Lafcadio Hearn: Kokoro

 

 

Lafcadio Hearn

Kokoro

Einblicke in das Innenleben Japans

 

 

 

Lafcadio Hearn: Kokoro. Einblicke in das Innenleben Japans

 

Übersetzt von Berta Franzos

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Emil Orlik, Mädchen unter Weiden, 1901

 

ISBN 978-3-7437-1715-2

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-1696-4 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-1697-1 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

»Kokoro. Hints and Echoes of Japanese Inner Life«. Erstdruck: London, Gay and Bird, 1895. Hier in der deutschen Übersetzung von Berta Franzos, Frankfurt a.M., Rütten und Loening, 1905.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Lafcadio Hearn

von Hugo v. Hofmannsthal. Geschrieben unter dem Eindruck von Lafcadio Hearns im Herbst 1904 erfolgten Tode

Man hat mich ans Telephon gerufen, um mir zu sagen, daß Lafcadio Hearn gestorben ist. Gestorben zu Tokio, gestorben gestern, oder heut nacht, oder heut früh: schnell bringt's der Draht herüber, und heut abends wissen da und dort in Deutschland einige, und weiter westlich ein paar Hunderte, und noch weiter westlich ein paar Tausende, daß ihr Freund gestorben ist, ihr Freund, dem sie vieles dankten und den sie nie gesehen haben. Und auch ich habe ihn nie gesehen und werde ihn nie sehen, und nie wird in seine Hände, die jetzt starr sind, der Brief kommen, den ich oft an ihn schreiben wollte.

Und Japan hat sein Adoptivkind verloren. Tausende seiner Söhne verliert es jetzt Tag für Tag: übereinandergetürmt liegen die Leichen, die Flüsse stauen sich an ihnen, auf dem Grund des Meeres liegen sie mit starren Augen, und in zehntausend Häusern wird in stummer, stolzer Frömmigkeit, ohne Heulen und Weinen für einen Toten ein kleines Mahl gerichtet, ein freundliches Licht entzündet. Und nun ist auch der Fremde gestorben, der Eingewanderte, der Japan so sehr liebte. Der einzige Europäer vielleicht, der dieses Land ganz gekannt und ganz geliebt hat. Nicht mit der Liebe des Ästheten und nicht mit der Liebe des Forschers, sondern mit einer stärkeren, einer umfassenderen, einer selteneren Liebe: mit der Liebe, die das innere Leben des geliebten Landes mitlebt. Vor seinen Augen stand alles, und alles war schön, weil es von innen her mit dem Hauch des Lebens erfüllt war: das alte Japan, das fortlebt in den verschlossenen Parks und den unbetretenen Häusern der großen Herren und in abgelegenen Dörfern mit ihren kleinen Tempeln – und das neue Japan, durchzogen von Eisenbahnen, fiebernd von den Fiebern Europas; der einsame Bettler, der von Buddha zu Buddha zieht, und das große neugeformte, mit uraltem Todesmut erfüllte Heer; der kleine Begräbnisplatz neben der Straße, den spielende Kinder aus Kot und Holzstückchen bauen, und das große Osaka, die gewaltige Industriestadt mit ihren Hunderttausenden, die den Handel leidenschaftlich und hingebend treiben, wie jene anderen den Krieg, mit ihren unermeßlichen Seidenlagern und den Kommis, die monatelang, fahlen Gesichts, hinter den Vorräten kauern, Sklaven eines Pflichtgefühls, das beinahe ein Märchen aus dieser trivialen Realität »Ein Kommis in einem Seidenwarengeschäft« macht.

Und seine Ohren verstanden, was sie redeten: hunderte von Worten von Kindern stehen in seinen Büchern, und Worte, die Großmütter zu Enkeln reden, und zarte Worte, dünn wie Vogelgezwitscher, die, von liebenden Frauen und von gequälten Frauen ausgesprochen, ohne ihn zwischen papierenen Wänden kleiner Gemächer verflogen wären, und die Worte uralter Weiser, frommer Regenten, und die Worte sehr kluger Männer unserer Tage, deren Worte gesetzt sind wie die Worte des klügsten, gebildetsten Europäers, deren Tonfall in nichts sich von dem Tonfall dessen unterscheidet, auf dem die Last unseres ganzen ererbten Wissens lastet.

