten 2008 frei wurde. Der Unterricht fand im Sprachlernzentrum des AA statt. Er wurde ergänzt durch einen Kurs am Russicum in Bochum. Mit das Wichtigste und Interessanteste war ein mehrmonatiger Sprachaufenthalt in Russland zum Abschluss der Ausbildung. Er begann für mich im Januar 2008 in einer Sprachschule bei Jasnaja Poljana. Der Ort befindet sich 250 Kilometer südlich von Moskau. An seinem Rand liegt das Gut von Lew Tolstoi, einem der berühmtesten russischen Schriftsteller. Tula, die bekannte Stadt der Samoware und eine der „Heldenstädte“ des Zweiten Weltkriegs, wo der deutsche Vormarsch auf Moskau gestoppt wurde, liegt nahe bei.

Anschließend wohnte ich sechs Wochen bei einer Wissenschaftlerfamilie in Akademgorodok, der berühmten Forschungsstadt in der Nähe von Nowosibirsk. Die viertausend Kilometer lange Fahrt dorthin machte ich im Zug durch ein verschneites Land. In Akademgorodok bekam ich Einblick in die schwierige Lage der russischen Elite-Akademiker, die zu sozialistischen Zeiten vom Regime verhätschelt wurden, dann aber in den Wirren der Jelzin-Zeit kaum überleben konnten. Ich erlebte den strahlenden sibirischen Winter mit seinen tief verschneiten Wäldern und dem unglaublich blauen Himmel.

Im Anschluss ging ich nach St. Petersburg, was dann auch mein nächster Posten als Generalkonsul wurde. Der Posten war überraschend frei geworden. Ich war darüber nicht traurig. Die Vertretung in St. Petersburg ist eines der großen, traditionsreichen Generalkonsulate des Auswärtigen Dienstes und nach Moskau die wichtigste unserer fünf Vertretungen in der Russischen Föderation. Mein sechswöchiger Aufenthalt dort als Sprachstudent war eine gute Vorbereitung auf meine neue Funktion. Als ich im August 2008 dort antrat, hatte ich bereits einen guten Überblick über die Stadt.

Meine Frau Angelika, die 1980 als Angestellte in das AA eingetreten war und die ich in Havanna kennenlernte, machte mit mir dieselbe Sprachausbildung. Es war vorgesehen, dass wir beide gemeinsam nach St. Petersburg versetzt wurden. Angelika verbrachte ihre Auslands-Stagen in Jekaterinburg im südlichen Ural und in St. Petersburg, dort allerdings zu einem anderen Zeitpunkt als ich. Wir nutzten alle Möglichkeiten während dieser Zeit, gemeinsam in Russland zu reisen. Wir trafen uns in Jasnaja Poljana, Kazan, Jekaterinburg, Sotschi und Tomsk.

Ohne die Insignien des diplomatischen Vertreters habe ich Russland „off the beaten track“, aus der Sicht seiner überfüllten Bahnhöfe, durch die beschlagenen Scheiben der Kleinbusse (marschrutka), in der U-Bahn und beim Anstehen nach Fahrkarten kennen gelernt. Die Sprachausbildung in Russland verschaffte eindrucksvolle und ungefilterte Eindrücke dieses riesigen und so facettenreichen Landes.

In Sankt Petersburg lebte ich drei Jahre von 2008 - 2011. Die Arbeit in der strahlenden, aristokratisch-bürgerlichen, in Teilen auch proletarischen, wohlhabenden und kulturell lebendigen Metropole war einer der Höhepunkte meiner Zeit als Diplomat. Das „Goldene Dreieck“, das historische Zentrum der Stadt, ist in seiner Pracht mit kaum einer Stadt der Welt vergleichbar. Aus deutscher Sicht ist besonders interessant, dass keine Stadt Russlands eine so reiche und wechselvolle, mit Deutschland verbundene Geschichte hat wie die in Russland so genannte „nördliche Hauptstadt“. Mein Amtsbezirk reichte von Pskow im Westen bis zum Ural im Osten, und im Süden auf einer Linie rund 300 Kilometer nördlich von Moskau bis zum Weißen Meer und der Barentssee im Norden und umfasste eine Fläche von der fünffachen Größe Deutschlands.

