Die letzten Tage von Peking

 

Ankunft im Gelben Meer

Montag, 24. September 1900

Morgengrauen bei stiller See unter dem Sternenhimmel. Ein schwacher Schein im Osten kündet das Nahen des Tages, noch aber ist es Nacht. Die Luft ist lau und leicht . . . Sind wir im nordischen Sommer oder im Winter der warmen Zonen? Nichts in Sicht, kein Land, kein Leuchtfeuer, kein Segel; nirgends ein Anhaltspunkt für die Örtlichkeit: eine Meereseinsamkeit bei idealem Wetter, in geheimnisvoll unbestimmter Dämmerung.

Lautlos fährt der große Panzer dahin, mit absichtlicher Langsamkeit, mit kaum laufender Maschine – wie ein Leviathan, der sich verstellt, um zu überlisten.

Etwa fünftausend Seemeilen hat er zurückgelegt, beinahe ohne zu verschnaufen. Stets hat seine Schraube 48 Drehungen in der Minute ausgeführt, und ohne irgendwelche Havarien und Schäden an seinem kräftigen Räderwerk hat er in einem Zuge die längste und schnellste Fahrt gemacht, die je ein Ungeheuer seines Umfanges vollbrachte, und mit dieser Kraftprobe andere, wegen ihrer Schnelligkeit berühmte Schiffe geschlagen, die man auf den ersten Blick für überlegen gehalten hätte.

Heute Morgen langt er am Ziel seiner Reise an. Er ist im Begriff, einen Punkt der Erde zu erreichen, dessen Name gestern noch gleichgültig war, auf den jetzt aber die Augen ganz Europas gerichtet sind. Dies Meer, das sich so ruhig aufzuhellen beginnt, ist das Gelbe Meer, der Golf von Petschili, der Zugang nach Peking. Und eine ungeheure, schon versammelte Kriegsflotte muss hier ganz nahe ankern, wenn auch noch nichts ihre Nähe verrät.

Seit zwei bis drei Tagen fahren wir bei schönstem Septemberwetter durch dies Gelbe Meer. Gestern und vorgestern kreuzten Dschunken mit geflochtenen Segeln auf der Fahrt nach Korea unseren Kurs; auch Küsten und Inseln sind näher oder ferner aufgetaucht; im Augenblick aber ist der Himmelskreis ringsum leer.

Seit Mitternacht fahren wir mit verminderter Geschwindigkeit, damit unsere Ankunft bei dem Geschwader, das uns mit dem üblichen militärischen Gepränge empfangen wird, nicht in zu früher Morgenstunde erfolgt.

Fünf Uhr. In der noch herrschenden Dämmerung erschallt die Reveille, der helle Klang der Trompeten, die allmorgendlich die Matrosen wecken. Es ist eine Stunde früher als sonst, damit genug Zeit für das Reinigen des Panzerschiffes bleibt, dessen Aussehen durch die fünfundvierzig Tage Seefahrt etwas gelitten hat. Noch immer ist nichts zu sehen, als der weite leere Raum; aber die Wache hoch oben im Mastkorb meldet schwarze Rauchstreifen am Horizont – und diese kleine, von unten kaum bemerkbare Wolke zeigt die Gegenwart gewaltiger Wesen an; sie entströmt großen Panzerschiffen; sie ist gleichsam der Atem dieses Geschwaders ohnegleichen, dem wir uns anschließen sollen.

Erst das Waschen der Mannschaft vor der des Fahrzeuges: barfuß, mit entblößtem Oberkörper, übergießen sich die Matrosen mit Wasser in dem aufgehenden Morgen. Trotz der dauernden Überanstrengung sind sie gar nicht ermüdet, ebenso wenig wie das Schiff, das sie trägt. Der »Redoutable« ist übrigens von all den über Hals und Kopf abgegangenen Schiffen das einzige, das während seiner Fahrt durch die erstickende Schwüle des Roten Meeres weder Tote noch Schwerkranke gehabt hat.

Jetzt geht die Sonne über dem Meeresrand auf, eine gelbe Scheibe, die langsam hinter den leblosen Gewässern aufsteigt. Für uns, die soeben die Äquatorialgegend verließen, hat dieser Sonnenaufgang, so strahlend er ist, etwas Schwermütiges und schon Trübes, das an den Herbst und die nordischen Himmelsstriche gemahnt. Wirklich, die Sonne ist während der letzten zwei bis drei Tage verändert, sie brennt nicht mehr, sie ist nicht mehr gefährlich, man braucht sie nicht mehr zu fürchten.

Dort vor uns, in äußerster Ferne, hinter der rußigen Wolke, tauchen jetzt Dinge auf, die nur das Auge des Seemannes erkennt: es ist gleichsam ein Wald von Stangen, am Ende, ganz am Ende des weiten Raumes, beinahe noch jenseits des Gesichtskreises. Und wir wissen, was das ist: riesige Schlote, schweres Kriegsmastwerk, die furchtbare eiserne Rüstung, die nebst dem Rauch schon von weitem ein modernes Geschwader verrät.

Wir haben unsere große Morgenwäsche beendet, und die mit Seewasser gefüllten, von kräftigen Armen geschwungenen Eimer überschwemmen nicht mehr das ganze Deck. Der »Redoutable« ist jetzt wieder in voller Fahrt (die mittlere Geschwindigkeit von 11½ Knoten, die er seit seiner Abfahrt von Frankreich gehabt hat). Und während die Matrosen emsig seinen Stahl und Messing putzen, zieht er von neuem seine tiefe Furche durch das ruhige Meer.

Aus den Rauchwolken am Horizont lösen sich Gegenstände ab und nehmen bestimmte Gestalt an; unterhalb der zahllosen Maste erscheinen Massen von jeder Form und Farbe – die Schiffe. Zwischen dem ruhigen Wasser und dem bleichen Himmel taucht die ganz furchtbare Gesellschaft auf, eine Vereinigung seltsamer Ungetüme, die einen weiß und gelb, die anderen schwarz und weiß, wieder andere schlamm- oder nebelfarben, um weniger aufzufallen; runde Buckel, halb ins Wasser tauchende tückische Flanken, unheimliche Schildkrötenschalen von wechselnder Bauart, je nach der Art, wie die verschiedenen Staaten ihre Zerstörungsmaschinen konstruieren, aber alle speien gleichmäßig den abscheulichen Steinkohlenrauch aus, der das Morgenlicht trübt.

