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Jörg Rönnau

Kriegsgold

Ein Holstein-Krimi

Zum Buch

Eine explosive Mischung aus Diebstahl, Mord und Rache – und zugleich ein spannender Blick in die Geschichte!

Mehrere grässliche Leichenfunde zwischen Kiel und Eckernförde halten die Mordkommission in Atem. Denn dass es sich hier um eine Mordserie und nicht um bloße Unglücksfälle handelt, steht sehr bald fest. Wo aber liegt das Motiv für den oder die Täter? Und sind noch weitere Menschen in Gefahr? Während Hauptkommissar ­Hinnerk Matthiesen und seine Kollegen den Spuren nachgehen, die zum Kieler Marinestützpunkt Tirpitzhafen ­führen, macht ein pensionierter Polizeibeamter die Ermittler auf den ­lange zurückliegenden Mord an einem Marine­soldaten aufmerksam. Der Mann hatte nach dem Verbleib einer großen Menge Goldbarren geforscht, die in den ­letzten Kriegswochen 1945 mit einem U-Boot in der Ostsee ­verschollen waren. Die Umstände seiner Ermordung ­weisen so ­große ­Parallelen zu den aktuellen Geschehnissen auf, dass ­Matthiesen nicht an Zufall glaubt. Er folgt den ­verschlungenen Pfaden einer jahrzehntelangen, irrwitzigen Schatzsuche und begibt sich damit selbst in höchste ­Gefahr.

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Widmung

Zitate

Prolog

Germaniawerft, Kieler Hafen, Frühjahr 1945

Kapitel 1

Kapitel 2

Auslaufen, Ostsee, Kieler Bucht, Frühjahr 1945

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Der Überfall, Ostseeküste, Frühjahr 1945

Kapitel 6

Kapitel 7

Erstes Zwischenspiel

Kapitel 8

Kapitel 9

Die Kate im Rögen, Frühjahr 1945

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Nach dem Krieg

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Jacques Clément, Rögen, Sommer 1948

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Das Wiedersehen, Kiel, Sommer 1955

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Im Wald, Rögen, Sommer 1960

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Zweites Zwischenspiel

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Anmerkungen

Danksagung

Über den Autor Jörg Ronnau

Mehr von Jörg Rönnau

Widmung

Für Iris,

 

Annelie und Justus

Zitate

»Wenn das Gold redet, dann schweigt die Welt.«

Lateinisches Sprichwort

* * *

»Oft pflegen im Gold viele Übel zu stecken.«

Tibull, römischer Dichter, 55 v. Chr.–18 v. Chr.

* * *

»O fluchwürdiger Hunger nach Gold.«

Vergil, römischer Dichter, 70 v. Chr.–19 v. Chr.

Prolog

Der alte Mann hielt sich am Geländer der Seebrücke fest, die am Schönberger Strand zweihundertfünfzig Meter in die Ostsee hinausragt. Seinen Blick richtete er auf die nächt­liche aufgewühlte See. Der starke Wind pfiff aus nordwestlicher Richtung und peitschte die Wellen meterhoch auf. Trotz des stürmischen Wetters glänzten die Sterne in all ihrer Pracht.

Der Greis wandte seinen Blick weiterhin aufs anbrandende Meer. Die Gischt klatschte nur wenige Meter unter ihm gegen die Pfeiler und Dolben der Seebrücke.

Er dachte an all die Jahre seines Lebens. Fast hundert. Sicherlich fühlte er sich noch körperlich fit, ein Wunder, aber jetzt wurde ihm doch alles zu viel. Seine Gedanken kehrten oft zum Krieg zurück. Zu den Männern seines Untersee­boots, die bereits vor unendlich langer Zeit ihr nasses Grab im Meer fanden. Damals, 1945, kurz vor Ende dieser maßlosen Völkerschlacht. Damals, als er noch einen anderen Namen trug, ein anderes Leben führte. Damals. Alles fühlte sich so weit weg an, und doch wiederum so nah. So nah.

Vor über einem halben Jahrhundert hatte er ihn erschlagen, diesen Mann. Mit seinen eigenen Händen. ­Erschlagen. Sicher, es war Notwehr gewesen, aber diese Tat lastete trotzdem auf seiner Seele. Seit einer Ewigkeit hörte er im Schlaf den Todesschrei des Mannes. Immer wieder gellte dieser Schrei in seinen Ohren, auch wenn er sie zuhielt. Dieser Schrei … dieser grauenhafte Schrei.

