Für unsere Kinder und Enkelkinder, die keinen Krieg miterlebt haben

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© Herausgeber u. Autor: Renate Bergmann, 2014

Ohweg 15, 21442 Toppenstedt

Umschlag: Vincent Bergmann

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7357-9551-9

Inhalt

Vorwort

Täglich sehen und hören wir, dass heutzutage viele tausende Menschen vor Krieg und Terror flüchten und in Lagern leben müssen.

Darum habe ich Berichte gesammelt von Menschen, die als Kinder 1945 flüchten mussten, in dänischen Lagern, vor allem in Oksböl, eingesperrt waren und sich noch heute daran erinnern Herzlichen Dank an

Geschwister Hennig,

Paul Zieglowski,

Edeltraut Kowald, geb. Habermann

Georg David,

Meta Michalek, geb. Fellenberg

Edith Schöpf, geb. Hesse

Zuletzt folgt ein Auszug aus dem Buch „Mit Kopf und Herz – Mein weiter Weg ins Leben“ von meinem Mann Gregor Bergmann, der auch 2 ½ Jahre als Flüchtling in dänischen Lagern verbringen musste. Um verstehen und mitfühlen zu können, muss man „zwischen den Zeilen lesen“, so, wie man auch die Fernsehbilder nicht wie Kinofilme aufnehmen darf.

Im II. Teil wird die heutige Flüchtlingsproblematik aufgegriffen. Wir können dieses politische Problem zwar nicht beeinflussen, aber wir sollten uns immer wieder davon berühren und beunruhigen lassen, denn „Wegsehen ist keine Lösung“.

Mögen die Aufzeichnungen dieser Kriegskinder uns helfen, das heutige Leid der Mütter und Kinder deutlicher nachzuempfinden und zu begreifen, dass Krieg noch nie Probleme gelöst hat.

Renate Bergmann, im Januar 2014

Teil I

Ungeliebte deutsche Flüchtlinge 1945

Bericht: Geschwister Hennig

Der Aufbruch 04.02.1945

Nachdem die Front immer näher rückte und am 04. 02. 1945 vor unserem Dorf Kaschaunen/Kreis Braunsberg stand, haben wir uns entschlossen, die Heimat zu verlassen.

Vater war öfter zu den Nachbarn gegangen, um zu sehen, was die machen wollten. Der Gauleiter Koch hatte bei Strafe verboten, vor den Russen zu fliehen. Am Montag, 05. 02. 45 kam der Vater zurück und sagte, wir sollten schnell das Wichtigste zusammenpacken, was auf den Wagen passt. Die anderen wären schon alle fort. Da haben wir Hennigs uns mit fünf Personen und unsere Cousine Anna Kranig mit ihrer Tochter Ulla, Opa Friese, Schneider Ehlert mit vier Personen und Frau Holzki mit ihren vier Kindern im Laufe des Nachmittags auch eilig auf den Weg gemacht.

Wir waren also neun Erwachsene und sieben Kinder. Der Älteste unter uns war Opa Ehlert mit fast 80 Jahren. Der Schneider Ehlert war um die 75 Jahre. Die zweijährige Ulla war die Jüngste. Holzkis Rosemarie und Josef waren auch erst 3 ½ und 4 ½ Jahre. Die Holzkis hatten zu der Zeit auch noch die Ukrainerin Tatjana als Kriegsgefangene. Zwischen ihnen bestand ein gutes Verhältnis und das junge Mädchen wollte mit Holzkis vor den Russen fliehen. Sie schloss sich uns an, aber als sie eigene Landleute traf, rieten diese ihr, nicht bei den Deutschen zu bleiben, weil sie dann mit Erschießung rechnen müsse. Was mag aus ihr geworden sein?

