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Über dieses Buch:

England im 18. Jahrhundert: Nach dem Tod ihrer Eltern bleibt den Schwestern Ada und Harriet keine andere Wahl, als zu entfernten Verwandten aufs Land zu ziehen. Imposant ragt das Anwesen von Abbey Manor inmitten der Moorlandschaft zum ersten Mal vor ihnen auf – und ebenso faszinierend sind auch Mr. Wolfson und seine zwei Söhne: Während Julian die Schwestern warmherzig willkommen heißt, bleibt Francis rätselhaft und abweisend. Als jedoch plötzlich beide die schöne Ava umwerben, die das Vermögen ihrer Großmutter erben wird, vermutet Harriet ein falsches Spiel – und je mehr sie über die Geheimnisse von Abbey Manor herausfindet, desto gefährlicher wirkt ihr neues Zuhause. Zumal ihr Francis’ dunkler Blick überall hin zu folgen scheint …

»Einen Roman von Barbara Michaels kann ich nicht aus der Hand legen.« Bestseller-Autorin Marion Zimmer Bradley

Über die Autorin:

Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Barbara Michaels steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Elizabeth Peters erfolgreich Kriminalromane schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre Romane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.

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eBook-Neuausgabe Februar 2020

Dieses Buch erschien bereits 1989 unter dem Titel »Gefangene der Liebe« bei Heyne.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1967 by Barbara Michaels

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel »Sons of the Wolf«.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1989 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Radek Sturgolewski, Frame Art, Somyk Volodymyr und Period Images/Dunraven/Mary Chronis

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-154-0

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Barbara Michaels

Abbey Manor – Gefangene der Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Franz

dotbooks.

29. März 1859

An diesem Morgen stand ich vor dem Spiegel und betrachtete mein Gesicht.

Ich hatte schon lange nicht mehr in einen Spiegel geschaut, und ich tat es auch jetzt nicht aus Eitelkeit. Mein Spiegelbild blickte mir entgegen: schwarzes Haar, dicht und glatt wie eine Pferdemähne, schwarze Augenbrauen und eine so dunkle Haut, daß ich beinahe glauben muß, daß Großmutters unfreundliche Anspielungen auf meine italienische Mutter der Wahrheit entsprechen – daß in diesem Zweig der Familie sogar maurisches Blut fließt. Mein brauner Teint war ungewöhnlich für dieses Land der rosigen Wangen und blonden Locken; ich würde hier keinen Preis für Schönheit gewinnen können.

Das hochgeschlossene, langärmelige schwarze Kleid ließ meine Haut noch dunkler erscheinen. Ich verabscheute es, Schwarz zu tragen, und ich haßte die damit verbundene Heuchelei. Meine Großmutter war gestorben. Aber sie hatte mich von dem Tage meiner Geburt an gehaßt, und seit dem Augenblick, an dem ich alt genug war, ihren Haß und den Grund dafür zu verstehen, hatte ich dieses Gefühl mit einer Vehemenz erwidert, die meinem Charakter und meiner christlichen Erziehung kaum entsprach. Meinen augenblicklichen Gefühlen nach hätte ich mich am liebsten in Rot und Gold gekleidet.

Während ich meinen finsteren Gedanken nachhing, verschwamm plötzlich mein wenig attraktives Bild im Spiegel. Zehn kleine, zarte Finger schlossen sich um meine Augen, und eine süße Stimme rief: »Rate mal, wer bin ich!«

»Wer sollte es schon sein?«, antwortete ich ärgerlich und schüttelte die kleinen Hände ab. Die Handgelenke waren so zierlich wie die eines Kindes; meine langen Finger umschlossen sie mit Leichtigkeit. Über meiner Schulter erschien Adas Gesicht im Spiegel.

Sie mußte auf Zehenspitzen stehen, denn normalerweise reichte ihr Blondschopf mir gerade bis ans Kinn. Sie hatte versucht, ihre Locken zu bändigen, aber das schwarze Band hatte die Pracht nicht zu halten vermocht, und ein Wasserfall von blonden Ringellöckchen umrahmte ihr liebliches Gesicht. Die Farbe des Todes, die an mir geradezu scheußlich aussah, unterstrich noch ihre zarte, vornehme Blässe; sie sah jünger aus als siebzehn. Ihre großen, blauen Augen sahen mich nun erschreckt und vorwurfsvoll an, und ihr Mündchen verzog sich schmollend. Sie sah so niedlich aus, und auch ungefähr so intelligent, wie ein kleines Perserkätzchen. Wie immer tat mir meine Unfreundlichkeit leid; ich drehte mich um und umarmte sie.