Russland hatte seit dem Zerfall der Sowjetunion eine schwierige Entwicklung. Die Probleme, auch die des Selbstverständnisses und des Nationalgefühls, die dem Zerfall der UdSSR folgten, wirken noch heute. Allein die Dimensionen dieses Landes sind eine singuläre Herausforderung. Die gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Widersprüche in Russland sind gewaltig. Das Land hat seinen Weg noch nicht gefunden.

Nicht einmal drei Jahre später, nachdem ich Russland verlassen hatte, kam es im Ringen um die Ukraine zu einer dramatischen Wende in den Beziehungen Russlands zum „Westen“, vor allem den USA, der EU und besonders auch zu Deutschland. Im geopolitischen Streit um die Vorherrschaft in Eurasien, in dem die Landmasse der Ukraine eine zentrale Rolle spielt, zog Putin nach Jahren der Demütigungen und einer westlichen Politik, die russische Sicherheitsinteressen und Empfindlichkeiten vernachlässigte, die Reißleine. Wo Zurückhaltung und wirklicher Dialog nötig gewesen wären, setzte man auf die Ausdehnung des eigenen Einflussbereiches. Die Stichworte Krim, Ostukraine und Sanktionen gegen Russland beschreiben eine Konfrontation, die in manchen Aspekten gefährlicher ist als der Kalte Krieg.

Nach St. Petersburg stand mein letzter Posten an. Auf der Liste der freien Stellen fand ich zu meiner Freude den Botschafterposten in der Mongolei. Schon als Jugendlicher hatten mich die asiatischen Reiternomaden stark interessiert. Ich hatte viel über sie gelesen, auch in späteren Jahren.6 Mein Aufenthalt in Ungarn Mitte der 80er Jahre weckte das Interesse erneut: In Budapest entdeckte ich das Buch des ungarischen Historikers István Fodor, das sich mit der Frühgeschichte dieses asiatischen Reitervolkes und seines Zuges in die ungarische Tiefebene beschäftigt.

Ich war bis dahin zweimal in der Mongolei, nämlich 1984 und 1993. Seitdem hatte ich mich kaum mit der Situation dort beschäftigt. Aber die Mongolei war immer in meinem Hinterkopf. Als nun der Posten in Ulan Bator greifbar vor mir lag, wurden die Erinnerungen lebendig: Die Eisenbahnfahrt im Sommer 1984 von Peking durch die Gobi und die zentralen Steppen, das Umsetzen auf die Breitspur in Erenhot; die sowjetischen Truppen in ihren schweren, geländegängigen Lastwagen; die Weite des Landes und der hohe Himmel, aus dem mitunter Regenschauer niedergingen. 1989/90, fast gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der DDR, beseitigte eine friedliche Revolution in der Mongolei das kommunistische Regime. Also ein Grund, sich selbst zu überzeugen, wie es vor Ort aussah: Von Pjöngjang aus besuchte ich eine Kollegin in Ulan Bator im Frühjahr 1993 zusammen mit meiner Frau Angelika. An allen Ecken und Enden war zu sehen, wie schlecht es dem Lande wirtschaftlich ging, nachdem die Sowjetunion bzw. Russland die bisherige massive Unterstützung eingestellt hatte. Es war unverkennbar, dass sich das Land in einem radikalen Umbruch befand. Ein Ausdruck des Wandels waren die vielen aus Deutschland herangeschafften Autos, die noch mit ihren deutschen Zollkennzeichen durch die Hauptstadt kurvten.