Der Fluchtweg

Am ersten Tag sind wir bis Lichtenau gefahren, d. h. der Vater und Opa Ehlert lenkten die Pferde, und auf dem Wagen saßen nur noch die Oma Aßmann, d. i. Frau Ehlerts Mutter und die kleinen Kinder. Wir anderen sind alle gelaufen. Anna, Rela (16 Jhr.) und Agnes (21 Jhr.) haben die Fahrräder geschoben, was manchmal sehr schwer war, da überall viel Schnee und Matsch auf den Wegen war. Doch die Fahrräder haben uns später viele gute Dienste geleistet. Ohne sie hätten wir alle bestimmt nicht zusammen bleiben können.

Von Lichtenau ging es weiter über Lays bis nach Gut Hasselberg, wo wir in einer Scheune übernachtet haben. Dann führte der Weg nach Hohenfürt, Hasselpunsch, Eisenberg, Hohenwalde, Regitten und Anhof.

Als wir danach Pfahlbude erreichten, mussten wir auf das zugefrorene Haff. Drei Tage und eine Nacht mussten wir über das Eis fahren. Eine Nacht durften wir schlafen, das war in Pröbbenau auf der Nehrung. Die Wagen blieben auf dem Eis stehen, wo die Soldaten sie bewacht haben. Es ist auch nichts von unserem Wagen weggenommen worden. Von den Soldaten bekamen wir etwas heißen Tee, das vergesse ich nicht, weil wir alle viel Durst hatten. Zum Glück hatten wir die Federbetten, denn es war furchtbar kalt. Schließlich kamen wir am nächsten Tag in Bodenwinkel wieder vom Eis herunter.

Wir rasteten zwei Nächte in Stutthof, im leeren KZ. Wir wussten damals nicht, dass zuvor die todgeweihten Gefangenen hier herausgetrieben worden waren. Aber dann mussten wir weiterziehen über Stegen, Pasewark nach Nickelswalde an der Weichsel. Wir wollten schnell an das andere Ufer. Aber wegen des schweren Eisganges konnte keine Fähre fahren. Wir mussten ein paar Tage warten, bis es endlich wieder weiter ging.

Wir fuhren noch bis Danzig-Emaus, wo Oma Ehlert verstorben ist. Sie hatte schon einige Zeit schwer unter Durchfall zu leiden gehabt. Damals hatten wir eine Unterkunft in einer evangelischen Kirche gefunden. Der Pastor half, wo er nur konnte. Er betete mit uns und tröstete Oma Ehlert. Am 1. März konnte sie beerdigt werden in Danzig-Emaus.

Weiter ging es bis Oliva, wo wir uns drei Wochen ausruhen konnten. Um den 22. März hatten die Russen uns eingekesselt. Es hieß, jetzt gäbe es nur noch die Flucht über die Ostsee. Alle hatten Angst vor dem Ertrinken, besonders auch unser Vater.

In Oliva lernte Mutter Holzki die Familie Paschke kennen und die beiden Frauen schlossen sich zusammen. Sie wollten lieber zurück nach Kaschaunen ziehen.

Wir sind dann ohne sie über Heubude, Sandweg, Plenendorf nach Wesslinken gefahren. Von da aus wurden wir nach Schmerkblock geleitet, wo wir ca. 1o bis 14 Tage in einer Scheune lagerten. Weiter ging es dann nach Schiewenhorst. So wie tausend andere musste Vater schließlich die große Angst überwinden und sich um die Einschiffung bemühen. Am 20./21.April 1945 wurden wir mit dem Schiff nach Dänemark gerettet.

Rettung über die Ostsee

Unser Schiff war die „Minden“. Doch zuerst mussten wir uns in Schiewenhorst von fast allen unseren Sachen trennen. Nur Handgepäck war erlaubt. Was werden die Eltern eilig an sich genommen haben? Die wichtigen Papiere sicherlich, einige Fotos? Mir packte Mutter einen Seesack mit Decken und etwas Essbarem auf den Rücken. Wir haben diesen Seesack noch heute. Dann wurden wir in Eile auf einen letzten Kohlenkutter geschoben, dicht an dicht. Hatte jemand zu viel störendes Gepäck, wurde es von den Soldaten kurzerhand ins Wasser geworfen.