Unerschöpflich sind diese Bücher. Wie ich sie aufblättere, ist es mir beinahe unbegreiflich, zu denken, daß sie wirklich unter den Deutschen noch fast unbekannt sein sollen. Da stehen sie nebeneinander: »Gleanings from Buddha fields« und »Glimpses of unfamiliar Japan« und das liebe Buch »Kokoro«, vielleicht das schönste von allen. Die Blätter, aus denen sich dieser Band zusammensetzt, handeln mehr von dem inneren als dem äußeren Leben Japans – dies ist der Grund, weshalb sie unter dem Titel »Kokoro« (»Herz«) verbunden wurden. Mit japanischen Charakteren geschrieben, bedeutet das Wort zugleich »Sinn«, »Geist«, »Mut«, »Entschluß«, »Gefühl«, »Neigung« und »innere Bedeutung« – so wie wir im Deutschen sagen: »Das Herz der Dinge.« Ja, wahrhaftig, das Herz der Dinge ist in diesen fünfzehn Kapiteln, und indem ich ihre Titel überlese, sehe ich ein, daß es ebenso unmöglich ist, von ihrem Inhalt eine genaue Vorstellung zu geben als von einem neuen Parfüm, als von dem Klang einer Stimme, die der andere nicht gehört hat. Ja, nicht einmal die künstlerische Form, in der diese Kunstwerke einer unvergleichlichen Feder konzentriert sind, wüßte ich richtig zu bezeichnen. Da ist das Kapitel, das die Überschrift trägt: »Auf einer Eisenbahnstation.« Es ist eine kleine Anekdote. Eine beinahe triviale Anekdote. Eine Anekdote, die nicht ganz frei von Sentimentalität ist. Nur freilich von einem Menschen geschrieben, der schreiben kann, und vorher von einem Menschen gefühlt, der fühlen kann. Und dann ist da die Geschichte der »Nonne im Tempel von Amida«. Das ist fast eine kleine Novelle. Und daneben das Kapitel »Ein Konservativer«. Das ist keineswegs eine Novelle: das ist eine Einsicht, eine politische Einsicht, zusammengedrängt wie ein Kunstwerk, vorgetragen wie eine Anekdote: ich denke, es ist kurzweg ein Produkt: des Journalismus, des höchstkultivierten, des fruchtbarsten und ernsthaftesten, den es geben kann. Und daneben diese unvergleichlichen Gedankenreihen, die überschrieben sind »Die Macht des Karma«, in denen tiefe und schwer zu fassende Dinge wie aus tiefem Meeresgrund ans Licht gebracht und aneinandergereiht sind. Das ist Philosophie, wenn ich nicht irre. Aber es läßt uns nicht kalt, es zieht uns nicht in die Öde der Begriffe. So ist es wohl Religion. Aber es droht nicht, es will nicht allein auf der Welt sein, es lastet nicht auf der Seele. Ich möchte es Botschaft nennen, freundliche Botschaft einer Seele an andere Seelen, Journalismus außerhalb jeder Zeitung, Kunstwerke ohne Prätension und ohne Mache, Wissenschaft ohne Schwere und voll Leben, Briefe, geschrieben an unbekannte Freunde.

Aber nun ist Lafcadio Hearn tot und niemand aus Europa, niemand aus Amerika, keiner von allen seinen unbekannten Freunden wird je ihm antworten, keiner ihm danken für seine vielen Briefe, keiner mehr.

 

Ein Konservativer

Er war in einer Stadt im Innern des Landes geboren, der Residenz eines Daimyo mit einem Territoriumbesitz von hunderttausend Koko (altes japanisches Maß). Kein Fremder hatte die Gegend jemals betreten. Die Yashiki1 seines Vaters, eines Samurai von hohem Rang, lag innerhalb der äußern Festungsmauern, von denen der fürstliche Palast umgeben war. Es war eine weitläufige Yashiki, und dahinter und ringsum dehnten sich Landschaftsgärten. In einem derselben stand ein kleiner Tempel mit dem Bildnis des Kriegsgottes. Vor vierzig Jahren gab es viele solche Residenzen. Künstleraugen erscheinen die wenigen noch übriggebliebenen wie Feenpaläste und ihre Gärten wie buddhistische Paradiesesträume.

Aber die Söhne der Samurais standen in jenen Tagen unter strenger Zucht, und der junge Edelmann, von dem ich erzählen will, hatte wenig Zeit zum Träumen. Die Zeit der Liebkosungen war ihm sehr karg zugemessen worden, denn noch ehe er mit der ersten »Hakama« (Beinkleid) bekleidet wurde, – dazumal eine große Zeremonie – wurde er verhätschelnden Einflüssen soviel als möglich entzogen und gelehrt, den natürlichen Impuls kindlicher Zärtlichkeit zu unterdrücken. Kleine Spielkameraden fragten ihn spöttisch: »Trinkst du noch aus der Milchflasche?« wenn sie ihn an der Hand seiner Mutter ausgehen sahen, – wohl konnte er daheim rückhaltlos seiner Zärtlichkeit gegen sie Ausdruck geben, aber die Stunden, die er bei ihr zubringen durfte, waren sehr wenige. Alle müßigen Vergnügungen wurden von der Erziehung strenge beschränkt, und es war ihm keinerlei kleine Bequemlichkeit, außer in Krankheitsfällen, gestattet. Schon im allerfrühsten Kindheitsstadium, – kaum daß er recht sprechen konnte –, hielt man ihn an, die Pflicht als das bestimmende Lebensmotiv zu betrachten, Selbstbeherrschung als das erste Erfordernis des Betragens, und Schmerz und Tod, insoferne sie die eigene Person betrafen, als belanglose Dinge anzusehen.

Diese spartanische Zucht hatte ein noch grausameres Erziehungsprinzip, das darauf abzielte, eine kalte Härte großzuziehen, die, außer in der traulichen Intimität der Häuslichkeit, niemals abgestreift werden durfte. Die Knaben wurden an den Anblick von Blut gewöhnt. Man nahm sie zu Hinrichtungen mit, man verlangte von ihnen, daß sie keinerlei Gemütsbewegung dabei bekundeten, und bei ihrer Rückkehr nach Hause mußten sie all ihr inneres Grauen unterdrücken und eine reichliche Mahlzeit Reis, der durch einen Zusatz von gesalzenem Pflaumensaft blutrot gefärbt war, verzehren. Ja sogar noch mehr konnte von einem jungen Knaben verlangt werden – man konnte ganz wohl von ihm fordern, zu nachtschlafender Zeit auf den Richtplatz zu gehen, und als Zeichen seines Mutes einen abgeschlagenen Kopf zurückzubringen. Denn Furcht vor den Toten wurde bei einem Samurai als nicht weniger verächtlich angesehen, wie Angst vor lebenden Menschen. Ein Samurai-Kind durfte sich vor nichts fürchten. Bei allen solchen Anlässen hatte es vollkommene Gelassenheit zu zeigen, und die geringste Prahlerei würde ebenso streng verurteilt worden sein, wie dies bei einem Zeichen von Feigheit der Fall gewesen wäre.