Noch immer sieht man nichts von der chinesischen Küste, als wären wir von ihr noch tausend Meilen entfernt, oder als wäre sie gar nicht vorhanden. Und doch liegt hier Taku, der Sammelpunkt, auf den sich seit so vielen Tagen unsere Gedanken richten. Und da liegt ganz nahe, wenn auch unsichtbar, China, das durch seine ungeheure Nachbarschaft diese Herde von Beutetieren anzieht und sie auf diesem bestimmten, bedeutungslosen Punkte des Meeres festhält.

Hier, wo das Meer schon weniger tief ist, hat es auch sein schönes Blau verloren, an das wir uns so lange gewöhnt hatten. Es wird trüb, gelblich, und der Himmel, wenn auch ohne Wolken, ist entschieden trübe. Übrigens geht dieser düstere Eindruck beim ersten Anblick von der ganzen Umgebung aus, in der wir jetzt gewiss für lange Zeit bleiben werden . . .

Doch beim Näherkommen verändert sich alles, je höher die Sonne steigt, je deutlicher die schönen glänzenden Panzer mit den vielfarbigen Kriegsflaggen hervortreten. Fürwahr, es ist ein großartiges Geschwader, das hier Europa repräsentiert, Europa in Waffen gegen das alte finstere China. Es nimmt einen unendlichen Raum ein; wo man hinblickt, scheint der Horizont von Schiffen erfüllt. Boote und Dampfbarkassen tummeln sich wie ein kleines geschäftiges Volk zwischen den großen, unbeweglich daliegenden Schiffen.

Jetzt ertönen von allen Seiten Kanonenschüsse als militärischer Willkommensgruß für unsern Admiral; unter dem Schleier des dunklen Rauches sieht man den lichten Pulverdampf in hellen Garben aufsteigen und sich in weiße Flocken lösen; uns zu Ehren steigen und sinken dreifarbige Flaggen an all den eisernen Masten hinauf und hinab; überall schmettern Trompeten, und die fremden Musikkapellen spielen unsere Marseillaise. Ja, man berauscht sich ein wenig an diesem Zeremoniell, das stets das gleiche ist, aber stets imposant, und das hier angesichts der Entfaltung dieser Flotten ungewohnt prächtig wirkt.

Endlich ist die Sonne völlig erwacht. Sie strahlt und gibt uns für unseren Ankunftstag zum letzten Mal die Illusion des vollen Sommers, in diesem Lande mit seinem schroffen Gegensatz der Jahreszeiten, das in kaum zwei Monaten für einen langen Winter zu Eis erstarren wird.

Als es Abend wird, ergötzen sich unsere Augen zum ersten Mal an dem feenhaften Schauspiel, das die Geschwader bieten. Von allen Seiten flammen plötzlich elektrische Lichter auf, weiß, grün, rot, blitzend oder von blendendem Glanz; die Panzer halten durch spielende Lichter Zwiesprache miteinander, und das Wasser strahlt tausende von Signalen, tausende von Feuern zurück, indes die langen Garben der Scheinwerfer den Horizont bestreichen oder wie toll gewordene Kometen zum Himmel steigen. Unter diesen Phantasmagorien vergisst man alles, was die schreckensvollen Flanken an Zerstörung und Mord brüten; man glaubt sich für einen Augenblick in eine riesengroße, wunderbare Stadt versetzt, mit Türmen, Minaretten und Palästen, die aus Laune für kurze Zeit in dieser Meeresgegend errichtet wäre, um ein ungeheures Nachtfest zu feiern.

 
25. September

Es ist erst der zweite Tag, und doch gleicht schon nichts mehr dem Gestern. Seit dem Morgen weht eine Brise – kaum eine Brise, gerade stark genug, um die großen, dunklen Rauchstreifen auf das Meer zu drücken, und schon kräuseln sich die Wellen auf dieser offenen, wenig tiefen Reede, und die kleinen Fahrzeuge tanzen in fortwährendem Hin und Her, von Staubregen übersprüht.

Da naht langsam aus der Tiefe des Horizonts ein Riesenschiff in deutschen Farben, geradeso wie wir gestern: sofort erkennt man die »Hertha«, die den letzten der zu diesem Treffpunkt der verbündeten Mächte erwarteten Befehlshaber, den Feldmarschall Graf Waldersee, an Bord hat. Für ihn beginnen von neuem die Salven, die uns gestern empfangen hatten, und das ganze prunkhafte Zeremoniell; wieder speien die Kanonen ihre Wolken, mischen weiße Watteflocken in den schwarzen Rauch, und die deutsche Nationalhymne, von sämtlichen Kapellen wiederholt, verfliegt in dem auffrischenden Winde.

Immer stärker weht er, stärker und kälter, ein garstiger Herbstwind, der die Schaluppen und Barkassen umherwirft, die gestern so gemächlich zwischen den Gruppen des Geschwaders dahinfuhren.

Und das kündet uns traurige und schwierige Tage, denn auf dieser unsicheren Reede, die in einer einzigen Stunde gefahrbringend wird, müssen wir tausende von Soldaten und tausende Tonnen von Kriegsmaterial ausschiffen; so viele Menschen und Dinge müssen bei dieser bewegten See in Booten und Kähnen, bei eisigem Wetter, selbst bei dunkler Nacht gesteuert und über die wechselnde Sandbank nach Taku gebracht werden.

Diese ganze gefahrvolle und endlose Beförderung zu organisieren, wird besonders während der nächsten Monate unsere, der Seeleute, Aufgabe sein – eine harte, erschöpfende Arbeit, die im Verborgenen bleibt, ohne sichtbaren Ruhm . . .