Das war also an Hitlers Geburtstag. Darum haben wir alle besonders große Angst gehabt, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Bei der Halbinsel Hela hat man uns auf offener See auf das große Lazarettschiff Minden geladen. Ich weiß, es war stockdunkel. Von der riesigen Schiffswand ließen Matrosen an vier Seilen eine Art Schaukel herab. An den Seiten war ein Seil zum Festhalten quer gespannt. Wir mussten nacheinander hinaufsteigen und wurden hochgehievt. Manch einer ist nie da oben angekommen. Aber niemand konnte helfen. An Deck fanden wir überall verwundete Soldaten liegen, ohne Verpflegung, furchtbar verlaust und auch sonst kaum versorgt. Meine Mutter hatte noch Brot von zu Hause und hat es verteilt. Bald sagte sie verzweifelt: „ Alles kann ich nicht geben, weil wir doch selbst nicht wissen, wie es mit uns weiter geht, wenn wir nach Norddeutschland kommen.“ Später erfuhren wir, dass schon 1.500 Verwundete an Bord waren. Dazu kamen 4.500 Flüchtlinge.

Wir wussten alle nicht, wo wir hin transportiert werden. Plötzlich hieß es, wir seien in Kopenhagen. Da war auch unser letztes Brot verschimmelt.

Von Kopenhagen nach Svenborg

In Kopenhagen wurden wir erst mal entlaust. Dann ging es weiter nach Svendborg. Dort lebten wir drei Wochen in einer Seemannsschule. Hier waren auch noch Soldaten untergebracht. Es war für uns sehr interessant zu beobachten, dass diese Soldaten sich mit den vorbeifahrenden Seeleuten über Fähnchen verständigten.

So erfuhren wir eines Tages, dass der Krieg aus sei, das war der 08. Mai 1945. Für uns alle war es eine Erlösung. Aber wie wird es weitergehen? Die Deutschen Soldaten mussten abmarschieren. Jetzt hatten die Dänen allein die ganze Last mit uns Flüchtlingen. Wir waren ungebetene Gäste, das konnte man merken.

Von Svendborg nach Ollerup, a. d. Insel Fünen.

Mitte Mai 1945 hat man uns nach Ollerup verfrachtet. Hier hatte die deutsche Wehrmacht während der Besatzung eine Volkshochschule für die Flüchtlinge räumen lassen. Am Anfang gab es noch für jeden ein paar Kronen und man durfte aus dem Lager gehen und sich etwas kaufen. In Ollerup war es, dass Rela so schwer an einer Drüsenerkrankung litt. Wir waren sehr besorgt, als sie nach Odense ins dänische Krankenhaus gebracht wurde. Aber die Dänen waren gut zu den deutschen Patienten. Rela wurde operiert und musste später ein zweites Mal dort behandelt werden, weil sich ein Knoten am Bein gebildet hatte. Auch unsere Agnes hatte damals Knieprobleme. Wie viele Kilometer waren wir gelaufen? Sie musste zum Arzt. Vielleicht hat man sie nicht richtig behandelt, denn sie ist das Knieleiden nie mehr losgeworden.

