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Salomo Friedlaender/Mynona

Gesammelte Schriften

Herausgegeben von

Hartmut Geerken & Detlef Thiel

In Zusammenarbeit mit der

Kant-Forschungsstelle

der Universität Trier

Band 7

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

This is a WAITAWHILE book. Alle Rechte vorbehalten.

© 2008 bei Hartmut Geerken, Wartaweil 37, D-82211 Herrsching

Umschlaggestaltung: Hartmut Geerken und Dr. Anton J. Kuchelmeister unter Verwendung von Mynonas Unterschrift auf einem Brief an Herwarth Walden vom 16. September 1915 (Archiv der Akademie der Künste Berlin, Mynona Archiv, vormals Friedlaender/Mynona Archiv Geerken, FMAG).

Gesetzt in Adobe Garamond Pro.

Layout und Formatierung: Dr. Anton J. Kuchelmeister.

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-7386-8877-1

Inhalt

Remerciements

Auch diese beiden Bände konnten nur durch vielfache Mithilfe zustandekommen. Die Herausgeber danken an erster Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der AKB (Wolfgang Trautwein, Ursula Wolf, Barbara Heinze) und des DLA (Ulrich v. Bülow, Viktoria Fuchs, Petra Weiß, Birgit Kienow).

Viele entlegene Texte haben aufgespürt: Walter Schübler (auf den Spuren von Anton Kuh), Julia Hadwiger, Stefanie Grutsch, Ludger Hagedorn, Katharina Wessely.

Abbildungen stellten zur Verfügung: Ruprecht Gammler, Martina Kliner-Fruck (Stadtarchiv Witten), Anita Schulze (VG Bild-Kunst), Barbara Alms (Städtische Galerie Delmenhorst), Margret Heitmann (Steinheim-Institut), Adolf Johannes Stuckenberg, Wulf Herzogenrath, Michael Bauer.

Weitere Materialien und Hinweise kamen von Sigrid Hauff, Ulla Stöver, Christianne Weber-Stöber, Junko Yamamoto, Kirstin Zeyer, Eva Züchner, Daniel Aebli, Egon Günther, Peter Hahn, Bernhard Hefele, Dirk Heißerer, Günter Hochgrebe, Ulrich Holbein, Horstmar Holländer, Edzard Klapp, Anton J. Kuchelmeister, Martin Langbein, Gerhard Lohse, Hiroo Nakamura, Bert Noglik, Joachim Wesser.

Paul & Marga Thiel haben mit stets wachsendem Erstaunen zahllose Texte angehört.

Wiesbaden / Herrsching, Sommer 2008

Detlef Thiel

Hartmut Geerken

Detlef Thiel

Ich verlange ein Reiterstandbild Mynonas gesammelte Grotesken

„Die Eingangstore zu einer Welt des Grotesken scheinen aufzugehen. Ich wollte nur nicht hereintreten.“

Walter Benjamin

(Gesammelte Schriften, Bd. VI, 559)

Zum ersten Mal sind hier, chronologisch geordnet, alle Grotesken von Friedlaender/Mynona (im folgenden: F/M) versammelt.1 28 Texte wurden noch nie, 74 nur einmal, zwischen 1913 und 1936, gedruckt. Die kritische Edition ergibt viele Korrekturen und Ergänzungen; die Berücksichtigung aller erhaltenen Typoskripte und Entwürfe läßt F/Ms Arbeitsweise erkennen: von der Ideenskizze über die Ausformulierung zu stetigem Ausfeilen. Das früheste Typoskript datiert von Ende 1912 (Die beiden Bürsten, # 35); seit 1926 sind deutlich mehr vorhanden.

Damit ändert sich das Bild. Bisher gab es nur Auswahlsammlungen. Auch F/Ms eigene Bände und Broschüren, elf an der Zahl, von Rosa die schöne Schutzmannsfrau (1913) bis Mein hundertster Geburtstag (1928) heute sämtlich Raritäten, bündelten jeweils nur einiges von dem zuvor verstreut Gedruckten; insgesamt 138 Texte. Die nach seinem Tod veröffentlichten Sammlungen pflegten das Bild des ‚skurrilen’ ‚Humoristen’, ‚schnurrigen’ ‚Satirikers’ usw. – Reißen Sie diese friedlich schmunzelnden und verharmlosenden Etiketten ab! In den Mülleimer damit!

1959 nahm Hermann Hakel neun Grotesken F/Ms in seine Kabarettsammlung auf (Hakel 1959); drei Jahre später erschien Karl Ottens Anthologie Expressionismus – grotesk mit vier Texten und einem Gedicht (Otten 1962). Nach Ottens Tod 1963 nutzte seine Frau Ellen den Buchtitel von 1913 als Zugpferd für eine Zusammenstellung von 37 Grotesken und einem verstümmelten autobiographischen Fragment (Rosa 1965); letzteres wurde in der Neuauflage gestrichen (Rosa 1989); 21 Stücke daraus erschienen 2005 in japanischer Übersetzung (Suzuki 2005).

1970 brachte Hartmut Geerken in seiner Märchenanthologie neun Grotesken, darunter einen Erstdruck (# 243; Geerken 1970). Zehn Jahre später gab er die bislang umfangreichste Sammlung heraus: 66 Texte, darunter lange nicht mehr gedruckte spätere, politische sowie neun aus dem Nachlaß bzw. bis dato nicht nachgewiesene (Geerken 1980). Diese Edition, erstmals mit Anmerkungen, enthält genau ein Viertel des nun vorliegenden Materials.

Unabhängig davon legte im selben Jahr 1980 die Ostberliner Literaturwissenschaftlerin Helga Bemmann 41 Grotesken vor, meist wiederum die frühen (Bemmann 1980). Peter Lohmann brachte 1983 vier, Klaus Konz 1985 34 Texte, darunter dreizehn bis dahin nicht mehr veröffentlichte. 1988 erschienen ein Nachdruck des Anti-Freud mit einem Nachwörtchen von Alfred Diener sowie Peter Cardorffs Einführung mit sechs Texten.

Ein Dutzend Sammlungen hat F/Ms Grotesken vor dem Vergessenwerden bewahrt. Ihre Aufgabe ist hiermit erfüllt – adieu! Denn jetzt tritt das Werk in seinem ganzen Umfang und inneren Zusammenhang ans Licht. Viele dieser Prosastücke sind hochkomplexe Knoten der europäischen Geistes-, Kultur- und Literaturgeschichte. Eine Behauptung, die im folgenden erklärt wird.

Groteske, ja was ist denn das?

