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Für Elke Louise

Bernhard bat Herrn Friedrich Teste um Romantitel, deren Lektüre er besonders empfehlen könne. Der Ältere besann sich nicht lange, kramte in einem seiner Koffer und reichte ihm als erstes den dickleibigen "Nachsommer" von Adalbert Stifter mit den Worten: "Am besten im Vorfrühling zu lesen."

Damit war der Jüngere für einige lange Lesewochen wohlversorgt.

"Mein Vater war kein Kaufmann, sondern ein gekaufter Arbeitssklave. Er bewohnte die Dachmansarde in einer Mietskaserne, die dem Kaufmann Drendorf gehörte."

So könnte ein nachsommerlicher Roman der Jahrtausendwende beginnen.

"Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter", vor dem der junge mittelstandesbewußte Heinrich Drendorf bei seinem späteren adligen Mentor Risach Schutz sucht, "den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja, ich halte sie für kleiner", beginnen die "Bunten Steine". "So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes… Den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört,… halte ich nicht für größer, sondern für kleiner…"

"Eins ist es vor allem, was unsere Zeitgenossen vom "Nachsommer" trennt", sagte Herr Friedrich Teste und zitierte aus dem Roman: "Wem das nicht heilig ist, was ist, wie kann der Besseres schaffen, als was Gott geschaffen hat?"

"Der junge bürgerliche Held sucht Schutz vor einem Gewitter bei einem wetterkundigen Adligen, der weiß, daß es gar kein "prächtig einherziehendes Gewitter" geben wird. Blitzschlag und Donnerwetter, die gar nicht kommen, führen aber den Schüler zu seinem Lehrer. Der weise Greis, der gleichwohl weniger von Philosophen als von Möbelschreinern hält, fährt in keine Krisen und Konflikte ein, sondern in ein weiches Austro-Arkadien. Der Garten Eden entsteht hier durch Gartenbaukultur. Der moderne Leser, der lieber Vorfrühling als Nachsommer sucht, fällt auf die vermeintlich falsche Idylle aber wohl nicht herein. Er wittert versteckte Gewitter hinter allzu säuselnden Lüften, er sucht den mühsam unterdrückten Gefühlssturm hinter den verdächtig ruhig rieselnden Bächen, er kann die grünende Erde vom verwüstenden Erdbeben nicht trennen und sieht im glänzenden Himmelblau nur eine Fassade, die über unterirdische Vulkane hinwegtäuschen soll. Stifters schönes "Schimmern der Gestirne" ist nicht mehr Kants erhaben "gestirnter Himmel über uns", und das strenge "moralische Gesetz in uns" ist zum "ganzen Leben voll Gerechtigkeit" biedermeierlich ermäßigt, sagen wir. Haben wir damit Recht?"

Friedrich Teste goß sich eine neue Tasse vom grünen Tee ein.

„Wer Stifters "Nachsommer" liest, kann sich des Eindrucks kaum erwehren, daß hier in aller Seelenruhe eine Seite der Welt nur ans Licht gezogen werde, um ihre dunkle Kehrseite nicht erwähnen zu müssen. Ein naturalistisch gewitzter Leser von heute wird weder dem Autor noch seinem Helden mehr eine solche Spielart von Entwicklung zutrauen und abnehmen. Ein solcher Grad an harmonistischer Konfliktlosigkeit beim Hineinwachsen in eine Kultur erscheint uns heute einfach zu unglaubhaft, um keine versteckten Hintergedanken vermuten zu dürfen. Lassen wir einmal beiseite, daß der dort ausgebreitete Bildungskanon seltsam vorgestrig anmutet, von den Zeitläuften überholt, und wir können nicht einmal glauben, daß jemals irgendwo ein Erwachsenwerden so verlaufen sein soll oder auch nur als wünschenswert plakatiert worden sein könnte. Wir vermuten eine Ironie des Autors, wenn wir keine handwerkliche Schwäche unterstellen sollen. Die Welt des "Nachsommers" dünkt vielen von uns eher ein Alptraum als ein Wunschtraum, und es bleibt nur die Frage, ob das der Absicht des Autors entsprach.

Ob nun gewollt oder nicht - der Roman verträgt eben beide Lesarten, als Epos einer bruchlosen Akkumulierung von zeitlosem Bildungskapital wie als kalkulierte Maskerade, die ununterbrochen ihr eigenes Gegenteil nahelegt, also unterdrückte Leidenschaften hinter abgeklärtem Getue aller Beteiligten vermuten läßt. Ist diese Bildungsutopie eine abschreckende Gegenutopie, eine faschistoide "brave old world" oder ein kakanischer Sonnenstaat von eigentümlich unzeitgemäßem Charme?" Friedrich Teste machte eine Pause.

"Bürger und Adlige treffen sich als passionierte Möbelrestaurateure. Solchen Kunstgewerbekitsch würden wir heute in kein ernstgemeintes Kulturcurriculum mehr aufnehmen. Die Protagonisten hangeln sich nicht von Konflikt zu Konflikt, wie wir es erwarten und fordern, sie stolpern nicht von Krisenchoc zu Krisenchoc, sondern reifen pflanzengleich in ihre schicksalhaften Bestimmungen hinein, ohne großartige seelische Gestehungskosten und Ringkämpfe. Hatte Arno Schmidt Recht, als er vom sanften Gesetz des "sanften Unmenschen" sprach, der Naturtriebe bei sich und bei anderen schönfärberisch unterdrücke? Hatte nicht auch der Linzer Schuldirektor zeitlebens geschluckt statt gespuckt, immer alles in sich hineingefressen und seine Wutanfälle nur gegen sich selbst zu kehren gewagt, bis hin zur finalen Selbstmorddepressivität? War der Suizid die Wahrheit des berüchtigten Softy-Gesetzes? Oder darf ich Stifters ruhige Schilderungen eines sprunglos ruhigen Reifens in aller Ruhe zum wörtlichen Nennwert nehmen, ohne dahinter eine mühsam niedergehaltene mörderische Aufgebrachtheit zu vermuten? Wird hier die mangelnde Lebenskunst zur sadomasochistischen Verkleidungskunst?

Ist alles so windelweich gemeint, wie es im Text windelweich dasteht, oder wurde die Fassade kunstvoll geglättet, um im Leser den Detektiv wachzurütteln und den Voyeur aufzureizen? Sollen wir zu jeder Humanitätsduselei das unterirdische Beben der Affekte hinzuphantasieren und dann die Verantwortung für unsere schmutzigen Phantasien selbst übernehmen? Ausgerechnet der antichristliche Hedonist Nietzsche war einer der ersten Lobredner des Romans, den er wieder und wieder zu lesen empfahl, damit etwas von dessen sittigend unaufgeregtem Geist in den zivilisatorisch überreizten Zeitgenossen übergehe - gegen allen konfliktgeilen Zeitgeist. Ist der Mensch jene Pflanze, die sich ihren Standort selber wähle, oder ein im Kulturkäfig herumrennender Tiger?"

