Impressum

Johan Nerholz

Nadja Kirchner und der Sohn der Zanura

Teil 4 der Nadja-Kirchner-Fantasy-Reihe

ISBN 978-3-96521-212-1 (E-Book)

ISBN 978-3-96521-214-5 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes von Gcomics

2. und 3. Umschlagseite: Gcomics

 

© 2020 EDITION digital
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Liste der Beteiligten

Nadja Kirchner: Die Heldin der Geschichte.

Iorla: Eine Geächtete, die überall gefürchtet wird und die die Zanuren ausrotten will.

Zanuren: Gigantische, katzenartige Wesen mit braunem Fell und schwarzen Punkten. Die oberen Eckzähne sind gut sichtbar und damit ähneln sie dem ausgestorbenen Säbelzahntiger. Sie haben einen sehr langen Schwanz.

Verzwergte Dämonenhunde: Sie sind klein und leben bei den Zanuren. Sie haben unter anderem eine Dolmetscherfunktion.

Die polnischen Schweine: Sie sehen aus wie Wildschweine, leben in Polen und hatten intensivere Kontakte zu den Zanuren.

Jonathan: Ein polnischer Keiler.

Der Geist der Griseldis: Eine kindliche Gestalt und zum Teil durchscheinende Geistergestalt, die ein Stück über dem Boden schwebt.

Herr von Dudenheim: Recht großer kahlköpfiger Geist mit großer Brille, der ein Stück über dem Boden schwebt und durchscheinend ist. Er ist der Vater von Griseldis.

Frau von Dudenheim: Stattlicher und schwebender Geist. Die Mutter von Griseldis.

Korfylos: Ein Geist, der nicht schwebt, dunkelhaarig ist und einen Pferdeschwanz trägt. Er ist ein gutaussehender Mann.

Graf: Ehemaliger Gutsbesitzer des Dorfes, in dem Nadja lebt, der jetzt ein Gefangener der Zyklopen ist.

Roberto: Sohn des Grafen

Raskara: Sehr große Geistergestalt. Sie ist die Anführerin der menschlichen Geister, sehr groß mit einem langen Umhang. Hat langes, weißes Haar.

Bento: Raskaras winziger Sekretär. Sehr vornehm.

Der Donk: Raskaras Vorgänger, der nun zurückgezogen lebt.

Zyklopen: Riesige, einäugige, pelzige Wesen in verschiedenen Farbtönen. Helfer von Korfylos.

Dämonenhunde: Riesige Geisterhunde, deren Schatten weiter entfernt auftauchen. Helfer von Korfylos.

Palekopten: Große menschenähnliche Wesen mit Mönchskutten, die auf einer Zyklopeninsel gefangen sind.

Oma Margot: Nadjas Großmutter väterlicherseits.

Barry: Hofhund der Kirchners.

Odysseus: Kater der Kirchners.

Prutorius: Prutorius ist ein riesiger, kurzhaariger, schwarzer ehemaliger Dämonenhund.

Bunra: Bunra ist eine riesige, kurzhaarige, braune ehemalige Dämonenhündin, einem Jagdhund ähnlich und die Gefährtin von Prutorius.

Dinara: Dinara ist eine riesige, kurzhaarige, rotbraune ehemalige Dämonenhündin mit Stehohren, die Nadja Kirchner begleitet. Takeschs Gefährtin.

Takesch: Takesch ist ein riesiger, kurzhaariger, schwarz-grauer ehemaliger Dämonenhund und Dinaras Gefährte.

Aro: Chef der Dämonenhunde, die unter Korfylos‘ Kommando stehen.

Reikosch: Riesiger blaugrauer Geier, der für Kurierdienste verwendet wird. Er transportiert Nadja oft auf seinem Rücken

Kajik: Junger Mann. Ein Däumling, der Nadja begleitet.

Iri: Rothaarige Wasserhexe im mittleren Alter und mit grünen Augen.

Bernadette: Alte Wasserhexe, die mit Iri entfernt verwandt ist.

Koniketen: Wesen auf einer einsamen Insel. Haben Hauskatzengröße, Fledermausflügel und sehen ansonsten wie Ratten aus.

Nebelpferde: Pferde, die zu Nebel werden können und um sich herum Nebel bilden können.

Ganduren: Gelbliche, kugelförmige Wesen von der Größe eines Golfballes mit schnell sirrenden Flügeln. Wesen der Halbwelt.

Kaduro: Kleiner und sehr dicker Mann mit spiegelblanker Glatze und langem schwarzem Bart. Kaduro hat eine Art schwarzen Mantel an, der ihm bis zu den Knöcheln reicht. Unten ragen helle Stiefel hervor. Um seine Taille hat er eine sehr breite, violette Schärpe. Man muss unwillkürlich an einen viel zu dick geratenen Chinesen denken. Herrscher der Halbwelt.

Der narbige Genderich: Muskelbepackter, kahlköpfiger Haudegen mit vielen Narben an den Unterarmen. Zweiter Mann der Halbwelt.

Gilades, der Zeitreisende: Mittelgroßer Mann mit unbestimmbarem Alter und versonnenem Blick.

Mirko: Sohn des Gilades, der im Laufe dieser Geschichte selber ein Zeitreisender wird.

Rontur: Anführer der Raben aus der Senke.

Antarpha: Rabe aus der Senke. Ronturs Gefährtin.

Minra: Rabe aus der Senke. Ronturs Tochter.

Godok: Rabe aus der Senke. Minras Gefährte.

Taukius: Rabe aus der Senke. Ausbilder der Raben aus der Senke.

Jara: Rabe aus der Senke. Heilerin der Raben.

Beila: Rabe aus der Senke. Heilerin der Raben.

Nukrena: Anführerin der aussätzigen Raben. Godoks Mutter.

Der alte Weise: Weißer Rabe. Berater der Raben aus der Senke. Er lebt einsam.

Staubkatze: Spionin der alten Iorla, die bei den Zanuren lebt.

Cantegulas: Wesen mit gigantischem Kopf (dunkelbraun) und oberhalb des Kopfes sind links und rechts zwei milchige Augen erkennbar. Am überdimensioniert breiten Maul bewegen sich unablässig riesige lange Barteln in alle Richtungen. Der Rumpf ist dem eines Elefanten sehr ähnlich. Wesen der Halbwelt.

Bärenhorde: Sie sehen etwas anders aus als ganz normale Braunbären. Ihre Augen sind viel größer und die oberen Eckzähne sind lang und sichtbar, ähnlich wie bei den ausgestorbenen Säbelzahntigern. Außerdem hat ihr Fell eine silbergraue Farbe und sie sind um einiges größer als Braunbären. Sie werden von Genderich befehligt. Wesen der Halbwelt.

Kendaten: Reittiere, die wie hochbeinige Echsen von dunkelgrüner Farbe aussehen. Sie haben fledermausähnliche Flügel, die sie anlegen, wenn sie nicht fliegen. Ihre Mäuler zeigen lange und spitze Zahnreihen, denen man besser nicht zu nahe kommt. Die langen Schwänze, mit denen sie beim Laufen hin und her schlagen, erwecken den Eindruck, dass die Reittiere äußerst wehrhaft sind. Wesen der Halbwelt.