Wer so fragt, will eine Definition haben, mit der ausgerüstet er an die Texte herangeht. Solchen Leuten sei (mit Goethe) klar gesagt: „Ihr folget falscher Spur, denkt nicht, wir scherzen“! Denn all die schönen literaturtheoretischen Begriffe des Grotesken und der Groteske sind hier zunächst irrelevant! F/Ms sogenannte Grotesken sind nicht das, als was sie – wenn überhaupt – verkauft und verraten wurden. Vergeuden wir nicht die Zeit damit, dem Gespenst irgendwelcher Konstrukte nachzujagen! Umgekehrt, umgekehrt! Wie wollt ihr ein so umfangreiches und komplexes Werk im Ganzen bestimmen und auf moderne Begriffe bringen, wenn ihr nur stückweise, verzerrte, zufällige Kenntnis davon habt? Und laßt all die wichtigen Lexika, Enzyklopädien, Literaturgeschichten beiseite! Woher wollen denn die Verfasser solcher Referenzwerke etwas wissen?2 Hier sind ganz neue Kapitel zu schreiben.

Lesen wir! Untersuchen wir Details! Danach können wir Fragen stellen, Themen verfolgen, Begriffe bilden. Dann verstehen wir auch besser, was F/M selber meinte mit Bezeichnungen wie: Groteske, Schnurre, Grimasse, Marotte; mit Titeln wie: Reklameske, Alkoholeske, Pithekanthropeske; mit Untertiteln wie Autogroteske, Rokoketterie, Panacée, Anti-Wellsiade, Rastelliade, Wischiwaschi, Skeletoniade. Und dann erst mögen wir Bezüge herstellen zu allgemeinen Konzepten wie: Satire, Parodie, Karikatur; Kritik, Ironie, Humor; Verzerrung, Übersteigerung, Übertreibung usw.

Wie F/Ms Texte funktionieren, erfahren wir nicht, indem wir nur seine Programmschrift Grotesk von 1921 weiter bis zum Überdruß zitieren (GS 3, 602 ff.). Es gibt noch andere Schlüsseltexte, etwa die Selbstanzeige von 1928 oder Wie kamen Sie zu Ihrem Pseudonym? (# 192, 165) oder Tödliche Anprobe: Ist jener Schneidermeister namens Geduldig nicht F/M selber? und die Affichen, die er an die Kleider heftet, die vom Werkstattpersonal so leicht mißverstandenen Rezepte zur Realisierung der couture, nicht seine Grotesken?

„Ich mußte mir daher die gröbste Deutlichkeit angewöhnen. Allmählich habe ich es in diesen Notizen zu einem satirischlakonischen Stil gebracht, der mir sogar literarisch wertvoll erscheint. Jedenfalls lacht sich mein Personal über diese Zettel fast krank.“ (# 220)

Die Selbstzeugnisse sind wohl vorrangig. In den Jahren 1907-11 hatte F/M erstmals eine eigene Mietswohnung in Halensee. Jahrzehnte später schreibt er:

„Zu meiner Bekanntschaft gehörten damals außer den schon genannten auch Martin Buber, der Bildhauer Glycee, Erich Mühsam, Ludwig Rubiner, Landauer, Hedwig Lachmann, Kurt Hiller u. a. Wer Lust hat, den Reflex dieser Geselligkeit zu beobachten, der lese meine Grotesken. Als ich einmal Rubiner ein paar dieser Schwänke mündlich zum besten gab, amüsierten sie ihn, und er riet mir, sie zu veröffentlichen. Zugleich stieß mich ein Hansnarr meines näheren Umgangs, ein zu tollen Streichen aufgelegter Ungar, in die Richtung des Protestes gegen alle literarische Ernsthaftigkeit.“3

Autobiographische Momente lassen sich in vielen Grotesken entziffern: Erinnerungen, Selbststilisierungen, Abstraktionen, besonders in der unsterblichen Spiegelung von ‚Tod & Eros’.4 Eine geradezu tragische Selbstdarstellung gibt F/M in der hier erstmals veröffentlichten Novelle Der Verschlossene (# 242). An anderer Stelle erklärt er sein Schreiben als eine Art Notlösung oder Ventil:

„Da meine metaphysische Intention zwar stark war, die wissenschaftliche objektiv systematische Ausgestaltung jedoch, um nicht im Keime steckenzubleiben, eines ‚besseren Lenzes’ bedurft hätte; so verhalf sich meine philosophisch gehemmte, verdrängte und abgelegte Produktivität auf Schleichwegen zur grotesken Mißgeburt.“5

Wieder im Rückblick nennt er allerhand Quellen:

„Am liebsten las ich Märchen, Tausendundeinenacht, am allerliebsten aber, da auch mein Verstand nüchterner interessiert war, die ganze Kindheit entlang, Jules Verne.“ „Mein Thema ist die Innenwelt, mein Ich, verglichen womit mir alles menschliche Außen, meines inbegriffen, grotesk erscheint. In dieser Beziehung liebte ich auch literarisch absonderlich die bizarren Autoren, von Lukian bis Quincey und Poe; besonders wenn sie zugleich Humoristen waren, vor allem Rabelais, Swift, Sterne, Jean Paul, in der Neuzeit Paul Scheerbart, der zu dieser Reihe gehört, und der mein persönlicher Freund war.“ (Autobiographie, 23 u. 30)

Diese Inspirationen bleiben zu erforschen,6 ebenso die Bezüge etwa zu E. T. A. Hoffmann, Lichtenberg oder Heine, der, wie F/M 90 Jahre später, in einer Pariser Matratzengruft starb; im selben Jahr 1856 wurden Freud und Ernst Marcus geboren .... Die Zeitgenossen zogen, eher oberflächlich, Verbindungen zu Christian Morgenstern, Hanns Heinz Ewers, Gustav Meyrink, Christian Andersen, Hans Reimann (vgl. Rezensionen). Doch F/M würdigt nur Andersen; in Morgenstern erkennt er den Theosophen, Ewers und Meyrink werden stets verspottet; Reimann nicht genannt.7 Andererseits ist der Kontext zu beachten. Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts war eine Zeit des und der Grotesken; nicht nur die Berliner Zeitungen brachten unzählige Texte. Der frühe Otto Flake (1904, 528) beobachtet:

„Unser Sinn für den Tiefsinn der Karikatur ist schon stark gewachsen, der für das Wesen des Grotesken regt sich erst in den Anfängen, und grotesk sehn, heißt die Dinge in einen Winkel zusammendrängen, wo sie in der Beleuchtung des letzten (ersten) Grundwesens erscheinen: die überraschende Phrase, die Schleier hinwegzieht und Hintergründe schafft.“