In Ning-hai

3. Oktober 1900

In der Tiefe des Golfes von Petschili dehnt sich der Strand von Ning-hai in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Zu Füßen eines großen Forts, dessen Kanonen stumm bleiben, liegen mit dem Vorderteil im Ufersand Schaluppen, Avisos, Flachboote und Dschunken, aus denen Soldaten und Kriegsmaterial ausgeschifft werden. An diesem Strande herrscht ein Wirrwarr, eine babylonische Verwirrung, wie sie bisher zu keiner Zeit gesehen ward; vom Topp dieser Fahrzeuge, aus denen so viele Menschen steigen, flattern alle Farben Europas durcheinander.

Das Ufer ist mit Birken und Weiden bewachsen, und in der Ferne ragen die Gipfel eigentümlich geformter Berge in den klaren Himmel. Überall Bäume des Nordens, ein Zeichen, dass dies Land eisige Winter hat; und dennoch brennt schon die Morgensonne, die Berggipfel dort sind in wunderbares Violett getaucht, das Licht strahlt wie in der Provence.

Was gibt es nicht alles auf diesem Strande zwischen den hastig zur Verteidigung aufgeschichteten Sandsäcken! Man sieht Kosaken, Österreicher, Deutsche, englische Midshipmen neben unserer Marine-Infanterie; kleine japanische Soldaten, deren gute militärische Haltung in ihren neuen europäisch geschnittenen Uniformen auffällt; blonde Damen vom russischen Roten Kreuz, mit dem Auspacken von Lazarettmaterial beschäftigt; Bersaglieri aus Neapel, die ihre Hahnenfedern auf die Tropenhelme gesteckt haben.

Wirklich, in diesen Bergen, in dieser Sonne, in dieser Klarheit der Luft liegt etwas von unseren mittelländischen Küsten an schönen Herbstmorgen. Aber dort, ganz nahe, erhebt sich aus den Bäumen ein altersgraues Gebäude von wunderlicher, geschweifter Form, mit Drachen und Ungeheuern gespickt: eine Pagode. Und über die fernen Berge zieht sich in Schlangenwindungen eine endlose Befestigungslinie und verliert sich hinter den Gipfeln: die große chinesische Mauer, die Grenze gegen die Mandschurei.

Die Soldaten, die barfuß in den Sand springen und sich in allen Sprachen lustig anrufen, machen einen vergnügten Eindruck. Das, was sie heute tun, nennt man eine »friedliche Besitzergreifung«; man möchte an ein Fest allgemeiner Verbrüderung, allgemeiner Eintracht denken – während doch im Gegenteil, nicht weit von hier, in der Richtung nach Tientsin und Peking, alles in Trümmern liegt und mit Leichen besät ist.

Die Notwendigkeit der Besetzung Ning-hais, um es im Bedarfsfall zur Verpflegungsbasis des Expeditionskorps zu benützen, hatte sich den Admiralen des internationalen Geschwaders aufgedrängt, und vorgestern wurde auf allen unseren Schiffen klar zum Gefecht gemacht, denn es war bekannt, dass die Küstenforts vollkommen armiert sind. Als jedoch die hiesigen Chinesen durch einen Parlamentär erfuhren, dass eine gewaltige Anzahl von Panzern bei Tagesanbruch erscheinen würde, hatten sie es vorgezogen, den Platz zu räumen, und so fanden wir bei unserer Ankunft ein verlassenes Land.

Das Fort, das diese Küste beherrscht und den Endpunkt der großen Mauer gegen das Meer bildet, wurde als »international« erklärt.

So flattern denn dort auf hohen, von Ehrenwachen gehüteten Masten gemeinsam die Flaggen der sieben verbündeten Nationen, dem Alphabet nach geordnet: Deutschland, England, Frankreich, Italien, Japan, Österreich, Russland.

In die übrigen, über die Anhöhen der Umgebung zerstreuten Forts hat man sich dann geteilt. Das den Franzosen zugefallene liegt etwa eine Seemeile vom Ufer entfernt. Zu ihm führt eine sandige Straße, von zart belaubten Birken und Weiden eingefasst, an Gärten und Obstgärten vorbei, über die der Herbst sein Gelb gebreitet hat, genau wie bei uns. Übrigens gleichen sie auch sonst den unsrigen mit ihren bescheidenen Kohlbeeten, ihren Kürbissen und geradlinigen Salatreihen. Auch die weinumrankten Holzhäuschen, die hier und da zwischen den Bäumen hervorlugen, mit ihren Dächern aus runden Ziegeln, den kleinen Beeten von Zinnien, Astern und Chrysanthemen, wirken wie eine Nachahmung unserer Bauernhäuser . . . Dörfer, die gewiss ruhig und glücklich waren, aber seit zwei Tagen, bei dem Nahen der Eindringlinge aus Europa, von ihren erschreckten Bewohnern verlassen wurden.

An diesem frischen Oktobermorgen begegnen sich Matrosen und Soldaten aller Nationen auf der schattigen Straße, die zum Fort der Franzosen führt. Voller Freude, auf Entdeckungen auszugehen, sich im eroberten Lande zu tummeln, jagen sie emsig Hühner und rauben in den Gärten Salat und Birnen. Russen räumen aus einer Pagode die Buddhastatuen und vergoldeten Vasen aus. Engländer treiben auf den Feldern gefangene Rinder mit Stockschlägen ein. Dalmatinische und japanische Matrosen, seit einer Stunde eng befreundet, waschen sich gemeinsam am Ufer eines Baches. Und zwei Bersaglieri, die einen kleinen Esel erwischt haben, schütteln sich vor Lachen, während sie zusammen auf ihm davonreiten.

Indessen dauert der traurige Auszug des chinesischen Landvolkes, der gestern begonnen hat, fort; trotz der ausdrücklichen Zusage, dass niemandem ein Leid geschehen würde, fühlen sich die Zurückgebliebenen dem Feinde zu nahe und ziehen die Flucht vor. Ganze Familien wandern gesenkten Hauptes davon: Männer, Frauen, Kinder, alle in den gleichen Kleidern aus blauer Baumwolle, alle mit ihren Habseligkeiten beladen. Selbst die Kleinsten schleppen Bündel und tragen ihre kleinen Kopfkissen und Matratzen ergebungsvoll fort.