Nun kamen sie schon wieder. Immer wieder. Der Traum. Der Schrei. Der Mann.

Er konnte nicht mehr. Genug. Genug. Genug! Wollte der Herrgott denn ewig damit warten, ihn zu holen?

Mühsam kletterte der alte Mann über das Geländer der Seebrücke. Es fiel ihm schwer, aber er schaffte es.

Auf der anderen Seite blickte er nochmals in den Sternen­himmel. Wie schön sie waren. Jedes einzelne Sternbild kannte er. Es gab keinen schöneren Ort, keinen, an dem die Sterne so sehr funkelten wie auf dem Ozean.

Er spürte den Seewind auf seiner alten Haut. Er ­lächelte. Geliebtes Meer. Endlich … erlöst … der Schrei … war fort! Verstummt. Unendliche Freiheit … die See … das Meer …

Ich bin zu Hause!

Dann ließ er sich fallen.

Germaniawerft, Kieler Hafen, Frühjahr 1945

Er blickte vom Ostufer aus auf das beinahe vollständig zerstörte Kiel. Wie kariöse Zahnstummel ragten die Überreste der Häuser in den Nachthimmel. An manchen Stellen der Stadt wüteten immer noch Brände. Eine apokalyptische Trümmerlandschaft.

In der letzten Nacht belegten die Flugstaffeln der ­Alliierten Kiel wieder einmal mit einem Bombenhagel. Es glich einem Wunder, dass das U-Boot an der Kaimauer der Germaniawerft unbeschädigt blieb.

Kapitänleutnant Johann von Stackeldorf inhalierte den letzten Zug seiner filterlosen Zigarette, Marke Nordland, und schnippte die Kippe ins Hafenbecken. Zischend landete sie in dem schmutzigen Brackwasser und trieb vom Stahlleib Richtung Westen.

Er dachte an seine Heimat. Ein idyllisches Gut in Ostpreußen, nahe der Ostsee. Seit Generationen in Familienbesitz. Dort wuchs er auf. Eine harmonische, friedliche Kindheit und Jugend, bis der Krieg kam.

Als nicht einmal Zwanzigjähriger ging er zur Marine. Gegen den Willen seiner Eltern. Getrieben von Abenteuer­lust. Damals, ein lütter Pimpf, ein Dreikäsehoch. ­Inzwischen sechsundzwanzig und Kommandant von U 796, einem der letzten einsatzfähigen Unterseeboote der Marine.

Eine Feindfahrt vor die Küsten Norwegens hatten sie ­bereits mit diesem Boot unternommen. Es stellte sich als ­äußerst leistungsfähig und robust heraus. Nun kam vor ein paar Tagen dieser Sonderbefehl vom Marinehaupt­quartier. ­Unterschrieben von Großadmiral Karl Dönitz persönlich. Dönitz, dieser alte Halunke. Vor zwei Jahren ­hatte er den schmächtigen Befehlshaber der U-Bootflottille ­unter den Tisch ­gesoffen. Konnte eben nichts ab, dieser ­Schreibstubenhengst, aber Johann von Stackeldorf mochte Dönitz trotzdem.

Immer wieder dachte der Kapitänleutnant an ­Ostpreußen. Zu Hause. Vor über einem halben Jahr kam der letzte Brief seiner Mutter. Wie es ihnen wohl geht? Daheim? Ob alle wohlauf sind? Oder befinden sie sich ebenfalls auf der Flucht vor den Russen, wie so viele andere Landsleute aus den Ostgebieten? Mittlerweile verabscheute er diesen Krieg. Dieses sinnlose Blutvergießen. Dieses Massenschlachten junger Männer. Aus dem jugendlichen Draufgänger von einst war ein nachdenklicher Kriegsveteran geworden.

Verfluchter Seekrieg! Verfluchter Krieg! Verflucht!

Wie viele Kameraden bereits den Tod gefunden haben. So viele junge Männer! Wird es ein Leben danach geben? Ein Leben nach dem Krieg? Wann ist dieser verdammte Krieg endlich vorbei? ­Gewinnen können wir ihn sowieso nicht mehr. Deutschland ist dem Untergang geweiht. Nur noch eine Frage der Zeit und …

»Schiff klar zum Auslaufen, Herr Kaleu!«

Die Meldung des I WO, des Ersten Wach­offiziers ­Leutnant Brodersen, riss ihn aus seinen Gedanken ­heraus. Johann von Stackeldorf nickte und lächelte seinem ­Kameraden müde zu. Er kramte das Zigarettenetui aus ­seiner Uniformjacke und reichte Brodersen eine Nordland. Still rauchten sie.