Solange F/Ms Vorbilder, Quellen, Parallelen nicht aufgearbeitet sind, muß man von einer originalen Leistung sprechen.8 Seine gelegentlich bemerkten Abhängigkeiten von anderen Autoren beruhen auf Verzerrungen und mangelnden Kenntnissen. Präzisere Recherchen in den Dunkelzonen dieses Œuvres führen auf eine andere Art von Kulturgeschichte, auf eine noch unerhörte Psychohistorie. Sinnvoller als das Herumtappen im Gewirr falscher Etiketten und hohler Phrasen, lohnender als alle Perlentaucherei in labyrinthischen grotteschi (in denen man zumindest das Echo gewisser altgriechischer Statuetten vernehmen sollte) erscheint es, etwa einem Satz des Marsilio Ficino nachzugehen:

„Es war bei Pythagoras, Sokrates und Platon üblich, göttliche Geheimnisse unter Figuren und Bildern zu verbergen, [...] ernsthaft zu scherzen und aufs sorgfältigste zu spielen.“ (iocari serio et studiosissime ludere; Ficino 1576, 1137)

F/Ms Groteskenbücher

Der erste Adressat ist Herwarth Walden, von Januar bis März 1908 Redakteur des Neuen Magazins. „Darf ich Ihnen noch eine Schnurre schicken?“ fragt F/M am 30. Januar, und am 7. Februar teilt er Walden ein frühes Pseudonym mit:

„Bitte, hier sind noch drei Schnurren & 13 Gedichte zur gütigen Berücksichtigung. Anonym oder unter ‚Zéro’. Ich empfehle Ihnen besonders die Schnurre ‚Mein Wohltäter’ und das Gedicht vom Leichtsinnigen Abend. Bitte, bewahren Sie mir alle Manuskripte sorgfältig auf!“9

Weniger sorgfältig aufbewahrt ist die Korrespondenz mit Martin Buber. Er bemühte sich um ein Manuskript F/Ms für die Frankfurter Verlagsbuchhandlung Rütten & Loening, in deren literarischem Beirat er saß. Aus F/Ms Brief vom 8. Januar 1912 geht ein früher Buchtitel hervor:

Sehr verehrter Herr Doktor Buber!

Es ist mir sehr lieb, daß Sie das ‚kalte Fieber’ mit Ihrer Empfehlung nach Frankfurt senden. Hoffentlich braucht die definitive Entscheidung nicht lange auszustehen! Mit der Drucklegung und Veröffentlichung würde es ja dann noch Zeit haben; und inzwischen könnte ich einige Dinge, die bisher noch unter Ihrer Kritik sind, besser ausgestalten. Ihr Urteil ist über meine Erwartung ausgefallen; und wenn wirklich nichts fehlen sollte als etwa: Quantität, so hoffe ich, diesem Mangel bald abhelfen zu können: – zumal Ihre sehr dankbar von mir empfundene Teilnehmung gewisse Hemmungen ausschalten hilft. –“10

Buber muß jedoch am 1. Februar mitteilen:

Sehr verehrter Herr Dr. Friedlaender –

Zu meinem großen Bedauern ist es mir nicht gelungen, den Verleger für das ‚Kalte Fieber’ zu gewinnen. Er findet zwar Vieles sehr gut daran, aber er meint: durch so viel Groteskes in Menge sich durchzufressen, wird kaum dem paradoxest Veranlagten gelingen’ – eine Meinung, die ich nicht teile, da vielmehr jede Seite einen für die nächste erzieht und disponiert. – Nun möchte ich Sie aber bitten, über diesem negativen Bescheid des Verlags nicht zu vergessen, daß ich dem Buch ganz persönlich Freundschaft geschworen habe, und nötigenfalls für Rat, Empfehlung und dergleichen über mich zu verfügen. Und vielen Dank dafür, daß Sie auf meinen Vorschlag eingegangen sind. Das Manuskript geht gleichzeitig an Sie zurück – hoffentlich sehe ich es bald als Buch wieder.“ (AAFMAG)

Einleitung F/M antwortet zwei Tage später:

Sehr verehrter Herr Doktor Buber!

Mehr für Sie als für mich ist es mir leid, daß Sie diese mich dankbar stimmende Mühewaltung erfolglos unternommen haben. Der abschlägige Bescheid hat mich lange nicht so sehr enttäuscht (ich war, wie Sie wissen, darauf gefaßt), wie es eine Annahme gethan haben würde. Die Motivirung lasse ich so wenig gelten wie Sie. – Ein Überschuß von Energie bei der Verfolgung solcher Ziele steht mir gar nicht zu Gebote; und so ist es mir höchst erwünscht, daß ich eventuell an Ihrer Sympathie für Mynona eine Ressource finden darf. –“11

Die weitere Geschichte des Manuskriptes ist dunkel. Rosa die schöne Schutzmannsfrau erscheint Anfang Dezember 1913 im Verlag der Weißen Bücher, Leipzig. Auch über die Genese der folgenden Sammlungen ist nur wenig bekannt. Schwarz-Weiß-Rot kommt im Dezember 1916 in Kurt Wolffs berühmter Reihe „Der jüngste Tag“ heraus. Am 9. August 1918 schließt F/M einen „Generalvertrag“ mit dem Großverleger Georg Müller ab; geplant ist zunächst ein Band Das widerspenstige Brautbett, mit der Novelle Der Schöpfer. Zugleich verhandelt er mit Wolff; im Sommer 1919 wird der Vertrag mit Müller aufgelöst.12

Am 26. August 1920 unterzeichnet F/M mit Wolff einen Vertrag für das Brautbett, doch letzterer zögert die Drucklegung hinaus und bringt den Band, in zwei Teile zerstückelt und ohne den Schöpfer, erst im Oktober 1921 in der Reihe „Die Groteske. Sammlung moderner Satiriker“: Das widerspenstige Brautbett und Mein Papa und die Jungfrau von Orléans. Es kommt zum Zerwürfnis; F/Ms Prozeß gegen Wolff endet 1926 per Vergleich.13

Im Oktober 1920 erscheinen fünf Anti-Freud-Grotesken unter dem Titel Nur für Herrschaften bei Banas & Dette, Hannover;15 im Oktober 1922 Trappistenstreik bei Walter Heinrich, Freiburg i. Br.;2 im März 1924 fünf weitere Anti-Freud-Grotesken als Ich möchte bellen.16 Sie werden mit den ersten fünf und 20 weiteren gesammelt in Das Eisenbahnglück oder Der Anti-Freud, Oktober 192417 – F/Ms einziger Groteskenband, der eine Neuauflage erlebt.18 Anfang 1928 erscheint die letzte Sammlung: Mein hundertster Geburtstag.19