Und dort spielt sich eine herzzerreißende Szene ab. Eine alte Chinesin, uralt, vielleicht hundertjährig, die sich kaum mehr auf den Beinen halten kann, zieht fort, Gott weiß wohin, aus ihrem Hause vertrieben, in dem sich ein deutscher Posten einrichtet; sie schleppt sich dahin, gestützt von zwei jungen Burschen, wahrscheinlich ihren Enkeln, die ihr nach Kräften helfen, mit zärtlichen Blicken und unendlicher Ehrerbietung. Sie scheint uns gar nicht zu sehen, als hätte sie von niemandem mehr etwas zu erwarten. So geht sie langsam an uns vorüber, mit dem Ausdruck der Verzweiflung, des tiefsten und hilflosesten Jammers in ihrem armen Gesicht, – während die Soldaten hinter ihr lachend die bescheidenen Bilder ihres Ahnenaltars aus dem Hause werfen. Und die schöne Sonne dieses Herbstmorgens bescheint ruhig ihr kleines wohlgepflegtes Gärtchen, in dem Zinnien und Astern blühen . . .

Das den Franzosen zugeteilte Fort hat beinahe den Umfang einer Stadt mit all ihrem Zubehör, den Wohnungen der Mandarine und Soldaten, den Elektrizitätswerken, Ställen und Pulverkammern. Trotz der Drachen, die das Tor schmücken, und trotz des krallenbewehrten Ungeheuers, das vor dem Eingang auf eine Steinplatte gemalt ist, ist das Fort nach den neuesten Regeln erbaut, betoniert, mit Kasematten versehen und mit Kruppschen Kanonen neusten Systems ausgerüstet. Zum Unglück für die Chinesen, die rings um Ning-hai gewaltige Verteidigungswerke mit Minen, Torpedos, Flatterminen und verschanzten Lagern errichtet hatten, war nichts fertig geworden; die Bewegung gegen die Fremden war um sechs Monate zu früh ausgebrochen, bevor noch die von Europa an Li-Hung-Tschang verkauften Geschütze eingebaut waren.

Tausend Zuaven, die morgen landen, werden dieses Fort für den Winter besetzen; unterdessen führen wir zwanzig Matrosen hin, um Besitz von ihm zu ergreifen.

Es ist eigenartig, diese in Hast und Schrecken verlassenen Wohnungen zu betreten, deren zerbrochener Hausrat und am Boden umherliegendes Geschirr die Verwirrung einer überstürzten Flucht verrät. Kleidungsstücke, Gewehre, Bajonette, Schießtafeln, Stiefel mit Papiersohlen, Regenschirme und Arzneimittel häufen sich in wirrem Durcheinander vor den Türen. In den Truppenküchen stehen noch Reisspeisen auf den Herden, daneben Kohlgerichte und Kuchen aus gebackenen Heuschrecken.

Überall rollen Granaten aus den erbrochenen Kisten; Patronen bedecken den Boden, Schießbaumwolle ist gefahrdrohend verstreut, Pulver liegt in langen kohlschwarzen Streifen ausgeschüttet. Aber neben dieser Vergeudung von Kriegsmaterial bezeigen drollige hübsche Einzelheiten die gemütlichen Seiten des chinesischen Lebens: auf allen Fensterbrettern stehen kleine Blumentöpfe, an allen Wänden sieht man kleine, von den Soldaten angeklebte Bilder. Mitten unter uns hüpfen Sperlinge vertraulich umher, die von den Bewohnern offenbar nie verscheucht worden sind. Katzen hocken auf den Dächern, misstrauisch, aber mit dem Wunsche, sich anzufreunden, und überlegen, wie sie mit den unerwarteten Gästen am besten auskommen können.

Ganz nahe, hundert Meter von unserem Fort, läuft die chinesische Mauer, überragt von einem Wachtturm, auf dem japanische Soldaten sich gerade einrichten und an einem Bambusstock die Flagge ihres Landes, weiß mit roter Sonne, hissen.

Immer lächelnd, besonders uns Franzosen gegenüber, laden uns die kleinen Japaner ein, zu ihnen hinaufzukommen, um uns von oben die Umgebung anzusehen.

Die große Mauer, hier sieben bis acht Meter stark und von gewaltigen viereckigen Bastionen flankiert, senkt sich auf der chinesischen Seite in Abhängen und Grashalden, fällt aber gegen die mandschurische steil ab.

Jetzt sind wir oben, und zu unseren Füßen zieht sich ihre uralte Linie hin, auf der einen Seite in das Gelbe Meer tauchend, auf der anderen zu den Berggipfeln emporklimmend, in steten Schlangenwindungen weit über das ausgedehnte Blickfeld hinauslaufend, etwas Ungeheures, das nirgends ein Ende zu finden scheint.

Gegen Osten übersieht man in dem reinen Licht die öden Ebenen der Mandschurei.

Gegen Westen – nach China zu – bietet die bewaldete Landschaft den trügerischen Anblick von Vertrauen und Frieden. Alle europäischen Flaggen, die über den Forts flattern, machen inmitten des Grüns einen festlichen Eindruck. In der Ebene freilich, in der Nähe des Strandes, herrscht ein Gewimmel von Kosaken, doch in weiter Ferne, sodass ihr Lärm nicht zu uns dringt: mindestens fünftausend Mann zwischen Zelten und den in die Erde gepflanzten Fahnen. (Im Gegensatz zu den anderen Mächten, die nur einige Kompanien nach Winghai entsandten, gehen die Russen in großen Massen vor – wegen ihrer Absichten auf die benachbarte Mandschurei.) Drunten, ganz grau, stumm und wie schlafend hinter seinen hohen Zinnenmauern, erscheint Schan-hai-kwan, die Tartarenstadt, die ihre Tore aus Angst vor Plünderung geschlossen hat. Und auf dem Meere, nahe am Horizont, liegen die alliierten Geschwader – all die schwarz qualmenden eisernen Ungeheuer, gut Freund für den Augenblick und stumm vereint im regungslosen Blau.

Ein ruhiges, herrliches, mildes Wetter. Der wunderbare Grenzwall Chinas blüht zu dieser Jahreszeit noch wie ein Garten. Zwischen seinen dunklen, von den Jahrhunderten gelockerten Ziegeln sprießen Gräser, Astern und eine Menge rosafarbener Nelken, ähnlich denen an den französischen Küsten . . .