Brodersen war nur wenig jünger. Sie kannten sich seit vier Jahren, aber es kam ihnen vor, als wäre es bereits eine Ewigkeit. Sechs gemeinsame Feindfahrten schweißten sie zusammen.

»Na dann woll’n wir mal, was Klaus?«, sagte der Kapitän­leutnant mit ruhiger, sonorer Stimme.

»Das wird eine verflucht heikle Partie«, ­erwiderte ­Brodersen und warf den Zigarettenstummel über das Schanzkleid. Das Geschoss landete im öligen Wasser des Hafenbeckens.

Der kleine drahtige Mann war ein lebenslustiger ­Marineoffizier. Nie verlor er seinen Humor. Optimistisch bis zum Gehtnichtmehr. Stammte aus der alten Hansestadt Danzig, altes Kaufmannsgeschlecht. Auch ihn hatte einmal die Abenteuerlust getrieben und er musste schnell ein­sehen, dass das Meer und der Krieg keine Spielplätze waren.

Zwei Hafenarbeiter lösten bereits die Haltetaue von den Pollern. Der Schiffsdiesel dröhnte auf. Mit einem ­lauten Knall spuckte das Abgasrohr am Heck dunklen Rauch aus. Die beiden Seeoffiziere grinsten sich an. Endlich wieder raus aus dem Hafen. Raus aus der verdammten Mausefalle. Endlich wieder raus, raus auf die offene See.

Ohne Vorwarnung donnerten plötzlich die Geräusche von Rolls-Royce-Merlin-Motoren aus der Dunkelheit. Sie kamen diesmal aus nordwestlicher Richtung. Zeitgleich heulten die Sirenen über ganz Kiel auf.

Fliegeralarm.

»Na, kriegen die Tommys uns doch noch bei der Büx, Herr Kaleu«, rief Leutnant Brodersen gegen den Lärm an. Sie spähten in die Dunkelheit, zum Weglaufen war es zu spät. Die Männer blieben gelassen, denn diesmal fielen die Bomben einige Kilometer weiter nördlich. Der Krieg ­hatte sie fast schon gleichgültig gegenüber dem Tod gemacht. Abgebrühte Seeoffiziere. Vielleicht bedeutete der Tod ja sogar eine Erlösung aus all dem Schmerz.

Schon nach kurzer Zeit leuchteten überall die Suchscheinwerfer der Flak-Batterien auf.

»Abwarten«, erwiderte Johann von Stackeldorf ­grinsend. »Noch ist nicht aller Tage Abend. De Dübel hett noch Tiet. Außerdem, was gibt es Schöneres, als auf einem Goldschatz zu sterben?«

Leutnant Brodersen kannte die Mentalität seines ­Kapitäns. Anscheinend gab es kaum eine Situation, die den Seebären aus der Ruhe brachte. Die Mannschaft nannte ­ihren Käpt’n »den eiskalten Hund« …

In zwei bis drei Kilometer Entfernung hörte man die Detonationen der Bomben, die auf die Stadt nieder­prasselten. Tausend-Pfund-Bomben. Außerdem ­erwiderten die Flakgeschütze den Angriff. Ein ohrenbetäubender Lärm. Sie spürten jeden einzelnen Druck der Detonationswellen im Magen.

Stackeldorf und Brodersen beobachteten bereits seit ein paar Tagen, dass mittlerweile sogar kleine Pimpfe, kaum älter als fünfzehn Jahre alt, die Flugabwehr­geschütze ­bedienten. Kinder! Gören! Hosenscheißer! Sie konnten es kaum glauben. Wohin würde dieser Krieg Deutschland noch führen? Nur noch in den totalen Untergang.

Britische Avro 683 Lancasters und amerikanische Boing B-17 Flying Fortresses entluden ihre ­todbringende Fracht über dem Osten der Stadt. Der Nachthimmel ­erhellte sich immer wieder durch die vielen Lichtblitze der Explosionen.