»Es tut mir leid, Liebling«, entschuldigte ich mich.

Sie drückte mich stürmisch an sich; obwohl Ada so zerbrechlich aussieht, hat sie eine ganz schön robuste Natur.

»Ich bin dir nicht böse, liebste Harriet. Mein kleiner Überfall kam zu plötzlich. Du dachtest sicher an – unsere liebe Großmutter.«

Ihre Stimmungen ändern sich rasch: zuerst gekränkt, ist sie gleich darauf voller Herzlichkeit. Auf einmal standen Tränen in ihren blauen Augen, und das kleine Kinn bebte.

»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte ich in etwas zu scharfem Ton, denn die Tränen begannen nun zu fließen. Mit sanfter Stimme fuhr ich fort: »Sorge dich nicht um meine Gedanken über Großmutter.«

»Sie war immer so gut«, murmelte Ada und betupfte ihre Augen mit einem Spitzentaschentuch.

»Zu dir war sie es vielleicht – auf ihre Art. Aber du bist auch das Lieblingskind ihrer Lieblingstochter, und du siehst genauso aus, wie der wohlerzogene, reiche junge Mann, den sie ihrer Tochter als Gatten auswählte. Ich hingegen –«

Adas Augen funkelten. Etwas schuldbewußt sah sie sich um. Außer uns beiden befand sich niemand im Raum; es war mein Schlafzimmer, und nun, da Großmutter nicht mehr lebte, würde niemand mehr hereinkommen, ohne vorher anzuklopfen. Aber Ada hatte eine kindliche Vorliebe für alles Geheimnisvolle. Aufgeregt flüsterte sie: »Harriet … Nachdem Großmutter nun nicht mehr – da ist … Oh, ich wollte es immer schon brennend gern erfahren! Was hat dein Vater getan, das sie so gegen ihn aufgebracht hat?«

»Wenn du es so unbedingt wissen wolltest, warum hast du mich nie gefragt? Ich hätte es dir erzählt, es gibt nichts, wofür ich mich schämen müßte.«

»Aber Großmutter sagte, es dürfe niemals darüber gesprochen werden.«

»Unsere Eltern waren, wie du weißt, Bruder und Schwester«, begann ich, »die Kinder unserer Großmutter. Also sind wir Kusinen.«

»Nein, Schwestern«, widersprach Ada zärtlich und gab mir einen Kuß.

»Setz dich bitte und hör mir zu«, sagte ich und versuchte, eine strenge Miene aufzusetzen. »Von der Blutsverwandtschaft her sind wir Kusinen, aber wir haben uns lieb wie zwei Schwestern. Mein Vater war der Älteste und der einzige Sohn. Er war ein fröhlicher, gut aussehender Mann und war Großmutters ganzer Stolz; aber leider hatte er außer ihrem guten Aussehen auch ihre Arroganz und ihren Hochmut geerbt. Großmutter hatte eine passende Heirat für ihn vorbereitet; aber während seiner Reisen traf er in Rom ein junges italienisches Bauernmädchen und heiratete sie. Er stellte seine Mutter vor vollendete Tatsachen, wahrscheinlich wußte er nur zu gut, daß sie alles menschenmögliche getan hätte, um diese Verbindung niemals zustande kommen zu lassen.«

»Deine Mutter muß sehr schön gewesen sein!«

Ich lachte und berührte nachdenklich mein Gesicht.

»Großmutter sagte immer, ich sähe ihr sehr ähnlich. Daher mußten es wohl ihr Charme und ihr Esprit gewesen sein, mit denen sie das Herz meines Vaters gewann, und weniger ihre Schönheit.«

Ada sprang auf, umarmte mich stürmisch und widersprach mir ganz energisch. Ich mußte wieder mit ihr schimpfen, bevor ich fortfahren konnte.