Für die Männer gab es im Lager kaum eine Beschäftigung. Aber sie haben sich immer nach etwas Brauchbarem umgesehen, um unsere Situation zu verbessern. Sehr wichtig war es für uns alle, Brennholz zu ergattern. Die Kälte war kaum zu ertragen. Also suchten die Männer Sperrholz. Aus der Not heraus haben sie auch recht praktische Koffer zusammen gebaut. So konnten wir später unser weniges Eigentum besser von Lager zu Lager tragen. Zwei von diesen Holzkoffern besitze ich noch heute. Unsere Männer waren sehr geschickt und machten aus Fahrradspeichen lange Stricknadeln. Wir Kinder fanden in einem verlassenen Depot Jutesäcke, die mit Garn fest umhäkelt waren. Wir hatten längst gelernt, wie und wann man sich in so ein bewachtes Depot einschleichen konnte. Ruck- Zuck ribbelten wir die Umhäkelung auf und brachten die Beute in unsere Baracke. Fleißig strickten wir Mädchen und Frauen Socken und Jacken davon. Irgendwo haben meine Cousine Anna und unsere Agnes karierte Bettwäsche „organisiert“. Davon haben sie sich mit der Hand Kleider für den Sommer genäht. Wir hatten ja kaum etwas zum Anziehen. Wer weiß woher, hat unsere Agnes auch eine Matrosenjacke ergattert. Die hat sie ganz chic zur Damenjacke umgearbeitet. Diese Jacke hat die Flucht auch überlebt. Sie wird in Ehren gehalten und an Fastnacht sorgt sie noch für Spaß. Gerne wären wir Kinder auch in eine „Schule“ gegangen. Doch es gab keine Lehrkräfte für uns und sicher auch kein Lehrmaterial.

Als wir uns in Ollerup einigermaßen eingewöhnt hatten, mussten wir wieder weg. Wir waren hier fast ein ganzes Jahr.

Von Ollerup nach Aalborg

Anfang März 1946 brachte man uns nach Aalborg in ein großes Barackenlager. Wir erschraken alle vor dem riesigen Stacheldrahtzaun, hinter dem wir nun leben sollten. Doch bald merkten wir, dass der Zaun uns auch schützen sollte, denn wir waren bei den Dänen selbstverständlich nicht beliebt. Hier in diesem Lager war es für uns alles ganz anders, eigentlich schlechter. In einem großen Raum waren etliche Familien untergebracht, ich weiß nicht mehr, wie viele es waren. Es war schrecklich unruhig. Mit ein paar Lumpen haben alle versucht, die Etagenbetten so abzuteilen, damit jede Familie ein bisschen für sich war. Von einem Intimbereich kann nicht die Rede sein. Es gab eine einzige Wasserstelle für alle. Da waren nebeneinander mehrere Wasserhähne und darunter eine lange Rinne. Die Wäsche sollte man hier auch waschen, aber nur kalt. Mutter hat später in einem kleinen Topf die Wäsche auf dem Kanonenofen gekocht. Der Ofen stand in der Mitte der Baracke. Selbstverständlich musste man alles mit Allen teilen: das Essen, das Wasser, die Wärme, den Platz, die Ruhe und die Luft. Einmal in der Woche konnten wir warm duschen. Das empfanden wir als einen großen Luxus.

Vom Essen gibt es nicht viel zu erzählen. Es war nicht ausreichend. Zwar musste man nicht verhungern, aber besonders die Heranwachsenden und die Männer hatten immer Hunger. Wir holten unsere Portion aus der Kantine und aßen in unserer Baracke am großen Tisch in der Mitte. Natürlich war es denkbar einfach: oft Suppe mit Grütze, manchmal Fisch, selten Fleisch, wenig Möhren, Rüben und Kohl, leider nicht mehr frisch. Agnes und Rela haben oft in der Küche geholfen. Das war eine begehrte Arbeit, weil man dann eine kleine Essenszulage bekam. Schade, wir wussten nicht, dass die Dänen ja damals selber nichts hatten. Auch in Deutschland hungerten die Menschen.

Erfreulich war, dass es in Aalborg manchmal eine Kino-Vorstellung gab. Recht regelmäßig war auch Gottesdienst, was uns natürlich sehr freute.

Wir wurden auch ärztlich betreut und alle mehrmals geimpft. Es gab sogar für einige Leute Arbeitsgelegenheiten.

Die Kinder sollten auch Schulunterricht haben, aber dazu gab es wohl viel zu wenige Lehrpersonen auch in diesem Lager. Also war das Lernen absolut minimal, das merkten wir Kinder aber erst später bei der Eingliederung.

Wann werden wir endlich entlassen?