Bernhard fühlte sich belebt, vom Tee wie vom Gespräch.

„Ich weiß nicht, was ich von dem Buch halten soll. Sind die Leidenschaften, von denen das Buch fast systematisch schweigt, nun in Kulturleistungen erfolgreich sublimiert oder nur mühsam verdrängt? Ist das Ergebnis eine Frucht der Selbstbezwingung oder der Selbstbestimmung oder beides zugleich? Selbstbezwingung wäre christlich, Selbstbestimmung wäre hebräisch oder deutschidealistisch."

"Sind die heißen Triebe nun kühl kultiviert oder ihre Unterdrückung nur künstlerisch rationalisiert? Kurz: Hat Stifter das ernst oder ironisch gemeint? Der heutige Leser, der seinen Passionen keine solchen Kulturrekorde mehr abverlangt, macht es sich leicht: Die Triebe schweigen nicht, aber der Autor ist es, der sie verschwiegen hat, um sie desto sicherer anzufachen. Schließlich schreien sie nie schöner und lauter, als wenn sie so systematisch totgeschwiegen werden. Ist die erfolgreiche Erziehung im Rosenzuchthaus des Asperhofes nicht ein besonders perverser Trick, um abgestumpfte Wüstlingsnerven wiederzubeleben? Jeder geäußerte Satz erregt seinen Gegensatz, jedes milde Wort sein wildes Widerwort, wie Stifter von Goethe wußte. Der Text verbirgt einen sous-texte, den er offenbart und der ihn dementiert. Sind das edelpornographische Sittengemälde im unverdächtigen Gewande von humanistischen Sittenpredigten, und kokettiert jede sittliche Tatenlosigkeit mit der sinnlichen Untat, der sie abgedungen scheint? Ist die Winkelmann-Keuschheit hier zum Aphrodisiakum stilisiert, damit der Teufel hinter tausend Engelsmasken erraten werden will? Ist Freiherr von Risachs Rosenzucht nur eine bürgerlich-feudale Neurosenzucht?"

"Macht man den "Nachsommer" nicht so zu einer zynisch raffinierten Wichsvorlage für Fortschrittene und für exzeßerschöpfte Roués?"

"Ist Risachs "Asperhof" wie Mathildes "Sternenhof" eine moralische Lehranstalt für raffinierte Konfliktfeinsteuerung oder für ideologisierte Konfliktvermeidungsstrategien? Sind die Protagonisten nur konfliktscheu oder krisenunfähig, wenn sie das einwiegende Hingleiten mehr lieben als das gewaltsam Plötzliche, hereinplatzend Sprunghafte, das abrupt Herumwerfende und jäh Unterbrechende?"

Bernhard wurde schon seit einiger Zeit von der Gewißheit gequält, daß seine Bildung noch sehr ungenügend war, ungenügend nicht nur für eine künftige Berufsausbildung, sondern auch gemessen an seiner Vorstellung vom Menschen, der sich in einer Welt vorfindet, die er in der Breite und in der Tiefe kennenlernen muß, um ein überlebenswertes Leben zu führen. Er wollte nicht nur wissen, wie technische Gerätschaften seiner Umgebung auf Knopfdruck zu bedienen seien, um berechneten Nutzen von ihnen zu haben. Sein Leben sollte nicht hingehen mit dem Studium von Gebrauchsanweisungen für allerlei fabrikneue Lebensbequemlichkeiten und Erlebnisbeschaffungsapparaturen, ob nun in menschlicher oder in technischer Gestalt. Begierig auf Wissen um seiner selbst willen, mußte er zum Lernen nicht erst motiviert oder abgerichtet werden. Er fühlte sich von unzähligen Geheimnissen umlagert, die ihn quälten, und es gab zu viele Rätsel, die vielleicht der Mensch längst gelöst hatte, nur nicht der Mensch, der er selber war.

Was waren das für Esel, denen die Mohrrrüben einer praktischen Belohnung vor die Nase gebunden werden müssen, damit sie sich endlich in Bewegung setzen?

Es war keine Zeit zu verlieren. Was er jetzt auf der Stelle nicht kapierte, das würde in seinen sklerotischen Kopf später erst nicht mehr hinein wollen. Bernhard dankte dem Schicksal, in Herrn Teste einen erfahrenen Bücherbergsteiger gefunden zu haben, der sich freundlich seiner annahm und sich zu freuen schien, daß er sein Wissen am Ende des Lebens doch noch weitergeben konnte an ein empfängliches Gemüt. Es störte den Alten nicht, daß der Junge von diesen Schatzanweisungen vielleicht einen verstörend anderen Gebrauch machen würde als er selber. Bereitwillig gern teilte er sein Kapital, das in den Augen der meisten Zeitgenossen eine wertlose Währung aus untergegangenen Epochen sein mochte. Bernhard focht das nicht an, er suchte nicht den bequemsten Eilschlüssel zu den modernen Geldtöpfen und Privilegienpfründen, sondern die Sesamworte aus Platons Wahrheitshöhle.

Und Herr Teste schien mit seiner Hilfsbereitschaft kaum einen persönlichen Ehrgeiz zu verbinden. Es sah nicht so aus, als suchte er die Seele des Jüngeren in den Griff zu bekommen, aber dieser beschloß dennoch, wachsam zu bleiben im Zeitalter der professionellen Manipulateure und Desorientierungskünstler. Der junge Verstand wollte die kleinen Handreichungen und diskreten Hilfestellungen des Erfahreneren dankbar annehmen, jedoch nicht davor abdanken. Aber das war erst ein allgemeines Programm, und man würde die besonderen Einzelfälle abwarten müssen.

Zum Glück beschränkte Herr Teste seine Einflußnahme auf die Leseempfehlung von Büchern. Er interpretierte sich die Dinge nicht gezielt zurecht, sondern ließ seinem Schüler die Freiheit, Angebote auch zurückzuweisen und beliebigen Gebrauch davon zu machen. "So wird niemand auf Nimmerwiedersehen verschlungen von dem Buch, das er verschlingt."

Er ließ es gut sein mit knappen sachlichen Erläuterungen und wertvollen Winken. Im Grunde ergänzten seine Bemerkungen nur wohltuend unaufdringlich den nüchternen Anmerkungsteil der Bücher.

Bernhard begleitete Herrn Teste oft in die große Staatsbibliothek der Stadt. Dieser schlug niemals einen Bildungskanon vor, der von Kultusministerien als Rahmenrichtlinien verbindlich an Ober- und Hochschulen eingeführt werden könnte, obwohl er dazu auch wiederum nicht völlig ungeeignet schien. Der Lese-Ausweis und damit das ganze Studium kostete die beiden nicht mehr als zehn Mark jährlich pro Person.

