Er hielt sich für einen zweiten Machiavelli. Für einen politischen Theoretiker. Den Meisterintriganten. Für den cleversten und skrupellosesten Mann des Reiches.
Und um ein Reich handelte es sich zweifellos, in vielerlei Hinsicht um das größte Reich, das die Welt je gesehen hatte, auch wenn es sich in politischen Kreisen nicht gehörte, dies auszusprechen. Auf jeden Fall übertraf es kleinere Reiche wie das der Borgias oder den Einflussbereich der Medicis und aller dieser italienischen Stadtstaaten so sehr, als würde man einen Elefanten mit einer Ameise vergleichen wollen. Dieses Reich konnte – ganz gleich was die politisch korrekte Ausdrucksweise gerade war – tatsächlich nur mit Rom verglichen werden, als Rom der Inbegriff des Reiches war.
Und er war der Königsmacher. Der König trug vielleicht keine Krone, aber er war der Erste im Lande. Armeen unterstanden seinem Kommando, er konnte Milliarden ausgeben, und er besaß die Macht, Reichtümer zu schaffen und Leben zu zerstören. Der Träumer auf dem Bett war der Mann, der den König beriet. Was tatsächlich mehr war, als der Meister Niccolò Machiavelli1 je erreicht hatte.
Obwohl er delirierte – Folge der tödlichen Krankheit, der starken Medikamente, die ebenso wirkungsvoll wie einschläfernd waren, und der Angst, schließlich stand der Tod bevor, und der Träumer wusste das – enthielten seine Gedanken nichts Unwahres. Sie waren vielleicht ein wenig zu bunt, eine kostümierte Version der Wirklichkeit, aber sie waren dennoch fundiert, zutreffend, real. Er hätte dieselben Gedanken zu Hause haben können, gesund, bei einem uramerikanischen Nationalfeiertagsbarbecue – Hühnchen und Ribs und Wassermelone, Whiskey und gut gekühltem Bier, umgeben von seiner Familie, Freunden, Speichelleckern, Günstlingen, Lobbyisten, Intriganten, Gefolgsleuten, Nachahmern, Möchtegerns, den Milliardären und Händlern der Macht – und er hätte jedes Recht dazu gehabt.
»Er schläft«, sagte die Krankenschwester leise. Sie war nicht hübsch, aber sie war sehr sauber, und sie war weiß. »Vielleicht wacht er bald auf.«
Der Besucher sah sie fragend an.
»Sie können hier warten«, sagte die Krankenschwester und deutete auf einen Stuhl neben dem Bett. »Wenn Sie möchten«, fügte sie schüchtern hinzu. Man befand sich in keinem öffentlichen Krankenhaus mit all seinen Besuchszeiten und Regeln, wo die Ärzte und selbst die kleinen Krankenschwestern den Patienten, deren Familien, Freunden oder regelmäßigen Besuchern vorschrieben, was sie wann zu tun und zu lassen hatten, und erwarteten, dass man ihnen gehorchte.
»Hat er nach mir gefragt?«, wollte der Besucher wissen.
»Ja«, sagte sie. »Er sagte, es sei wichtig. Sehr wichtig. Aber«, fügte sie schnell hinzu, »mehr hat er nicht gesagt«, so als wollte sie dem Besucher versichern, dass sie nicht mehr wusste, als sie wissen sollte.
Der Besucher überlegte. Er war ein sehr, sehr beschäftigter Mann. Sehr beschäftigt. So ziemlich der Beschäftigteste im Imperium. Also. Der Mann, der hier im Sterben lag, war ein Freund gewesen. Ein Kollege. Teil des Gewinnerteams. Der Besucher beschloss, dass er wohl zehn Minuten erübrigen konnte. Wenn der Träumer aufwachte und redete, dann hatte die Mission ihr Ziel erreicht. Wenn nicht, dann hatte er seine Pflicht getan und konnte guten Gewissens gehen.
Der Patient hieß Lee Atwater.2 Ein Hirntumor würde sein Leben beenden.