Schneeaffen: Die Reiter der Kendaten sehen aus wie Kreuzungen zwischen Menschen und Affen und sind mindestens zwei Meter hoch. Sie sind Söldner des Kaduro und tragen Waffen (Speere) mit sich. Wesen der Halbwelt.

Dunkelelfen: Kleine grünliche Gestalten. Die Gesichter sind weiß und ausdruckslos. Das lange Haar auf ihren Köpfen hat eine weißblonde Farbe. Sie leben in der Dunkelheit bei schwachem grünlichen Licht. Sie können normales Licht nicht vertragen. Wesen der Halbwelt.

Riesenadler: Auf ihm reitet Kaduro.

Prolog

Ein kleiner und kindlicher Geist schwebte über das trocken gelegte Seengebiet, das schon seit Jahrzehnten den Namen dieses kleinenen Geistes trug. Griseldis! Die vor vielen Jahren verstorbene Tochter der von Dudenheims erkundete gerade die Gegend um die Senke. Das tat sie fast täglich. Kein menschliches Wesen konnte den halb durchscheinenden Geist sehen. Dafür schwebte er zu weit oben. Das Dorf in der Nähe des trockenen Sees hatte der Geist auch bereits von oben begutachtet und für unauffällig befunden. Das war in der Vergangenheit nicht immer so. Es hatte sogar im letzten Jahr hier wieder einiges gegeben, dass man hier so noch nicht erlebt hatte.

Vor langer Zeit war der kindliche Geist wirklich ein noch kleines Kind gewesen und wurde in der Senke, die damals noch ein richtiger See war, heimtückisch ermordet. Der Mörder war der spätere Gutsbesitzer im Ort, der sich die Unsterblichkeit von Korfylos, einem anderen Geist, verschafft und sich selbst einen Adelstitel verordnet hatte. Es war der erste Schritt dieses Mannes, um den von Dudenheims das Gut abzukaufen. Erst viel später erfuhren die Dorfbewohner einen Teil der Wahrheit über ihn und vor allem, wie er in Wirklichkeit hieß. Die ganze Wahrheit erfuhren die Menschen im Dorf jedoch nicht und hätten diese wohl auch kaum geglaubt. Gerade die Unsterblichkeit des Mannes, der sich selbst zum Grafen gemacht hatte, durfte niemals publik werden und man wollte auch nicht, dass nach so langer Zeit noch jemand aus dem Ort erfuhr, dass die kleine Tochter der von Dudenheims ermordet wurde. Was hätte das noch für einen Sinn gehabt?

Der andere Geist, der Korfylos hieß, ordnete sich der großen Raskara, gewählte Anführerin der menschlichen Geister, nach wie vor nicht unter. Wenn er irgendwo erschien, nahm er auch nie diese fast durchscheinende Gestalt an, so wie es die anderen menschlichen Geister, wovon es unendlich viele gab, immer taten. Außenstehende hielten ihn darum immer für einen noch lebenden Menschen, wenn er irgendwo auftauchte. Dadurch schöpfte niemand von den Lebenden auch nur den kleinsten Verdacht, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Dieser Korfylos sorgte für eine gewisse Stabilität in den anderen Welten jenseits der Menschen, weswegen Raskara viele Dinge, die Korfylos machte, auch tolerierte. Dass dieser Korfylos in der Lage war, die Welten mit zu beschützen, hatte er mit den Dämonenhunden und Zyklopen, die unter seinem Kommando standen, schon einige Male nachhaltig unter Beweis gestellt. Zuletzt hatte er sich auch wieder einmal daran beteiligt, Nadja Kirchner, der Bannherrin der Senke, zu helfen.

Der ehemalige Gutsherr, den im Dorf alle auch jetzt noch den Grafen nannten, hatte sich die Unsterblichkeit nicht nur heimlich, sondern auch mit unwissentlicher Mithilfe von Korfylos verschafft. Das war mit ein Grund dafür, warum er nun Korfylos‘ Gefangener war. Er wurde seit mehr als drei Jahren auf einer Insel festgehalten, die kein Mensch jemals gesehen hatte. Auf dieser Insel lebten die Zyklopen, die den Gefangenen auf Schritt und Tritt überwachten. Dennoch hatte der es vor etwa einem Jahr in seiner vergitterten Höhle geschafft, seinen jetzt irgendwo in Süddeutschland lebenden Sohn Roberto zu kontaktieren. Außerdem hatte der „Graf“ einen Kontakt zu anderen Gefangenen, den Palekopten, herstellen können, die ebenfalls von den Zyklopen im Auftrag von Korfylos verwahrt und bewacht wurden. Vierzig dieser riesigen Kapuzenwesen konnten dann auch eines schönen Tages unbemerkt von der Insel fliehen und die Zyklopen hatten es nicht mehr ohne fremde Hilfe geschafft, sie wieder einzufangen.

Die von der Zyklopeninsel entflohenen Palekopten sollten Nadja Kirchner, die Bannherrin der Senke, entführen und dann zu Kaduro, dem Herrscher der Halbwelt, bringen. Aber nicht nur sie sollten sie gefangen nehmen. Auch Mirko, einen jungen Zeitreisenden, der noch nicht in der Lage war, seine besonderen Fähigkeiten zu nutzen und darum noch völlig wehrlos, wollten sie an den Herrscher der Halbwelt übergeben. Das alles konnte gerade noch verhindert werden. Wieder einmal mussten die Raben aus der Senke unter Ronturs Führung und ihre Verbündeten schnell handeln und nicht nur die.

Der Großvater des noch wehrlosen jungen Zeitreisenden hatte auch seinen Beitrag geleistet, um den Enkelsohn vor dem Zugriff der Palekopten zu retten. Er hatte einst durch Gilades, den Vater des Jungen, erfahren, dass sein Enkel ebenfalls ein Zeitreisender war, so wie sein Vater. Aber der Enkelsohn des Alten war noch völlig hilflos, denn noch war er nicht volljährig. Darum hatte sich der Alte auch strikt geweigert, in die Welt der Raskara zu wechseln, nachdem er gestorben war. Um seinen Enkel noch eine Weile zu beschützen, nahm er als nun umher wandelnder Geist vieles dafür in Kauf. Er hatte ein altes, verfallenes und längst vergessenes Forsthaus in einem Wald reaktiviert und hielt sich dort, von den Menschen unbemerkt, die meiste Zeit auf. Der Hauptgrund dafür war, dass Mirkos Mutter nicht mehr helfen konnte. Sie war schon tot und hatte sich längst den menschlichen Geistern angeschlossen. Der Großvater wollte das auf gar keinen Fall tun und half, das Vorhaben der Palekopten zu durchkreuzen. Inzwischen war die Hilfe des Alten nicht mehr nötig, denn der Enkelsohn war mittlerweile volljährig und ein vollständig entwickelter Zeitreisender. Gilades hatte jetzt alle Möglichkeiten, um seinen Sohn zu beschützen, was er auch tat. Mirkos Großvater wechselte nun auch in die Welten der menschlichen Geister unter Führung von Raskara.