Wuchs ein Knabe heran, mußte er sein Vergnügen hauptsächlich in jenen Körperübungen finden, die für den Samurai die frühe und unablässige Vorbereitung für den Krieg waren – Bogenwerfen, Fechten, Reiten und Ringen. Man gesellte ihm Spielgenossen, aber sie waren älter als er, Söhne von Lehnsleuten, ausgesucht nach ihrer Begabung, ihn in der Übung kriegerischer Fähigkeit zu fördern. Es lag ihnen auch ob, ihn das Schwimmen zu lehren, ein Boot zu handhaben und seine jungen Muskeln zu entwickeln. Sein Tag war zwischen solchen körperlichen Übungen und dem Studium der chinesischen Klassiker geteilt. Seine Nahrung, obgleich reichlich, enthielt nie Leckerbissen, seine Kleidung war – außer bei großen Zeremonien, – leicht und von groben Stoffen. Feuer anzuzünden zu dem bloßen Zweck, sich daran zu wärmen, war ihm nicht gestattet. Waren seine Hände beim Studieren an frostigen Wintertagen so kalt geworden, daß sie den Schreibpinsel nicht mehr handhaben konnten, mußte er sie in Eiswasser tauchen, um die Finger wieder gelenkig zu machen, – waren seine Füße erstarrt, hieß man ihn sich im Schnee tummeln, um sie wieder zu erwärmen. Noch strenger war das System, durch das er in die Anschauungen der militärischen Kaste über die Würde eines Samurai eingeführt wurde, und man prägte ihm schon zeitig ein, daß das kleine Schwert an seiner Seite weder ein Zierat, noch ein Spielzeug sei. Man zeigte ihm, wie er damit umgehen müsse, wie er damit sein eigenes Leben ohne Zaudern vernichten könne, wenn es der Ehren-Kodex seiner Klasse so forderte.2

Wenn er vom Knaben zum Jüngling heranreifte, ließ die Strenge der Beaufsichtigung nach. Man gestattete ihm immer mehr und mehr nach eigener Einsicht zu handeln, aber immer in voller Erkenntnis, daß ein Irrtum nicht übersehen, ein ernstes Vergehen nicht völlig vergeben werden würde, und daß man einen wohlverdienten Vorwurf mehr fürchten müsse, als den Tod. Andererseits gab es nur wenige moralische Gefahren, vor denen man ihn zu schützen brauchte. Das professionelle Laster war damals strenge aus vielen Provinzhauptstädten verbannt, und die unmoralische Seite des Lebens, wie sie sich in den volkstümlichen Romanen und Dramen wiederspiegelt, blieb einem jungen Samurai unbekannt. Er wurde gelehrt, diese alltägliche Literatur, die sich entweder an die weicheren Empfindungen oder an die Leidenschaften wendete, als unmännlich zu verachten, und der Theaterbesuch war seinem Stande verboten. So konnte in diesem unschuldigen Provinzleben des alten Japans ein Jüngling reinen Sinnes und in völliger Unberührtheit aufwachsen.

Ganz so war auch der junge Samurai, von dem ich jetzt erzählen will. Furchtlos, höflich, selbstverleugnend, das Vergnügen verachtend, und gegebenenfalls im Augenblicke bereit, sein Leben unbedenklich hinzugeben, wenn es Liebe, Untertanenpflicht, oder die Ehre forderte. Aber obgleich er nach seiner körperlichen und geistigen Entwicklung schon als Krieger gelten durfte, war er an Jahren doch kaum mehr als ein Knabe zur Zeit, da das Land zum erstenmal durch das Kommen der »schwarzen Schiffe« aufgeschreckt wurde.

 

Die Politik Jyemitsus, die jedem Japaner bei Todesstrafe verbot, das Land zu verlassen, hatte die Nation zwei Jahrhunderte hindurch in völliger Unkenntnis der übrigen Welt erhalten. Von den kolossalen Mächten, die sich jenseits des Meeres bedrohlich entwickelten, wußte man nichts. Die holländischen Kolonisten in Nagasaki hatten Japan in keiner Weise über die Lage, in der ihr Land sich befand, aufgeklärt: Ein orientalischer Feudalismus, bedroht von der um drei Jahrhunderte in der Entwicklung weiter vorgeschrittenen abendländischen Welt. Schilderungen der wirklichen Wunder jener Zivilisation hätten den Japanern wie Märchen geklungen, dazu erfunden, um Kinder zu ergötzen, oder sie hätten sie auch in eine Kategorie mit den alten Erzählungen von Horais märchenhaften Palästen gestellt. Das Landen der amerikanischen Flotte, »der schwarzen Schiffe«, – wie sie sie nannten, – brachte die Regierung zum erstenmal zum Bewußtsein ihrer eigenen Schwäche und der Gefahr, die aus der Ferne drohte.