Dies war eine so perfide Ironie des Lebens, dass selbst seine Feinde es geschmacklos fanden, darüber Witze zu reißen.3 Und seine Feinde hassten ihn zutiefst. Er hatte auf brillante und vernichtende Weise mit Unterstellungen, Halbwahrheiten und politischen Verzerrungen gearbeitet, um aus den Widerwärtigkeiten der amerikanischen Gesellschaft Kapital zu schlagen, vor allen Dingen dem Rassismus.4 Rassismus war immer wirkungsvoll, aber auch gefährlich und erforderte daher das Fingerspitzengefühl eines Fachmanns. Wenn der Sterbende meinte, er allein habe George Bush 1988 zum Präsidenten gemacht, so sprach das nicht für übermäßiges Geltungsbedürfnis. Bevor Atwater seine Kampagne startete, hatte Bush in den Umfragen achtzehn Punkte zurückgelegen. Bevor Atwater jenes Medienereignis inszeniert und den Fernsehjournalisten Dan Rather so zu einem Angriff auf den damaligen Vizepräsidenten verleitet hatte, dass Bush zurückschlagen konnte, hatte George als Schlappschwanz gegolten. Ein Mann, der keinen verständlichen Satz zustande bekam, wenn er ihn nicht irgendwo ablesen konnte, ein Mann, der mit der Iran-Contra-Affäre belastet war, und so weiter und so fort, jede Menge Probleme. Mit diesem verkrüppelten Pony, mit diesem lahmen – wenn auch reinrassigen – Gaul hatte Atwater das größte Rennen der Welt gewonnen.
Die Sekunden tickten vorüber. Graue Wolken hingen vorm Fenster. Beerdigungswetter. dachte der Besucher. Noch war keine Minute vergangen, und schon war er ungeduldig. Es war dumm von ihm gewesen, sein Funktelefon nicht mit ins Krankenzimmer zu nehmen. Verdammt, es war dumm von ihm gewesen, nicht sein Telefon, ein paar Berater und ein tragbares Faxgerät mitzubringen. Wenn irgendjemand verstanden hätte, wie kostbar Zeit für einen sehr, sehr beschäftigten Mann ist, dann Lee.
Atwater hing weiter seinen Gedanken nach, träumte weiter von dem Mann, den er zum König gemacht hatte und der nach seinem Tod allein zurechtkommen musste. Obwohl Bush Präsident war und Atwater nur Berater – und noch dazu dem Tode nahe – , obwohl Bush in die Geschichte eingehen würde, während Lee froh sein konnte, wenn er mehr als eine Fußnote wurde; und obwohl Bush die Macht in Händen hielt, während Atwater nur Vorschläge machen konnte, wie sie eingesetzt werden sollte, eine Stimme von vielen in einem kakophonen Chor, hegte Atwater George gegenüber immer noch recht gönnerhafte Gefühle. Das ist normal bei politischen Beratern. Nicht anders empfinden Anwälte gegenüber ihren Mandanten. Ärzte gegenüber Patienten, Agenten gegenüber Klienten. Sie halten den Klienten für ein Produkt, das nicht in der Lage ist, selber für sich zu sorgen; das dirigiert, instruiert, umsorgt und beschützt werden muss. Wenn der Klient tut, wie ihm geheißen, dann ist er erfolgreich, kommt voran, überlebt. Wenn nicht, dann bringt er alles durcheinander, schadet sich selbst, macht dem Betreuer mehr Arbeit, ganz gleich, welchen Titel der Betreuer trägt.
Hundert verschiedene Variationen dieser Story gingen Atwater durch den Kopf, ja zum Teil rasten sie. Ein ganzes Sammelsurium von Bildern. Er war Merlin, samt Zauberstab, Mut und Umhang, für den Präsidentschafts-Artus. Cus d’Amato für Mike Tyson. Brian Epstein für die Beatles. Olivia für den Kaiser Tiberius. Seine Mission war es, den König nicht nur auf den Thron gehoben zu haben, sondern ihn auch zu beschützen – ja. selbst aus dem Grab heraus noch. Wie ein Schutzengel. Ein überirdisches Wesen. Ein Geist, der auch aus dem Grab noch Einfluss nimmt. Eine Hand, die ein Flammenschwert hält, wie der Erzengel Gabriel, und vom Himmel herunterstößt … Darin lag eine gewisse Form von Unsterblichkeit. Wenn er das tun konnte, dann war er der Durchtriebenste von allen, raffinierter noch als der Tod.
Genug, dachte der Mann auf dem Stuhl am Fenster. Ich habe meine Pflicht getan. Knapp drei Minuten waren vergangen. Er stand auf und wollte gehen.
Atwater hatte sich weder bewegt noch gesprochen. Seine Botschaft war noch immer unter Müdigkeit und Morphin vergraben. Sein Besucher stand am Bett und betrachtete den verfallenen Körper und den verbundenen Kopf. Die Kreatur, die dort lag, war einst voller übersprudelnder Vitalität gewesen, clever, tyrannisch, mit scharfem Blick und noch schärferer Zunge. Jetzt war sie von Mattheit erfüllt, die Leere hatte eingesetzt. Atwaters Hand unter dem Laken schien geballt.