Nicht genug damit, dass die Palekopten in die Welt des Kaduro eindringen und dann Nadja Kirchner und den jungen Zeitreisenden an Kaduro ausliefern sollten. Der Sohn des Grafen sollte außerdem einen Bannbruchstein aus dem Haus der alten Oma Margot stehlen, mit dem man auch den Bann in der Senke hätte brechen können. Dann wäre Kaduro nicht nur frei gewesen, sondern hätte alle Welten von der Senke aus beherrschen können. Auch der kleine Geist der Griseldis hatte seinen Beitrag geleistet, um das zu verhindern. Er musste die Anführerin der Geister unterstützen, weil Raskara sich nicht mehr persönlich um den Schutz der Bannherrin der Senke kümmern konnte. Die Raben bewachten zwar das Mädchen, aber viele Verbündete konnten dieses Mal nicht helfen, denn sie waren zu sehr mit dem Einfangen der vierzig Palekopten beschäftigt. Der kleine Geist musste deshalb Nadja Kirchner mit bewachen. Raskara war verhindert, denn sie hatte beschlossen, Korfylos bei der Gefangennahme der Palekopten zu unterstützen und dazu brauchte sie alle ihre Kräfte.

Die Anführerin der Geister hatte das Kabinett der Überführung aktiviert, damit die Gefangennahme der Palekopten für die Handelnden nicht allzu gefährlich wurde. Nicht nur die Raben riskierten viel bei dieser Aktion. Auch die riesigen Kuriergeier um Reikosch nahmen einiges auf sich und da schaffte Raskara mit dem Kabinett Abhilfe, das für den schnellen Rücktransport der Entflohenen auf die Insel sorgte. Auch die Zyklopen konnten so von den Stellen ferngehalten werden, wo sie für Aufsehen gesorgt hätten, denn ihre Hilfe bei der Verfolgung der Palekopten war nicht unproblematisch. Die Menschen durften von alledem wieder einmal nichts merken un die Zyklopen waren schon wegen ihrer enormen Größe viel zu auffällig.

Griseldis von Dudenheim hatte die Senke gerade wieder verlassen. Minra und einige andere Raben hatten sich mit dem Geist ein wenig unterhalten und so war der kindliche Geist wieder auf den neuesten Stand gebracht worden. Vor allem interessierte sich Griseldis Geist für die Fortschritte, die die Bannherrin der Senke machte. Nadja Kirchner hatte nämlich vor einem Jahr zusätzlich eine Ausbildung als Heilerin begonnen, nachdem sie schon die Verteidigungskünste der Raben und anderer Wesen aus deren Umfeld beherrschte und stetig verbesserte. Ausgerechnet Jara, die oberste Heilerin der Raben, hatte ihr diese Ausbildung angeboten, nachdem Nadja vielen Raben aus der Senke das Leben gerettet hatte. Selbst Rontur und sein ständiger Ratgeber, der alte Weise, wären beinahe bei dem entscheidenden Kampf gegen die Palekopten gestorben.

Der große Kampf mit den Palekopten an der Grenze zur Halbwelt war es, der für über vierzig Raben aus der Senke fast das Ende bedeutet hätte, wenn die Bannherrin nicht von einer einsamen und abgelegenen Insel zwei Flaschen Wasser des Lebens geholt hätte. Diese Mission war überaus gefährlich und ohne die Hilfe des Kuriergeiers Reikosch und dem Däumling Kajik wäre ihr das wohl nicht gelungen. Bernadette, eine Verwandte der in der Senke lebenden Wasserhexe Iri, half ihr bei dem Vorhaben und dann waren da auch noch die aussätzigen Raben plötzlich aufgetaucht, die sich die Erben des Turims nannten. Die Anführerin dieser Rabentruppe hieß Nukrena und war die Mutter von Godok, der mit der Rabenfrau Minra, die auch Nadjas Freundin war, in der Senke zusammenlebte und mit ihr schon einige Kinder aufgezogen hatte.

Godok war längst der zweite Ausbilder der Raben in der Senke geworden, denn die aussätzigen Raben waren hervorragende Kämpfer und damit auch der Gefährte von Minra, der bei seiner alten Sippe alles erlernt hatte. Er hatte sich einst mit seiner Mutter überworfen und seinen Stamm verlassen. So kam er in die Senke und fand sein Glück. Nachdem auch sein Leben durch das Wasser von der Insel gerettet wurde, söhnte er sich mit der Mutter und den anderen aussätzigen Raben aus.

Die Bewohner der Insel, die das Wasser des Lebens bewachten, nannten alle einfach nur die Koniketen. Kaum jemand hatte sie je zu Gesicht bekommen und genau die hatten die Bannherrin verfolgt, als sie mit Kajik, dem Däumling, und zwei Flaschen mit dem Wasser des Lebens von deren Insel floh. Ihr war mit dieser Flucht ein Stück aus dem Tollhaus geglückt, denn noch nie zuvor hatte es irgendjemand geschafft, die Insel der Koniketen wieder zu verlassen und schon gar nicht mit dem Wasser des Lebens. Dadurch wurde Nadja in den verschiedenen anderen Welten, die kein normaler Mensch kannte, noch einmal um einiges bekannter und seitdem wurde ihr nun also auch noch die große Ehre zuteil, die Heilkünste der Raben zu erlernen, denn sie hatte durch diese Tat die Unabhängigkeit der Raben aus der Senke erhalten können und man wollte sich auf diese Art bei ihr bedanken.

Auch Nadjas bester Freund Takesch und seine Gefährtin Dinara wurden bei dem Vorhaben, das schon fast ein Jahr zurücklag, von den Palekopten angegriffen und ernsthaft geschwächt. Die ehemaligen Dämonenhunde waren zwar unsterblich, aber sie brauchten nach dem Angriff der Palekopten dennoch eine lange Zeit, um ihre alten Fähigkeiten und Kräfte wieder zu erlangen. Takesch, der mit seiner Gefährtin Dinara die Grenze zur Halbwelt bewachte, wurde ein Jahr davor bei einem Überfall durch die Armee des Kaduro entführt. Jeder glaubte damals, dass man Takesch nicht mehr aus der Halbwelt herausholen konnte. Aber Nadja wollte das nicht wahrhaben und handelte auf eigene Faust und dann, als sie erst einmal aufbrach und angekommen war, erhielt sie immer mehr Unterstützung. So kam Takesch wieder frei und bewachte seitdem wieder mit seiner Gefährtin und den Feuermännchen die nun durch einen starken Bann gesicherte Grenze zur Halbwelt, durch die Kaduro und seine Kämpfer nicht mehr durchkamen. Dass sie jetzt so stark abgesichert werden konnte, war auch ein Verdienst von Korfylos.