Der Volkserregung bei der Nachricht von der zweiten Landung der »schwarzen Schiffe« folgte große Bestürzung, als das Shogunat sich außerstande erklärte, die fremden Eindringlinge abzuwehren. Dies konnte ja nur eine noch größere Gefahr bedeuten, als die der Tartaren-Invasion in den Tagen des Hojo Tokimuné, wo das Volk die Götter um Hilfe angefleht, ja der Kaiser selbst in Isé die Geister seiner Ahnen beschworen hatte. Diesem Gebete war eine plötzliche Sonnenfinsternis gefolgt. Unter schrecklichem Donnergetöse erhob sich ein wütender Orkan, von dem noch bis zum heutigen Tage unter dem Namen »Kami-kazé« (der Sturm der Götter) erzählt wird. Dieses Unwetter zerschmetterte die Flotte Kublai Khans und versenkte sie in die Tiefe. Warum sollte man nicht auch jetzt Gebete zum Himmel entsenden? Dies geschah denn in Tausenden von Häusern und vor zahllosen Altären. Aber die Allmächtigen gaben diesmal keine Antwort – der »Kami-kazé« stellte sich nicht ein. Und der Samurai-Knabe vor dem kleinen Altar in seines Vaters Garten fragte sich grübelnd, ob die Götter ihre Kraft eingebüßt hätten, oder ob gar die Völker der »schwarzen Schiffe« unter dem Schutz mächtigerer Götter stünden?

 

Bald wurde es klar, daß es gar nicht auf die Vertreibung der fremden Eindringlinge abgesehen war. Sie waren zu Hunderten gelandet, aus dem Osten und aus dem Westen, und für ihren Schutz war alle mögliche Vorsorge getroffen worden. Sie hatten ihre eigenen seltsamen Städte auf japanischem Boden erbauen dürfen, – ja die Regierung hatte sogar einen Befehl ergehen lassen, daß abendländische Wissenschaft an allen japanischen Schulen gelehrt werden, das Studium des Englischen einen wichtigen Gegenstand des Unterrichtswesens bilden, und der öffentliche Schulunterricht nach abendländischem Muster umgemodelt werden sollte. Die Regierung hatte auch erklärt, daß die Zukunft des Landes auf dem Studium und der Beherrschung der fremden Sprache und der Wissenschaft der Fremden beruhen müsse. Bis diese Studien günstige Resultate erzielten, sollte Japan unter fremder Vormundschaft verbleiben. Dies gestand man freilich nicht öffentlich zu, aber die Bedeutung dieser Regierungspolitik war unverkennbar. Nach der ersten heftigen Erschütterung, die die Offenbarung der Sachlage hervorrief, nach der großen Verzweiflung des Volkes und der unterdrückten Wut der Samurais machte sich eine lebhafte Neugierde nach der Beschaffenheit dieser frechen Eindringlinge geltend, die imstande gewesen waren, durch bloße Entfaltung ihrer überlegenen Macht alles zu erreichen, was sie wünschten. Diese allgemeine Neugierde wurde teilweise durch eine ungeheure Produktion billiger Farbendrucke befriedigt, die die Sitten und Gewohnheiten der Barbaren, und die merkwürdigen Straßen ihrer Ansiedelungen darstellten. In den Augen der Ausländer würden sich diese Bilder wie reine Karikaturen ausgenommen haben, aber die Absicht der japanischen Künstler ging keineswegs darauf aus zu karikieren, – sie versuchten Fremde zu porträtieren, wie sie sie wirklich sahen, und sie sahen sie als grünäugige Ungeheuer, mit rotem Haar wie Shoyo3 und mit Nasen wie Tengu4, die sich in Gewänder von absurden Formen und Farben kleideten und in Gebäuden wohnten, die Warenhäusern oder Gefängnissen ähnlich sahen. Zu Hunderttausenden im ganzen Lande verbreitet, müssen diese Bilder seltsame Vorstellungen von diesen Neuankömmlingen hervorgerufen haben und dennoch waren sie nur harmlose, aufrichtig gemeinte Versuche, das. Unbekannte darzustellen. Man sollte diese Bilder in Europa studieren, um zu verstehen, wie wir den Japanern jener Zeit erschienen sind, – wie häßlich, wie grotesk und wie lächerlich!

 

Der junge Samurai aus der Stadt sah sich bald einem leibhaftigen Abendländer gegenüber, den der Fürst für ihn als Lehrer engagiert hatte. Es war ein Engländer. Er kam unter dem Schutze einer bewaffneten Eskorte, und es wurde Befehl gegeben, ihn als eine Persönlichkeit von Distinktion zu behandeln. Er sah nicht ganz so häßlich aus, wie die Fremden auf den Bildern, sein Haar war freilich rot und seine Augen hatten eine seltsame Farbe, aber sein Gesicht war nicht unangenehm. Allsogleich wurde er der Gegenstand der allgemeinen Beobachtung und blieb es lange Zeit. Wie genau seine Handlungen beobachtet wurden, kann niemand ermessen, der nicht die seltsamen Vorurteile, die vor der Meiji-Epoche über die Ausländer herrschten, kennt. Obgleich man die Abendländer als intelligente und höchst gefährliche Wesen ansah, galten sie doch nicht voll als Menschen; vielmehr meinte man, daß sie dem Tierreich näher ständen, als der Menschheit. Sie hatten haarige Körper von seltsamer Form, ihre Zähne glichen denen der Menschen nicht, ihre inneren Organe waren auch merkwürdig, – und ihre moralischen Ideen gar waren die der Kobolde. Die Einschüchterung, die damals die Fremden hervorriefen – nicht bei den Samurais, sondern bei dem Volke – war keine physische, sondern eine abergläubische Furcht. Selbst der japanische Bauer war nie ein Feigling. Aber um sein Gefühl gegen die Fremden von damals zu begreifen, müssen wir auch etwas von dem alten, sowohl den Japanern, wie den Chinesen eigentümlichen Glauben an die mit übernatürlicher Macht begabten Fabeltiere wissen, die imstande waren, menschliche Gestalt anzunehmen; an die Existenz von Halbmenschen- und Übermenschen- und an die mythischen Wesen der alten Bilderbücher: bärtige Kobolde mit langen Ohren und Beinen (Ashinaga und Tenaga), entweder von naiven Künstlern mit treuherzigem Ernst gemalt, oder von dem Pinsel Hokusais komisch behandelt. Der Anblick der Fremden schien die von einem chinesischen Herodot erzählten Fabeln zu verwirklichen, und ihre Kleidung sollte offenbar das verbergen, was sie als nicht menschliche Wesen verraten haben würde.