Natürlich wollten wir alle so schnell wie möglich aus dem Lager heraus. Unsere Anfangs-Hoffnung, wieder auf unseren eigenen Hof und in unser eigenes Haus zurückzukommen, hatten wir schon seit langem aufgegeben. Im Februar 1947 wurde bereits bekanntgegeben, dass Deutschland in vier Zonen aufgeteilt worden sei. Man sollte sich melden, ob man in die Britische-, Französische-, Amerikanische- oder Russische Zone ausreisen möchte. Das waren für uns schwerwiegende Überlegungen. Uns Katholiken aus dem Ermland schlug man vor, die Französische-Zone zu wählen, damit man nicht in eine vorwiegend protestantische Gegend kam. Zudem war es erforderlich, dass man eine Einladung von Verwandten oder guten Bekannten vorweisen konnte, aus der hervorging, dass diese die Versorgung für uns übernehmen können und werden. Wir hatten ja nichts mehr. Über den Suchdienst musste man die Verwandten erst einmal suchen. Das lange Warten auf eine briefliche Antwort kostete viel Kraft und stellte die Hoffnungen auf eine harte Probe. Endlich kam für uns ein Brief aus Deutschland von unseren Verwandten in Bottrop. Mutters Bruder und Schwester waren nämlich bereits in der schlechten Zeit nach dem 1. Weltkrieg ins Ruhrgebiet gezogen, um mit Zechenarbeit durchzukommen. Sie luden uns ein und versprachen, fürs Erste für unsere Familie zu sorgen. Meine Eltern meinten, wenn wir erst in Deutschland sind, dann fahren wir nach Bottrop. Mit diesem Entschluss ist Vater zur Kommandantur gegangen. Es klappte tatsächlich, und am 27. Febr. 1947 durften wir mit vielen anderen Ostpreußischen Flüchtlingen Dänemark verlassen.

Von Aalborg nach Offenburg

Zunächst kamen wir in Offenburg an. Hier war das Durchgangslager Holderstock. Endlich waren wir unter Deutschen. Allerdings konnten wir am Anfang ihren Dialekt kaum verstehen. Von Holderstock aus wurden die Flüchtlinge in verschiedene Gemeinden verteilt. Nun musste man sich also trennen von den Menschen, mit denen man die Strapazen der Flucht und die Freuden und Leiden des Lagerlebens geteilt hat. Unsere Kusine Anna Kranig durfte mit ihrer Tochter weiterfahren nach Bottrop, weil dort schon ihr Mann Erich lebte. Das Abschiednehmen fiel uns schwer. Zu uns sagte man, dass das Ruhrgebiet überfüllt sei und wir müssten hier im Bundesland Baden bleiben. Später musste unser Vater noch einmal ins Büro kommen. Da war eine Bäuerin aus Strohbach, die für ihre Schwägerin eine Hilfe suchte. Diese Schwägerin hatte ihren Mann verloren. Nun lebte sie mit ihren vier Kindern allein auf dem eigenen Bauernhof und konnte ihn nicht bewirtschaften. Vater wurde gefragt, ob er diese Aufgabe übernehmen wolle Da haben die Eltern zugesagt. So sind wir also nach Strohbach gekommen.