Aber diese sagenhafte Mauer, die jahrhundertelang die Einbrüche aus dem Norden abgehalten hat, wird wohl die gelbe Flagge mit dem grünen Drachen der göttlichen Kaiser nie mehr flattern sehen; ihre Zeit ist um, vergangen, vorüber auf immer.


Nach Peking

Donnerstag, 11. Oktober 1900

Gegen Mittag, bei schönem, stillem, beinahe warmen Wetter und hell glitzerndem Meer, verlasse ich das Admiralschiff »Redoutable«, um mich im Auftrag nach Peking zu begeben.

Wir sind im Golf von Petschili, auf der Reede von Taku, aber in solcher Entfernung von der Küste, dass man sie nicht sieht und nichts ringsumher China dem Auge verrät.

Die Reise beginnt mit einer Fahrt von wenigen Minuten in einer Dampfschaluppe, um an Bord des »Bengali« zu kommen, des kleinen Aviso, der mich heute Abend an Land bringen wird.

Das Wasser ist unter der in diesen Breiten stets klar bleibenden Herbstsonne in sanftes Blau getaucht. Heute scheinen zufällig Wind und Wellen zu schlafen. Auf der weiten Reede liegen, so weit das Auge reicht, die großen Panzerschiffe in unbeweglicher Reihe, wie in verhaltener Drohung. Bis zum Horizont nichts als Türme, Mastwerk, Rauchsäulen – das erstaunliche, internationale Geschwader, mit allen Trabanten, die es umschwärmen: Torpedoboote, Transportschiffe und eine Legion von Frachtdampfern.

Dieser »Bengali«, auf den ich mich für einen Tag einschiffe, ist eines der kleinen französischen Fahrzeuge, die ununterbrochen Ladungen von Truppen und Kriegsmaterial führen und seit einem Monat das beschwerliche und ermüdende Hin und Her zwischen den aus Frankreich ankommenden Transport- und Frachtschiffen und dem Hafen von Taku über die Sandbank des Pei-ho vermitteln. Heute ist er übervoll von tapferen Zuaven, die gestern aus Tunis eingetroffen sind und die heute sorglos und vergnügt dem düsteren chinesischen Boden zusteuern; sie stehen aneinandergedrängt auf der Brücke, Mann an Mann gepresst, mit guten heiteren Gesichtern und weit geöffneten Augen – um endlich dies China zu sehen, das sie seit Wochen beschäftigt und das so nahe dort hinter dem Horizonte liegt . . .

Nach dem üblichen Zeremoniell muss der »Bengali« bei der Abfahrt am Heck des »Redoutable« vorüber, um dem Admiral den Salut zu leisten. Die Musik erwartet ihn am Heck des Panzers, um bei seinem Vorbeikommen einen jener Märsche zu spielen, die die Soldaten begeistern. Und als wir an dem großen Schiff vorüberfahren, fast in seinem Schatten, schwenken alle Zuaven – jene, die zurückkommen werden und jene, die sterben müssen – alle unter dem Klang der Trompeten ihre roten Mützen und begrüßen mit Hurra dies Schiff, das hier in ihren Augen das Vaterland verkörpert, und diesen Admiral, der oben auf seiner Kommandobrücke steht und zum Gruße sein Käppi zieht.

Ungefähr nach einer halben Stunde kommt China in Sicht.

Nie hat ein Gestade von abstoßenderer Hässlichkeit arme, neu angekommene Soldaten mehr überrascht und bestürzt. Eine flache Küste, ein grauer kahler Boden ohne Baum, ohne Gras. Und überall Forts von gewaltigem Umfang, ebenso grau wie der Boden; Massen von geometrischen Umrissen, von Geschützscharten durchbrochen. Niemals hat ein Land dem Herankommenden einen so ausgedehnten und drohenden Kriegsapparat entgegengestellt; auf beiden Ufern des scheußlichen Flusses mit dem schlammigen Wasser erheben sich die gleichen Forts, die den Eindruck eines uneinnehmbaren schrecklichen Ortes machen und zugleich andeuten, dass diese Mündung trotz ihrer elenden Umgebung von allergrößter Wichtigkeit ist, der Schlüssel eines großen Reiches und einer ungeheueren Stadt, furchtsam und reich – wie Peking es sein muss.

Aus der Nähe erkennt man tiefe Breschen in den Mauern der ersten beiden großen Forts, die von Granaten zersplittert, durchlöchert, geborsten sind, – Zeugen wütender, jüngst stattgehabter Kämpfe.

Bekanntlich schoss man am Tage der Einnahme von Taku aus unmittelbarer Nähe aufeinander. Durch einen merkwürdigen Zufall war eine vom »Lion« abgefeuerte Granate mitten in einem der Forts geplatzt und hatte die Explosion seiner riesigen Pulverkammer und eine Panik unter den gelben Kanonieren zur Folge. Da stürmten die Japaner dies Fort und eröffneten unerwartet das Feuer auf das gegenüberliegende, und alsbald begann die wirre Flucht der Chinesen. Ohne diesen Zufall, ohne diese Granate und diese Panik, waren alle im Pei-ho ankernden europäischen Kanonenboote unwiederbringlich verloren; die Ausschiffung der alliierten Kräfte wurde unmöglich oder zweifelhaft, und der Krieg erhielt ein anderes Gesicht.

Wir fahren jetzt in den Fluss ein und wühlen sein schlammiges, fauliges Wasser auf, in dem Unflat aller Art schwimmt, Leichen mit aufgetriebenen Leibern, Kadaver von Tieren und Menschen. Und in der sinkenden Abendsonne erblickt man an den beiden düsteren Ufern eine lange Reihe von Ruinen, eine trostlose Gegend in eintönigem Schwarz und Grau: Erde, Asche und verkohltes Gebälk. Nichts als geborstene Mauern, Trümmer und Schutt.

Auf diesem Flusse mit seinen verpesteten Wassern herrscht ein fieberhaftes Treiben, ein Gedränge, durch das wir uns nur mit Mühe hindurcharbeiten. Dschunken zu Hunderten, von denen jede die Farbe und am Heck in großen Lettern über Teufelsfratzen und chinesischen Inschriften den Namen der Nation trägt, in deren Dienst sie steht: France, Italia, United States usw., und eine zahllose Flottille von Schleppern, Barkassen, Kohlen- und Frachtschiffen.

