Yorck Wurms

Der schwarze Stiefel

„Die Geschichte ist nicht brutal, sie ist traurig.

Ich mag keine traurigen Geschichten.“

Youri, mein 11-jähriger Sohn (2019)

Wir wollen unsere Kinder vor dem Meer der Traurigkeit des Lebens behüten. Doch es wird uns nicht gelingen. Bleibt aber auch nur ein Hoffnungsschimmer am Ende, so lohnt es sich zu leben und zu kämpfen.

1. Das Spielschiff

Ein kleines Holzschiff schwamm in der braunen Pfütze, gesteuert von einem kleinen Jungen inmitten des geschäftigen Markttreibens. Es war Sonntag, und wie jeden Sonntag war der Platz vor der St.-Josefs- Kirche gefüllt mit Marktständen und mit Menschen. Die Luft war voll von Lärm, Rauch und Düften. Die Menschen kamen von irgendwo her oder mussten irgendwo hin, die Kaufleute boten ihre Ware feil, Zeit hatte keiner. Unbeeindruckt von diesem Treiben kniete der kleine Junge zwischen den geschäftig umherlaufenden Menschen, steuerte sein Schiff mit dem Zeigefinger durch die Pfütze, die für ihn nichts Geringeres als alle sieben Meere war. Über eine Woche hatte er gebraucht, sein einziges Spielzeug zu basteln. Seine Eltern besaßen nichts. Sein Vater konnte nur Holzschuhe schnitzen, die aber kaum jemand kaufte, und die Mutter band Besen aus Reisig, für die sich auch nur selten Käufer finden ließen.

Ein schwarzer Stiefel kommt aus der Höhe der Luft, tritt unaufhaltsam in die Pfütze und zermalmt das Schiff unter sich. Bevor der kleine Junge etwas sagen kann, ist der Stiefel auch schon wieder weg, lässt ein in Einzelteile zerlegtes Schiff zurück. Der Junge verliert keine Sekunde und rennt dem schwarzen Stiefel hinterher. Doch Beine, Röcke, Wagen und Pferde verstellen ihm den Weg. Er muss um alles herumrennen. Keiner weicht ihm aus. Er ist zu klein, um wahrgenommen zu werden. Den schwarzen Stiefeln hingegen wird der Weg freigemacht. Genau diese haben jedoch seinen Traum vom Meer zerstört. Dies darf nicht unbestraft bleiben. Er rennt, fällt hin, steht wieder auf, erhascht wieder einen Blick, und plötzlich hat er freie Sicht. Er hat das Marktgedränge verlassen und findet sich vor der Freitreppe der Kirche wieder. Fast hätte er sich einen Moment zu lange an dem schönen Bild erfreut. Dann sieht er wieder die schwarzen Stiefel hinter dem Portal der Kirche verschwinden. Der kleine Junge rennt die Kirchentreppe nach oben, in Richtung Pforte. Wenn er kann, nimmt er zwei Stufen auf einmal, er muss am Portal sein, bevor es zufällt, denn aus eigener Kraft kann er die schweren Eichentüren nicht öffnen. Im letzten Augenblick gelingt es ihm, sich durch den sich schließenden Spalt hindurchzuzwängen.

2. Der Kirchenmord

Er kennt die Kirche nur von den Festtagsgottesdiensten, dann ist sie immer bis auf den letzten Platz besetzt und die Kinder müssen alle stehen. Nun ist sie leer, ungehindert kann er zum Altar schauen. Noch nie hat er die goldene Marienstatue so klar gesehen. Aber nur für einen kurzen Augenblick, denn ganz instinktiv duckt er sich. Vielleicht besser, dass ich nicht gesehen werde, denkt er. Er legt sich flach auf den kühlen Steinboden und sieht einige Bankreihen vor sich die schwarzen Stiefel stehen. Er ist schmal genug, dass er unter den Bänken durchrutschen kann. Er will näher an die schwarzen Stiefel heran. Er robbt sich ganz langsam, fast ohne zu atmen unter den Bänken hindurch. Außer dem leisen Geräusch seines Atems hört er nichts. Er befürchtet, sein Luftholen sei so laut, dass er entdeckt werden könnte, und hält inne. Die schwarzen Stiefel stehen vielleicht noch zwei Meter von ihm entfernt im Gang und rühren sich nicht. Die Stiefel sind so gut poliert, dass er meint, sein Gesicht spiegele sich in ihnen. Dann hört er ein leises Schlurfen. Das Geräusch muss von hinter dem Altar her kommen. Es wird langsam lauter, immer lauter. Immer näher kommt es und dann herrscht plötzlich wieder vollkommene Stille. Vor den schwarzen Stiefeln stehen nun ein Paar Sandalen, die Füße fast etwas zu dick für die Lederschnallen, die dem Träger ins Fleisch schneiden. Über den Knöcheln beginnt eine weiße Kutte. „Gut, beeilen wir uns, es darf uns niemand zusammen sehen. Aber Ihr seid keine bischöfliche Wache, denn diese tragen braune Stiefel.“ Stille. Der Junge hält den Atem an, so groß ist seine Angst, entdeckt zu werden. Dann erschrickt er, denn er glaubt, seinen Atem zu hören, erst ein ganz leises Zischen, dann ein lauter werdendes Röcheln. Nein, das ist nicht sein Atem. Das Röcheln wird zu einem Schnappen, zu einem Würgen, es wird lauter, ein ekelhaftes Geräusch, das er bisher nur vom Abstechen eines Schweines kannte. Dann sieht er, wie sich auf der weißen Kutte ein rotes Rinnsal den Weg nach unten bahnt. Wenige Augenblicke später wird es fast zum Strom. Noch ein lautes Würgen, das durch das Schnittgeräusch eines Messers beendet wird, und ein dumpfer Knall. Zwei nach oben gedrehte Augen starren den Jungen unter der Bank an. Der kleine Junge erschrickt wieder, befürchtet, dass ihn jemand entdeckt hat. Aber er sieht den aufgeschlitzten Hals, aus dem die zerschnittene Luftröhre herausragt und sich ein langsam abebbender Blutstrom ergießt. Nein, diese Augen konnten niemanden mehr entdecken. Die tödliche Stille wird durch das Zufallen der Pforte beendet. Der kleine Junge weiß, dass ihn hier niemand sehen sollte. Er richtet sich auf, kann aber seine Augen nicht von dem zerfleischten Hals losreißen. Dann wird er gewahr, dass neben der ausgestreckten Hand des Entstellten ein kleiner Geldsack liegt. Ohne nachzudenken, nimmt er ihn und rennt zu dem geschlossenen Tor. Zum Glück ist es nicht richtig ins Schloss gefallen. Er tritt hinaus ans Tageslicht und atmet die Luft einer anderen Welt.