Ich habe, als die Entscheidung anstand, keine Minute gezögert: Dieser Posten musste es sein! Ich war mir sicher: Wer in Russland und China auf Posten war, der hatte gute Chancen, sich in der Mongolei zurecht zu finden. Meine Besuche in der Mongolei hatten starke Eindrücke hinterlassen, ja, mich hatte eine Sehnsucht nach diesem weiten Land erfasst. Meine Erwartungen an einen interessanten und auch professionell herausfordernden Aufenthalt wurden nicht enttäuscht. Die Mongolei war auch ein Transformationsland. Sie hatte es geschafft, ganz anders als Russland, China und die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, Demokratie und Marktwirtschaft zu etablieren. In der Mongolei wiederholte sich die Geschichte nicht. Wer dort lebt, der ist frei von Bevormundung und Unterdrückung. Es gibt keine staatliche Repression, jeder kann seine Meinung frei äußern. Aber das System hat seine Fehler, auch schwerwiegende, die dringend korrigiert werden müssen. Der Bevölkerung, vor allem aber den Eliten, fehlt das wirkliche Verständnis von Demokratie. Die Demokratie läuft Gefahr, ein hohler Begriff zu werden. Allerdings kann sich ein demokratisches Verständnis nicht über Nacht entwickeln. Es ist ein langer Prozeß. Wir als Deutsche haben mit unserer eigenen Geschichte am wenigsten Grund, uns über derartige Defizite zu mokieren. Jedoch ist unverkennbar: Nach fast 30 Jahren benötigt die Mongolei tiefgreifende Reformen.

Ich traf in Ulan Bator Deutschland gegenüber ungewöhnlich aufgeschlossene Gesprächspartner auf allen Ebenen. Mit der Ausbildung zehntausender Mongolen, von denen fast alle fließend Deutsch sprechen, hatte die ehemalige DDR eine solide Basis gelegt, die in der bilateralen Zusammenarbeit bis heute weiter wirkt. Zwei günstige Umstände förderten meine Arbeit: Die Bundeskanzlerin stattete 2011 als erste deutsche Regierungschefin der Mongolei einen epochemachenden Besuch ab, und sechs Monate später kam Präsident Elbegdorj zum ersten Staatsbesuch eines mongolischen Präsidenten überhaupt nach Berlin. Leider musste ich die Mongolei nach zwei Jahren bereits verlassen: Das deutsche Beamtengesetz legt unerbittlich das Pensionsalter fest.

Der Beruf des Diplomaten ist mehr als ein Job: Er ist eine Lebensart. Kaum eine andere Profession greift so radikal in das Leben ein und bestimmt dieses Tag für Tag. Es geht nicht nur um die Zahl der wöchentlichen Arbeitsstunden. Es geht um mehr: Bei einer Versetzung wechselt man nicht nur den Ort, sondern auch die Sprache und die Kultur. Man muss sich in Menschen mit ganz unterschiedlichen Formen der Weltbetrachtung, der Lebensweise und anderen Bedürfnissen hineinversetzen. Dazu ist unabdingbar, sich mit der Geschichte seines Gastlandes zu beschäftigen. Die Geschichte bestimmt mehr als jedes andere die Gefühlslage, die Weltsicht und den Charakter eines Volkes. Diese Erkenntnis mag banal klingen, aber sie hat fundamentale Bedeutung. Man muss Geschichte vom Ende her denken, nämlich vom Heute. Geschichte gewinnt Bedeutung dadurch, dass man untersucht, welche Auswirkungen sie auf das Denken und Handeln der heutigen Generation hat, wie sie die aktuelle Situation beeinflusst. Die Geschichte verliert damit ihren akademischen Charakter, und man erkennt sie als mächtige Triebkraft des aktuellen Zustands.

Ich beziehe deshalb in meine Schilderungen auch die Geschichte eines Landes und die der bilateralen Beziehungen in ausgewählten Aspekten ein. Die geschichtlichen Erfahrungen, die immer wieder uminterpretiert werden, die kollektiven Bilder und Obsessionen, Mythen und Legenden bestimmen das heutige Leben. Besonders deutlich wird dies am Beispiel Sankt Petersburgs beziehungsweise Russlands, aber es gilt für jedes Land und jede Gesellschaft.

Jede Versetzung eröffnet einen anderen intellektuellen Bereich und eine neue Welt, in der kollektive Ideen, Erfahrungen und die Realität ihre eigenen Verbindungen eingehen und Denken und Handeln der Menschen bestimmen. Diese neue Welt muss ich als Diplomat zunächst einmal aus sich heraus verstehen und erklären. Nur so kann ich realitätsgerecht über mein Gastland berichten und mich im Kontakt mit den Repräsentanten dieses Landes adäquat bewegen und verhalten.