Ebenso herrscht an den schauerlichen Uferhängen, auf der Erde und im Schlamm, zwischen den Trümmern und toten Tieren, ein ameisenartiges Getriebe. Soldaten aller Heere Europas, mitten unter einem Volk von Kulis, die mit dem Stock getrieben, Munition, Zelte, Gewehre, Packwagen, Maultiere und Pferde ausschiffen: ein nie gesehenes Durcheinander von Uniformen, Kanonen, Trümmern, Schutt und Heeresgut aller Art. Und ein eisiger Wind, der sich mit dem Abend erhebt, lässt uns um so mehr frösteln, als die Sonne am Tage noch immer wärmt, und bringt uns mit einem Schlage den traurigen Winter . . .

Vor den Trümmern eines Stadtteils, über dem die französische Fahne flattert, legt der »Bengali« an dem düsteren Ufer an, und unsere Zuaven gehen an Land, etwas verschüchtert durch den düsteren Willkomm, den ihnen China bietet. Während irgendeine Unterkunft für sie gesucht wird, zünden sie auf einem kleinen freien Platze Feuer an, die im Winde flackern, und wärmen daran in der Dunkelheit ihre karge Abendkost, ohne Lieder, stumm, unter den Wirbeln verpesteten Staubes.

Mitten in der wüsten Ebene, die uns diesen Staub, die Kälte, diese Windstöße sendet, dehnt sich die von Soldaten überschwemmte Stadt, zerstört und schwarz, überall nach Pest und Tod riechend.

Zweideutige Schenken umsäumen eine kleine Straße im Mittelpunkt der Stadt, die in wenigen Tagen aus Schlamm, Trümmern von Gebälk und Eisen hastig erbaut ist. Leute, von weiß Gott wo herbeigeeilt, Mestizen aller Rassen, verkaufen dort den Soldaten Absinth, gesalzene Fische und tödliche Schnäpse. Man betrinkt sich und zückt das Messer.

Außer diesem über Nacht entstandenen Stadtviertel besteht Taku nicht mehr. Nichts als Mauerwände, verkohlte Dächer, Aschenhaufen und unbeschreibliche Kloaken, in denen durcheinander Gerümpel, krepierte Hunde und behaarte Schädel faulen.

Ich schlafe an Bord des »Bengali«, dessen Kommandant mir Gastfreundschaft geboten hat. Vereinzelte Gewehrschüsse unterbrechen von Zeit zu Zeit die nächtliche Stille, und gegen Morgen wird unser Halbschlaf durch grässliche Schreie gestört, die Chinesenkehlen am Ufer ausstoßen.

 
Freitag, 12. Oktober

Bei Morgengrauen aufgestanden, um die bis nach Tientsin und noch etwas darüber hinaus benutzbare Bahn zu besteigen. – Dann werde ich, da die Boxer die Strecke zerstört haben, meinen Weg, ich weiß noch nicht wie, in chinesischem Karren, in einer Dschunke oder zu Pferd fortsetzen und kann, wie ich höre, nicht darauf rechnen, vor sechs bis sieben Tagen die großen Mauern Pekings zu erreichen. Ich habe einen Dienstbefehl mit, der mir meine Feldration auf den Etappenstationen sichert; sonst liefe ich Gefahr, in diesem verwüsteten Lande Hungers zu sterben. Ich nehme so wenig Gepäck mit wie möglich, nur einen leichten Vorratskoffer, und einen einzigen Reisegefährten, meinen treuen, von Frankreich mitgebrachten Burschen.

Am Bahnhof, den ich gerade bei Sonnenaufgang erreiche, finde ich alle Zuaven von gestern wieder, den Tornister auf dem Rücken. Fahrscheine sind auf dieser Bahn nicht nötig: alles, was Militär ist, besteigt sie mit dem Rechte des Siegers. Unsere tausend Zuaven schachteln sich mit Kosaken und japanischen Soldaten in Wagen mit zerbrochenen Fensterscheiben ein, durch die der Wind bläst. Ich finde Platz bei ihren Offizieren – und bald erwachen bei uns in diesem düsteren Lande gemeinsame Erinnerungen an Afrika, woher sie kommen, und Heimweh nach Tunis und dem weißen Algier . . .

Eine Fahrt von zweieinhalb Stunden durch die öde Ebene. Zuerst nichts als graue Erde wie in Taku, dann Schilfrohr und Gräser, vom Froste verdorrt. Und überall riesige rote Flecken, wie Blutstreifen, die von den Herbstblumen einer Art Sumpfpflanze herrühren. Am Horizont dieser Wüste schwirren Wolken von Wandervögeln, die emporsteigen, in den Lüften treiben und wieder zur Erde sinken. Der Wind bläst aus Norden und es ist sehr kalt.

Bald aber bedeckt sich die Ebene mit Gräbern, zahllosen Gräbern, alle von der gleichen Gestalt, eine Art Kegel aus gestampfter Erde, jeder von einer Fayencekugel gekrönt; die einen klein wie Maulwurfshügel, andere groß wie Lagerzelte. Sie sind nach Familien geordnet und ihre Zahl ist Legion. Eine ganze Totenstadt ist es, die endlos an unseren Blicken vorüberzieht, immer wieder mit den gleichen roten Flecken, die ihr ein blutiges Aussehen geben.

Auf den Stationen sind die zerstörten Bahnhöfe von Kosaken besetzt; man sieht dort verkohlte, vom Feuer verbogene Wagen, von Kugeln durchlöcherte Lokomotiven. Übrigens wird gar nicht angehalten, da nichts mehr da ist; die wenigen Dörfer, welche diese öde Gegend unterbrachen, liegen in Trümmern.