»Als Großmutter von dieser Heirat erfuhr, war sie außer sich. Sie enterbte ihn auf der Stelle. Sein Vater – unser Großvater – hatte ihm einen kleinen Geldbetrag hinterlassen, der ihm an seinem zwanzigsten Geburtstag ausgezahlt werden sollte. Davon und von dem, was er sich mit seiner Hände Arbeit verdienen konnte, mußten er und seine junge Frau leben. Seine Mutter ließ ihm ausrichten, daß er es nie wieder wagen dürfe, ihr unter die Augen zu treten, sonst würde sie ihn von ihren Dienstboten mit der Peitsche davonjagen lassen.«

»Wie entsetzlich!« Aufgeregt, mit geröteten Wangen, lehnte sich Ada vor. »Wie konnte sie nur einer solchen Gemeinheit fähig sein?«

»Sie hätte jeden unerbittlich bekämpft, der sich gegen ihre Autorität auflehnte und ihren Stolz auf ihre noble Herkunft mit Füßen trat«, antwortete ich bitter. »Immer wieder mußten wir uns anhören, daß der Name ihrer Mutter Neville war und daß eine Neville einstmals Königin von England war.«

»Ja, ich weiß. Aber ihren einzigen Sohn zu enterben –«

»Man erzählte sich, daß es sehr schmerzlich für sie gewesen sein mußte«, erinnerte ich mich. »Erst seit dieser Zeit wurde sie so verbittert und wunderlich. Und mein Vater hatte keine Zeit mehr, sich darüber zu grämen. Er starb kurz nach meiner Geburt.«

»Dann erinnerst du dich überhaupt nicht an ihn?«

»Nein.«

»Arme Harriet! Und deine arme Mama!«

»Wie kann ich um sie trauern, ich kannte sie doch eigentlich gar nicht! Ich erinnere mich nur schwach an sie – an ihre sanfte, warme Stimme, die sentimentale italienische Lieder sang. Und an ein Paar blitzende, schwarze Augen und eine harte, braune Hand – ich war ein schreckliches Kind.«

Ada schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

»Du sprichst so, als hättest du kein Gefühl. Aber ich kenne dich besser.«

»Was für ein Gefühl soll ich zwei Geistern entgegenbringen, denn das sind meine Eltern für mich. Sie haben nichts für mich getan, außer mich in die Welt gesetzt. Bevor mein Vater starb, besaß er von seinem kleinen Erbe längst keinen Penny mehr, und meine Muter hatte auch nie gelernt zu sparen. Sie nahm ihren alten Beruf wieder auf, für einen Künstler Modell zu stehen. Schließlich mußte sie Geld verdienen, Ada. Was hätte sie sonst tun sollen? Als Großmutter dies hörte, schickte sie ihren Anwalt zu meiner Mutter. Meine Mutter verkaufte mich für fünfzig englische Pfund. Sie lebte zu der Zeit mit einem französischen Offizier zusammen und war entzückt, so viel Geld zu bekommen. Unsere Großmutter erinnerte mich oft an diese zärtliche, mütterliche Geste. Und sie ließ mich stets wissen, daß sie midi durch ihre Großzügigkeit davor bewahrt hatte, halbverhungert und verkommen in den schmutzigen Straßen Italiens aufzuwachsen. Lieber wäre ich auf die Almosen fremder Menschen angewiesen gewesen, als solch eine Großzügigkeit zu ertragen. Aber jetzt«, fügte ich wehmütig hinzu, »werde ich vielleicht doch noch darauf angewiesen sein.«

Die arme kleine Ada kennt meine plötzlichen Gefühlsausbrüche. Sie hatte versucht, mich zu beruhigen, während ich tobte, aber bei meiner letzten Bemerkung erstarrte sie und sah mich erschrocken an.