Als Bernhard den Wunsch äußerte, sich irgendwelchen Formen geselliger Gemeinschaft mit geistig Gleichgesinnten anzuschließen, zitierte Herr Teste den bedeutendsten Literaturkritiker des 19. Jahrhunderts:

"Sich von allen fernhalten und allem fernbleiben, darin liegt, glaube ich, mein innerer Wunsch und meine wahre Bestimmung… Mehr noch: Wir gens de lettres wollen die Zelle nie verlassen… Unsere Losung ist: en dehors de tout."

Er sprach von der Gesellschaftsferne als Erkenntnischance. "Wo sie zum erstenmal überregionalen Einfluß auf die große Politik erhielten, 1789 und dann im Sozialismus und Nationalsozialismus unseres Jahrhunderts, da blamierten die Künstler sich unsterblich. Sie wollen die Handelnden leiten und werden dabei nur deren Handlanger. Sobald die bürgerlichen Intellektuellen mitmischen und das Volk aufklären wollen, sind sie nur noch intelligente Dummköpfe. Wenn sie sich jemals einig würden, dann nur, um eine Diktatur zu gründen, eine Diktatur der Rache und des Ressentiments."

Sprach jetzt aus Herrn Teste selber das Ressentiment eines bloß Abgewiesenen?

Bernhard versuchte, das soziale Engagement gerade der Schriftsteller zu verteidigen, und forderte einen schlagkräftigen Syndikalismus der Geistesarbeiter. Er stellte das Fragwürdige an der "machtgeschützten Innerlichkeit der freischwebenden Intelligenz" heraus, aber Teste hielt ihm den europäischen Ur-Aphoristiker Larochefoucauld entgegen.

"Seine sanfte Faulheit suchte das politische Scheitern und damit einen Vorwand für literarischen Ehrgeiz. Er schrieb nicht, weil sein Engagement gescheitert war, sondern ließ sich politisch scheitern, um sich literarisch rächen zu können. Seine "Maximen und Reflexionen" waren kein Ersatz für politischen Einsatz, sondern dessen Ziel. Sein Geistesadel war nie zu fassen, wie die Zeitgenossen klagten, war weder Schwertadel noch Hofadel. Auf die Politik wirkte er erst, als er die Literatur nicht mehr verließ. Ein gelungener Satz ist eine gute Tat, sagte Zola. Lasse Gottes Schöpfung zufrieden, sie ist immer schon in größtmöglicher Ordnung, die schöpferische Unordnung einschließt und benutzt. Als der erste Mensch auf die Welt kam, war alles Nötige schon getan. Ens et unum et verum et bonum convertuntur."

"Aber wenn wir heute etwas tun wollen, dann doch nicht deshalb, um Gottes Schöpfung zu verbessern, sondern um Werke aus Menschenhand zu korrigieren."

"Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn diese Wühler und Ärmelaufkrempier sich orientierten am Maßstab des von Gott Geschaffenen. Aber genau das tun sie nicht."

"Wer nur Gottes schöne Natur studiert, ohne gesellschaftlich aktiv zu werden, wird feige wie der Physiker Galilei, der vor Papst Urban III. zu Kreuze gekrochen war."

"Christi Wahrheit leidet durch Lügen. Aber die Wahrheit des kopernikanischen Weltbildes stand und fiel eben nicht mit der Standhaftigkeit seines Entdeckers."

"Ist also Naturwissenschaft für Feiglinge und Geisteswissenschaft für Helden?"

Herr Teste gab Bernhard den "Nachsommer" von Stifter zu lesen, war aber sonst in vielen Bereichen der schönen Literatur weniger beschlagen als sein junger Freund. Also wurde eine Arbeitsteilung beschlossen. Der Jüngere würde den Älteren in der Lektüre von Romanen und Schauspielen beraten, dafür sollte er von ihm in die Geheimnisse der Philosophie und Naturforschung eingeführt werden.

Herr Teste hatte vor allem Schwierigkeiten, ihn vom Wert der Naturwissenschaften zu überzeugen, also ihn darin mehr sehen zu lassen als eine Anleitung zur technologischen Schändung der guten Mutter Natur. Bernhard war kein Ökologe vom Dienst, aber doch Kind seiner Zeit genug, um irgendwie grün in grün zu denken wie alle Angehörigen seiner Generation. Dieses umweltzärtliche Grundempfinden hatte er schon mit der Muttermilch eingesogen und konnte es kaum noch distanzieren. Es gehörte zum kulturellen Apriori seiner Epoche. Niemand wagte diesen Grundkonsens in Frage zu stellen, und selbst die politischen Großkritiker des Ökologismus verstanden sich noch als die besseren Umweltschoner. Herr Teste aber war damit nicht aufgewachsen und hielt das "Ozonloch", das "Baumsterben" und den "Treibhauseffekt" für Vokabeln der psychologischen Kriegsführung, für Erpressungsmittel neuer Diktatoren und für Greuelmärchen wie das Ungeheuer von Loch Ness. Manche meinten es gesehen zu haben, viele glaubten daran, aber nachzuweisen oder zu fangen war es deshalb nicht. Aber Politiker fuchtelten damit herum, um Bevölkerungen einzuschüchtern und für ihre eigene Politik weichzuklopfen. Herr Teste mußte bei ihm erst einige psychische Widerstände überwinden, denn Bernhard tat so, als würden die Naturwissenschaften den Menschen von Gottes freier Natur eher trennen, als ihn damit zu verbinden.

"Wichtig sind die Erkenntnisse um ihrer selbst willen, nicht die praktischen Nutzanwendungen. Uns geht es hier um die Ergebnisse der Grundlagenforschung, nicht um die technisch-industriellen Auswertungen. Wir wollen doch die Schönheit von Naturgesetzen bewundern und nicht die Vorzüge von Teflonbratpfannen genießen." Herr Teste verlor fast ein wenig von seinem habituell kühlen Gleichmut, als er den ästhetischen Glanz von mathematischen Naturgesetzen beschwor, die als ewige Strukturen, als "Gottes Grundgedanken", den flüchtig wechselnden Naturphänomenen zu Grunde liegen. So weit ging dieser nüchterne Mann nur selten aus sich heraus. Er verspottete die hochmütig herablassende Verachtung, die Geisteswissenschaftler für die haushoch überlegenen Naturwissenschaftler gemeinhin übrig haben, und zitierte aus dem 19. Jahrhundert noch einmal den Literaturkritiker Sainte-Beuve:

"Keine Generation wird der Barbarei zum Opfer fallen, nur weil man etwas mehr in den Naturwissenschaften und etwas weniger in der Literatur und in den Geisteswissenschaften lernen wird, weil man die Mathematik und die Astronomie, Physik und Chemie besser verstehen wird, und weil man sich auf diese Weise angemessener Rechenschaft ablegen wird über das Universum, in dem man schließlich lebt und das nicht zu kennen eine Schande wäre."