Der kleine Geist kam dieses Mal ungelegen. Godok war wieder einmal bei seinen Übungseinheiten verletzt worden und dieses Mal kümmerte sich nicht Jara um ihn, sondern Nadja Kirchner. Sie ordnete exakt das an, was sonst Jara bestimmt hätte. Minras Gefährte sollte sich schonen und schimpfte über Nadjas Anordnungen. Griseldis erkannte, dass Nadja sich seit der Ausbildung zur Heilerin bei den Raben noch einmal verändert hatte. Wenn sie etwas anordnete, nahmen die Raben das zwar als gegeben hin, wenn sie bei ihr waren und regten sich auf, wenn sie wieder den Heilungsraum verlassen hatten. Aber ihren Anweisungen leisteten die Raben der Senke trotzdem Folge, so wie vor einem Jahr, als es um Leben und Tod ging, nachdem über vierzig Raben von den Palekopten schwer verletzt wurden.

Damals hatte Nadja den Raben das erste Mal überhaupt eine Anweisung gegeben. Die unverletzten Raben wollten die vierzig verletzten Raben sterben lassen und den Verband in der Senke auflösen, um sich anderen Rabenvölkern anzuschließen. Genau das hatte sie verhindern können und die unverletzten Raben hatten sich dem Willen der kleinen und zierlichen Bannherrin gebeugt. Dadurch erst machte ihre anschließende Mission zu der Insel der Koniketen Sinn.

Griseldis schwebte jetzt wieder zurück nach Hause. Nur noch wenige Momente und sie hatte ihre Welten wieder erreicht, die sie seit einigen Jahren ständig betreten durfte. Dafür hatte auch die Bannherrin gesorgt. Korfylos hatte den kindlichen Geist einst verflucht, weil sie Prutorius, den damaligen Chef seiner Dämonenhunde, entdämonisiert hatte. Aber dieser Fluch war nun wieder von ihr genommen worden. Prutorius wurde von da an geächtet und bekam später seine endgültige Aufgabe mit seiner ebenfalls entdämonisierten Partnerin Bunra auf dem Hof der alten Margot zugeteilt, einer Großmutter von Nadja und ihre Vorgängerin als Bannherrin. Die ehemaligen Dämonenhunde bewachten jetzt die alte Frau im Auftrag der Raben und die wusste nicht mehr, was sie ohne die beiden tun sollte. Sie sorgten dafür, dass sie nicht mehr einsam war.

Griseldis von Dudenheim machte sonst immer noch bei ihrer Tour einen Zwischenstopp in der Scheune der Kirchners, wo Nadja trainierte. Die Bannherrin hatte sie aber dieses Mal bereits in der Senke getroffen. Darum schwebte sie jetzt gleich wieder zurück in die Welten der menschlichen Geister.

Das Sumpfgebiet

Es war bereits später Nachmittag und die sengende Sommerhitze, die an diesem Tag immer noch herrschte, hatte nur unwesentlich nachgelassen. Der September war bereits angebrochen und es war für diese Jahreszeit außergewöhnlich heiß. Zu heiß! Hier, zwischen den Bäumen des Sumpfes, war diese Hitze zwar nicht so stark zu spüren, aber es reichte den Bewohnern des Sumpfes immer noch. Es war völlig ruhig, weil sich niemand unnötig regte. Hin und wieder hätte man in dem vorherrschenden Dickicht des Gebietes einen großen Tümpel erkennen können, aus dem es unangenehm und faulig roch und an dem sich unzählige Mücken tummelten. Auch das Quaken einzelner Frösche konnte vernehmen, wer sich hier gerade aufhielt. Ansonsten war alles an diesem Tag und an diesem Ort so ruhig und normal wie sonst auch bei so großer Hitze. Diese Gegend war einsam und keine fremde Seele kam jemals hierher. Es war sogar so, dass selbst die, die diese Gegend kannten und hier nicht lebten, diese lieber mieden. Etwas war schon seit unendlichen Zeiten nicht geheuer in dem Sumpf und so mancher, der dieses Gebiet einst betreten hatte, verließ es nicht wieder. Darum kamen immer weniger Lebewesen hierher, die von dem Sumpf etwas wussten.

Aber heute war das anders. Unvermittelt tauchte etwas im Sumpf auf und sorgte bei den hier lebenden Tieren für einige Unruhe, besonders in unmittelbarer Umgebung der erscheinenden kleinen Kreatur. Mehrere Vögel schreckten auf und einige kleinere Säugetiere gingen vorübergehend in Deckung, um sich aber schnell wieder zu beruhigen. Die hier lebenden Bewohner kamen dann schnell wieder aus ihren Verstecken hervor.

Das, was schlagartig auftauchte, war zwar selbst ein Tier, wenn auch keines, das hier lebte oder überhaupt in Wäldern und Sümpfen zurechtkam. Aber eine gewöhnliche Hauskatze erschreckte hier keinen Sumpfbewohner lange. Selbst die potenziellen Beutetiere einer Katze hatten sich schnell wieder beruhigt, denn sie bemerkten sofort, dass diese Katze nicht hungrig war. Außerdem waren sie jetzt gewarnt und würden nicht mehr so ohne weiteres ihre Beute werden.

Die Katze suchte etwas und ob sie das rechtzeitig fand, was sie zu finden glaubte, war mehr als fraglich. Wer sich hier in den Sümpfen nicht auskannte, konnte schnell den Tod finden. Hauskatzen konnten zum Beispiel schnell selbst zur Beute werden, anstatt Beute zu machen, denn es gab hier noch genug andere fleischfressende Bewohner, die auch eine Mäusefängerin nicht verschmähen würden und Haustiere kamen in den Sümpfen sowieso nicht lange zurecht. Sie waren für dieses Leben hier nicht geschaffen. Das schien auch die Katze zu wissen, denn sie bewegte sich sehr vorsichtig zwischen den relativ kleinen Bäumen und sah sich immer wieder sichernd nach allen Seiten um. Sie war staubgrau und diese unauffällige Färbung half ihr, sich der hiesigen Umgebung besser anzupassen. Sie hatte noch nicht gefunden, wonach sie suchte.

„Was willst du hier?“ Die Katze drehte sich schnell um. Sie reagierte aber keineswegs panisch, obwohl die Worte sehr angriffslustig waren. Nicht sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte. Man hatte sie gefunden.

„Du weißt also noch, wer ich bin“, erkundigte sich die Katze. Die Antwort war ein lautes und abfälliges Lachen und dann folgten sofort einige Worte hinterher.

„Mit einer normalen Katze hätte ich wohl kaum geredet.“

„Das kann ich doch nicht wissen, was du so alles machst“, sagte die staubgraue Katze.

„Pass auf, was du sagst. Verrückt bin ich immer noch nicht, auch wenn das so manch einer das von mir denken mag.“

„Ist ja gut“, lenkte die Besucherin ein. „Das habe ich mir auch schon gedacht, dass du nicht mit einer stinknormalen Katze reden würdest“, ergänzte die Mäusejägerin.