»Harriet, was willst du damit sagen?«

»Ada, hast du dich noch nicht gefragt, was nun aus uns werden soll? Fürchtest du dich nicht vor der Zukunft?«

»Warum sollte ich? Wir haben doch Großmutters Geld.«

»Ja, das nehme ich an«, erwiderte ich. »Aber wie und wo und bei wem werden wir leben?«

»Das ist mir gleich«, gab Ada unumwunden zu, »solange ich mit dir zusammenbleiben kann. Oh, Harriet, versprich mir, daß wir uns niemals trennen. Daß du immer für mich da sein wirst, so wie jetzt!«

Ich konnte nicht in dieses unschuldige Kindergesicht blicken und sie meinen Pessimismus spüren lassen, oder sie mit der ungewohnten Anstrengung des Denkens belasten.

»Natürlich bleibe ich bei dir«, sagte ich heiter. »Aber bald wirst du eine andere Art von Beschützer vorziehen, Ada. Jemand der jung ist und gut aussehend, mit einem Schnurrbart, wie ihn die jungen Männer tragen, die sich letzte Woche im Park nach dir umgedreht haben.«

Ich schickte sie fort, lachend, errötend und protestierend, aber nicht einmal ihre Liebe und Anhänglichkeit konnten meine dunklen Gedanken erhellen. Natürlich wird sie bald heiraten; sie ist so süß – und wird sehr reich sein! Die Freier werden sie belagern, und sie wird den ersten nehmen, der sie um ihre Hand bittet, schon allein, um ihn nicht unglücklich zu machen.

Ich kann mich noch nicht an meine Freiheit gewöhnen; immer noch erwarte ich, daß plötzlich die Tür aufgerissen wird, ohne vorheriges Anklopfen, und daß ihre barsche Stimme mich fragt, warum ich hier untätig im Dunkeln herumsitze. Ich brauche mein Tagebuch nicht länger zu verstecken! Sicher hat sie es gefunden, egal wo ich es versteckt hatte; ihr konnte kaum etwas entgehen. Ein- oder zweimal, nachdem ich die Begebenheiten eines besonders schlimmen Tages niedergeschrieben hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, daß ihre kleinen, funkelnden schwarzen Augen mich mit noch größerer Ironie betrachteten als sonst. Merkwürdigerweise verlor sie nie ein Wort darüber. Vielleicht hatte ich mir diese Blicke auch nur eingebildet …

Und doch fühle ich mich jetzt viel freier, denn diese durchdringenden schwarzen Augen sind für immer geschlossen. Mein Tagebuch kann mir nun eine noch größere Zuflucht sein, ich hätte vorher nie gewagt, ihm meine geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Ich liebe Ada und würde alles für sie tun, aber einige meiner Gedanken könnte ich niemals mit ihr teilen.

2. April

Diese schreckliche alte Frau! Diese verhaßte, heimtückische, böse Hexe!

Heute nachmittag war die Testamentseröffnung. Mr. Partridge junior war an seines Vaters Stelle, der einer von Großmutters besten Freunden und außerdem ihr Anwalt war, zu uns gekommen. Sein Vater hatte einen Schlaganfall erlitten, als er von Großmutters Tod hörte. Wir mußten deshalb mit Partridge junior vorlieb nehmen. Er war ein blöde lächelnder, spindeldürrer junger Mann, der in seiner langen, schwarzen Hose wie ein Laternenpfahl aussah.

Ich konnte aus dieses Juniors Benehmen schon ablesen, was er uns mitteilen würde. Mir nickte er nur kühl zu, aber seine Stirn berührte fast seine Knie, als er Ada begrüßte. Deshalb war ich keineswegs überrascht zu hören, daß Großmutter ihr gesamtes Vermögen Ada vermacht hatte. Nein, es war keine Überraschung für mich, und ich war auch nicht böse darüber. Was mich jedoch wütend machte – mir zittern noch immer die Hände –, war die eine Klausel des Testaments, die sich auf mich bezog. Jedes einzelne Wort ist mir noch im Gedächtnis, und ich werde keines jemals vergessen.