Als könnte das seinen skeptischen Zögling besser überzeugen, fugte er noch das Zitat eines heutigen Physikers hinzu: "Die Erforschung der allgemeinen Gesetze der Natur dient der Ehre des menschlichen Geistes. Frühere Zeiten hätten vielleicht gesagt der Ehre Gottes."

In der Bibliothek griff sich Herr Teste aus einem Regal ein Lehrbuch der Physik zum Selbststudium, mit einer Formelsammlung. "95% aller Physiker arbeiten heute nur anwendungsorientiert. Die theoretische Physik fristet ein Aschenputteldasein. Die Experimente sind wichtig gewesen, um zu fundamentalen Theorien zu kommen, aber es sind nur Gerüste, die wegfallen, wenn das Gedankengebäude fertig ist, damit es in seiner ganzen Pracht überhaupt sichtbar wird. Den Zeitgeist interessiert immer nur, wie Theorien zustande kommen und wozu sie nützen, die Theorien selber interessieren heute wenig. Wir beide wollen es umgekehrt machen. Wir sind keine Physiker, die in Teilchenbeschleunigern künstliche Versuchsanordnungen schaffen, welche im Inneren von Sternen und Naturkatastrophen herrschen. Uns sollen hier aber allein die platonischen Ideen beschäftigen, die als Ordnungsprinzipien das vergängliche Datengewimmel experimenteller Resultate steuern. Heute sind es nicht mehr wie bei Platon nur geometrische Körper, die durch räumliche Drehungen ineinander übergehen, sondern allgemeingültige Naturgesetze und Symmetrien unter idealisierten Versuchsbedingungen.

Die diffizilen technischen Voraussetzungen und Nutzeffekte der Theorien wollen wir uns schenken und den Fachleuten überlassen. Der historische Gang der mathematischen Physik durch trial and error ist hochinteressant, aber viel wichtiger sind die ehernen Resultate, die diese verschlungene Geschichte am Ende in sich aufheben. Studieren solltest du die fundamentalen Gesetze, nicht die praktischen Wege hin zu ihnen und weg von ihnen. Deshalb gebe ich dir lieber ein Nachschlagewerk, das den glanzvollen Bau des gesicherten Wissens präsentiert, und keine Einführung in mühsame Experimentalphysik.

Genieße die Früchte und vergiß den Schweiß begabtester Generationen. Es ist die Quintessenz purer Erkenntnis um ihrer selbst willen, also Wissen als Selbstzweck ohne Schielen auf Profit und Kosten. Es ist ein ästhetischer Genuß an ausdestilliertem Geist, ein uninteressiertes Wohlgefallen, wie Immanuel Kant sagte. Aristoteles hielt den reinen Blick in die kosmische Ordnung für die weitestmögliche Annäherung an das selige Leben der Götter. Es gehört zur Gotteserkenntnis. Die höchste Form der Praxis ist der bios theoretikös."

In den nächsten Wochen versuchte Bernhard, sich dieses ihm bisher so verschlossene Naturwissen anzueignen, dem sein Naturell zu widerstreben schien. Mechanik, Akustik, Optik, Thermik, Elektromagnetismus und Atomphysik fingen an, ihre Schrecken für ihn zu verlieren in dem Maße, wie er sich konzentrierte auf die gesetzförmigen Grundstrukturen, deren ästhetische Brillanz und stringente Einfachheit ihn überwältigte, wie Teste vorhergesagt hatte. Er war also doch nicht blind für diese herbe Art von intellektueller Schönheit ohne sinnlichen Kitzel, auch ihm hatten mathematische Formeln das geistige Auge aufgetan, wenn man das leibliche Auge schließt, wie Platon sagt. Und Teste hatte ein Lehrbuch gewählt, das nicht mehr als die Rechenkünste eines Abiturienten verlangte. "Physics is simple, but subtle."

Ganz zwanglos schloß sich ein Studium der mathematischen Logik und der allgemeinsten Denkgesetze an. Herr Teste legte ihm einige geeignete Lehrbücher zur Auswahl vor, die "Grundzüge der Logik" des witzigen Willard van Orman Quine, Rudolf Carnaps schöne "Einführung in die symbolische Logik", "Grundriss der Logistik" von Menne-Bochenski und "Formale Logik" von Paul Lorenzen:

"Welche Art des Einstiegs einem besonders liegt, ist subjektiv sehr verschieden. Versuche herauszufinden, welcher dieser Autoren es dir persönlich am leichtesten macht, und den arbeite dann durch. Quine und Carnap bieten auch Übungsaufgaben. Wer lieber spielerisch lernt, der darf auch mit den Denksportbüchern von Raymund Smullyan anfangen."

Damit war Bernhard für die kommenden Wochen erst einmal ausgelastet. Aber Teste hielt nichts davon, daß er sich auf ein einziges Gebiet beschränkte: "In der Schule werden ja auch zehn Fächer nebeneinander unterrichtet".

Nun wollte er im Gegenzug auch literarische Lesetips hören. Bernhard führte ihn in der Bibliothek zum Stockwerk mit den zeitgenössischen Romanen und machte den Anfang mit Jean-Paul Sartres Erstling "Der Ekel" und mit dessen Jugendmemoiren "Die Wörter".

Teste versprach, als sie schieden, eine unvoreingenommene Prüfung.

Der Ältere fühlte und dachte politisch degagierter, aber beide autodidaktischen Arbeiterkinder waren sich einig, daß Arbeiter sich niemals reduzieren lassen dürften auf die materielle Tätigkeit, deren Mehrwert der Bürger für sich abschöpft.

"Sind materielle Dinge für Bürger nicht ungleich wichtiger, als sie für die Proletarier sein sollten? Warum willst du deine kostbare Lebenszeit verschwenden mit politischer Praxis, die hereinholen soll, was die materielle Plackerei nicht einbringt? Ich mag weder das eine noch das andere und beschränke mich auf das Lebensnotwendige."

Das sah der Jüngere etwas anders, aber beide wollten vom Besitz nicht besessen sein und sahen in materieller Bedürfnislosigkeit ein gutes Stück geistiger Unabhängigkeit. Wenn Bernhard von "Arbeiterselbstverwaltung der Produktion" träumte, lachte Teste:

"Sollen die Herrschaften ihre Fabriken und Konzerne doch behalten und verwalten! Ich will diese Betriebe nicht betreiben und besitzen. Soll ich mich auch noch freiwillig belasten mit diesem lebensgefährlichen Unfug?“

Je mehr Bernhard alle Reformhoffnung auf die Ostblockregime aufgeben mußte, desto hartnäckiger setzte er auf die unblamierte sozialistische Grundidee, der noch niemals eine wirkliche Chance gegeben worden sei. Das reale Moskau habe die an sich richtige Idee nicht etwa unsterblich blamiert, sondern nur ungerechtfertigt für sich in Anspruch genommen. Beim nächsten Mal wollte man es besser machen.