So wurde der junge Lehrer, ohne daß er davon eine Ahnung hatte, als ein seltsames Tier eingehend studiert. Bei alledem erwiesen ihm aber seine Schüler nur Artigkeit. Sie behandelten ihn nach jenem chinesischen Gebot, »daß man nicht einmal auf den Schatten eines Lehrers treten dürfe«. In jedem Fall fragten Samurai-Schüler wenig danach, ob ihr Lehrer ein Menschenwesen sei oder nicht, solange er zu unterrichten verstand. Hatte doch den Helden Yoshitstumé ein Tengu die Kunst ein Schwert zu handhaben gelehrt; Wesen von nicht menschlicher Gestalt hatten sich des öftern als Gelehrte und Dichter erwiesen. Aber hinter der nie gelüfteten Maske der Höflichkeit wurde über die Gewohnheiten des Fremden genau Buch geführt, und das endgültige Urteil, das aus solchen Vergleichungen und Beobachtungen resultierte, war nicht allzu schmeichelhaft. Der Lehrer selbst wäre nie imstande gewesen, sich von der Kritik seiner Schüler eine Vorstellung zu machen, noch hätte es sicherlich seine Gemütsruhe bei dem Korrigieren der Schularbeiten im Schulzimmer erhöht, wenn er die Bemerkungen der Schüler verstanden hätte:

»Du kannst an seiner Hautfarbe sehen, wie schlapp sein Fleisch ist. Es wäre ein Kinderspiel, seinen Kopf mit einem Hieb herunterzuschlagen.«

Einmal kam es ihm in den Sinn, an ihren Ringübungen teilzunehmen – zum Spaß natürlich – aber sie wollten seine physische Kraft wirklich erproben, er wurde als Athlet nicht sehr hoch veranschlagt: »Seine Arme sind ja stark«, sagte einer, »aber er versteht nicht mit dem Körper nachzuhelfen, wenn er sie benützt – und seine Hüften sind sehr schwach – ihm das Rückgrat zu brechen, wäre ein Leichtes.« – »Ich glaube, es wäre sehr leicht, mit den Fremden zu kämpfen«, sagte ein Dritter. »Mit Schwertern wäre es ein Leichtes«, entgegnete ein Vierter, »aber in der Handhabung von Feuerwaffen sind sie viel geschickter als wir.«

»All dies können wir lernen«, sagte der Erste, »und haben wir erst die abendländische Kriegskunst erlernt, dann brauchen wir uns nicht vor ihren Soldaten zu fürchten.«

»Die Fremden sind nicht so abgehärtet wie wir«, bemerkte ein anderer, »sie ermüden leicht, und fürchten die Kälte, – den ganzen Winter über muß unser Lehrer in seinem Zimmer ein großes Feuer haben, – müßte ich nur fünf Minuten dort bleiben, hätte ich schon Kopfschmerzen.« –

Aber bei alledem waren die Knaben sehr fügsam ihrem Lehrer gegenüber, und er gewann sie lieb.

 

Veränderungen kamen, wie große Erdbeben kommen, – ohne vorhergehende Warnung: Die feudalen Fürstentümer wurden in Präfekturen umgewandelt, die Vorrechte der Kriegerkaste abgeschafft, das ganze Gesellschaftsgebäude auf neuer Grundlage rekonstruiert. Diese Ereignisse erfüllten den Jüngling mit Trauer, obgleich es ihm nicht schwer fiel, seine Lehnspflicht vom Fürsten auf den Kaiser zu übertragen, und obgleich der Reichtum seiner Familie in keiner Weise durch diese Umwälzung Einbuße erlitt. Alle diese Veränderungen zeigten ihm jedoch, in welcher Gefahr die nationale Kultur schwebte. Sie kündeten das unvermeidliche Verschwinden der alten hohen Ideale und fast aller geliebten Dinge. Aber er war sich dessen wohl bewußt, hier half kein Trauern, – einzig durch die Selbstumwandlung durfte die Nation hoffen, ihre Unabhängigkeit zu retten. Es war Patriotenpflicht, sich der Notwendigkeit zu fügen und sich darauf vorzubereiten, in dem Drama der Zukunft eine Rolle zu spielen.

In den Samurai-Schulen hatte er so viel Englisch gelernt, daß er sich mit den Fremden gut verständigen konnte. Er stutzte sein langes Haar, legte seine Schwerter ab und begab sich nach Yokohama, um das Studium der Sprachen unter günstigern Verhältnissen fortzusetzen. Der Kontakt mit den Fremden hatte selbst die japanische Hafenbevölkerung umgewandelt – sie waren roh und vulgär, und sprachen und benahmen sich, wie die unteren Volksschichten in seiner Vaterstadt es niemals zu tun gewagt hätten. Die Fremden selbst machten auf ihn einen noch unangenehmeren Eindruck. Es war der Zeitpunkt, wo die fremden Ansiedler den Ton von Siegern gegen Besiegte anschlagen durften und wo das Leben in den offenen Häfen weit weniger anständig war, wie jetzt. Die neuen Ziegelbauten erinnerten in unangenehmer Weise an die japanischen Farbendrucke, die die Sitten und Gebräuche der Ausländer darstellten, und er vermochte seine knabenhaften, phantastischen Vorstellungen über die »Fremden« nicht so schnell abzustreifen.