„Aber mir wäre eine stinknormale Katze um einiges lieber als ausgerechnet du.“ Die Worte klangen immer weniger einladend. Die Katze ignorierte das.

„Dann ist es ja gut, dass du mich nicht sofort angegriffen hast“, sagte nun die Angekommene. Sie wurde eingehend gemustert und der Blick richtete sich nahezu fassungslos auf die unwillkommene Besucherin.

„Das kann dir immer noch passieren!“ Die Worte kamen schnell und drohend.

„Nett, dass du mich noch kennst!“ Die Mäusejägerin schaute prüfend nach oben und damit unmittelbar in die unergründlichen Augen der Einheimischen.

„Nett?“ Man vernahm nun in unmittelbarer Umgebung ein abfälliges Schnauben. „Dich vergisst man nicht so schnell, auch wenn man das will.“

 „Schön“, sagte die Katze.

„Das war kein Kompliment“, stellte die Anwohnerin mit abfälligen Worten klar. „In seiner Nähe will man dich nun wirklich nicht auf Dauer haben.“

„Das scheinen andere aber nicht so zu sehen“, konterte das staubgraue Tier schnell. Es kam wieder ein abfälliges Schnauben von der anderen Seite, bevor weitere Worte folgten.

„Möglich, dass einige Bewohner in deiner Welt gar nicht wissen, was für eine hinterhältige Kreatur du wirklich bist! Aber ich denke, die Zahl derer, die das nicht wissen, nimmt mit jedem Tag immer mehr ab.“ Die Person, die die graue und unscheinbare Katze so abfällig behandelte, war nicht mehr jung. Aber ihr entschlossenes und festes Auftreten ließ dieses Wesen, das eine menschliche Gestalt hatte, beeindruckend erscheinen. Furchtsam sah die alte Frau jedenfalls nicht aus, während sie mit der unscheinbaren Mäusejägern sprach. Das Gegenteil war der Fall.

„Es hat dich sonst auch nicht gestört, dass ich so clever bin.“

„Clever“, schnaubte die Alte nun. „Aber ja, besonders gestört hast du mich wirklich nicht, aber inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Hier ist es wie in Frankreich. Man liebt den Verrat, aber nicht die Verräter. Mit Cleverness hat das wirklich nichts zu tun. Eher mit einer großen Charakterschwäche deinerseits. Was willst du also hier?“ Die Anwohnerin schaute finster.

„Ich habe meine Gründe, hier zu sein!“

„Davon gehe ich stark aus. Darf man jetzt auch näheres über die Gründe deines Besuches erfahren und das ohne lange Umschweife? Dann geht es schneller und du kannst wieder von hier verschwinden. Ich will meine Ruhe haben.“ Die alte Frau war nach wie vor bissig. Es trat wieder ein Moment der Stille ein und dieser Moment schien der Bewohnerin des Sumpfes zu lange zu dauern. „Ich höre“, setzte sie scharf nach.

„Man war nicht gut zu mir und wer mich nicht fair behandelt, wird meine Rache zu spüren bekommen und da ich mich selbst nicht wehren kann, muss ich mir eben anders helfen.“ Die alte Frau starrte die Katze, die mit leiser Stimme gesprochen hatte, mit vor der Brust verschränkten Armen an. Der Blick wurde noch finsterer und lauernder.

„Ich dachte immer, es ist schon fair genug, wenn man dich überhaupt in seinem Dunstkreis duldet!“ Die graue Jägerin ignorierte auch diese wenig wertschätzenden Worte.

„Du weißt noch nicht, was ich von dir will!“

„Will ich das wissen?“ Die Gestalt, die vor der ungebetenen Besucherin stand, klang höhnisch.

„Mag sein, dass es wichtig ist!“

„Für mich ist nichts mehr wichtig. Deswegen lebe ich hier und nicht anderswo.“

„Ja, ja! Die Zeit vergeht! Ich erinnere mich noch an alles, als wäre es gestern gewesen.“ Die Katze ließ sich von der Unfreundlichkeit der Alten nicht beirren.

„Ich erinnere mich auch noch daran, aber das mit unguten Gefühlen. Jetzt will ich nichts mehr sehen und hören“, sagte die Sumpfbewohnerin betont.

„Vielleicht aber doch! Dabei könntest du mir sogar helfen.“ Die Besucherin gab nicht so schnell auf. Immerhin hatte sie sich auf einen langen Weg gemacht.

„Du brauchst mich also.“ In den Worten der Alten waren Zweifel zu hören.

„Warum sollte das nicht so sein?“

„Das wäre mir neu, dass irgendjemand mich noch braucht.“ Die Graue zuckte jetzt zusammen. Dieser Moment war gefährlich, denn niemand begab sich freiwillig in die Fänge dieser alten Bewohnerin des Sumpfes. Man wusste nicht, ob man wieder heil herauskam. Die Katze war zwar in der Lage, sich in hoher Geschwindigkeit an einem anderen Ort zu begeben, aber im Ernstfall wäre die alte Bewohnerin des Sumpfes schneller. Diese hatte zwar einst die Einsamkeit in den russischen Sümpfen gewählt, aber keineswegs aus freien Stücken, obwohl sie das immer wieder betonte. Hier jedoch hatte sie nichts mehr zu verlieren und niemand würde irgendetwas ahnden von dem, was hier im Sumpf geschah.

„Ich nehme an, du weißt noch, wo ich lebe“, sagte die Katze schnell.

„Natürlich weiß ich das. Allein das wäre schon ein Grund für mich, dich von hier nicht mehr wegzulassen. Töten kann man dich ja nicht so ohne weiteres. Aber den genauen Standort deiner langjährigen Dulder würde ich schon ganz gern erfahren!“ Die Alte fixierte die Katze mit ihren Augen. Ihr Blick war unangenehm.

„Stimmt“, bestätigte die Katze. „Mich bringst du so schnell nicht um. Was mein Aufenthaltsort anbetrifft, kann ich dir nicht so viel sagen. Du wirst es schon selbst herausfinden müssen! Wenn ich ihn dir verrate, weiß man dort sofort Bescheid und dann bin ich wirklich des Todes.“

„Das geht also doch!“ Die Alte schien sich nun gerade für diesen Umstand sehr zu interessieren, was der Katze gar nicht gefiel. Darum redete sie jetzt schnell weiter.

„Die schaffen das jedenfalls ganz schnell.“

„Und das soll mir nicht egal sein?“

„Du brauchst mich immer noch, genauso wie damals. Das ist dir bloß noch nicht wieder klar geworden“, sagte die graue Nesträuberin bestimmt.

„Vielleicht sollte ich es doch einmal damit versuchen, dich zu beseitigen. Unmöglich ist es auch für mich nicht und vielleicht tue ich anderen damit sogar einen Gefallen, wenn du hier in den Sümpfen spurlos verschwindest. Niemand würde etwas merken“, verkündete die alte Frau triumphierend der ungebetenen Besucherin und sah sie hintergründig an.