»Diesmal geht’s den Howaldtswerken an den Kragen. Churchill will wohl langsam reinen Tisch machen. Jetzt ­krepieren wieder unsere Jungs, während dieser Weltkriegsgefreite in Berlin sich in seinem sicheren Führerbunker ­verschanzt, sich seine verschrumpelten Eier schaukelt und mit seiner geliebten Eva einen Deinhard Cabinet schlürft.«

Johann von Stackeldorf war für seinen Sarkasmus und seine flinke Zunge in der gesamten Flottille bekannt und gefürchtet. Aber als lebende U-Boot-Legende, die bei vierzehn Feindfahrten in den Nordatlantik sechsund­dreißig Schiffe versenkt hatte, davon sogar vier Zerstörer und ein amerikanisches Unterseeboot, durfte man sich solche ­Sprüche leisten, ohne sofort von der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei, abgeholt zu werden. Zudem hatte Großadmiral Dönitz ihm 1941 im Hafen von La ­Rochelle höchstpersönlich das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes mit Eichenlaub sowie das U-Boot-Kriegsabzeichen mit ­Brillanten ans Revers geheftet.

Es donnerte ununterbrochen. Zu ihrem großen ­Erstaunen fiel keine einzige Bombe auf das Gelände der Germaniawerft. Diesmal sahen die Alliierten es tatsächlich auf Howaldt ab. Arme Schweine.

Nach weiteren zehn Minuten war der Spuk vorbei. Die Bomber verzogen sich in südliche Richtung.

Zwei Männer in SS-Uniformen kletterten durchs Turmluk und schauten sich mit versteinerten Mienen um. Sie sagten kein einziges Wort. Eiskalte Spannung erfüllte die Luft zwischen den Offizieren. Schweigend rauchten sie eine Zigarette und verschwanden wieder im Inneren.

Seltsame Passagiere, die uns der Befehlshaber der Unterseeboote an Bord geschickt hat, dachte der Kapitän. Hoffentlich machen diese schwarzen Bluthunde unterwegs keinen Ärger.

Diese SS-Männer waren ihm äußerst suspekt. Er ­hasste es, sie an Bord von U 796 zu haben. Solche Landratten konnten nur Unglück bringen. Doch er verwarf den ­Gedanken. Er musste sich auf das Auslaufen konzentrieren und sagte: »So, dann mal los. Bis zur nächsten Angriffswelle wird es dauern. Also nutzen wir die Gunst der Stunde und seh’n zu, dass wir aus dem Hafen rauskommen. Außerdem wird es gleich richtig dunkel und nachts sind alle Katzen grau.«

Er gab dem I WO das Kommando zum Ablegen. ­Bereits nach kurzer Zeit löste sich das Stahlboot vom Land und nahm langsam Fahrt auf. Sie glitten durch den Kieler ­Hafen, vorbei an gesunkenen Schiffswracks und ­zerbombten ­Gebäuden. Auf dem Gelände der Howaldts­werke ­brannte es an verschiedenen Bereichen lichterloh. Zudem gab es dort immer wieder Explosionen. ­Munitionsdepots und Treibstofflager flogen in die Luft. Nur wenige Männer versuchten vergeblich, die Brände zu löschen. Richtige Feuerwehren gab es schon lange nicht mehr. Die Luft war geschwängert von Brandgeruch, Qualm und Ruß. Der Kapitän und sein I WO konnten sich gut vorstellen, wie es in diesem Inferno momentan aussah. In der Dunkelheit konnten sie ebenfalls Brände in der Kieler ­Innenstadt, rund um die Nikolaikirche herum, erkennen.

Kiel, jene ehemalige Perle der Ostsee. Einst wunder­schöne Hafenstadt und 1936 Austragungsort der ­Olympischen Sommerspiele im Segeln, nun fast vollständig ­zerstört. Einst Reichskriegshafen, jetzt maritime Trümmerlandschaft, dem Untergang geweiht.

Langsam glitt das neunzig Meter lange Boot vom Typ XVIII durch den Hafen. Bewegte sich wie ein graues ­Gespenst auf die Kieler Außenförde zu. Ein Wolf ohne Rudel, der zur Jagd freigegeben wurde. Früher jagten sie auf dem Atlantik, doch das war schon lange vorbei. Aus den Jägern wurden Gejagte.

Es war Krieg. Keiner an Bord des Unterseebootes wusste, ob sie jemals zurückkommen würden.

Verdammter Seekrieg! Verdammter Krieg!

Kapitel 1

Heiko Friedrichsen war Fischer mit Leib und Seele. Schon Generationen seiner Vorfahren lebten als Seeleute und Fischer in Laboe, einem kleinen Küstenort an der Kieler Bucht.