Seine Vernunft ließ sich freilich davon überzeugen, daß sie wirklich Menschen waren wie er selbst, aber in seinem innersten Empfinden wollte sich das Verständnis für ihr ihm verwandtes Menschentum noch nicht einstellen.

Das Rasseempfinden ist eben älter als die intellektuelle Entwicklung, und er konnte die abergläubischen Vorstellungen, die damit zusammenhängen, nicht so leicht abschütteln. Auch geriet sein kriegerischer Sinn hie und da durch häßliche Dinge, die er sah oder hörte, in Wallung – Vorfälle, die den heißen Impuls seiner Vorfahren in ihm wachriefen, eine Feigheit zu rächen, oder ein Unrecht zu sühnen.

Aber er lernte seinen Widerwillen besiegen, der ein Hindernis für seine Fortbildung sein konnte. Es war Patriotenpflicht, die Natur des Feindes seiner Nation zu studieren. Allmählich eignete er sich die Fähigkeit an, das ihn umgebende Leben vorurteilslos zu beobachten, seine Vorzüge ebenso wie seine Mängel, seine Stärke nicht minder wie seine Schwäche. Er fand Güte, er fand Hingebung an die Ideale, Ideale, die nicht den seinigen glichen, aber denen er seine Achtung nicht versagen konnte, weil sie wie die Religion seiner Vorfahren Selbstverleugnung in vielen Dingen forderten.

Auf diese Weise faßte er Liebe und Vertrauen zu einem alten Missionär, der in seinem Erziehungs- und Bekehrungswerke ganz aufging. Dem alten Manne lag es ganz besonders am Herzen, den Jüngling zu bekehren, bei dem er Fähigkeiten ungewöhnlicher Art erkannte, und er gab sich alle erdenkliche Mühe, das Vertrauen des Knaben zu gewinnen. Er stand ihm in vielen Dingen bei, unterwies ihn im Französischen, Deutschen, Griechischen und Lateinischen und stellte ihm seine große Bibliothek zu freier Verfügung. Zutritt zu einer ausländischen Bibliothek zu haben, die Werke über Geschichte, Philosophie, Reisebeschreibungen und schöne Literatur enthielt, war damals ein seltenes Privilegium für einen japanischen Studenten. Das Anerbieten wurde daher mit größter Dankbarkeit angenommen, und dem Besitzer der Bibliothek fiel es natürlich nicht schwer, seinen Lieblingsschüler bald zur Lektüre eines Teiles des Neuen Testaments zu bestimmen. Der Jüngling drückte sein Erstaunen darüber aus, »in den Lehren der bösen Sekte« ethische Vorschriften zu finden, die denen des Confucius glichen. Er sagte dem alten Missionär: »Diese Lehre ist uns nicht neu, aber sie ist sicherlich sehr gut. Ich werde das Buch studieren und darüber nachdenken.«

 

Das Studium und das Nachdenken sollten den Jüngling viel weiter führen, als er für möglich gehalten hätte. Die Erkenntnis, daß das Christentum eine große Religion sei, brachte neue Zugeständnisse anderer Art mit sich, neue Vorstellungen über die Zivilisation der christlichen Rassen. Es schien damals vielen denkenden Japanern, vielleicht sogar auch den kühnen Geistern, die die nationale Politik leiteten, daß es vielleicht Japans Los sei, unter fremde Herrschaft zu kommen. Noch war freilich Hoffnung vorhanden, dies zu vermeiden und insolange auch nur der Schatten einer Hoffnung blieb, war jedermanns Pflicht sonnenklar. Aber die Macht, die das Kaisertum bedrohte, schien unwiderstehlich. Und indem er diese ungeheure Macht studierte, konnte der junge Samurai nicht umhin, sich mit einer Verwunderung, die an Furcht grenzte, zu fragen, woher diese fremde Zivilisation ihre Stärke schöpfte. Konnte sie, wie sein alter Lehrer behauptete, in irgend einer okkulten Beziehung zu einer höheren Religion stehen? Die alte chinesische Philosophie, die behauptete, die Glückseligkeit eines Volkes stehe im Verhältnis zu seiner Befolgung göttlicher Gesetze und seinem Gehorsam gegenüber den Lehren seiner Weisen, bestätigte eine solche Theorie. Und kam die überlegene Macht der abendländischen Zivilisation wirklich von der Überlegenheit der abendländischen Ethik, war es da nicht klare Pflicht jedes Patrioten, sich diesem höheren Glauben anzuschließen und die Bekehrung der ganzen Nation anzustreben? Ein Jüngling dieser Zeit, auferzogen in dem Geiste der chinesischen Wissenschaft, und naturgemäß in Unkenntnis der Geschichte der sozialen Evolution des Abendlandes, konnte sich unmöglich vorstellen, daß die höchsten Formen des materiellen Fortschritts durch eine erbarmungslose Konkurrenz entstanden seien, die nicht nur den Prinzipien des christlichen Idealismus widerstreitet, sondern auch mit jedem ethischen Prinzip unvereinbar ist.