"Die Idee von Marx ist gut und nur mißbraucht worden - gleichgültig, ob nun die Oktoberrevolution erst später entartet ist oder von Anfang an nur ein Etikettenschwindel gewesen war."

Teste wiegte den Kopf.

"Aber Kapitalismus ist Industrialismus. Wer das eine sagt, muß auch das andere sagen, sonst verlieren beide ihren Sinn. Wer die Segnungen des Industriezeitalters ausschöpfen und genießen will, muß den Kapitalismus wollen, ob er will oder nicht, und dieser Kapitalismus gibt sein bestes auch für die Ausgebeuteten nur, wo er im demokratischen Rahmen wirtschaften kann. Industrialismus, Kapitalismus und Demokratie sind eine dreieinige Effizienz für alle. Wer aus diesem Dreigespann auch nur ein Teil herausbricht, lähmt das Ganze. Wer den Kapitalismus durch Sozialismus ersetzt, zerstört die Demokratie, und wer die freien Wahlen abschafft, der drosselt die Produktivität. Vielleicht ließe sich etwas besseres denken als das Kapital, aber was bisher am Reißbrett anderes vorgeschlagen wurde, war auch für die Armen und Erniedrigten immer nur viel schlechter. Marx irrte sich, es ist genau umgekehrt: Sozialismus ist eine bloße Vorstufe des Kapitalismus, und nicht einmal eine notwendige Vorstufe. Was über den Kapitalismus angeblich weit hinausgeht, fallt bisher nur weit hinter ihn zurück. Der Sozialist, der sich verbessern will, hat den demokratischen Kapitalismus noch vor sich und nicht etwa schon hinter sich - egal, ob er nun demokratischer Sozialist oder Nationalsozialist ist. Das sind doch nur die roten und die braunen Kehrseiten derselben totalitären Medaille. Natürlich ist der demokratisch sozialstaatlich gebändigte Kapitalismus immer noch ungerecht, ohne Zweifel, aber alle bisher bekannten Alternativen scheinen doch noch viel unerträglicher.

Bevor etwas sozial gerecht verteilt werden kann, muß es ja erst privatkapitalistisch ungerecht erwirtschaftet sein, na schön, einverstanden, und in vorindustrielle Zustände kann auch der Sklave nicht gut zurück wollen. Was das mit uns zu tun hat? Die kapitalistische Demokratie hat mehr ökologische Nischen für komische Paradiesvögel wie uns als alle sozialistischen Utopien zusammen. Wir beide können das Kapitel nicht nutzen und überleben doch in ihm. Wir können keiner Spielart des Sozialismus nutzen und würden deshalb von ihm vernichtet. Na klar, wir krassen Außenseiter leben hier wirklich nicht in Saus und Braus, aber auch nicht in Arbeits- und Umerziehungslagern."

"Wir sind Arbeiterkinder, die nicht mehr körperlich arbeiten, und doch keine Bürger geworden, die für uns arbeiten lassen. Leben wir also nicht zwischen Baum und Borke, sind wir weder Fisch noch Fleisch? Leben wir unserer Herkunftsklasse nun eine noch nicht ergriffene Möglichkeit vor, oder sind wir aus allen soziologischen Rastern herausgefallen und haben schon alle historischen Chancen verspielt?"

Beide sahen lange hinaus auf die Landschaft, die der Ökologen spottete.

"Ich denke, unser Experiment wäre es wert, etwas vergesellschaftet zu werden. Hat es nicht neue Qualitäten, die es verdienen, neue Quantität zu werden?"

"Aber das klingt ganz paradox nach Kollektivierung der Einzelgänger. Ich wäre eher für so etwas wie Einsamkeitsübungen von Jugend an."

"Wir sind weder Herrenmenschen noch Arbeitssklaven und auch kein Mittelstand zwischen denen da oben und uns hier unten. Wir wollen keine mittelständische Sklavenpeitsche sein in den Händen der Großbürger und auf den Rücken der Arbeitssklaven. Im Kuli stecken Potentiale, die nicht nur für ihre Herrschaften von Wert und von Mehrwert sind. Der Industriearbeiter muß Geistesarbeiter werden, und die graue Masse muß sich in selbständige Individuen auflösen, du hast Recht."

"Die Lust zum Atmen ist gratis, ein Stück Brot und Käse und ein Becher Wasser, ein Apfel und ein paar Tomaten, das wirklich Lebensnotwendige ist ja schnell beschafft und kostet nicht viel. Dazu muß niemand lebenslang schuften, bis die Knochen und Nerven kaputt sind. Was brauchen wir Tabak und Alkohol, Drogen und Fernseher, Haus und Hof, Autos und Automaten? Die Bibliotheken stehen auch dem Mittellosen offen, Papier und Bleistifte liegen im Überfluß herum, und immer wieder werden kostbare Bücher zu Spottpreisen verramscht, wenn du aufpaßt."

Bernhard störte sich nicht nur an Testes gelassenem politischem Degagement, sondern auch an seiner notorischen Junggesellenwirtschaft, und manchmal glaubte er dazwischen eine unterirdische Verbindung zu spüren. Das knorrige Philosophenzölibat und das politische Hagestolziat, wie hing das zusammen? Bernhard jedenfalls hatte noch nicht aufgehört, von einer Lebensgefährtin zu träumen, die nicht nur träumte vom aktiengestützten Mittelstandsglück aus Eigenheim und Eigenverantwortung.

Wo gab es eine Frau, die so altmodisch oder übermorgig dachte, daß sie ein philosophisches Naturell wenn nicht suchen, so doch wenigstens dulden würde? Diese Traumfrau sollte ihre Sanftmut nicht mit Lebensuntüchtigkeit erkaufen und würde nicht müde werden, für ihren Mann die Brücke zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sein. Sie würde ihm nicht folgen in die Klausnerzelle, wo er seine Purzelbäume auf dem Papier schlüge, sondern mit wenigstens einem Bein fest auf der Erde stehen, aber doch wohlwollend Anteil nehmen an seiner geistigen Welt, und vielleicht sogar ein wenig stolz sein auf einen solchen Mann, mit dem kein Staat zu machen war.

Bevor er Teste traf, hatte Bernhard sich ernsthaft gesehnt nach kargem Klosterleben in stillen Mönchsorden, nach fruchtbar weltflüchtiger Abgeschiedenheit. Er war kein geborener Techniker oder Sozialarbeiter, Lehrer oder Kaufmann, Arzt oder Jurist oder Kulturpolitiker. Beide Männer hatten immer das beschauliche Winkelglück gesucht, den proletarischen Geistesadel der heiligen Armut, diese verqueren Ideale hatten sie nachtwandlerisch zusammengeführt. Sie bestanden aus Wissensdurst und Bildungshunger. Eigentlich wollten sie nichts als Gottes kosmische Ordnung ergründen und auch rühmen. Darin wußten sie sich einig mit dem späten Goethe.