Die wichtigsten anderen Publikationsorte: Der Sturm: 36 Grotesken von März 1910 bis Februar 1919, die beiden letzten im Dezember 1922 (Jour bei Settegal; dann in Graue Magie) und Anfang 1932 (Dr. med. Shylock, # 241); Die Aktion: 23 Grotesken von März 1911 bis Januar 1917; Jugend: zehn Grotesken, 1923 und 1926-30; Simplicissimus: 32 Grotesken von Oktober 1925 bis Mai 1931, zwischen Oktober 1926 und Februar 1929 fast jeden Monat eine; BBC und BT: je acht Grotesken.20

Der Simplicissimus hatte, wie die Jugend, seine Blütezeit vor dem Krieg. Die rote Bulldogge symbolisierte eine bürgerlich-demokratische Opposition gegen Kaiser, Junker, Klerus und Militär, gegen Imperialismus, Preußen-, Beamten- und Philistertum. Auseinandersetzungen mit Zensur und Justiz, Geld- und Haftstrafen erhöhten die Popularität. Mit Kriegsbeginn öffnete sich das Blatt nationalistischen und chauvinistischen Tendenzen, die Auflage ging von etwa 85.000 zwischen 1904 und 1914 zurück auf etwa 30.000 in den zwanziger Jahren. Die Objekte der Satire waren erschöpft; die Verhältnisse hatten sich geändert. Die Angriffe auf die immer mehr erstarkenden Nazis führten nur dazu, daß Firmen auf Inserate verzichteten. Auch die Jugend geriet nach dem Krieg zunehmend in deutschnationales und bayrisch-heimattümelndes Fahrwasser. Die Hintergründe sind verwickelt.21

Zwar schreibt F/M später: „Als Mitarbeiter am ‚Simpel’ und überhaupt hatte ich mich mit den regierenden Mächten nur humoristisch befaßt.“ (Autobiographie, 85) Doch kann er dort seit Ende 1926 eine ganze Reihe antifaschistischer Texte unterbringen.22 Einen Blick hinter die Kulissen öffnet sein Brief vom 15. April 1931 an den Verleger Paul Steegemann:

„Es ist mir interessant, auf diese Weise zu erfahren, wer mir den (unter Sinsheimer) freien Zugang zum Simpel unnützerweise verbarrikadiert hat. [...] Davon abgesehen, bezweifle ich aber Schönberners Aufrichtigkeit. Sondern ich argwöhne, daß ich im Simpel selber durch meine ‚blendenden’ Grotesken den Empfindlichkeiten gewichtiger Leute zu nahe getreten bin, und daß gewisse Winke aus dem Leserkreis genügt haben werden, mich abzuhalftern ... da kann man nix machen. [...]“ (AAFMAG)

In den zwanziger Jahren klagt F/M laufend über mangelnde Publikationsmöglichkeiten:

„Die Unterbringung meiner Grotesken ist nämlich nachgerade zur Existenzfrage für mich geworden.“ ... „Tagtäglich fast Absagen von Verlegern. ‚Rosa’ vergriffen. ‚Bank’ vergriffen. Fünfzig Grotesken vorrätig, die kein Verleger will.“23 ... „Alle besseren Pläne bleiben mir liegen, weil ich des lieben Geldes wegen journalisieren muß. Manche Schnurre stand im Simpel. (Ob der ein Buch herausbringen würde?) Auch die ‚Jugend’ hat mich aufgefordert.“ ... „Aber meine Situation ist z. Zt. so, daß ich an keiner hervorragenden Stelle genügend ackreditiert bin.“ ... „Sonst entstehen Grotesken, die der Simpel nicht immer nimmt.“ ... „Es steht mit meiner Sache schlimmer als jemals: Rosa, Bank der Spötter, Prisma, Antifreud und fast hundert, noch nicht in Buchform erschienene Grotesken, auch Graue Magie verlegerlos.“24

F/M hat noch mindestens vier Sammlungen geplant. Das geht hervor aus den verschiedenfarbigen Numerierungen auf Typoskripten und Ausrissen. Ein Inhaltsverzeichnis, getippt, dann handschriftlich ergänzt, listet 108 Grotesken auf.25 Ein von Alfred Wolfenstein für ein Halbjahrbuch bei Fischer angenommener Text, Sonne Sonne, ist verschollen.26

Zeitgenössische Rezitationen und frühe Rezeption

Die Rezeptionsgeschichte dieser Texte ist noch kaum erforscht und dürfte einige Überraschungen bergen. Die folgenden Hinweise bilden nur die Spitze eines Eisberges.

F/Ms erste Groteske im Sturm, Von der Wolke (# 3), erscheint in Heft 3 am 17. März 1910. Am selben Tag schreibt Karl Kraus an Walden über die Nummer: „Sie ist außerordentlich gut.“ Kraus nennt Autoren, registriert Druckfehler und vermerkt: „Sonst habe ich nichts bisher gelesen. Aber das Ganze macht einen ungemein günstigen Eindruck.“ Zwei Wochen später: „Und wer ist Mynona? Mir fast unverständlich: entweder sehr gut oder sehr schlecht. Ich müßte anderes von diesem Autor kennen.“27 Das ist Kraus’ früheste Reaktion auf F/M, genauer: auf Gute Nacht! (Sturm, 31. März 1910)

Heft 6 vom 7. April 1910 enthält Mein Sohn. Kraus findet zunächst ein ähnlich pauschales Lob: „Nr. 6 ist die weitaus beste Nr.“ Nachdem er das ganze Heft gelesen hat, setzt er an den Rand eines langen Briefes: „Mynona ist sehr fein. Wer ist das?“ Walden antwortet am 11. April: „Mynona ist Dr. S. Friedlaender, von dem ich Ihnen schon oft sprach.“28 Die Groteske wird auch im Neuen Club gewürdigt. Erwin Loewenson schreibt am 13. April an Erich Unger: „Hast du im letzten Sturm ‚Mein Sohn’ von Mynona gelesen? Das ist doch großartig und grenzt dicht an Wedekind (und Zacharias; wenn er sich selbst objektiv in Worten vor sich hin manifestierte).“29

Heft 12 vom 19. Mai enthält Der Verzweifelte und sein Ende. Am selben Tag berichtet Kraus: „Aber ich habe mich doch ganz besonders über diese Nr. gefreut. Sie scheint auch sonst vorzüglich zu sein.“ Noch in Unkenntnis von F/Ms stets prekären finanziellen Verhältnissen, die Zeitgenossen rätseln ließen, wovon er überhaupt lebte, empfiehlt Kraus Walden am 3./4. Juni: „Mobilisieren Sie doch Friedlaender, Blümner, Döblin – die werden doch jemand haben, der Ihnen angesichts dieser fast sichern Prozeßsache hilft.“30

Zum Erscheinen seines Buches Die chinesische Mauer fragt Kraus am 26. Juni 1910: „Soll ich auch an Friedlaender, Döblin etc. senden lassen? Mir liegt an Besprechungen weniger als nichts. Aber der Verlag will sie wohl. Also rathen Sie, bitte.“ Walden teilt F/Ms und Döblins Adressen mit (Avery ebd., 244 ff.). In einem Briefentwurf, wohl Anfang 1912, präsentiert Kraus eine Abrechnung. Unter anderem bemerkt er:

„Und es gibt in Berlin noch viel ärgere Schädlinge als die sind die der Sturm angreift. Mir freilich genügen die, welche er fördert. Von den Herrschaften mit dem neuen Pathos will ich absehen. Es sind Schmarotzer am Mißverständnis, eine Gesellschaft, die die wirklichen Werte des ‚Sturm’: Else Lasker-Schüler, Mynona arg kompromittiert hat.“31

In der von Ludwig v. Ficker geführten Umfrage der Zeitschrift Der Brenner ergreift F/M 1913 Partei für Kraus (GS 2, 359). Fünfzehn Jahre später erscheint sein letzter Groteskenband in dem Verlag, in dem die Fackel gedruckt worden war.