Es ist in diesem Zusammenhang ein fragwürdiger Ansatz, wenn man im Verhältnis zu Ländern mit anderer Kultur und Gesellschaftsverfassung unsere europäische Weltsicht und unsere Werte als universal und verbindlich setzt. Mit dem Schlagwort der „wertegeleiteten“ Außenpolitik läuft man Gefahr, die Position von „Werte-Imperialisten“ einzunehmen, die andere bekehren wollen. Diese Haltung versperrt den vorurteilsfreien Blick auf die Wirklichkeit und behindert eine an den Interessen des eigenen Landes orientierte Außenpolitik. Dabei gilt: Die Realität holt das Wunschdenken unweigerlich ein.

Der Dialog mit anderen Kulturen und Gesellschaften ist unverzichtbar. Jede Kultur ist weder per se gut noch per se schlecht. Aus meiner Sicht wird im Verhältnis zu anderen Staaten viel zu häufig mit unseren Werten und Überzeugungen als Grundlage politischen Handelns und der Zusammenarbeit argumentiert, wobei man nicht in Frage stellt, dass andere Gesellschaften und Kulturen diese für sich als allein verbindlich setzen müssen. Dies ist aber nicht der Fall. Und selbst wenn man dies erkennt, was für viele schwer genug ist, dann zieht man nicht die entsprechenden Folgerungen. Damit man mich nicht falsch versteht: Wir haben allen Grund, hinter unseren Werten zu stehen und sie zu verteidigen, und ich möchte in keiner Gesellschaft leben, die nicht auf diese Werte gründet. Aber die Welt ist vielgestaltig und hat sich in anderen Regionen und Kulturen anders entwickelt.

Für mich bestand Leben und Arbeit als Diplomat nicht nur aus der „großen Politik“. Ich hatte immer einen ethnologischen und sozialpsychologischen Blick auf mein Gastland und seine Menschen. Ich interessierte mich genauso für die Kleinigkeiten und die vielfältigen Aspekte des alltäglichen Lebens. Ich schreibe nicht nur über die politischen Zusammenhänge, die während meines jeweiligen Aufenthalts wichtig waren, sondern auch über Alltagsphänomene, die zum Verständnis des Landes und seiner Politik beitragen.

Ähnlich verhält es sich mit dem alltäglichen Leben des Diplomaten. In den Nachrichten tauchen Diplomaten fast nur in Verbindung mit großen politischen Ereignissen auf. Es ist die Rede von UN-Resolutionen, von großen Konferenzen und Feuerwehr-Reisen der Politiker. Alles hat dann einen glamourösen und zeitgeschichtlich bedeutsamen Charakter und nährt den Nimbus der Diplomaten als einer dem normalen Leben enthobener Funktionselite. Eine Funktionselite sind wir sicherlich, und unser Leben fällt aus den normalen Kategorien. Aber hinter den Nachrichten der Tagesschau und der „großen Politik“ besteht eine andere Welt, in der uns keineswegs alles in den Schoß gelegt wird und die nicht ins Scheinwerferlicht der Medien gerät. Ich spreche vom Leben in abgelegenen Regionen und unter schwierigen Bedingungen, was für die meisten meiner Posten gilt. Dies erfordert besondere Anpassungsleistungen und stellt spezielle Herausforderungen. Man führt dort nicht das Luxusleben, das viele mit dem Diplomatenberuf verbinden. Ich muss nicht extra betonen, dass mich Posten wie Paris, London oder Washington nicht besonders angezogen haben, wie dies für viele Kolleginnen und Kollegen gilt. Das ist das Schöne am diplomatischen Dienst: Er bietet eine große Bandbreite, und jeder findet etwas.

Meine Darstellung folgt nicht durchgängig meinem Lebenslauf. Er befindet sich am Ende des Buches, und ihn sollte man zuerst lesen, um einen Überblick über meine Lebensstationen zu erhalten. Über Nordkorea und die Kapverden habe ich mich ausführlich in früheren Büchern geäußert. Ich fasse mich deshalb, was diese beiden Länder betrifft, relativ kurz und beschränke mich auf Aspekte, die ich bisher nicht geschildert habe.