Der Besucher wusste nicht, was er sagen sollte. Zu diesem Etwas, das weder sprach noch etwas sah, fielen ihm keine Worte ein. Er war nicht der Typ, der zu Menschen im Koma spricht und dann in dieser fürs Fernsehen erfundenen Redeweise sagt: »Doch, doch, er (oder sie) kann mich hören. Ich weiß es.« Egal, wozu Lee ihn herbestellt haben mochte, es musste warten. Auf die Zweite Welt, auf Himmel oder Hölle oder Washington, D. C. im Sommer, wohin auch immer tote Politiker in diesem Jahrtausend kommen mochten. Er nickte und wandte sich zum Gehen.
In Atwater erwachte der Merlin. Wie durch Zauberei durchquerte er die betäubten und schlafenden Sinne – oder vielleicht öffnete er die Passage zwischen Gefühl und Verstand. Atwater begriff, dass sein Gast da war. »Jim«, flüsterte er. »Jim.«
Die Hand auf dem Türknauf, blieb James Baker, Außenminister, stehen. Er drehte sich um. Atwater hatte die Augen immer noch geschlossen, aber er atmete tiefer, und seine Hand schien sich zu bewegen.
»Lee?«
»Aah«, ein Stöhnen, ein Grunzen, eine Aufforderung. Baker trat wieder ans Bett. Atwater schlug plötzlich die Augen auf. Der alte Falke sah ihn an. Voller List und Selbstbewusstsein. »Hör zu«, sagte er. »George …«
»George was …«
Baker hatte das Gefühl, er könne Atwaters Gedanken sehen, die sich wie Uhrwerke hinter dessen Augen drehten und ineinandergriffen. und was er zu denken schien, war: Ich brauch kein Blatt vor den Mund nehmen. Baker kann es nicht im Büro gegen mich verwenden, weil ich tot sein werde, bevor er dazu kommt – ätsch! »George«, sagte Atwater über den Präsidenten, »ist ein Schlappschwanz. Ehrgeizig, intrigant, rachsüchtig, aber trotzdem … Und er wird es vermasseln, Jim. Wenn es dazu kommt …«
»Was meinst du mit vermasseln?«
»Ich meine die Umfragen«, sagte Atwater, als sei Bakers Frage überflüssig, als gäbe es nichts anderes. »Und wenn er nichts unternimmt, auch die Wiederwahl.« Schwer vorstellbar, dass man nach Reagan, noch mal Reagan und dann Bush/Quayle, die die Opposition zermalmt hatten, die Wiederwahl nicht gewinnen würde.
»Mach dir keine Sorgen«, wiegelte Jim ab. »Wir werden uns darum kümmern. Lee.«
»Das ist mein Job. Meine Mission.« Eine Hand griff nach Baker, packte seinen Ärmel und zog ihn näher. Atwaters Atem war schlecht. Faulig stinkend. Himmelherrgott, dachte Baker, warum putzen die ihm nicht die Zähne oder lassen ihn mit Mundwasser gurgeln oder so. »Ich habe einen Plan«, sagte Atwater. Die andere Hand, die nähere, schob sich unter der Decke hervor, wo sie erkennbar geballt gewesen war. Sie hielt einen zerknitterten Umschlag. »Wenn Georgie es versaut, dann machst du den auf. Das ist eine todsichere Sache, damit gewinnt ihr hundertprozentig die Wahlen.«
»Hey, danke«, meinte Baker diplomatisch. »Ich werd’s George sagen. Er wird gerührt sein. In deinem Zustand – und du denkst an ihn.«
»Scheiß drauf«, sagte Atwater. »Mir geht es um Sieg. Denk dran, Baker. Es gibt nur zwei Dinge – Siegen und Sterben.« Er kicherte. »Zeig’s ihm jetzt noch nicht. Schau es dir nicht an. Warte …«
»Worauf?«
»Bis du in Schwierigkeiten steckst und es brauchst.«
»Ist das eine Art Zaubermünze, wie in einem Märchen oder so?«, fragte Baker.
»So ähnlich«, sagte Atwater.
»Warum darf ich es mir jetzt nicht anschauen?«
»Weil du« – Atwater holte tief Luft – »es für verrückt halten wirst. Und es wird dich erschrecken. Gleichzeitig ist die Sache aber so vernünftig und logisch, dass du gar nicht widerstehen kannst und es viel zu früh ausprobieren wirst …«
»Und dann?«
»Dann funktioniert es vielleicht nicht mehr.«
»Wie bei der Gans, die goldene Eier legt, oder den drei Wünschen der guten Fee?«
»Genau so mächtig«, sagte Atwater, der nicht ganz bei Verstand schien. Er drückte Baker den Umschlag in die Hand. Baker hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es sich handeln konnte. »Das ist wunderbar. Der Präsident wird begeistert sein. Wenn euch erst klargeworden ist, dass es nicht verrückt ist. Ganz im Gegenteil.«