„Du solltest dir einmal die Frage stellen, warum ich ausgerechnet zu dir komme und das, wo du die Einsamkeit inzwischen angeblich so liebst und nichts mehr sehen und hören willst!“ Die Katze war etwas lauter geworden. Es trat eine kurze Pause ein, die aber dann von der alten Frau wieder unterbrochen wurde.

„Also schön. Was willst du von mir. Sage es endlich und nun bitte ganz schnell. Dann verschwinde wieder von hier. Ich will endlich meinen Tagesgeschäften nachgehen. Meine Zeit verplempere ich nicht gern.“ Die Alte klang gelangweilt.

„Es gab Zeiten, da hast du vieles anders gesehen!“ Die Mäusejägerin betrachtete die Sumpfbewohnerin und lauerte auf eine Reaktion von ihr. Die zuckte mit den Achseln.

„Was willst du? Komm endlich zum Ende!“ Die Alte war nun genervt.

„Es hat Nachwuchs bei uns gegeben!“ Die Katze beobachtete die Regungen in dem Gesicht der Alten ganz genau, aber die Frau hatte ein Pokerface aufgesetzt.

„Es gibt immer wieder einmal Nachwuchs bei euch. Kommt nun zwar seltener vor, habe ich jedenfalls gehört, aber das ist einmal so. Daran kann man nichts ändern“

„Das haben sie ja auch dir zu verdanken, dass der Nachwuchs seltener geworden ist.“ Die Katze sagte das mit einer gewissen Betonung in der Stimme.

„Ich denke, das weiß ich. Also weiter!“

„Dieses Mal hat die Chefin ein Junges bekommen. Ich nehme an, du weißt, was das bedeutet!“ Die Katze versuchte gewaltsam, den Spott in ihrer Stimme zu unterdrücken, denn im Gesicht der alten Sumpfbewohnerin sah sie einen wilden Ausdruck aufblitzen. Aber dann hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen.

„Man kann nicht immer gewinnen“, erwiderte die alte Sumpfbewohnerin, Gelassenheit vortäuschend. Aber die Katze spürte mit Genugtuung, dass es in der Alten zu brodeln begann und war darum mehr denn je auf der Hut. Dieser Augenblick konnte wieder gefährlich für sie werden, denn die Sumpfbewohnerin war einst bekannt für ihre rücksichtslose Zerstörungswut. Verluste nahm sie dabei nicht weiter tragisch.

„Vielleicht gewinnst du ja doch noch! Das Junge ist nämlich aus ihren Welten entwischt und man hat es bis jetzt vergeblich gesucht. Es herrscht dort große Unruhe. Ich gehe davon aus, dass du noch ganz genau weißt, was es bedeuten würde, wenn sie es nicht mehr lebend finden“, sagte die Katze schnell.

„Dann muss die Chefin eben noch einmal einen männlichen Nachkommen gebären“, sagte die Alte, die man überall unter demn Namen Iorla kannte und fürchtete.

„Das wird sie wohl kaum noch einmal schaffen. Der Vater des Kindes war schon alt und jetzt ist er tot. Erwachsene Männchen gibt es nicht mehr viele und in dieser Gruppe sowieso nicht mehr.“

„Wer hätte das gedacht, dass dieses alte Ekel eines Tages nicht mehr existiert. Er wird wohl noch einmal sein Bestes gegeben haben“, stellte die alte Frau jetzt fest.

„Das ist richtig!“

„Das hat ihm dann wohl auch den Rest gegeben“, bemerkte die Alte.

 „Hat es. Die Trauer dort war groß.“

„Vor allem eure Chefin wird jetzt so richtig traurig sein. Sie wird auf einiges verzichten müssen. Ein Teil von ihr ist gegangen und damit wohl auch ein Teil ihrer Stärke.“

„Das ist so“, sagte die Katze. „Aber sie schauen jetzt alle nach vorn, denn die Zukunft meiner Mitbewohner ist nun dieses Junge, welches ausgebüxt ist.“

„Mitbewohner“, sagte die Alte spöttisch. „Eingenistet hast du dich bei denen, weil du woanders nicht mehr geduldet wirst. Überall hat man dich schnell davongejagt oder du bist rechtzeitig entkommen. Du bist und bleibst ein Schmarotzer.“ Die Katze überhörte diese Worte geflissentlich und redete weiter.

„Wenn es stirbt, ist der Untergang dieser Kreaturen so gut wie sicher. In der anderen Gruppe gibt es auch nur noch einzelne männliche Wesen dieser Art, aber das weißt du ja. Ansonsten gibt es wohl noch ein paar verstreute Einzelgänger, aber wie viele von denen überlebt haben, ist ungewiss.“

„Ungewiss?“ Die Alte klang nun belustigt.

„Für mich schon, aber da bist du sicher besser informiert, nehme ich mal an.“ Die Katze sah nun, wie sich das Gesicht der Alten schlagartig veränderte. Das zerfurchte Gesicht war nun hassverzerrt und sie sah zum Fürchten aus. Dann glättete es sich wieder etwas und die Katze entspannte sich wieder.

„Das nimmst du richtig an“, presste die Alte hervor. Dann atmete sie tief durch. „Was hast du eigentlich davon, wenn ich das Junge finde?“ Lauernd sah sie die Katze an.

„Meine Rache! Man jagt mich dort, wo man nur kann. Diese verzwergten Hunde allein sind schon die reinste Plage. Aber dieses kleine Balg hat mich schon einige Male fast umgebracht. Niemand hilft mir und man lacht dort inzwischen über mich.“ Das graue Tier klang verbittert.

„Erwartest du Mitleid?“ Die Katze überhörte das.

„Noch einige Wochen später und es ist aus mit mir.“

„Dann such dir doch etwas anderes!“

„Woanders kann ich aber nicht mehr hin. Man kennt mich überall.“ Die alte Frau stemmte die Hände in ihre schmalen Hüften und nickte finster.

„Das weiß ich und kann das nachvollziehen, nach allem, was du woanders angerichtet hast. Hierher kannst du übrigens auch nicht kommen.“ Sie sah die Mäusejägerin abweisend an.

„Will ich das? Wohl kaum!“ In die Stimme der Katze mischte sich Trotz.

„Dann sind wir uns ja beide wenigstens in diesem Punkt einig.“ Die Sumpfbewohnerin Iorla hatte bei diesen Worten den Blick von der Katze abgewendet und sah über das Sumpfland, über das sie schon lange herrschte, weil es ihr keiner streitig machte.

„In dem Punkt sind wir uns wirklich einig“, grantelte die Katze jetzt.

„Wir müssen ja nicht miteinander auskommen. Trotzdem bin ich dir für diese Information irgendwie dankbar“, rang sich die Alte widerwillig ab.