Seit November 1911 liest F/M seine Grotesken öffentlich: regelmäßig bis Januar 1914 im Neuen Club (Neopathetisches Cabaret), bis April 1914 bei den Autoren-Abenden der Aktion, dann bis 1928 bei einzelnen Veranstaltungen in München (Buchhandlung Goltz,

September 1916), Wien (Buchhandlung Heller, April 1918), Dresden, Erfurt, Mannheim, Frankfurt, Köln, Essen, Hannover, Hamburg und anderen Städten.32

Bei einem von Alfred Richard Meyer geleiteten Abend, Anfang Dezember 1911, trägt F/M Die betrunkenen Blumen (# 25) vor; im Neuen Club am 29. Januar 1914 Der liebe Gott in Verlegenheit (# 17); beim 21. Autoren-Abend des Verlegers Leon Hirsch am 15. November 1922 „Die Psychoanalytütü“, „Der Innenarchitekt“ und „Die Tafelrunde“, drei Texte aus dem Anti-Freud. Ein Rezensent schreibt:

„Als Vortragender hat Mynona eine temperamentvoll akzentuierende Art zu dozieren, die zwar nicht alle Wirkungsmöglichkeiten seiner Grotesken erfüllt, aber durch ihre Lebendigkeit sehr eindringlich ist. (Wirkungen gingen verloren, wenn er philosophische Wörter und Redewendungen wie vertraute Elemente der Alltags- und Umgangssprache behandelte, während sie dem Laien, dem sie nicht so geläufig waren wie dem Fachmann, erst hätten zubereitet werden müssen.)“33

Von drei anderen Lesungen ist das vollständige Programm überliefert: 13. April 1918, Buchhandlung Heller, Wien;34 5. Januar 1925, Kunsthandlung Emil Richter, Dresden;35 13. November 1926, Kunstverein Erfurt (Museum). Zur letzteren schreibt ein Rezensent:

„Ein mittelgroßer Mann, Mitte der Fünfzig, das Haar dicht und weiß. Über dem Gesicht und der geräumigen Stirn viel Güte und Helligkeit, viel unsentimentale Liebe zum Leben und eine Heiterkeit, die von innen kommt, – jene serenitas, die aus Kampf und Schmerz gekeltert wird. Neigt er den Kopf nach vorn auf das Manuskript, so gleicht er im Profil zuweilen dem jüngeren Voltaire, aber ohne dessen Essig und Galle. [.] Mynona ist selbst sein bester Interpret. Er liest prachtvoll und akzentuiert. Die größten Rosinen stecken in den Nebensätzen. Beim Lesen fegt er sie halb unter den Tisch, wo sie naturgemäß am stärksten wirken, denn das Nebenbei ist immer wirksamer als das Geradezu. Nach jedem Stück gab es spontanen Beifall. Man fühlte sich eine Stunde lang wie in einem herrlich-heißen Seifenbad.“36

Zu seinem 60. Geburtstag 1931 spricht F/M im Radio unter dem Titel Gebratenes Sphinxfleisch.37

Seit 1912 gehören seine Grotesken zum Repertoire der bekannten Berliner Rezitatoren Resi Langer, Rudolf Blümner und Ludwig Hardt.

Bei ihrem zweitem Vortragsabend, Ende April 1913, gab Resi Langer „Schnurren und Grotesken“ von Scheerbart, Wedekind, Morgenstern, Holz, Will Vesper, Kipling, Altenberg sowie „Mynonas sehr welthaft ernste Erzählung vom zarten Riesen“. Rudolf Leonhard bewundert, „wie ihre Worte und zurückhaltenden Geberden jedes der Stücke anders, zu seiner eignen Bedeutung, gestalteten [...], daß selbst schwer Eingängliches wie Mynonas Groteske das Publikum hinriß.“38 Zu einem Abend im Café Innsbruck, Anfang Mai 1920, im Rahmen von A. R. Meyers „Club Kartoffelsalat“, bemerkt Gertrud Isolani: „Von derberer, schärfer umrissener Kabarett-Komik die dralle, überschäumende Art der Resi Langer, die hier als Zri, die große Zra, Mynona, Friederike Kempner usw. sprudelt, mimt, tollt.“ (gt. 1920)

Blümner arbeitet nach seiner Promotion in Jura 1899 als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Bühnen; seit 1903 einer der engsten Freunde und Mitarbeiter Waldens, lebt er seit 1906 in Berlin, wird nach 1911 durch öffentliche Rezitationen bekannt, bei denen er stets frei aus dem Gedächtnis vorträgt.39 Seine früheste nachweisbare F/M-Rezitation datiert vom 17. März 1912. Herbert Ihering (1912, 362) hat sie ausführlich gewürdigt:

„Er ist sozusagen der Regisseur einer Märchenkomödie. Ähnlich belebte er drei entzückende Skizzen Altenbergs und Mynonas wunderbar gelöste und ausgeglichene, gewissermaßen psychologische Naturskizze ‚Von der Wolke, welche so gern hätte regnen mögen’. [...] Bei Altenberg und Mynona führte er auf seinem unsichtbaren Theater Szenen des Lebens und der Natur vor. [...] Wenn es eine Gerechtigkeit in Kunstdingen gäbe, müßte Blümner einer unsrer berühmtesten Rezitatoren werden.“

Das Urteil wird zwei Monate später von Anselm Ruest (1912) bestätigt:

„Blümner versteht es vorzüglich, Drolliges, Komisches, im lebhaften Sprechen und Gegensprechen beinahe unauffällig zu dramatisieren, ja – zu spielen; und wiederum muß man hervorheben, er gibt nicht etwa die ‚entsprechenden’ Gesten, die ‚begleitenden’ Gebärden und dergleichen, sondern er ist selbst ganz stark, ganz mitten im Erleben, im Vorstellen der Situation. Dies trat noch am deutlichsten bei den Grotesken von Mynona zutage, wobei sich denn auch zeigte, wie lebhaft-anschaulich und wie aus lauter Naturszenen mosaikartig zusammengesetzt diese der Naturwahrheit im selben Atemzug auch ironisch entgegentretenden Skizzen sind, die sich das Publikum zu erobern scheinen.“

Von Herbst 1916 bis April 1918 spricht Blümner F/Ms Texte bei mindestens dreizehn Sturm-Abenden in Berlin.40 Über die zweite Veranstaltung in Dresden Ende März 1917 berichtet Camill Hoffmann:

„Die Vehemenz, mit der Rudolf Blümner sich für jüngere Kunst einsetzt, mäht Einwände nieder. [...] Blümner versucht keine Kompromisse, pirscht sich nicht listenreich an den Zuhörer, sondern gibt ihm gleich eine radikale Dosis ein (nach dem Sprüchlein: Hält er’s aus, ist’s gut für ihn. Hält er’s nicht aus, wird er hin). Er beginnt sofort in der höchsten Oktave. Kurt Heynickes ‚Verzückung’ setzt ihn, ohne Einleitung, in jenen Zustand der Besessenheit, die für diese Art von Kunst, für dieses unbedingte, unmittelbare, rücksichtslose Hervorschleudern innerer Gesichte, wesentlich ist. Seine Besessenheit scheint mehr hitzig, als heiß zu sein. Seinen Fanatismus speist nicht Herz allein, sondern auch Verstand. Das schrillt merkwürdig in der Stimme, die aus dem Kehlkopf oft disharmonisch steigt, im Diskant sich überschlägt, niemals schmeichelt, aber die Worte aufs schärfste formt, ihnen bis auf den Urgrund stößt. [...] Nach Dichtungen von Anton Schnack und Josef Treß zur Entspannung zwei der giftwitzigen Satiren Friedlaender-Mynonas [...]“41

Am 6. November 1926 rezitiert Blümner im Rundfunk (Funkstunde Berlin)

„geradezu meisterhaft vier Grotesken von Mynona. Der Dichter, der als Dr. S. Friedlaender zu den schärfsten und tiefsten Denkern unserer Zeit gehört (zuletzt in den Werken ‚Katechismus der Magie’ und ‚Kant für Kinder’), gestaltet in den grotesken Dichtungen als Mynona die Komödie des heutigen Menschen in seiner Lächerlichkeit und selbst verschuldeten Ohnmacht. Wie sein philosophisches Werk die Bedingungen und Möglichkeiten des schöpferischen Geistes untersucht, gibt er hierzu in dem überwältigenden Witz seiner Novellen (‚Rosa, die schöne Schutzmannsfrau’) und Romane (‚Die Bank der Spötter’) gleichsam das negative Gegenstück: die Zeitsatire im großen Stil.“ (Anonym 1926)

Auch Arnold Zweig hat die Sendung gehört. Er vermag von Humor und Komik keine Spur zu entdecken: „Was für eine verstaubte literarische Angelegenheit! Das ist auf den Kopf gestellter Andersen.“ Blümner wird ambivalent beurteilt: „Grabesdürr fallen die Sätze von den beredten, durch und durch geschulten Lippen des Rezitators. Nur schade, daß er dort, wo wir die Stimme eines sächselnden Papageien hören müssen, weder papageiisch noch gar sächselnd spricht.“ Doch hebt Zweig die medialen Qualitäten hervor: „Diese vier Geschichten, durchs Ohr gegeben, haben eine vollkommen visuelle augenweltliche Gegenständlichkeit.“ „Keinen Augenblick lang versagt das Erzählen gesehener Dinge den bloß hörenden Aufnehmern gegenüber.“42

Zu F/Ms 60. Geburtstag am 4. Mai 1931 spricht Blümner erneut im Radio (Funkstunde Berlin); am nächsten Tag gratuliert er dem Jubilar:

„Hoffentlich hab ich alles recht gemacht. Sie werden mir auch nicht böse sein, daß ich die alten Stücke genommen habe. Ich spreche nämlich auch im Rundfunk auswendig und erfuhr von dem Vortrag zu spät als daß ich noch etwas Neues hätte durcharbeiten können.“43

Ludwig Hardt beginnt seine Vortragsabende 1905, als Neunzehnjähriger. Ein Jahr nach Blümners letztem nachweisbaren Sturm-Auftritt, als ob er die Staffette weitertragen wollte, nimmt er F/M in sein Programm auf. Am 14. Mai 1919 schreibt er:

„Lieber und sehr verehrter Herr Doktor Mynona,

Ihr Brief hat mich sehr gerührt: daß Sie sich so freuen über meinen Vortrag Ihrer Grotesken. Hoffentlich hält die Freude an, wenn Sie sie Sonntag hören! Das p.p.p. Poblikom hat sich herrlich amüsiert, und acceptable Leute sagten mir, sie seien die ‚Höhepunkte’ des Abends gewesen. Ich habe nun ‚zu Ehren der in Aussicht stehenden Anwesenheit des Herrn Autors’ eine Groteske eingeschoben und zwar – nun, das soll eine Überraschung sein. [...]“ (AAFMAG)

Bis April 1924 trägt Hardt mindestens elfmal F/M vor. Dieser vermerkt: „Gerade jetzt ist Mynona hier beim Publikum ein wenig insinuiert, bes. durch den Rezitator Hardt.“44 Über den Abend vom 18. September 1920 berichtet Gertrud Isolani:

„Hardts Sprechkunst und sein Mittlertum sind von einer fast überspitzten, im Humoristischen und Grotesk-Phantastischen ganz sensiblen Intellektualität, die oft etwas Rabulistisches, Spitzfindiges hat. Geistig, nicht sprachlich, holt er die letzten, raffiniert vorbereiteten Effekte und Pointen aus einer witzigen Dichtung Mynonas, Scheerbarts oder Morgensterns genießerisch heraus.“ (gi. 1920)

Hardt wird stets lobend gewürdigt. Thomas Mann (1979, 422) notiert am 20. April 1920 über einen Münchner Abend: „Er las Heine, Rilke, etwas von Maupassant, Andersen, Morgenstern, Mynona, gab dann wieder die Schauspieler, auch tote, und Wedekind mit Momenten großer Ähnlichkeit.“ Am 5. Oktober 1921 rezitiert Hardt im Prager Mozarteum: Heine, Morgenstern, Daudet, Grimms Märchen, Kleist und F/M; Franz Kafka ist anwesend.45 Am 28. Januar 1926 spricht er im Radio „Balladen und Grotesken“, darunter Der zarte Riese (Mitteldeutsche Rundfunk AG). Anfang Oktober 1930 feiert er sein Jubiläum:

„Seit 25 Jahren spricht er nun Gedichte und Geschichten. Er spricht sie mit dem Mund, mit dem Gesicht, mit den Händen, mit dem Kragen seines Jacketts, und, wenn es darauf ankommt, mit den Beinen. Er inszeniert sie – sie und sich selbst. Er macht es mit seiner erstaunlichen Modulationsfähigkeit, mit seiner Gewandtheit im Chargieren und mit seiner ‚Magie’. [...]“ (Anonym 1930; wohl Emil Faktor)

Noch andere Künstler haben F/Ms Grotesken zu Gehör gebracht: Hugo Ball & Emmy Hennings bei ihren „Modernen literarischen Cabaret-Abenden“, Zürich 1916; Olly Jacques bei der Eröffnungsfeier der Galerie Dada, Zürich, 29. März 1917; Hannah Höch & Raoul Hausmann in der Berliner Secession, 8. Februar 1921; der Schauspieler Max Grünberg auf Trude Hesterbergs „Wilder Bühne“, eröffnet im September 1921. Im Kabarett MA („Montags-Abendveranstaltungen“, Schubertsaal, Bülowstraße) werden seit 1926 Texte von F/M, Morgenstern, Pirandello, Brecht, Goll u. a. rezitiert oder in der Vertonung von Franz S. Bruinier vorgetragen; dabei wirkt auch eine der ersten Berliner Jazz-Bands mit: Weintraubs Syncopators.46

„‚Es liegt im Wesen der Natur, die Katastrophen stets in Bereitschaft, selten in Tätigkeit zu setzen.’ S. Friedlaender.“ Den Satz aus Wig wamglanz notiert Georg Heym im Tagebuch.47 Der andere Säulenheilige des Expressionismus, August Stramm, hat in seinen Dramen Erwachen, Kräfte und Geschehen Motive der Groteske Für Hunde und andere Menschen (# 45) ausgestaltet: Er beschreibt die Höherentwicklung des Individuums bis zur Identifikation des Menschen mit dem Göttlichen und die dadurch erlangte Allmacht sowie jenen „Hund von einem Menschen“, der aus Feigheit und Bequemlichkeit vor solcher Vergöttlichung zurückschrickt.48 In seinem letzten Brief, 25. August 1915 an Walden, notiert Stramm über den kurz zuvor im Sturm erschienenen Aufsatz Geist und Krieg: „Die Ausführungen von Friedlaender sind übrigens auch sehr gut und richtig.“49

Nico Rost sprach 1963 in einem Erinnerungsbericht die Vermutung aus, daß Carl Einstein „einen gewissen Einfluß“ auf F/M gehabt haben könne; die Einstein-Pionierin Sibylle Penkert ließ diese vorsichtige Äußerung 1969 zu einer Behauptung gerinnen; sie wurde von Dirk Heißerer 1993 widerlegt. Er zitiert aus dem Bebuquin eine klare Anspielung auf F/M: „Aber das Nichts ist die indifferente Voraussetzung allen Seins. Das Nichts ist die Grundlage, nur darf man nicht an Robert Mayer glauben ...“50 Höchst raffiniert ist die F/M-Parodie, die 1918 unter dem Namen Paul Bernhardt erschien, Pseudonym von Hans Heinrich v. Twardowski (Rezension # 18).

F/Ms Wirkungen auf Autoren wie Alfred Lichtenstein, Friedrich Wilhelm Wagner, Walter Serner, B. Traven (Ret Marut) sind mehrfach bemerkt worden.51 Der flämische Dichter Paul van Ostaijen, einer der ersten Kafka-Übersetzer, lernt während seiner Berliner Jahre 1918-22 F/M kennen; durch ihn angeregt beschäftigt er sich mit Kant und Marcus; in seinen eigenen Grotesken und Essays finden sich viele Echos und Zitate F/Ms.52 Der russische Satiriker Arkady Awertschenko variiert das Thema von Die Jungfrau als Zahnpulver (# 63, siehe dort). Zu Yvan Golls Maskenspiel Methusalem oder Der ewige Bürger (1922) notiert Karl Markus Michel, es stehe

„in der Entwicklungslinie, die von Wedekind zu den Komödien von Sternheim und Kaiser führt. Auch Mynonas Grotesken haben deutlich ausgestrahlt. Die expressionistische Groteske ist das negative Pendant zur expressionistischen Ekstase. Diese will die ‚heilige Seele’ des Menschen enthüllen, jene sein moralisches Fiasko entlarven, seine nackten Instinkte.“ (Michel 1961, 475 Anm.)

Zu Walter Seidls Roman Anasthase und das Untier Richard Wagner (1929) schreibt ein Rezensent: „An manchen Stellen findet sich der Leser an René Schickele gemahnt, Flaubert sah dem Autor über die Schulter und die deutsche Groteske (Mynona) hat es ihm angetan.“53 Der Sprachfehler jenes alten Professors Schnürlein (Der Musterschüler, # 178) steht im Zentrum von Wolfgang Borcherts früher, erst 1960 veröffentlichter Erzählung Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels ...

Vielleicht führen Linien von F/Ms Grotesken zu jener Prosa, die in den späten zwanziger Jahren im Feuilleton der Frankfurter Zeitung erscheint: „Ich danke Ihnen auch für die mitgeschickten Grotesken ...“, so Ernst Bloch an Siegfried Kracauer, 6. Juni 1926; dieser antwortet am 29. Juni: „Ich danke Ihnen für die freundliche Aufnahme, die Sie meinen Grotesken gewährt haben.“54 Zwei Jahre später beginnt Bloch, in der FZ Prosatexte zu veröffentlichen; seit Ende 1931 erscheinen dort „Surrealistische Lesestücke“ von „Castor Zwieback“ alias Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus. Dreyfus war befreundet mit Marianne Hoppe; sie half ihm nach 1933 und nach der Rückkehr aus dem argentinischen Exil 1963; sie wußte auch, wer Mynona war: Bei der Eröffnung der F/M-Sammlung der AKB 1972 las sie Texte von ihm Adorno freilich glaubte, mit einer seiner Gesten von hoch oben herab den „Altkantianer Mynona“ erledigen zu können, ohne viel von ihm verstehen zu wollen (Adorno 1966, 390).

Themen und Motive

Wie sehr verlockt der von F/M ausgebreitete verwirrende Reichtum zum Vergleichen und Sortieren! Doch soll das nicht zu buchhalterischer Verrechnung mißraten. Die folgende Aufgliederung hält sich an allgemeine Kategorien; einige davon wurden in der bisherigen Rezeption vernachlässigt, ja unterschlagen.