»Meiner Enkelin Harriet vermache ich mein Nähkästchen aus Ebenholz in der Hoffnung, daß sie dessen Inhalt mit Fleiß nutzen wird, wenn sie die Stellung im Leben erlangen will, die sie verdient. Ich vertraue sie meiner Enkelin Ada an, da ich weiß, daß besagte Ada ihre Kusine niemals in finanzielle Schwierigkeiten geraten ließe.«

Bei diesen Worten drückte Ada ganz fest meine Hand und versuchte, mir durch einen Schleier von Tränen zuzulächeln. Dieser letzte Satz gefiel mir gar nicht; natürlich würde ich von Ada alles bekommen, was ich brauchte, aber allein der Gedanke, von einem Menschen – auch von einem, den man liebt – abhängig zu sein, ist unerträglich. Aber Ada ist zu arglos, um die Spitze in dem ersten, weitaus niederträchtigeren Satz zu erkennen, und ich werde sie nicht darauf aufmerksam machen. Die Stellung im Leben, die ich verdiene! Sollte ich vielleicht Hutmacherin werden? Oder hatte sie gemeint, ich solle danach streben, das Dienstmädchen einer feinen Dame zu werden? Wie konnte sie es wagen – noch dazu vor diesem widerlich grinsenden jungen Kerl! Am liebsten würde ich das Nähkästchen an die Wand schmettern. Ich werde es natürlich nicht tun, dafür war ich zu viele Jahre unter Großmutters Fuchtel.

Am nächsten Tag

Gestern war ich so wütend, daß ich völlig vergaß, die wichtigste Frage in Bezug auf Großmutters Testament zu stellen. Mr. Partridge junior kam jedoch heute noch einmal vorbei, um uns darüber zu informieren.

»Am Tag vor der Beerdigung«, begann er vielsagend, »erhielten wir einen Brief von dem Sohn des Halbbruders Ihrer Großmutter. Dieser Herr, sein Name ist John Wolfson, hat freundlicherweise angeboten, Sie beide, meine Damen, bei sich aufzunehmen. Wir haben selbstverständlich Erkundigungen über ihn eingezogen und aus zuverlässigen Quellen erfahren, daß er ein angesehener und gutsituierter Mann ist. Außerdem ist er das einzige noch lebende männliche Mitglied der Familie, und so haben wir mit großer Erleichterung sein Angebot angenommen.«

»Aber«, rief Ada erschrocken, »ich kenne diesen Herrn nicht. Harriet, hast du jemals von ihm gehört?«

»Natürlich, meine Liebe, und du auch. Erinnerst du dich nicht an Großmutters berühmte langweilige Erzählungen über unsere Familiengeschichte? Mr. Wolfson muß der Sohn von Großmutters jüngerem Bruder sein. Du weißt doch, ihr Vater war zweimal verheiratet. Aber wir haben seit Jahren keinen Kontakt zu diesem Zweig der Familie gehabt –«

»Ein unglücklicher Umstand«, warf der Junior ein. »Mr. Wolfson erklärte uns, daß sein Vater und Ihre Großmutter seit einem Streit in ihrer Kindheit kein Wort mehr miteinander gewechselt haben. Aber sein Ruf ist über jeden Zweifel erhaben.«

»Ist er ein – guter Mensch?«

Ada sah den Junior aus ihren feuchten blauen Augen so flehentlich und rührend hilflos an, daß er versuchte, zu lächeln. Es gelang ihm nicht besonders gut.

»Meine liebe Miß Ada, wer würde nicht gut und freundlich sein zu einer so reizenden und …«

Der unverschämte Junge sah meinen Blick und besaß den Anstand, wenigstens zu erröten und sich zu räuspern. Was er uns sonst noch zu sagen hatte, brachte er in Eile vor. Wir sollten innerhalb einer Woche nach Yorkshire aufbrechen. Es scheint schrecklich weit weg zu sein. Aber da Mr. Wolfson in Yorkshire lebt und da er von nun an unser Herr und Gebieter ist …

Ich habe Angst. Angst vor der Zukunft und vor diesem Mr. Wolfson. Vielleicht sind meine bösen Vorahnungen nur dem Zwielicht dieses düsteren Raumes zuzuschreiben. Im Grunde meines Herzens bin ich ein abergläubisches, italienisches Bauernmädchen. Großmutter hat das immer behauptet. Und sie hatte immer recht.

14. April

Ich habe mein Tagebuch schwer vernachlässigt, aber seit über einer Woche habe ich keine ruhige Minute gehabt. Auch jetzt habe ich nicht viel Zeit; hinter mir schläft Ada in dem riesigen Bett, aber wenn sie aufwacht, muß ich mich um sie kümmern. Sie ist ganz hin und her gerissen zwischen Aufregung über unsere Reise und den vielen neuen Eindrücken und kindlichem Schrecken vor einer ungewissen Zukunft, die nun vor uns liegt.