Selbst jetzt noch glauben Millionen gedankenloser Menschen des Abendlandes an irgend einen göttlichen Zusammenhang zwischen der Militärmacht und dem christlichen Glauben, und selbst von den Kanzeln wird göttliche Rechtfertigung für politische Raubzüge verkündet, und Erfindungen von Explosivgeschossen werden als göttliche Inspiration dargestellt. Bei uns ist der Aberglaube nicht auszurotten, daß die Rassen, die sich zum Christentum bekennen, von der Vorsehung ausersehen seien, andersgläubige Rassen zu berauben und zu vernichten. Einige Philosophen haben die Überzeugung ausgesprochen, daß wir noch Tor und Odin anbeten, nur mit dem Unterschied, daß Odin ein Mathematiker geworden ist, und daß jetzt der Hammer »Mjölne« mit Dampf arbeitet. Aber solche Männer werden von den Missionären für Atheisten und unsittliche Menschen erklärt.

Doch wie dem auch sei, es kam der Tag, da der junge Samurai beschloß, sich ungeachtet des heftigen Widerstands seiner Angehörigen zum Christentum zu bekennen. Dies war ein kühner Schritt, aber die strenge Zucht seiner Jugenderziehung hatte seinen Charakter gestählt, und nichts konnte ihn in seinem Entschlüsse wankend machen, selbst nicht der Kummer seiner Eltern. Sein Abfall von dem Glauben seiner Ahnen bedeutete für ihn mehr als einen vorübergehenden Schmerz: er verlor sein Erbrecht, er setzte sich der Verachtung seiner Kameraden aus, büßte seinen Rang ein und sah sich ohne alle Existenzmittel. Aber sein Samurai-Idealismus hatte ihn gelehrt, Eigensucht zu verachten. Er sah und dachte nur an das, was ihm als seine Pflicht als Patriot und Wahrheitssucher erschien, und er folgte diesem Gebot ohne Furcht und Zaudern.

 

Diejenigen, welche hoffen, ihren eigenen abendländischen Glauben an Stelle einer alten Religion setzen zu können, die sie mit Zuhilfenahme von Argumenten der modernen Wissenschaft bekämpfen, bedenken nicht, daß die gegen den alten Glauben ins Treffen geführten Beweisgründe mit gleicher Kraft gegen den neuen angewendet werden können. Unfähig, sich selbst zu höheren Gedankensphären aufzuschwingen, vermag der Durchschnittsmissionär nicht vorauszusehen, welche Wirkung sein mangelhafter Unterricht auf Individuen von weit höherer Intelligenz als seiner eigenen, ausüben wird. Er ist deshalb erstaunt und betroffen, zu sehen, daß gerade seine intelligentesten Schüler sich am frühesten vom Christentum wieder lossagen. Den religiösen Glauben bei einem klugen Menschen zu zerstören, der mit der buddhistischen Schöpfungsgeschichte zufrieden war, weil er die modernen Wissenschaften nicht kannte, das ist nicht schwer; aber demselben Geiste abendländische Religion an Stelle orientalischen Gefühlslebens einzupflanzen, presbyterianische, lutherische oder päpstliche Dogmen an Stelle von chinesischer oder buddhistischer Ethik zu setzen, ist nicht möglich. Die psychologischen Schwierigkeiten eines solchen Vorgehens werden von den modernen Evangelisten nicht erkannt. Schon in alten Zeiten, als der Glaube der Jesuiten und der Mönche nicht weniger abergläubisch war als die Religion, die sie überwinden wollten, waren dieselben tiefwurzelnden Hindernisse vorhanden, und die spanischen Priester mochten selbst, während ihr felsenfester Glaube und ihr fanatischer Feuereifer Wunder vollbrachten, die Empfindung gehabt haben, daß sie zur völligen Verwirklichung ihres Traumes die Unterstützung des Schwertes nicht würden entbehren können. Heutzutag sind die Bedingungen für Bekehrungswerke weit ungünstiger, als es jemals im sechzehnten Jahrhundert der Fall war. Das Erziehungssystem wurde auf wissenschaftlicher Basis umgestaltet: Unser religiöser Glaube ist durch eine Moral ersetzt worden, die die ethischen Forderungen auf rein sozialer Grundlage durchführt; und die Menge unserer Kirchen beweist keine Zunahme der Gläubigkeit, sondern nur einen gesteigerten Respekt vor der Konvention. Nie werden die abendländischen Konventionen im Osten herrschend sein, und nie wird man ausländischen Missionären gestatten, in Japan die Rolle der Sittenwächter zu spielen.

Schon haben die liberalen unter unseren Kirchen, die, deren Kultur die umfassendste ist, die Vergeblichkeit der Missionsarbeit erkannt. Aber es ist nicht notwendig, den alten Dogmatismus ganz zu stürzen, wenn man ein buddhistisches Volk lehren will, der Wahrheit näher zu kommen: sorgfältige Erziehung würde allein schon genügen, und die Nation, bei der das Erziehungswesen am höchsten steht, die Deutschen, senden keine Missionäre mehr in das Innere des Landes. Ein weit bedeutsamerer Erfolg der Missionsbemühungen, als der unvermeidliche, alljährliche Bericht über neue Bekehrungen, war die Reorganisation der Landesreligion, und ein neuerlicher Regierungserlaß, der die höhere Erziehung der Priesterschaft forderte. Ja, lange vor diesem Erlaß, hatten die wohlhabenden Sekten buddhistische Schulen nach abendländischem System errichtet, und die Shinshu-Sekte kann schon auf viele in Paris und Oxford erzogene Bekenner hinweisen, Männer, die den Sanskritgelehrten der ganzen Welt bekannt sind. Sicher wird Japan höhere Glaubensformen brauchen, als es seine mittelalterlichen waren, aber diese müssen sich selbst aus den alten Formen herausentwickeln. Von innen heraus, nicht von außen, muß die Renaissance kommen. Ein durch die abendländische Wissenschaft gestärkter Buddhismus wird den zukünftigen Bedürfnissen der Nation entsprechen.