3. Der Weg nach Hause

Der Marktplatz ist schon leerer geworden. Nur noch wenige Menschen laufen zwischen den Ständen umher. Die, die jetzt noch da sind, zählen zumeist zu den Armen, die auf Almosen und Abfälle hoffen. Der kleine Junge rennt zum Stand seiner Eltern. Der Vater ist schon dabei, alles auf seinen Karren zu laden. Der kleine Junge erkennt sofort, dass der Vater nicht viel verkauft hat, denn der Karren ist fast genauso voll wie am Morgen, als sie gekommen waren. Die Mutter rollt das bunte Zeltdach zusammen. Der Vater schaut den kleinen Jungen vorwurfsvoll an: „Wo warst Du? In einer halben Stunde müssen wir das Tor passiert haben!“ Der Junge weiß das, denn die Marktsteuer galt nur für den Vormittag; sollten sie zu spät kommen, dann müssten sie nochmals bezahlen. Aber so viel Geld hatten sie nicht. Der kleine Junge wirft noch die Holzstange vom Stand auf den Karren, und dann ist auch schon alles gepackt. Der Vater ist ihm wieder wohlgesonnen. „Willst Du wieder wie ein kleiner Prinz oben auf dem Wagen sitzen?“ Natürlich! Dies war einer der wenigen Freuden, die sein Vater ihm machen konnte. Er klettert auf den Wagen, von wo aus er auch wieder die Kirche sieht. Fast vergisst er, was sich vor nicht einmal einer Stunde ereignet hat. Er hört die Stimme des Torwächters. „Habt Ihr Steuern zu entrichten?“ Der Vater zuckt mit den Schultern „Nein, ich habe nur zwei Kreuzer eingenommen“. Erst ab einem Taler muss man den Zehnten abgeben. Der kleine Geldsack, den der Junge in seiner Tasche hat, wird ihm auf einmal ganz schwer. Die Eltern schieben den Karren durch das Tor. Dunkle Wolken ziehen auf, ein Regenguss kündigt sich an, der Wind frischt auf. Die Räder knarren. Der kleine Junge weiß, gleich muss er abspringen, denn sie verlassen die gepflasterte Straße. Der Matschweg fing an. Sie lebten in einer Behausung am Rande des Waldes. Um sie herum weitere, ebenso armselige Unterkünfte wie die ihre. Alle armen Leute, die nicht das Geld hatten, in der Stadt zu leben, und deren Leben keinerlei Bedeutung hatte, noch nicht einmal für sie selbst, bauten sich dort aus Brettern und Steinen Verschläge. Für diese hätte die Bezeichnung Hütte schon auf einen viel zu großen Luxus schließen lassen. Es gab niemanden, der sich um sie kümmerte. Für die Städter waren die „Wäldler“, so nannte man sie, bedeutungslos. Nutzloses Pack, zu nichts zu gebrauchen, keinen Taler wert. Daher war der Weg auch nicht gepflastert und meist verschlammt.

Der kleine Junge hat sich indessen unter der Eckbank verkrochen, dies ist sein Platz. Keiner sieht ihn, er ist mit sich und seinen Träumen allein. Und wenn es regnet, dann ist dies auch noch die einzige trockene Stelle. Da fühlt er wieder den Sack in seiner Tasche, er hatte ihn ganz vergessen gehabt. Er drückt ihn. Er nimmt ihn in seine Hände, öffnet den Knoten und sieht dann die Münzen. Sie sind nicht aus Kupfer wie die einzigen Münzen, die er kannte. Nein, es glänzen andere Farben; ob es Silber oder sogar Gold istr, kann er nicht sagen. Er weiß sofort, dass er diese seinen Eltern nicht zeigen kann. Aber wohin damit? In seiner Hosentasche konnten sie jedenfalls nicht bleiben. An der Bank ist ein Astloch, gerade groß genug für den Beutel. Er drückt ihn hinein und klebt das Loch mit einem Stück Lehm zu. Niemand würde ihn dort finden, aber es gab auch niemanden, der ihn da suchen würde.