Dr. Rainar Nitzsche, 1955 in Berlin-Zehlendorf geboren, Schulzeit im Saarland, wohnt seit Ende 1974 in Kaiserslautern, wo er Biologie studierte und über das Paarungsverhalten der heimischen Brautgeschenkspinne promovierte. Er fotografiert von Jugend an begeistert Tiere sowie in den letzten Jahren vermehrt Bäume, Kirchen und Kunstwerke. Seit 1975 schreibt er Gedichte, Kurzgeschichten, Romane und Sachbücher über Spinnen.

Hier hat er eigene Fotografien und Gemälde seiner Freundin Elke Bouché am Computer mit Bildbearbeitungsprogrammen künstlerisch verändert und fantastische Texte hinzugefügt. Bunte abstrakte Formen, so lautet das Thema.

Folgende Kunstbücher sind von ihm bisher erschienen: Aliens, Baumtraum, Fantastic Spider Worlds, Höllenkunst, Kunstwelten, Naturkunstwelten, Spinnen fantastisch verfremdet, Spinnenkunstwelten, Spinnenkunstwelten 2.

ALIENEMBRYOS ABENDDÄMMERN

ALIENEMBRYO IM LICHT

Die Kirchenorgel

Harfen sieht man, hörst du selten bei Konzerten.

Also wollen wir heute nach Mannheim hinübergehen, über die Brücke von Ludwigshafen-Mitte aus zur Musikhochschule neben dem Kino in der Nähe vom Schloss.

Und wer ist »wir« willst du wissen - oder auch nicht?

Wir, das sind meine Freundin Elke und ich, ein gewisser Rainar.

Harfen sind größer und schwerer als die meisten anderen Instrumente. Aha, deshalb sieht man selten Leute mit ihnen unter dem Arm in der Stadt herumlaufen. Ja, wenn ich es mir so recht überlege, ist mir noch nie jemand mit einer Harfe entgegengekommen. Nun gut, mit Klavieren und Flügel bepackte Musiker sieht man ebenfalls nicht in den Fußgängerzonen. Und mit Orgeln, diesen gewaltigen Kircheninstrumenten, kann es ja nicht anders sein.

Kaum gedacht, da taucht er auf vor meinen Augen, der kleine Mann, sechs Jahre alt mag er sein. Und was tut er da zu aller Leute Erstaunen?

Er stemmt sie hoch, die Orgel, mitten auf dem großen Platz. Und schon wirft er sie, rennt los, schnell wie der Blitz.

Zeitlupenschau: Sie fliegt. Er rennt und – fängt sie auch schon auf. Was für eine Leistung! 25 Meter, Weltrekord. Der Guinessbucheintrag ist ihm sicher.

Ich stehe nur da mit offenem Mund vor Staunen, erstarrt wie alle anderen auch, bin einfach platt!

Er ist es auch, im wahrsten Sinne des Wortes: vollkommen zerquetscht unter der Orgel, die seltsamerweise heil geblieben ist, mein kleiner Neffe Oliver, Gott hab‘ ihn selig! Diese seine Tat soll auf seinem Grabstein stehen. Und er ruhe in Frieden bis in alle Ewigkeit!

Zeit vergeht. Und erst jetzt, wo ich diese meine Worte lese, weine ich. Aus ganzem Herzen strömt all das Leid der Welt in mich ein.

Das aber kann nur sein, weil ich noch lebe.

TOTEM IN BLAU

Erwachen

Du richtest dich auf - in deinem Bett.

Hast du geschlafen? Bist du aufgewacht? Öffnest du deine Augen?

Du steigst auf, verlässt deinen Körper. Von der Decke schaust du hinab. Aufrecht siehst du dich dort unten mit offenem Mund sitzen. Dein Gesicht ist im Schrei erstarrt!

Bin ich tot?, sprichst du nicht, fragst du dich. Und wasserlose Tränen weinst du in die Stille der Nacht.

Dort oben öffnet sich kein Tunnel aus Licht. Und niemand von denen, die einst starben und dich liebten und für immer und ewig lieben, niemand von den Deinen kommt, um dich ins Licht zu führen. Doch auch unter dir brechen keine Höllentore aus Schwärze, Feuer und Flammen auf. Stille.

Was ist geschehen? Wo bin ich? Wer bin ich?

Die Erde bebt.

Etwas kommt - mich zu holen?

»Etwas kommt!«, schreie ich?, schreie ich nicht.

Die Wände deines Zimmers erzittern und lösen sich auf. Die Lieder, die du in deinem Leben gesammelt hast, auf all den Datenträgern: Schallplatte, Kassette, CD, Computer, sie alle erklingen nun – zugleich. Alles ist Klang. Alles ist eins. Von allen Seiten dringen die Klänge auf dich ein. Dieser Sound zerrt an dir und – reißt dich auseinander.

Irgendwann, irgendwo erwachen die Teile irgendwie. Einst gehörten sie zu Einem. Einst waren sie eins, ein Wesen waren sie einst. Nun gehören sie zu neuen Dingen und Wesen auf dieser einen Erde von so vielen. Und wieder und wieder werden sie sich wandeln und wandeln, immer und immer wieder, bis Planeten und Sonnen erlöschen und ...

So mag es sein.

Ist es so, wie ein Mensch zu einer Zeit es sich erdenkt?

Aufbruch

Spiegel, dachte er noch, Spiegel, überall Spiegel. Er sah sich um und sah sich an, sah endlos sein Spiegelbild in Spiegeln gespiegelt, ringsum und überall. Am Ende bin auch ich ein Spiegel, gespiegelt und widergespiegelt, wieder und immer wieder?

Doch wenn da kein Körper vor einem Spiegel stand, wovon sollte dann ein Spiegelbild sein?

Das aber war da, noch immer unbeweglich im Spiegel dort vor ihm: das Bild. Doch widergespiegelt, zurückgeworfen von ihm in den Spiegel, und wieder zurück und endlos hin und her.