Durch den neuen Proselyten in Yokohama sollten die christlichen Missionäre bald eine ihrer beschämendsten Niederlagen erfahren.

Stellung und Reichtum hatte er aufgeopfert, um ein Christ zu werden, oder eigentlich das Glied einer fremden Religionssekte, und schon nach wenigen Jahren, fiel er öffentlich von dem Glauben ab, den er um einen solchen Preis erwählt hatte! Er hatte die großen modernen Geister studiert und war in ihre Ideen besser eingedrungen, als seine Lehrer, die nicht mehr vermochten, seine Fragen zu beantworten, – es sei denn durch die Behauptung, daß Bücher, deren teilweises Studium sie ihm empfohlen hatten, als Ganzes eine Gefahr für den Glauben bedeuteten. Da sie aber außer stande waren, die angeblichen Irrlehren dieser Bücher zu beweisen, blieben ihre Warnungen unwirksam. Er sagte sich von der Kirche los, nach einer offenen Erklärung, daß ihre Lehrsätze nicht auf wahrer Vernunft oder wirklichen Fakten beruhen, und daß er sich berufen fühle, die Anschauung der Männer anzunehmen, die seine Lehrer als Feinde des Christentums verdammt hatten. Sein Abfall machte ungeheures Aufsehen.

Der wirkliche Abfall sollte jedoch erst kommen. Im Gegensatz zu anderen, die eine solche Erfahrung gemacht hatten, wußte er, daß die Religionsfrage für ihn nur zeitweilig in den Hintergrund getreten war, und daß er kaum noch das Alphabet dessen gelernt hatte, was noch zu lernen war. Er hatte den Glauben an den relativen Wert der Religionen als bewahrende und zurückhaltende Mächte behalten. Die unklare Vorstellung einer Wahrheit, – der Wahrheit eines bestehenden Zusammenhanges zwischen den Zivilisationen und ihren Religionen, – hatte ihn zuerst auf den Pfad gelockt, der zu seiner Bekehrung führte. Die chinesische Philosophie lehrte ihn das, was die moderne Soziologie als Gesetz erkennt: Daß kein menschliches Gemeinwesen je ohne Priesterschaft höhere Entwicklung erreicht hat. Und der Buddhismus hatte ihn gelehrt, daß selbst die Wunder dem schlichten Geist in Parabelform als Wirklichkeit vorgeführt, ihren Wert und ihre Berechtigung als Hilfsmittel zur Entwicklung des ethischen Lebens des Menschengeschlechtes haben können. Von diesem Gesichtspunkt blieb sein Interesse für das Christentum unvermindert. Obgleich er das, was ihm sein Lehrer von der höheren Moral der christlichen Nationen gesagt hatte, bezweifelte, – allerdings hatte er in dem Leben der offenen Häfen keine richtigen Beispiele dafür gefunden, – wünschte er doch sich von dem Einfluß der Religion auf die Sittlichkeit durch eigene Anschauung im Abendlande zu überzeugen. Er beschloß, europäische Länder zu besuchen und die Ursache ihrer Entwicklung und den Grund ihrer Macht zu studieren.

Diesen Entschluß konnte er früher ausführen, als er gehofft hatte.

Die intellektuelle Regsamkeit, die ihn in religiösen Dingen zu einem Zweifler gemacht hatte, hatte ihn auch zum politischen Freidenker gemacht. Er zog sich die Ungnade der Regierung zu durch öffentliche Äußerungen, die in Widerspruch mit der herrschenden Politik standen, und mußte gleich anderen Unvorsichtigen, die unter dem Einflüsse der neuen Ideen handelten, sein Vaterland verlassen. Es begann für ihn eine Reihe von Wanderungen, die ihn allmählich rings um die Welt führten. Zuerst bot ihm Korea eine Zuflucht, dann China, wo er als Lehrer sein Dasein fristete, bis er sich endlich eines Tages an Bord eines Schiffes fand, das nach Marseille segelte. Er besaß nur wenig Geld, aber er machte sich keine Gedanken darüber, wie er in Europa leben können würde. Jung, stark, athletisch gebaut, genügsam und an Entbehrungen gewöhnt, fühlte er sich seiner selbst sicher, und überdies hatte er Briefe an Europäer, die ihm weiter helfen würden.

Aber Jahre sollten vergehen, ehe er sein Geburtsland wiedersehen konnte.

 

Während dieser Jahre lernte er die abendländische Zivilisation so gründlich kennen wie wenige Japaner. Denn er wanderte durch Europa und Amerika, lebte in vielen Städten, und betätigte sich auf vielen Gebieten, bald geistig, häufiger durch seiner Hände Arbeit, und war so in der Lage, die höchsten und niedersten, die besten und schlechtesten Seiten dieses Lebens zu studieren. Aber er sah mit den Augen des Orientalen, und seine Art zu urteilen war anders als die unsere. Denn ebenso wie der Abendländer den fernen Osten betrachtet, betrachtet der Orientale das Abendland. – Was in der eigenen Schätzung am höchsten steht, wird naturgemäß von dem Fremden am niedrigsten gewertet werden, und beide haben darin sowohl recht wie unrecht. Es hat niemals ein vollkommenes gegenseitiges Verständnis gegeben, und wird niemals ein solches geben.