Von Offenburg nach Strohbach

Wir haben unsere Ersatz-Heimat nach und nach angenommen und versuchten uns einzuleben. Vater hat als Knecht gearbeitet, was ihm als ehemals selbständigen Bauern bestimmt nicht leicht war. Rela hat als Magd gedient und unsere Mutter sah, dass die Bäuerin unbedingt Hilfe brauchte und verdiente mit Arbeit für uns das Essen. Ich, als die Jüngste, musste natürlich zur Schule. Vor der Flucht besuchte ich die 4. Klasse unserer Dorfschule. Weil ich jedoch inzwischen schon zwölf Jahre alt war, wurde ich gleich in die 6. Klasse gesteckt. Es war schwer für mich, wie für alle Flüchtlingskinder, aber ich schaffte es. Ich wurde regulär entlassen und besuchte danach noch die Fortbildungsschule. Agnes fand im Nachbarort bei einer Bauernfamilie eine gute Arbeit und Unterkunft. Sie hatte es gut dort. Aber ihr Knieleiden, das sie von Dänemark mitgebracht hatte, wurde immer schlimmer. Sie musste sich operieren lassen und man entfernte die Kniescheibe. Seitdem hat sie leider ein steifes Bein. Bei unserem Vater zeigten sich nun auch die Auswirkungen der Flucht. Nach etwa einem Jahr bekam er so starkes Rheuma, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Auch unsere Rela, die in Ostpreußen so ein gesundes Bauernkind gewesen war, hatte die Flucht und den Hunger nicht ohne bittere Folgen überstanden. Wie schon in Dänemark brach das Drüsenleiden wieder auf. Sie musste an Drüsen-TBC operiert werden und war lange im Krankenhaus.

Endlich wieder einen eigenen Platz 1948

Inzwischen waren wir drei Jahre unterwegs gewesen, haben mal hier, mal dort unter Fremden hausen müssen. Überall mussten wir uns anpassen, mussten immer gut auf unsere wenigen Sachen achten, hatten nirgends einen Intimbereich und mussten ständig damit rechnen, wieder weiter geschickt zu werden.

Nachdem Rela endlich gesund war, bekamen wir 1948 die lang ersehnte eigene kleine Wohnung in Strohbach. Das war für uns alle eine große Freude und Erleichterung. Am meisten freuten sich unsere Eltern. Jetzt konnten sie etwas Ruhe finden. Doch in dieser schlechten Zeit war nicht nur die Wohnungsnot sehr groß, es gab außerdem kaum Arbeit. ela hatte Glück. Sie konnte bald in einer Weberei als Weberin arbeiten. Auch Agnes bekam in derselben Firma Arbeit als Näherin. Als ich 1949 aus der Schule entlassen wurde, konnte Rela mich ebenfalls dort unterbringen. Agnes wechselte später zur Firma Hugla und nähte Polstermöbel. Wir waren alle das Arbeiten von zuhause gewohnt. Auch Agnes arbeitete viel und schwer, bis sie sich an ihrer Wirbelsäule operieren lassen musste. Sie war noch einmal ein ganzes Jahr lang in der Klinik. Dann konnte sie leider nicht mehr arbeiten und ist seitdem Rentnerin. Wegen der Wohnungsnot errichtete die Stadt kleine Holzhäuschen als Behelfsheime. Wir konnten 1949 auch in so ein kleines Holzhäuschen einziehen. Da waren wir wieder einen Schritt weitergekommen und hatten mehr Platz.

Unseren Traum von einem Eigenheim konnten wir uns erst etwa 20 Jahre später erfüllen, also 1968.

So sind wir Ostpreußen langsam, Schritt für Schritt zugezogene Schwarzwälder geworden aber die Heimat haben wir nie vergessen.

Annemarie Bohn, geb. Hennig

Bericht: Paul Zieglowski

Mit Pferd und Wagen auf der Flucht

In dem kleinen Ort Zissau, etwa 25 km westlich von Danzig-Oliva, konnte sich der Rest unserer Familie, die Eltern Andreas und Martha mit 8 Kindern im Alter von 1 ½ bis 16 Jahren – ich war 11 Jahre alt – von den bisherigen Strapazen etwas erholen. Der Flüchtlingstreck in Richtung Western ging nicht mehr weiter, denn die Rote Armee war dort bereits durchgebrochen und hatte den Weg abgeschnitten. Nun waren wir eingekesselt und es gab nur noch ein Entkommen über die Ostsee. Dies war das zweite Mal, dass wir eingeschlossen waren. Das erste Mal in Heiligenbeil und jetzt im Korridor. In Heiligenbeil bestand nur noch die einzige Möglichkeit, über das zugefrorene „Frische Haff“ der Roten Armee zu entkommen.