Sein Schiff, die zehn Meter lange Elke, ­durchpflügte die Ostseewellen in Höhe des Kieler Leuchtturms und war auf dem Heimweg. Der kleine Fischkutter stampfte schwer in der aufgewühlten See. Bald würden die ersten Herbststürme kommen, aber das Wetter spielte in den ­letzten ­Jahren sowieso mehr als verrückt. Es gab wohl tatsächlich eine Klimaveränderung. Heiko Friedrichsen konnte nicht mehr lange draußen bleiben, die See wurde immer rauer. Schietwetter. Sie würden bald in ihren Heimathafen zurück­kehren müssen.

Der fünfundvierzigjährige Fischer beugte sich aus dem Fenster des Ruderhauses und versuchte gegen den Wind anzuschreien.

»Hannes, geiht na Huus!«

Hannes Lüthjohann nickte, zog noch mal an seinem dicken Zigarrenstummel und fing damit an, den Fang zu sortieren, den sie aus den Stellnetzen geholt hatten. ­Niemand konnte Hannes’ genaues Alter auch nur erahnen. Solange Heiko Friedrichsen sich zurückerinnerte, kannte er den bärbeißigen Matrosen, der bereits bei seinem ­Vater gearbeitet hatte und damals schon so aussah wie heute. Dieses Holsteiner Urgestein musste die siebzig lange überschritten haben, doch niemand konnte es mit dem Kraftpaket aufnehmen, dessen Körper von Kopf bis Fuß mit Tätowierungen übersät war.

Der Laboer Fischer steuerte die Elke nun in südöstlicher Richtung. In den dichten Regenwolken erkannte er das Laboer Ehrenmal, dass schon seit fast hundert Jahren Wind und Wellen trotzte.

Immer wieder warf er einen Blick auf das Vordeck, wo sein alter Decksmann hantierte. Der Fang sah mau aus, höchstens ein Zentner. Die Überfischung der ­Weltmeere machte auch vor der Ostsee nicht halt und der Beruf ­eines Fischers wurde im Laufe der letzten Jahre immer ­schwieriger. Doch was er jetzt im diesigen Licht ­beobachtete, verwunderte Heiko Friedrichsen sehr.

Hannes Lüthjohann sortierte den Fang in dafür bereit­stehende Kisten. Irgendetwas erregte dabei die Aufmerksamkeit des urigen Fischers. Er holte einen größeren ­Gegenstand aus dem Auffangbehälter. Plötzlich warf er seinen Fund panisch von sich und rannte wild gestiku­­lierend zur Reling. Es sah aus, als wenn er sich ins Meer erbrechen würde.

»Wird Hannes jetzt etwa auf seine alten Tage noch seekrank oder warum kotzt er in die Gischt und füttert den Kabeljau? Dat gifft dat doch nich«, murmelte Heiko ­Friedrichsen verwundert in seinen dichten Vollbart.

Irgendwas war los mit dem Matrosen. Da ging was nicht mit rechten Dingen zu und er musste nachsehen. Also ­verlangsamte er die Fahrt der Elke, schaltete das Schiffsruder auf Automatikbetrieb und verließ das ­Ruderhaus. Draußen erwischte ihn eine Welle und er fluchte. Zum Glück trug er wasserdichtes Ölzeug.

Hannes Lüthjohann wischte sich inzwischen den Mund mit dem Ärmel seiner gelben Arbeitsjacke ab, räusperte sich und schüttelte angeekelt den Kopf. Sein Gesicht war kreidebleich. Aus seiner Hosentasche förderte er einen Flachmann heraus und nahm einen kräftigen Schluck.

»Hast du den Klabautermann geseh’n oder wat?«, ­fragte Heiko Friedrichsen grinsend.

Das Schiff schaukelte inzwischen immer heftiger und wurde langsam zum Spielball der Naturgewalten. Sie ­mussten zurück zum Hafen.

»Nee, viel schlimmer, du Döskopp!«, antwortete der alte Seebär, nahm noch einen Schluck und wies auf das, was er gerade im Netz gefunden und wieder von sich ­geworfen hatte.

»Der Dübel hat uns ’n nettes Spielzeug ins Netz ­geworfen, verdammte Scheiße!«

Der Laboer Fischer bewegte sich nun auf den ­seltsamen Beifang zu und erkannte sofort, was dort auf dem Deck lag. Plötzlich stellten sich seine Nacken­haare auf und auch ihm wurde übel. Auf den Decksplanken der Elke lag ein abge­trennter menschlicher Arm. Die Haut war vom ­salzigen Seewasser aufgeweicht. Fast weiß, zudem fehlte an der ­daran befindlichen Hand der Daumen. Aus dem ­oberen Ende des Armes ragten ein Stück vom ­Knochen sowie mehrere Sehnen und Blutgefäße heraus. Heiko ­Friedrichsen hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Die Knie wurden ihm weich.