„Schön, dass du das so siehst!“

„Jetzt mach, dass du fortkommst, sonst überlege ich es mir womöglich doch noch anders und wenn ich mir richtig Mühe gebe, bist du doch noch vorzeitig auf dem Weg zu deinen Ahnen in der Geisterwelt der Katzen. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Trauer von allen, die dich kennen, in Grenzen hält, wenn man demnächst in diesem Theater doch noch von deinem vorzeitigen Ableben erfahren würde.“ Das ließ sich die unerwünschte Besucherin kein zweites Mal sagen und verschwand von der Bildfläche. Sie hatte sich förmlich in Luft aufgelöst. Als sie weg war, drehte sich die Alte um und betrachtete ruhig das von ihr bewohnte Gebiet. Eine ganze Weile stand sie regungslos da und begutachtete hier alles.

Das Gebiet war schon lange ihre ungeliebte Heimat geworden. Plötzlich riss sie ihre langen und dürren Arme hoch und stieß einen markerschütternden Schrei aus, der gellend über das Sumpfgebiet hallte und dafür sorgte, dass nun alle Sumpfbewohner panisch das Weite suchten.

Berliner Aufruhr

Der Berliner Alexanderplatz war schon immer ein Ort, an dem das Leben pulsierte. Das hatte sich bis zum heutigen Tag nicht geändert. Es war später Nachmittag und überall sah man Menschen. Einheimische und Touristen vermischten sich auch heute an diesem Ort. Das war vermutlich auch der Grund dafür, dass an diesem zentralen Punkt der Hauptstadt die Polizei überdurchschnittlich stark präsent war, denn Menschen aus der ganzen Welt trafen sich hier und das rund um die Uhr. Die öffentliche Sicherheit spielte da eine besonders große Rolle.

In dem Trubel ging eine Frau mit einem Kind an der Hand auf dem Bürgersteig an einer Häuserzeile entlang und besah sich die Auslagen in den Schaufenstern. Die an ihr vorbeiströmenden Menschen beachtete sie nicht weiter und auch sie wurde von ihnen nicht beachtet. Für die junge Frau jedenfalls waren die Dinge in den Schaufenstern wichtiger als die vielen Menschen an diesem Platz. Man bekam hier die Dinge zu sehen, die man sich als normaler Mensch nicht leisten konnte. Hin und wieder nahm sich die junge Mutter Zeit, um hierher zu kommen und um ein wenig zu träumen. Sie genoss den Moment und war darum wohl auch einen Augenblick unaufmerksam.

Es ging alles ganz schnell. Das Kind, ein kleiner Junge, hatte sich mit einem Ruck von der Mutter losgerissen und rannte vom Bürgersteig auf die Straße. Im nächsten Moment wurde der Kleine von einem Auto erfasst und brutal zur Seite geschleudert. Wenige Augenblicke erstarrte alles in der unmittelbaren Umgebung des Jungen und dann passierte alles gleichzeitig. Die Mutter schrie, der Autofahrer sprang aus dem Wagen und lief zu dem Kind. Passanten kamen von allen Seiten angelaufen. Andere Fahrzeuge stoppten und die Fahrer dieser Autos verließen ebenfalls ihre Fahrzeuge. Dann kamen auch mehrere Polizisten angelaufen. Alles war nun in Aufruhr, nur der Junge lag still und regungslos da.

Schnell hatte sich am Unfallort eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt. Eine sehr junge Frau war dabei eher unfreiwillig in diese Menge geraten. Andere jedoch kamen freiwillig angelaufen. In dem Menschenauflauf, der sich am Unfallort gebildet hatte, zückte gerade ein Halbwüchsiger neben der jungen Frau ungerührt sein Handy, um Fotos von dem verunglückten Kind zu machen. Die junge Frau hatte das bemerkt und reagierte prompt.

„Lass das!“ Der Jugendliche wendete sich zur Seite und starrte sie einen Moment an. Die junge Frau mit dem hellblonden Haar, die ihn mit scharfer Stimme angesprochen hatte, war mindestens einen Kopf kleiner als er. Aber ihre ganze Haltung vermittelte dem Handybesitzer einiges an Souveränität und ihre Worte klangen bestimmt. Trotzdem ließ ihn das kalt. Fremde Autoritäten erkannte er schon lange nicht mehr an und diese Person neben ihm war beinahe winzig.

„Halt die Schnauze“, sagte er darum zu ihr in einem gelangweilten Ton und hob das Handy noch höher, um die Fotos von dem Unglück zu machen. Die Anonymität der Großstadt verlieh ihm die Selbstsicherheit, das zu tun, was er für richtig hielt. Außerdem nahm er die kleine Person neben sich nicht für voll, was sich als Fehler erwies. Im nächsten Moment schrie er auf und schüttelte seine Hand, in der er das Handy gehalten hatte. Einige Passanten bemerkten das und sahen ihn verständnislos an. Die junge Frau hatte kurz sein Handgelenk ergriffen und er hatte einen plötzlichen und brennenden Schmerz an der Stelle verspürt, wo er berührt wurde. Der Jugendliche hatte sich an der jungen Frau verbrannt und das Handy fallengelassen. Schnell hatte er sich danach gebückt, bevor jemand auf das Gerät trat. Dabei ignorierte er einen Moment die Schmerzen in seinem Handgelenk.

Nachdem er das Handy aufgehoben hatte, richtete er sich auf und blickte sich wütend nach der jungen Frau um. Die war aber nicht mehr zu sehen. Erbost schaute er sich genauer in der gaffenden Menge um, die seinen Aufschrei inzwischen vergessen hatte oder ihn nicht bemerken wollte. In einigen Gesichtern, die sich rasch von ihm abwandten, schien noch ein Hauch von Schadenfreude zu stecken. Die Umstehenden wussten zwar nicht genau, was da eben passiert war, schienen aber begriffen zu haben, um was es eben gegangen war. Sie schenkten der Szene in ihrer unmittelbaren Nähe jedoch keine Beachtung mehr.

Alles starrte wieder den verunglückten Jungen und die Mutter an, die hilflos neben dem Kind kniete. Nun starrte der Jugendliche auch dorthin und zuckte zusammen. Auf der anderen Seite des Kindes hockte die kleine und zierliche junge Frau. Sie hatte die Hand auf die Schulter des Kindes gelegt. Es dauerte nur einen Moment, dann wurde die hellblonde Person sanft zur Seite geschoben. Zwei Rettungssanitäter waren aus dem gerade angekommenen Krankenwagen gestiegen und die zierliche junge Frau verließ sofort Unfallstelle. Der Junge öffnete gerade die Augen.

„Wo ist Nadja Kirchner“, fragte der Junge. Die Mutter atmete erleichtert auf, als sie die Stimme ihres Kindes vernahm. Die Rettungssanitäter wurden von einem gerade dazu gekommenen Arzt sanft beiseitegeschoben. Er kniete sich neben das Kind und begann damit, es zu untersuchen.

„Wo ist Nadja?“ Der Junge sah jetzt den Arzt an und hatte seine Frage wiederholt.

„Was für eine Nadja?“ Der Arzt unterbrach bei dieser Gegenfrage seine Untersuchung nicht.

„Eben war sie noch hier und hat mit mir geredet!“ Die Mutter hatte nun endgültig ihre Fassung zurückgewonnen. Sie hatte Tränen der Erleichterung in den Augen.