Tientsin! Es ist zehn Uhr früh. Erstarrt von Kälte steigen wir aus, von schwarzen Staubwolken umwirbelt, die der Nordwind unaufhörlich über dies dürre Land hin jagt. Chinesische Läufer bemächtigen sich unser sofort, und ohne noch zu wissen, wohin wir wollen, ziehen sie uns in ihren kleinen Wagen. Zunächst geht unsere Fahrt durch die europäischen Ansiedelungen (hier Konzessionen genannt), die wir durch eine Wolke von blendender Asche sehen. Sie bieten einen großstädtischen Anblick, aber alle diese fast luxuriösen Häuser sind heute von Granaten durchlöchert, geborsten, ohne Dach und Fenster. Die Ufer des Flusses gleichen hier, wie in Taku, einem fieberhaften Babel; Tausende von Dschunken bringen Truppen, Pferde, Geschütze an Land. Auf den Straßen, wo chinesische Arbeiter Kriegsmaterial in riesigen Ladungen befördern, begegnet man Soldaten aller Nationen Europas, Offizieren aller Waffen und aller Uniformen, zu Pferd, in chinesischen Karren oder zu Fuß. Und das militärische Grüßen hört auf der ganzen Fahrt nicht auf.

Wo wird man sein Haupt hinlegen? Man weiß es wirklich nicht, trotz des Wunsches nach einer Unterkunft bei diesem eisigen Winde und diesem Staube. Unsere chinesischen Läufer traben immerfort gerade vor sich hin, wie toll gewordene Tiere . . .

Wir klopfen an die Tore von zwei oder drei Gasthöfen, die sich in den Ruinen mit zusammengesuchten, zerbrochenen Möbeln wieder einrichten. – Alles ist voll, übervoll; auch für Gold könnte man keinen Hängeboden mit einer Matratze kriegen.

Und wohl oder übel muss man Tisch und Unterkunft von fremden Offizieren erbitten, die uns übrigens freundschaftlichste Gastlichkeit in den Häusern gewähren, deren Granatenlöcher hastig gegen den eindringenden Wind verstopft sind.

 
Samstag, 13. Oktober

Ich habe mich entschlossen, in einer Dschunke zu reisen, solange der Lauf des Pei-ho es gestattet. Die Dschunke ist eine gefundene Unterkunft in einem Lande, wo ich erwarten muss, nur Ruinen und Leichen zu finden.

Das erfordert aber eine Menge kleiner Vorbereitungen. Erstens eine Dschunke requirieren und auf ihr jene Art von Sarkophag einrichten lassen, in dem ich unter einem Mattendach wohnen soll; dann in den sämtlich mehr oder weniger geplünderten und zerstörten Läden Tientsins die für einige Tage des Nomadenlebens nötigen Dinge einkaufen, von den Decken bis zu den Waffen; und endlich bei den Lazaristen-Patres einen Chinesen zum Teekochen dingen –, den jungen Tum, vierzehnjährig, mit Katzengesicht und einem Zopf bis zur Erde.

Bei General Frey gespeist – der bekanntlich an der Spitze der kleinen französischen Abteilung als erster in das Herz Pekings, in die »Kaiserliche Stadt«, eingedrungen ist.

Er schildert mir im einzelnen diesen großen Tag, die Einnahme der »Marmorbrücke« und die Besetzung der »Kaiserlichen Stadt«, jener geheimnisvollen Stätte, die ich bald erblicken soll und die vor ihm kein Europäer betreten hat.

Betreffs meiner kleinen Expedition, die neben der seinigen so nichtig und nebensächlich erscheint, beunruhigt sich der General darüber, was ich und mein Diener unterwegs trinken werden, wo doch alles durch Leichen infiziert ist und das Wasser eine ständige Gefahr bildet, wo in allen Brunnen menschliche Überreste, von den Chinesen hineingeworfen, faulen –, und er macht mir ein unschätzbares Geschenk: eine Kiste mit Evianwasser.


Die beiden Göttinnen der Boxer

Sonntag, 14. Oktober

Eine alte Chinesin, runzlig wie ein Winterapfel, öffnet furchtsam einen Spalt der Tür, an die wir stark geklopft haben. Wir stehen im Halbdunkel eines engen Ganges, der ungesunden Gestank aushaucht, zwischen Wänden, die von Schmutz geschwärzt sind, an einem Ort, wo man sich eingemauert fühlt, wie in der Tiefe eines Gefängnisses.

Die Züge der alten Chinesin haben etwas Rätselhaftes; sie mustert jeden von uns mit einem undurchdringlichen, leblosen Blick; dann, als sie den Chef der internationalen Polizei erkennt, tritt sie stumm zur Seite, um uns einzulassen.

Wir folgen ihr durch einen kleinen düsteren Hof. Armselige Blumen des Spätherbstes kränkeln hier zwischen alten Mauern, und man atmet faden Gestank.

Wir, die wohlverstanden wie in erobertes Land eindringen, sind eine Gruppe von Offizieren, drei Franzosen, zwei Engländer, ein Russe.

Welch merkwürdiges Geschöpf, unsere Führerin, die auf den Spitzen ihrer unglaublich kleinen Füße einhertrippelt! Ihr graues Haar ist mit langen Nadeln besteckt und derart zum Scheitel emporgezogen, dass es ihr die Augen in die Höhe spannt. Sie hat irgendein dunkles Kleid an; aber auf ihren pergamentfarbigen Zügen zeigt sie im höchsten Grade jenes undefinierbare Gepräge überlebter Rassen, das man als Distinktion zu bezeichnen pflegt. Sie ist anscheinend nur eine bezahlte Dienerin, aber ihr Aussehen, ihr Benehmen setzen in Erstaunen; irgendein Geheimnis scheint dahinterzustecken; man möchte sie für eine Witwe von Stand halten, die zu unlauteren heimlichen Praktiken herabgesunken ist. Überhaupt macht dieser ganze Ort für den Uneingeweihten den übelsten Eindruck . . .

Auf den Hof folgt ein schmutziger Vorraum und endlich eine schwarzbemalte Türe mit einer chinesischen Inschrift in zwei großen roten Lettern. Da ist's – und ohne zu klopfen, schiebt die Alte den Riegel zurück, um zu öffnen.