Was ihnen vorschwebte, war nicht ganz die idyllische Beschränktheit von Jean Pauls Schulmeisterlein Wuz aus Auenthal, der sich die Bücher selber schrieb, die seine Armut sich aus dem Messekatalog nicht kaufen konnte, aber sie wollten die Bücher schreiben, die sie gern gelesen hätten, wenn es die nur schon gegeben hätte.

Eines Tages entwarf Teste die grobe Skizze einer Gliederung von Wissensbereichen, die er besonders aufschlußreich fand und mit Bernhard durchgehen wollte. Er ging aus von der uralten Einteilung der Welt in Mikro- und Makrokosmos und in Natur und Geist. Zwischen Mikro- und Makrokosmos vermittelten ihm in den Geisteswissenschaften die logischen Denkgesetze und in den Naturwissenschaften die aphoristischen Synthesen. Die Natur gliederte sich ihm in die Sterne des Makro- und die Atome des Mikrokosmos, der Weg der Kultur gabelte sich in die Religion des Makrokosmos und den Mikrokosmos der Seele. Also erfaßte er den Makrokosmos in Theologie und Astronomie, den Mikrokosmos in Atomphysik und Psychoanalyse.

"In der Naturwissenschaft verhalten sich Sterne zu Atomen wie Gottvater zur Seele?"

"Meine Einteilungslogik ist so gut wie jede andere, ein Ordnungsgitter, wenn nicht mehr verlangt wird als eine grobe Übersichtlichkeit. Mikrokosmisch verhalten sich Kernphysik und Psychoanalyse bei mir wie Astronomie und Religion makrokosmisch, und Kulturgeschichten wie von Egon Friedell umspannen deren feines Zusammenspiel."

"Wozu ist das alles gut?“

"Die Vokabel "bildungsbeflissen" ist von einer ironischen Floskel zu einer lebenslangen Primärtugend zu befördern. Es ist kein Passwort zu sozialen Pfründen und Privilegien, sondern ein pures l´art pour l´art."

Bernhard bat ihn, sein Weltbild wenn auch noch so kryptisch gedrängt in einen einzigen Satz zusammenzufassen. Teste lachte über den Scherz und zögerte kaum: "Das strahlende Licht der natürlichen Vernunft wird gut relativistisch angezogen von der trägen Gravitationsmasse ihrer Objekte, und die glänzende Erscheinung der Gegenstände von der sinnlichen Leibesmasse des Subjekts."

Mit an Philosophie grenzender Nachdenklichkeit sah Bernhard seine Dummheit ein und schwor sich, seine Holzwege fortan als Trimmpfade zu benutzen. Aber Teste gab ihn noch nicht frei: "Gottfried Benn sprach vom Phallus des Geistes, aber Aldous Huxley nannte die Welt des Geistes ein heimeliges Mutterschoßland. Wer hat nun Recht?"

Zu jener Zeit schlug der Protestant Bernhard, schlug sich viel herum mit dem Verhältnis von Judentum und Christentum. Teste bedachte sich einen Moment.

"Der Sohn will sich an die Stelle des Vaters setzen, die Sohnesreligion an die Stelle der Vaterreligion. Sigmund Freud analysierte in "Totem und Tabu", daß der menschliche Versuch, die Stelle Gottvaters zu beanspruchen, von Juden geleugnet und von Christen gesühnt wird. Christentum war für Freud ein religiös begründeter Verzicht des Menschen, Gott zu spielen. Der Christ wolle nur erlöst, d.h. befreit werden von den unerträglichen Folgekosten seines lächerlichen Versuchs, göttliche Naturgesetze durch menschliche Satzungen zu ersetzen. Das Ebenbild erkennt es als Einbildung, die Rolle des Urbilds übernehmen zu wollen, den Schöpfer also zum Ebenbild seines Ebenbildes und sich selbst zum Urbild seines Urbilds zu machen."

Bernhard reizte es zu erfahren, wie die Bücher, die ihn selbst beeindruckt hatten, auf einen Geist wirken mochten, dessen Urteil er zu vertrauen gelernt hatte. Er verglich seine Eindrücke gern mit den Reaktionen dieses belesenen Greises und lernte daraus manches Neue über die Bücher, über sich und über andere Gemüter. Was Sartre anging, so kannte Teste von ihm mehr Philosophisches als Literarisches, und der Franzose wußte beides unnachahmlich zu verbinden. Auch Teste war fasziniert von "La nausée", dem Romanerstling von 1938, der vorher "Melancholia" hatte heißen sollen, und nickte lebhaft, als Bernhard gleich die Beziehung zur existenzialistischen Philosophie von 1943 herstellte:

"Es ist ein metaphysischer Roman der Kontingenz, die von keiner cartesianischen Vernunft ableitbar und nicht vernünftig zu beherrschen ist. An einer schwarzen Kastanienwurzel im Stadtpark von Bouville, alias Rouen, macht der beziehungslose Held eine ontologische Erfahrung allumfas-sender Sinnlosigkeit, und die Kunst wird vorgestellt als die schönste Art und Weise, sinnstiftend damit fertig zu werden. Der existenzialistische Held rechtfertigt sein sinnloses Leben nicht durch historische Biographien, sondern durch Kunstwerke, er ist wesentlich Schriftsteller. Er erzeugt sich selbst in schriftlicher Form. Die Selbsterzeugung des Menschen ist seine Verwandlung in Druckbuchstaben."

Soweit wollte Teste aber nicht gehen: "Mit der Realität hat das alles noch nicht viel zu tun, und wer ihr erst in Romanen einen ausreichenden Sinn geben muß, kann wohl kaum Berührung mit ihr haben." Bernhard wollte sich einen seiner Lieblingsschriftsteller nicht schlecht machen lassen: "Wer hat den Artisten und den Philosophen schon jemals so originell verbunden?"

Teste hatte inzwischen aus einem Regal ein Buch genommen und suchte darin herum. Schließlich hatte er die Stelle gefunden, die ihn interessierte, und las vor:

"Alles ist Aufruhr und Tumult, und doch wird die Melodie gerettet. Sie ist rein, ideal und hat nicht mehr Körper als in der Geometrie eine Gerade; d.h. ihr Körper besteht aus Geräusch; sie ist wirklich durch ihren Sieg über das Geräusch… Diese Rettung der Musik aus dem Geräusch ist tatsächlich ein dramatischer Vorgang."

"Ja, das ist die Stelle, wo der Romanheld Antoine Roquentin immer wieder die kleine Jazzmelodie hört, die das sinnlose Leben in idealen Sinn aufhebt", rief Bernhard.

"Was ich vorgelesen habe", entgegnete Teste, "war ein Autor, den schon der junge Student Sartre bewundert hatte, nämlich Emile Chartier, der seine allwöchentlichen "Sätze eines Normannen" unter dem Pseudonym Alain schrieb, der letzte der französischen Moralisten des 18. Jdts.. Die französischen Moralisten hielt Sartre übrigens für das vielleicht beste, was die französische Literatur hervorgebracht habe. Die zitierte Passage stammt von 1922 und klingt, als hätte Alain schon Sartres Roman interpretiert, der erst 16 Jahre später erscheinen sollte. Sie ist nicht die einzige Stelle, die den Originalton Sartre schon ein bißchen erstaunlich vorwegnimmt."