Die 11 Jahre, die ich in unterschiedlichen Stadien im Protokoll verbracht habe, behandle ich nur kurz. Anekdoten, Eindrücke und Erfahrungen aus dieser Zeit gäbe es genug. Sie wären ausreichend Stoff für ein eigenes Buch. An diesem Ort stelle ich lediglich einige allgemeine politische Zusammenhänge des Protokolls und die besonderen Anforderungen dieser Tätigkeit dar. Dies führt auch dazu, dass ich nicht meine Zeit als Protokollchef des Landes Brandenburg beschreibe, obwohl ich dabei interessante Einblicke bekommen und Erfahrungen gemacht habe, die ich nicht missen möchte.

Dieses Buch enthält viele Eigennamen aus verschiedenen Sprachen. Bei der deutschen Umschrift habe ich mich nicht an wissenschaftlichen Kriterien orientiert, sondern an der gebräuchlichen Schreibweise. Für das Kyrillische benutze ich die Duden-Umschrift, mit Ausnahme allgemein gebräuchlicher Bezeichnungen wie etwa Moskau statt Moskwa und Ulan Bator statt Ulaanbaatar. Russische Quellen sind in kyrillischer Schrift angegeben. Historische Daten habe ich überprüft.

Die Bilder stammen aus meinem privaten Archiv. Ich bin erst gegen 2008 zur digitalen Fotografie gewechselt. Der Unterschied zwischen analoger und digitaler Fotografie ist unverkennbar. Die Fotografien aus der „vordigitalen Zeit“ sind weicher gezeichnet und nicht immer so scharf wie die digitalen. Die Bilder sind Originale aus den Jahren, an denen ich vor Ort war. Handelt es sich um Aufnahmen aus neuerer Zeit, dann habe ich es vermerkt.

Ich werde immer wieder gefragt, welches Land mir am besten gefallen hat. Meine Posten gelten durchweg als besonders schwierig und belastend. Nach Meinung vieler muss man ein seltsamer Kauz sein, solche Versetzungen anzunehmen. Meine Frau hat hierzu eine „Erklärung“ parat. Wenn sie gefragt wird, meist nur halb im Scherz, was sie eigentlich falsch gemacht habe, dass sie in „solche Länder“ wie Nordkorea und Turkmenistan versetzt wurde, dann bemerkt sie, sie habe immer Posten bevorzugt, auf denen sie für ihr Essen kämpfen musste.

Ich habe keine wirklichen Favoriten. Jedes Land, jeder Posten hatte seine speziellen Herausforderungen und Besonderheiten. Ich bin an jede neue Aufgabe mit Elan, Energie, Neugier und einer positiven Haltung heran gegangen. Die schwierigsten Länder waren durchweg die interessantesten, ohne mich festlegen zu wollen, was die schwierigsten waren. Denn auch die Probleme haben in jedem Land ihren eigenen Charakter. Dabei geht es nicht darum, ob es Vollkornbrot oder Nutella gibt. Das sind Kleinigkeiten. Schwierigkeiten ergeben sich eher aus der unterschiedlichen Kultur, der Geschichte und Denkweise der Menschen des Landes, in dem man lebt, und wie man mit diesen Unterschieden umgeht. Am wichtigsten ist die Bereitschaft, sich auf ein Land einzulassen, bescheiden zu sein und sein Gegenüber zu respektieren. Die Erfahrung zeigt allerdings auch: Es gibt Länder und Gesellschaften, die „liegen“ dem einen mehr, und dem anderen weniger. Rational kann man das nicht erklären. Es ist eine Gefühlssache und hängt ab von der eigenen Persönlichkeit. Meine Posten haben mir alle zugesagt, und keiner war eine Belastung.