Man könnte uns verdächtigen, aber wir kommen in allen Ehren, um den zwei Göttinnen – den »goddesses«, wie unsere beiden englischen Begleiter sie ironisch nennen – einen Besuch abzustatten, – gefangenen Göttinnen, die man im Hintergrund dieses Palastes eingesperrt hält. Denn wir sind hier in den Gesindewohnungen, den niedrigen Nebengebäuden, den versteckten Winkeln des Palastes der Vizekönige von Petschili, und um hierher zu gelangen, mussten wir das unendliche Elend einer ganzen Stadt mit Zyklopenmauern durchschreiten, die gegenwärtig nur noch ein Haufen von Trümmern und Leichen ist.

Es war übrigens ein merkwürdiger, ja ganz einziger Anblick, wie diese Ruinen heute am Sonntag, dem Festtag in den Lagern und Kasernen, von fröhlichen, durch den Zufall hergeführten Soldaten belebt waren. In den langen, trümmerbedeckten Straßen, zwischen geborstenen Häusern ohne Dächer spazierten fröhlich Zuaven und Chasseurs d'Afrique Arm in Arm mit Deutschen in Pickelhauben; man sah kleine japanische Soldaten, glänzend und automatenhaft, Russen mit flachen Mützen, Bersaglieri mit Federbüschen, Österreicher, Amerikaner im großen Filzhut, und indische Reiter mit riesigen Turbans auf dem Kopfe. Alle Fahnen Europas flatterten über dieser Verwüstung von Tientsin, in das sich die verbündeten Armeen geteilt haben. In einzelnen Vierteln hatten Chinesen, die nach und nach von ihrer allgemeinen Flucht zurückkehrten, meistens Raubgesindel und heimatloses Volk, im Freien unter der schönen Sonne dieses Herbstsonntags Verkaufsstände aufgeschlagen. Mitten im grauen Staube der zerstörten Gebäude und der Asche der Feuersbrünste verkauften sie an die Soldaten allerlei in den Ruinen zusammengeraffte Dinge, Porzellan, seidene Kleider und Pelzwerk. Die ganze Straße wimmelte von Soldaten in den verschiedensten Uniformen, und so unzählig viele Schildwachen präsentierten das Gewehr, dass der Arm mir lahm wurde vom Erwidern der unaufhörlichen Ehrenbezeigungen auf unserem Wege durch dies unerhörte Babel.

Am Ende der zerstörten Stadt, neben den hohen Wällen, vor dem Palast der Vizekönige, in den wir eingedrungen sind, um die Göttinnen zu sehen, waren längs der Mauer Chinesen am Schandpfahl angebunden, und über ihnen verkündeten Aufschriften die von jedem begangenen Verbrechen. Zwei Posten mit aufgepflanztem Bajonett, ein Amerikaner und ein Japaner, bewachten die Tore neben alten steinernen Ungeheuern mit scheußlichem Grinsen, die nach chinesischem Brauche als Hüter zu beiden Seiten der Schwelle kauern.

Nichts Prunkvolles in diesem Palast des Verfalles und des Staubes, den wir zerstreut durchquerten; auch nichts Großes, aber echtes China, das uralte China, fratzenhaft und feindselig; Ungeheuer in Fülle, aus Marmor, aus zerbrochener Fayence, aus wurmstichigem Holze, so alt, dass sie von den Dächern in die Höfe fallen oder drohend an ihrem Rande hängen. Entsetzliche Dinge treten überall unter der Asche hervor, verwitterte Hörner, Krallen, gespaltene Zungen und große schielende Augen. Und in finster ummauerten Höfen blühen letzte Rosen unter dem Schatten hundertjähriger Bäume.

Jetzt endlich, nach vielen Umwegen durch dunkle Gänge, stehen wir vor der Tür der Göttinnen, der mit zwei großen roten Buchstaben bezeichneten Tür. Die alte Chinesin, immer noch geheimnisvoll und stumm, mit erhobener Stirn, doch den leblosen Blick hartnäckig gesenkt, stößt mit einer Gebärde der Unterwürfigkeit, die sagen will: »Da sind sie, schaut!« die schwarzen Türflügel vor uns auf.

Mitten in der jämmerlichen Unordnung eines halbdunklen Zimmers, in das keine Abendsonne dringt und in dem es schon dämmerte, sitzen zwei arme Mädchen, zwei sich gleichende Schwestern, gebeugten Hauptes oder vielmehr zusammengesunken, in der Haltung äußerster Bestürzung, die eine auf einem Stuhl, die andere auf dem Rand des Ebenholzbettes, das sie für die Nacht teilen müssen. Sie tragen schlichte schwarze Kleider; aber hier und dort auf der Erde liegen Seidenstoffe in schreienden Farben wie verloren umher, Überwürfe mit großen, goldgestickten Blumen und Fabelwesen: der Putz, den sie anlegten, um an Schlachttagen unter dem Pfeifen der Kugeln ins Feuer zu gehen –; ihr Staat als Kriegerinnen und Göttinnen . . .

Denn sie waren eine Art »Jungfrau von Orleans« – wenn es nicht Blasphemie ist, diesen reinen idealen Namen in einem Atem mit ihnen zu nennen. Sie waren Fetischmädchen, die man in die von Granaten durchlöcherten Pagoden stellte, um ihre Altäre zu schützen, Begeisterte, die sich schreiend den Kugeln entgegenstürzten, um die Soldaten mit sich fortzureißen. Sie waren die Göttinnen jener unbegreiflichen, zugleich wilden und bewunderungswürdigen Boxer, jener Hysteriker des chinesischen Patriotismus, die von Hass und Wut gegen alles Fremde betört waren –, die heute feige und kampflos flohen, um sich morgen mit dem Geschrei von Besessenen der blanken Waffe und dem Tod entgegenzuwerfen, mitten im Kugelregen zehnfach überlegener Truppen.

Jetzt als Gefangene sind die Göttinnen Eigentum der sieben verbündeten Mächte, ein eigenartiger Nippesgegenstand, wenn man so sagen darf. Man tut ihnen nichts zuleide. Sie sind nur eingesperrt, um sie am Selbstmord zu verhindern, der zur fixen Idee bei ihnen geworden ist. Was mag in der Folge ihr Los sein? Schon wird man müde, sie zu betrachten, man weiß nicht, was mit ihnen beginnen.