Bernhard war verblüfft und irritiert. Teste merkte das und las weiter:

"Die Geschichte erwartete den Künstler; sie hatte ihn angekündigt und ihm den Platz bereitet… Der Künstler hört dadurch auf, der Skandal zu sein, der er für seine Zeitgenossen war… Indem das Kind die Furcht mimt, sieht es zum Schluß einen wirklichen Wolf… Was geliebt wird und liebt, ist immer der freie Wille… Im Grunde ist es immer der freie Wille, den man erobern möchte… Das Tun verschlingt das Denken… Das Tun verschlingt das Gefühl… Was man als Inspiration mißversteht, ist ganz einfach das Echo unsere eignen Akte… So komponiert der Romancier, indem er stets in die Zukunft schaut und sich nach dem richtet, was noch nicht ist… Der rechte Mensch nimmt sich zusammen und schafft die Zukunft… Alles Leben denkt nach vorne… Wer nicht mit dem Ende beginnt, findet keinen Anfang… nehme ich dagegen mich, wie ich bin, so heißt das, mich nehmen, wie ich nicht bin… Der wahre Dichter aber läßt das Menschliche über das Unmenschliche hinlaufen; so erhebt sich denn die ganze Natur und läuft mit… Kraft der Bewegung dessen, der sie durchwandert, ordnet und entfaltet sich die Landschaft… Wer einen Berg bestiegen hat, weiß besser, was der Berg alles verbirgt… Geist nennt man das Ablehnen des Tragischen und sogar des Ernsthaften… Auch darf man niemals denken, ohne zu arbeiten… Man setzt sich ein, und so entdeckt man das Schicksal… Nur indem man sich ans Werk begibt, entdeckt man, was man will, was man liebt, was man weiß, mit einem Wort, was man ist… Durch die Arbeit wird man sich selbst erkennen… Ein Mensch bewegt sich im Kreuzfeuer von tausend Zuschauern… Aber der Tod ist nicht in uns; der Tod, das sind nicht wir…"

"Aber das sind doch Sartres Gedanken!"

"Eben nicht. Das stammt aus den "Propos" von Alain und war lange vor Sartres Erstling gedruckt. Ist das überhaupt schon irgendeinem Leser vor mir aufgefallen? Sartre hatte schließlich nicht nur Heidegger als Vorläufer. Über den Tod z.B. dachte er das Gegenteil wie Heidegger, aber dasselbe wie Alain. Von Hegel und Heidegger hatte er nur die Terminologie, vom Skeptiker Alain aber die Grundgedanken."

"Das klingt ja fast wie ein Plagiat", sagte Bernhard, seines Mentors nicht mehr ganz so sicher.

"Ganz so schlimm ist es denn wohl doch nicht. Es ist nicht das erstemal, daß ein Philosoph nur ins Philosophische übersetzt, was ein Essayist schon vorformuliert hat. Hat Sartre seinen Existenzialismus aus Alains "Propos" nicht so gewonnen wie Adorno seine Kritische Theorie aus Walter Benjamins "Illuminationen"?"

Aber Bernhards Jugendidol wankte zum erstenmal ein bißchen.

"Sartre hat Alain nur ins Phänomenologische übersetzt, wie Adorno seinen Benjamin in die Sprache Nietzsches", lachte Teste," und damit sind die leichtfüßig verrückten "Propos" in die Hände eines Pedanten gefallen, finde ich."

Das fand Bernhard nun etwas zu übertrieben, sagte aber nichts und gab Herrn Teste als nächstes "Die Gelehrtenrepublik" von Arno Schmidt mit auf den Weg:

"Ein frecher Gassenjunge wie der frühe Camus. Aber Schmidt war ein grantiger Eigenbrötler und bissiger Einzelgänger, ein komischer Kauz nach meinem Geschmack. Versuchen Sie es einmal mit diesem Psychoanalytiker der deutschen Muttersprache. Er gibt sich als literarischer Etym-Forscher, der Wortwurzeln ausgräbt und damit witzige Akrobatik treibt, aber nicht ganz so esoterisch wie sein Vorbild Joyce in "Finnegans Wake". Stifters "Nachsommer" fand er übrigens ganz einfach langweilig."

Bei ihrem nächsten Treffen hatte Teste "Die Gelehrtenrepublik" schon gelesen:

"Arno Schmidt scheint mir ein pubertärer Geist, der sich für erwachsener als die Erwachsenen hält, indem er sich weigert, erwachsen zu werden. Er kehrt gern den sensiben Intelligenzrüpel hervor, der den Spießbürgern ans Bein pinkelt, aber über knäbisch pornographische Anrempeleien kommt das nicht hinaus. Wer seine geistige und sinnliche Potenz so demonstrieren muß, wird ihrer nicht so sicher sein, wie er uns weismachen will. Ein Arbeiterkind, das die Bildungsbürger auf ihrem eigenen Gebiet schlagen will, voller Ressentiments, die nur perfektionistisch betäubt werden. Wird der Anspruch denn eingelöst? Für den sind wir alle zu dumpf und zu doof. Aber sind seine frühen Kurzgeschichten nicht haltbarer als seine späteren Mega-Romane?"

"Kurz, ein saftiger Autor für ewig Pubertierende wie mich?" lächelte Bernhard.

"Den Wieland von "Clelia und Sinibald" hat er ausgegraben, aber Benjamin nennt den einen Redakteur der Antike, einen geschickten Gebrauchsliteraten, mehr nicht."

Entweder war Herr Teste schwer zufriedenzustellen oder Bernhards Geheimtips waren doch nicht so wertvoll wie angenommen. Teste kam immer wieder darauf zurück, daß nichts so dringend sei, wie einen "Nachsommer 2000" zu schreiben. Er rehabilitierte die Figur des "Humanisten", den Sartres "Ekel" dem Gespött preisgab, weil dieser sich in alphabetischer Reihenfolge weiterbildete und keinen Sinn für existenzielle Relevanz zu haben schien. Teste verteidigte diesen "Humanisten" gegen Sartre, wie Sartreverehrer Jean Améry den Landarzt Charles Bovary verteidigt hatte gegen seine untreue Frau Emma und gegen den Onanisten Flaubert. Teste verteidigte auch den Famulus Wagner, den "alten Schleicher", gegen Faust und gegen Goethe. Ihm war nichts recht zu machen, und er war auch nicht umzustimmen, als Bernhard ihm "Bouvard und Pécuchet" zu lesen gab, Flauberts köstliche Aufklärung über bürgerliche Aufklärung, die süffisante Satire auf enzyklopädische Universalbildung. Teste nahm die Herausforderung an und wehrte sich nicht gegen die Gesellschaft der beiden skurrilen alten Junggesellen dieses Romans. Er konterte Flauberts Parodie auf alle Ein- und Ausbildungsromane mit Hesses ernsterem "Glasperlenspiel" von 1943, dem Erscheinungsjahr von Sartres "Sein und Nichts":

"Der oberste Glasperlenspieler Joseph Knecht schert aus und folgt dem Jüngling Titus, wie Thomas Manns Gustav Aschenbach dem jungen Tadszo in Venedig folgte. Er scheitert zwar, als er das selbstgenügsam unverbindliche Spiel mit dem gesamten geistigen Kosmos ‘existenzielf’ durchbricht, dementiert das intellektuelle Spiel aber nicht durch sogenannte existenzielle Entscheidungen."