1. Philosophie

1917 begründet F/M sein Groteskenschreiben mit der ausgebliebenen Resonanz auf seinen Nietzsche von 1911:

„In meinem Buch über Nietzsche präzisiere ich Nietzsches Bedeutung als Indifferentismus polarer Observanz. [...] – Da man diesen Schlüssel zum Erlebnis Nietzsche verschmähte, schloß ich damit unter dem Namen Mynona ein Lachkabinett auf; mein Groteskenbuch ‚Rosa, die schöne Schutzmannsfrau’ enthält in den Grotesken ‚Aërosophie’, ‚Präsentismus’ und ‚Fasching der Logik’ den Indifferentismus polarer Observanz humoristisch formuliert. Ich wollte dem Menschen mindestens auf den Zahn fühlen, den er beim Grinsen zeigt.“55

Aber noch im Exil klagt er über die wiederum ausgebliebene Resonanz:

„In mein Groteskenbuch ‚Rosa’ habe ich, unter den Titeln ‚Aërosophie’, ‚Fasching der Logik’ & ‚Präsentismus’, meine Entdeckung aller Entdeckungen listig eingeschmuggelt. Ich wurde aber an mir irre (auf Jahrzehnte) als aller Verstand der Verständigen, Marcus, weder scherz- noch ernsthaft darauf einging. Das ‚kindliche Gemüt’ fiel bei Kantmarcus erst in die Religion, in die Transzendenz. Ich beweise heute, daß es mitten in die Theorie gehört. Diese ‚Einfalt’ gerade, Indifferenz, ist Herz aller Differenzen.“56

Die drei Texte zeigen F/M auf der Suche nach anderen Ausdrucksformen für seine philosophischen Ideen. In Aërosophie (1911, # 29) arbeitet er mit einfachen szenischen Elementen. Hoch in der Luft über Berlin-Kreuzberg, in Klubsesseln, erklärt ein Marsbewohner mit dem leicht umkehrbaren Namen Myno Deusp dem namenlosen Erzähler das Unendliche ∞. Die Menschen zählen und leben von einem Anfang bis zu einem Ende, von der Geburt bis zum Tod. Die Martianer dagegen achten auf das, was dabei stets übersehen wird: die reine Mitte, von der aus es gleichermaßen nach + ∞ wie nach – ∞ geht.57 Diese Mitte ist freilich Nichts, Null; doch sie soll lebendig sein, Person (ohne Artikel!). Sie bleibt ewig anonym; eines ihrer Pseudonyme ist ‚Ich’. Sie ist nicht simpel, einfach, identisch, sondern von sich selber unterschieden, polar ∞. Ihre Tätigkeit besteht unentwegt darin, zu balancieren, die Unterschiede zu harmonisieren, Gewinn und Verlust zu kompensieren. Identität ist das labile, immer gefährdete Ergebnis eines Selbstwiderstreites. Entsprechend lautet F/Ms Korrektur von Mayers Energieprinzip: Krafterhaltung ist Streit gegen den Verlust einer erhaltenden Kraft. Jenes Prinzip, hatte F/M 1910 betont, sei „von scharfem, aber doch sehr kurzem Blick in die wundersame Ökonomie des Unendlichen: ein Prinzip, das ‚Endlichkeit’ in das Unendliche bringt, also ein harmloses Prinzip“. Mayer sei so einsichtig gewesen, „es nicht auf ewige Dignitäten, geschweige Religiositäten auszudehnen“.58 Umgekehrt sucht F/M das Unendliche ins Endliche hineinzubringen, die Sonne, das reine Ich in die Welt.

Der zweite Text, Fasching der Logik (# 30), erschien gekürzt Anfang 1912, vollständig Ende 1913 in Rosa, in Fraktur, seitdem nie mehr. Diese Programmschrift ist niemals gründlich interpretiert worden.59 Wieder trägt ein Marsbewohner vor, im Tonfall eines Universitätsdozenten, mit direkten Anreden und polemischen Spitzen, mit Goethe-, Schiller-, Nietzschezitaten. Aërosophie wird ausgeführt. Was man so meint mit dem leicht hingeworfenen Ausdruck ‚Welt’, das zerfällt in zwei Unendlichkeiten: + ∞ und – ∞. Einfachste Formel, um die Tätigkeit des Geistes auszudrücken: Unterschiede wahrnehmen, präziser differenzieren, logisch prüfen, ordnen, werten, beurteilen. In der Mitte zwischen den beiden Unendlichkeiten, auf ihrer Grenze, arbeitet jene singuläre Person unausgesetzt daran, die Extreme „neutralisch“ zu „kommunisieren“, die Pole im Gleichgewicht zu halten, und zwar auf allen Stufen der „Wesenskette“, in allen „Mechanismen, Chemismen, Vegetabilien, Animalien, Rationalien“.60 Dieser Balanceur ist lebendige Null, Nichts von allem, „Weltseele“, „lebendige Indifferenz der Weltpolarität“, eben jenes Perpetuum mobile, an dem viele, darunter Scheerbart, sich abarbeiteten.61 F/Ms Grundgeste besteht nun darin, dieses urdynamische Nichts nicht irgendwo in der Welt draußen zu lokalisieren, sondern es gerade ins Zentrum des eigenen Innern zu setzen: „selbsteigenes Privatissimum“. Chance und Gefahr: zwischen scheinbarem „Selbstverlust“ und ebenso scheinbarer „Selbstgewinnung“ zu leben, ein-und auszuatmen. Aus dem Punkt des Gleichgewichtes der Waage entspringen alle Differenzen, und zwar polar, d. h. einander spiegelnd. F/M weiß nur zu gut, daß eine solche „Logik des ∞“ dem Normalverstand vorkommt wie von einem anderen Planeten, etwa dem Mars, herabgefallen. Doch einem „freiwilligen Selbstbetrug“ erscheint alles andere irrelevant. F/M gönnt sich die Wollust, „allgemein unfaßlich“ zu werden. Diese Logik im Fasching, auf den Kopf gestellt, außerhalb, ja in „vollkommenem Widerspruch“ zur Alltagsordnung, bleibt unfaßbar, solange man Endlich und Unendlich als Gegensatz, als Antinomie denkt. „Denn hier geht es auf Tod und Leben“! Es geht um einen „Selbstmord, bei dem man leben bleibt“. Jene reine pulsierende Mitte kann erst getroffen werden, wenn alles allzumenschliche Kalkulieren ausgeschaltet ist, alles ökonomisch kluge Verrechnen von Plus und Minus in Gewinn und Verlust. F/M verknüpft den uralten, sokratisch genannten Impuls mit Nietzsche: Selbsterkenntnis heißt Vernichten des Scheins, der Illusionen des Menschen über sich selber. Solange das nicht geschehen ist, bleibt nichtom-mani-padma-hum“