Wir hatten London am Donnerstag verlassen, nach einem tränenreichen Abschied von unserer Köchin und den Dienstmädchen. Es regnete in Strömen, und Ada hatte an diesem ersten Tag unserer Reise fortwährend geweint. Sie war in sehr gedrückter Stimmung und nicht ansprechbar; so verbrachte ich den ganzen Tag damit, über Mr. lohn Wolfson nachzudenken.

Ich hatte Ada gesagt, daß ich über ihn Bescheid wußte, aber in Wirklichkeit war mir nur bekannt, daß er existierte. Nur vage konnte ich mich daran erinnern, daß es irgendeine Unstimmigkeit zwischen den beiden Zweigen der Familie von Großmutters Vater gegeben hatte. Das nahm mich allerdings nicht gegen Mr. Wolfson ein; jeder, der gegen Großmutter war, war mein Verbündeter.

Trotz der Hektik unserer letzten Tage in London hatte ich Zeit gefunden, Informationen über Mr. Wolfson zu sammeln, und meine Mühe wurde belohnt, als ich einen Reiseführer über Yorkshire fand. Offensichtlich ist Mr. Wolfson, wie auch schon der Junior behauptete, ein reicher und angesehener Mann, und sein Haus, Abbey Manor, ist eines der modernsten Herrenhäuser im North Riding. Dem Buch zufolge wurde das herrschaftliche Haus ganz in der Nähe der Ruinen einer Abtei erbaut, die von Heinrich VIII. zerstört worden war. Es wurde sogar aus der Abtei gebaut, deren Steine als Baumaterial dienten. Der Reiseführer zeigte eine Abbildung der Ruinen, sie sahen sehr malerisch aus, mit efeubewachsenen Steinblöcken und Mauerresten und steinernen Fensterbögen, die sich in stolzer Pracht gegen den Himmel erhoben.

Aber meine Fantasie läßt mich vom Thema abschweifen. Was für Ada und mich von Bedeutung war, ist ein Hinweis auf den Charakter unseres neuen Vormunds, den ich zufällig in einem Satz dieses nützlichen Büchleins entdeckte. Wir werden mehr Glück haben als die Touristen, denn wir werden die alte Abtei besichtigen dürfen. Es scheint, daß Mr. Wolfson keine Besucher auf seinem Grundbesitz duldet, der auch die Ruinen einschließt.

Der Autor des Büchleins war ziemlich aufgebracht gegen Mr. Wolfson, aber ich bin eher geneigt, mit seiner Unfreundlichkeit gegenüber diesen Amateur-Altertumsforschern zu sympathisieren. Wenn ich solche Ruinen besäße, würde ich sie auch ganz für mich allein behalten wollen.

Es scheint jedoch sicher, daß Mr. Wolfson ein recht unnachgiebiger Mann ist. Ich stelle ihn mir vor als einen verbitterten alten Herrn mit weißem Schnurrbart und weißem Haar. Doch ich weiß, das kann nicht stimmen; er müßte jünger sein, als mein Vater jetzt wäre. Bald werde ich es wissen, denn wir fahren heute morgen nach Abbey Manor. Mr. Wolfsons Wagen steht schon bereit, um uns abzuholen. Sein Haus liegt eine Tagesreise von York entfernt im Nordwesten.

Ich will ganz ehrlich sein, meine Bemühungen, Mr. Wolfson sympathisch zu finden, sind lediglich eine Ausflucht, eine Selbsttäuschung. Ich kann ihn jetzt schon nicht ausstehen, ohne ihn gesehen zu haben. Er ist unser Vormund – unser Gebieter. Das genügt, mich gegen ihn einzunehmen, oder gegen jeden anderen Mann.

Später

Das Datum sollte eigentlich der 15. April sein – es ist längst nach Mitternacht–, aber ich kann nicht schlafen, ohne die Eindrücke dieses ereignisreichen Tages niederzuschreiben. Ich will es gleich vorausschicken: Meine Befürchtungen waren unbegründet.