„Aber die Frau hat doch nichts gesagt“, sagte die Mutter zu dem Jungen.

„Doch!“

„Was hat sie denn gesagt?“ Der Arzt an der Seite des Jungen hatte diese Frage freundlich gestellt. Er war mit seiner Untersuchung immer noch nicht fertig und machte damit weiter, während er mit dem Kind redete.

„Sie hat gesagt, dass mit mir nun wieder alles in Ordnung ist und ich sofort aufwachen soll.“ Der Arzt lächelte und gab den Sanitätern ein Zeichen. Dann wendete er sich an die Mutter.

„Ich kann hier vor Ort nichts finden. Wir müssen den Jungen mitnehmen.“ Die Frau nickte verständnisvoll und erschrocken zugleich. Der Arzt schien zu ahnen, was in der Mutter vorging. „Glauben Sie mir, es ist besser so. Ich will wirklich sicher sein, dass alles in Ordnung ist. Sie können natürlich ihren Sohn begleiten“, sagte er und gab den Sanitätern ein Zeichen. Die machten sofort das Kind für den Abtransport fertig.

Wenige Augenblicke später war der Rettungswagen mit Mutter und Kind verschwunden. Bei dem Autofahrer, der das Kind angefahren hatte, standen die ganze Zeit, als man sich um das Kind kümmerte, zwei Polizisten und nahmen den Unfallhergang auf. Weitere Polizisten waren dazu gekommen und ebenfalls mit dem Unfall beschäftigt. Sie vernahmen Zeugen. Die restliche Menge verteilte sich wieder und der Verkehrsfluss, der eine Weile ins Stocken geraten war, normalisierte sich rasch wieder, denn auch hier hatten Polizisten die Sache in die Hand genommen. Nur der Halbwüchsige mit dem Handy stand noch da und starrte über den Platz. Er suchte die junge Frau, die es gewagt hatte, so mit ihm umzuspringen. Als er seine rechte Hand bewegte, spürte er einen stechenden Schmerz. Er fluchte leise vor sich hin und seine Wut auf die junge Frau wuchs noch mehr. Dann sah er die kleine und zierliche Person. Sie war von seiner Position aus kaum noch zu erkennen. Trotzdem bemerkte er, wie sie langsam zum S-Bahnhof ging. Das hellblonde Haar sorgte dafür, dass er sie gerade noch erkannte.

Versuchte Rache

Der Jugendliche setzte sich in Bewegung und folgte ihr zum Bahnsteig. Er legte dabei einen kurzen Sprint ein und schaffte es, in ihre Nähe zu gelangen. Näher an sie herangekommen, beobachtete er sie die ganze Zeit, um sie nicht noch einmal aus den Augen zu verlieren. Er ging in einiger Entfernung von ihr hin und her. Erkennen sollte sie ihn nicht. Noch nicht! Im Gehen griff er nach dem Handy und telefonierte kurz. Als die Frau in die nächste S-Bahn stieg, die in Richtung Norden fuhr, stieg auch er ein und setzte sich weiter entfernt von ihr hin. Dann telefonierte er erneut. Eine Station später bekam der Jugendliche von zwei gleichaltrigen Personen Gesellschaft. Sie alle hatten den Alexanderplatz als ihr Revier auserkoren und beobachteten von ihrer Position aus jetzt unauffällig das blonde Persönchen, das in Gedanken versunken war.

Die Frau war eigentlich selbst noch fast eine Jugendliche. Nicht jeder wusste, dass Nadja Kirchner gerade erst siebzehn Jahre alt geworden war. Trotz ihrer geringen Körpergröße strahlte sie genug Reife aus, um für eine Erwachsene gehalten zu werden. Die zehnte Klasse hatte sie im letzten Schuljahr erfolgreich beendet. Sie schaffte diese Klassenstufe als eine der Besten ihres Jahrgangs am Gymnasium der Kleinstadt, in deren Nähe sie lebte. Als nächstes Bildungsziel visierte sie nun das Abitur an, hatte aber bis zu den Prüfungen noch fast zwei Jahre vor sich. Dennoch plante sie schon die Zeit danach. Darum war sie an diesem Tag zu einem Universitätsbesuch in Berlin unterwegs gewesen. Sie hatte sich jetzt, nach den Sommerferien, in den ersten Schulwochen im September einen freien Tag genommen und wollte sich an diesem Tag vor Ort am Tag der offenen Tür, den die Humboldt Universität abhielt, die Studienmöglichkeiten des ehrwürdigen Hauses anschauen. Das hatte sie auch getan, wusste aber dennoch, dass nicht nur die Berliner Universität für sie infrage kam.

Auch die Universität in Greifswald war für sie eine Option, denn Nadja Kirchner wollte nach dem Abitur ein Medizinstudium aufnehmen. Ob sie dafür auch eine Zulassung erhielt, würde sich aber erst noch erweisen müssen. Trotzdem wollte sie schon jetzt alle Informationen sammeln, die sie bekommen konnte. Auf dem Rückweg von der Universität war sie dann in diesen Zwischenfall mit dem verunfallten Kind hineingeraten. Eigentlich wollte sie da schon in der S-Bahn sitzen, um nach Hause zu fahren, aber dann entschloss sie sich spontan einzugreifen.

Obwohl der Arzt das Kind in das Krankenhaus eingewiesen hatte, wusste sie, dass man nichts mehr finden würde. Der kleine Junge war wieder in Ordnung. Sie hatte mittlerweile genug von Jara, der obersten Heilerin der Raben aus der Senke, gelernt und konnte dem Kleinen noch an der Unfallstelle helfen. Dazu brauchte sie ihn bloß berühren. Aber sie hätte es nicht gewagt, den hinzugekommen Sanitätern oder gar dem anschließend aufgetauchten Arzt ihre Ergebnisse zu verkünden. Die Ausgangsdiagnose, die sie im Stillen stellte, war für den Jungen verheerend gewesen. Aber diese behielt sie ebenso für sich, wie das Resultat ihrer Behandlung, die für keinen sichtbar war und die sie das erste Mal überhaupt angewendet hatte.

Dem Mediziner hatte sie schon deswegen nichts gesagt, weil der sie wahrscheinlich nur arrogant abgefertigt hätte und darum hatte sie sich auch zurückgezogen, als die medizinischen Helfer am Unfallort angelangt waren. Auch die Ansprache an den kleinen Jungen, ohne selbst zu sprechen, hatte sie von der Heilerin gelernt.

Jetzt dachte sie aber nicht mehr an den Jungen. Sie wollte nur noch schnellstens nach Hause. Ihre Großeltern waren schon betagt und sie wollte ihnen wenigstens noch etwas auf dem Hof helfen, bevor der Tag endgültig vorbei war. Die Tiere mussten versorgt werden und das Wochenende stand vor der Tür. Im gerade erst begonnenen Herbst gab es auf dem großelterlichen Gehöft noch einiges zu tun, bevor der Winter einbrach.