Das Leben als Diplomat kann nur dann gelingen, wenn man einen kongenialen Partner hat, dem das Reisen, das Nomadenleben und der immer neue Anfang unter anderen Bedingungen keine Last ist, sondern Lust und Antrieb. Angelika hat diese Qualitäten in 25 Jahren, die wir gemeinsam auf Posten waren, unter Beweis gestellt. Als Angestellte des AA hat sie an den Vertretungen mit mir zusammen gearbeitet. Für uns beide war es die zweite Ehe. Es war die richtige Entscheidung. Angelika war in all diesen Jahren nicht nur Partnerin, sondern auch Mitarbeiterin, manchmal direkt, manchmal weniger eng. Sie hatte immer Spaß an der Arbeit und Interesse an neuen Herausforderungen. Es war eine Freude, mit ihr die Welt zu erkunden, dienstlich und privat. Sie nennt mich „Hase“, und dieser Hase flog weit.


1 Grundlage dieser Einleitung ist ein Artikel aus dem Jahre 2014, den ich erweitert und angepasst habe: Schaller, Peter: Die Mongolei aus Sicht eines Ost-West-Pendlers. In: Mongolische Notizen. Mitteilungen der Deutsch-Mongolischen Gesellschaft, Nr. 22/2014, S. 91-97.

2 Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994.

3 Schaller, Peter: Nordkorea. Ein Land im Banne der Kims. Böblingen: Anita Tykve Verlag 1994. Zweite Auflage: Berlin: Anita Tykve Verlag 2003. Übersetzung ins Koreanische (mit vielen Abbildungen): Seoul 1994.

4 Schaller, Peter: In undurchdringlichen Schleiern. Diplomatische Erkundungsräume. In: Moeskes, Christoph (Hrsg.): Nordkorea. Einblicke in ein rätselhaftes Land. Berlin: Ch. Links Verlag 2004.

5 Schaller, Peter: Entdeckung für Andersreisende: die Kapverdischen Inseln. Impressionen vom Grünen Kap. Berlin: Frieling 2002.

6Wie z.B.Wiesner, Joseph u.a.: Die Kulturen der eurasischen Völker. In: Handbuch der Kulturgeschichte. Zweite Abteilung. Kulturen der Völker. Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion 1968.

ERSTER EINSATZ IN TOGO - LOMÉ 1981

Geheimnisvolles Lomé

Das Flugzeug nach Lomé, die Hauptstadt von Togo, hätte ich fast verpasst. Ich hatte den Zug von Bonn nach Amsterdam selbst ausgewählt. Aber während der Fahrt wurde mir deutlich, dass es knapp werden könnte. Die Umsteigezeit war gefährlich kurz. In Amsterdam hastete ich mit meinem umfangreichen Gepäck vom Bahnsteig zum Abfertigungsschalter. Dort wollte man mich abweisen: Ich sei zu spät. Ich protestierte und fuchtelte mit meinem blauen Diplomatenpass. Man ließ mich durch. Ich erreichte das Gate schweißgebadet und abgekämpft, empfangen von aufgeregt winkendem KLM-Personal, das mich zur Eile antrieb. In letzter Sekunde stürmte ich in die Kabine und fiel in meinen Sitz. Es wäre eine ziemliche Blamage gewesen, wenn ich den Flug nicht geschafft hätte: Der erste Auslandseinsatz, begonnen mit einem Reinfall. Das hätte nicht gut ausgesehen.

Die KLM-Maschine machte Zwischenlandung in Kano, einer Stadt, die südlich der Sahelzone im Norden Nigerias liegt. Als sich die Flugzeugtüren öffneten, drang ein Schwall heißer Luft in die Kabine. Die grau-braune Umgebung war karg. Staub war überall. Es war April: Die Trockenzeit war noch voll im Gange. Mit der Zwischenlandung in Kano hatte ich den allergrößten Teil des langen Fluges hinter mir. Lomé war nur noch 1000 Kilometer Luftlinie entfernt. Beim Landeanflug auf mein Ziel, es war mittlerweile gegen 22.00 Uhr, fiel mir auf, wie dunkel die unter mir liegende Stadt war. Die Straßenbeleuchtung war sehr spärlich. Überall bemerkte ich kleine Feuer zwischen den niedrigen, unansehnlichen Häusern. Die Feuer erfüllten die Stadt mit einer seltsamen Atmosphäre, als ob dort Nomaden oder Soldaten lagerten.