Bernhard mußte unwillkürlich an sich und an Teste denken.

"Das geistige Wettspiel gewinnt er, das leibhaftige Wettschwimmen verliert er, weil er seine ureigene Domäne verläßt, das ist alles." Bernhard sah das etwas anders und das Glasperlenspiel durch den Romanschluß widerlegt und in seiner Fragwürdigkeit bloßgestellt. Er fing noch einmal an mit Musils "Mann ohne Eigenschaften", dessen universale geistige "Parallelaktion" des kakanischen Vielvölkerreichs blutig dekonstruiert wird, wie es heute heißt, durch den Ersten Weltkrieg, und hörte:

"Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, sagt am Schluß: "Krieg ist das gleiche wie "anderer Zustand"; aber (lebensfähig) gemischt mit dem Bösen". Das sogenannte "andere Leben" erstickt am "Generalsekretariat der Genauigkeit und der Seele". Reichte Musils "Möglichkeitssinn" denn weiter als bis zur Abwehr der Psychoanalyse? Das Ich ist nicht zu retten, hatte sein Lehrer Ernst Mach gesagt, und Musils Roman ist ebenso fragmentiert wie das Ich der Positivisten, die er anbetete."

"Also gibt es keinen Bildungsroman für das 21. Jahrhundert?"

"Ich wenigstens kann ihn mit bestem Willen noch nirgendwo entdecken."

Für jeden Roman, den Bernhard ihm im weiteren empfahl, gab Herr Teste ihm ein philosophisches Werk zu lesen. So ging es Zug um Gegenzug, und jeder verriet dem anderen nach der Lektüre, wie er das jeweilige Buch aufgenommen hatte. Teste ging einigermaßen chronologisch vor, um dem tatsächlichen Gang der Geschichte zu folgen. Er begann mit den "Fragmenten der Vorsokratiker", die allerdings kein absoluter Neuanfang zu sein schienen, sondern nur die Erben alter orientalischer Überlieferungen. Der Bibliotheksband schien wenig benutzt.

"Alles ging aus von Mutter Natur, deren Gesetze den Satzungen der Menschenkinder entgegengesetzt wurden. Die ewigen Naturgesetze des Kosmos wurden bei Plato zu mathematischen Ideen, die der wechselnden menschlichen Meinungsvielfalt unendlich überlegen seien und alles irdische Geschehen regeln. Noch die idealen Versuchsbedingungen heutiger Physiker zielen auf mathematisch formulierte Naturgesetze. Der philosophische Eros, der in Platos "Gastmahl" zu Ideen aufblickt, ist Freuds sexuelle "Libido", und die sucht in schönen Leibern die unbewußten Urbilder. Die "Anamnesis" bei Plato und bei Freud sucht Kindheitserinnerungen. Vom Künstler Plato geht es zum sachlich nüchternen Aristoteles, seinem abtrünnigen Meisterschüler, und ich rate zur "Nikomachischen Ethik". Hier hast du eine handliche Ausgabe in deutscher Übersetzung von Franz Dirlmeier. Das 10. Buch feiert die philosophische Grundhaltung, die schon jeder Jugendliche einüben sollte, die diabetische Tugend des kontemplativen Nachdenkens, der theoretischen Neugier, nicht die praktischen Tugenden der Arbeitsproduktivität und des sozialen Engagements. Von dort fuhrt ein klar erkennbarer Weg zu einigen Stoikern, die das vernünftige Leben in einem naturgemäßen Leben sahen.

Das kleine aphoristische "Encheiridion" des freigelassenen Sklaven Epiktet argumentiert schon ganz wie später Descartes: Unsere Meinungen über die Realität sind leichter zu ändern als diese Realität selbst. Entsage und ertrage, was nicht zu ändern ist. Und gut gelebt hat, wer sich gut versteckt hat. Daß er nicht so edel lebte, wie er edel philosophierte, entwertet nicht Senecas geschliffen kluge Sentenzen. Deren konziser Stil hat später dann die ersten europäischen Aphoristiker inspiriert.

Einen Anfangskurs in klassischer Logik gibt der katholische Hausphilosoph Thomas von Aquin, wenn er "De ente et essentia" spricht, über das begrifflose Sein und das begriffliche Wesen der Dinge. Wer das Büchlein zweisprachig liest, hat gleich wieder sein Schullatein aufgefrischt." Teste holte ein weiteres Bändchen aus einem Regal:

"Die Renaissance wollte pragmatischer sein als die christliche Theologie und gleichzeitig die Antike wiederbeleben, aber nicht deren arbeitsscheue Sternbetrachtung. Heute sieht man gar nicht mehr den Widerspruch in solchem Programm der Moderne. Arbeit schändete sowohl im Garten des Epikur wie im Klostergarten der Meditation. Nun plötzlich soll produktive Arbeit das Heil der Welt oder wenigstens die Frucht der Arbeit ein Zeichen himmlischer Gnade sein. Der Politiker Francis Bacon lehrt in seinen überaus geschliffenen "Essays", wie der Mann von Welt sich in einer machiavellistischen Welt behauptet. Hier wird Philosophie zur lebensstrategischen Weisheit unter Wölfen. Montaignes "Essays" und Larochefoucaulds "Maximen" hingegen zogen sich aus dem Kampfgetümmel melancholisch zurück und privatisierten philosophisch.

Gern würde ich dir etwas zu lesen geben aus dem Mittelalter, aber hier ist nichts vorrätig. Maimonides hatte versucht, den hebräischen Moses in die Sprache des griechischen Aristoteles zu übersetzen. Hatte er da die Thora an die alten Griechen verraten oder im Gegenteil Aristoteles durch Moses korrigiert? Der Marrane Spinoza entfernte sich mit seiner muttergöttlichen Natur noch viel weiter von Jahwe als Maimonides mit seinem Aristoteles. Spinoza hatte seine Mutter zu früh verloren und setzte ihr mit seiner "Ethik" ein philosophisches Denk-mal.

Die katholische Philosophie begann etwa mit Augustin und endete ein Jahrtausend später mit Pascal. Dessen esprit de géometrie spukte noch in