Beim heiligen Klabautermann, was hatte Neptun ­ihnen da ins Netz geworfen?

* * *

Über fünfunddreißig Jahre lang hatte Jürgen Vogler sich auf der HDW, der ehemaligen Howaldtswerke-Deutsche Werft, am Kieler Ostufer krummgelegt. Schiffsbauer und Schweißer in dritter Generation; sein Großvater war dort sogar noch einer der sogenannten Kedelklopper gewesen. Doch die harte Arbeit hinterließ Spuren. Schwere, erosive Osteochondrose mit Spinalkanalstenose und Claudicatio-Symptomatik diagnostizierten die Ärzte seine ­Krankheit. ­Er nannte es nur »Rücken im Arsch«. Seit zwei ­Jahren fris­tete er sein Dasein als Frührentner und das Geld langte vorn und hinten nicht. Doch er hatte sich mit ­seinem Schicksal einigermaßen abgefunden und machte das Beste daraus, auch wenn die starken Rückenschmerzen ihn manchmal schier umbrachten.

Er wohnte in Friedrichsdorf und fuhr fast jeden Vormittag hinaus zum Bülker Leuchtturm, um hier mit seinem Hund am Strand der Ostsee spazieren zu gehen. Manchmal kam auch seine Ehefrau Monika mit. Heute aber nicht, sie arbeitete als Altenpflegerin in einem Kieler Seniorenheim.

Rex, eine zottelige Promenadenmischung aus Bobtail und Labrador, rannte immer wieder dem Ball hinterher, den Jürgen Vogler ins Wasser warf, apportierte das Spielzeug und legte es seinem Herrchen wieder vor die Füße. Sie liebten dieses Spiel, und das bei jedem Wind und ­Wetter. Heute trieb ein heftiger Nordwestwind immer ­wieder ­Regenwolken gegen das Bülker Steilufer. Wie man im ­Norden sagte: »Schietwetter!«

Plötzlich schnupperte Rex in den Wind und rannte ­bellend in Richtung Ufersaum. Nach etwa zweihundert Metern stoppte das große Tier vor einem Haufen ­Treibgut und knurrte wütend. Eine weitere Windböe peitschte ­Jürgen Vogler den Regen ins Gesicht, woraufhin er den Kragen seiner Regenjacke höher zog. Der Hund ­gebärdete sich wie ein Verrückter. Rannte um den Treibguthaufen herum. Aus seiner Kehle grollte es immer noch. Das Tier hatte offenbar etwas gefunden. Vogler wollte jetzt wissen, um was es sich handelte. Als er den Hund erreichte, nahm er ihn an die Leine und besah sich den Fund. Eigentlich nur ein großer Haufen Seetang, dazu Holzteile, Plastikmüll und der Rest eines alten Fischernetzes. Aber warum ­spielte Rex so verrückt? Zwischen dem ganzen Plunder musste sich ­etwas befinden, das die Aufmerksamkeit des Hundes so sehr erregte.

»Sitz!«

Rex gehorchte und winselte. Schwerfällig bückte ­Jürgen Vogler sich hinunter und wühlte in dem Haufen herum. Plötzlich schrie er entsetzt auf und wich angeekelt zurück. Vor ihm lag ein abgetrennter und völlig zerfetzter menschlicher Unterschenkel, an dem noch Teile des Fußes hingen. Eine Krabbe war gerade dabei, sich mit ihren ­Scheren ­kleine Teile davon abzureißen und ins Maul zu stopfen.

Panik ergriff Jürgen Vogler, er zog an der Hundeleine und eilte zum Förderwanderweg zurück, wo er sein ­Handy aus der Hosentasche zog und mit zittrigen Fingern die Notrufnummer wählte.

* * *

Marvin und Dennis waren die größten Rabauken, die es im Heikendorfer Kindergarten »Regenbogen« gab. Jeden Tag gab es zwischen ihnen und den Erzieherinnen Konflikte. Für die beiden Pädagoginnen Heike und Sabine bedeuteten diese Jungen eine starke Herausforderung.

Heute befand sich die Gruppe auf einem Ausflug, der sie an die Ostsee führte. Den Campingplatz Möltenort hatten sie bereits vor einiger Zeit hinter sich gelassen und gingen nun am Ufersaum entlang. Marvin und Dennis bewarfen die anderen Kinder der Gruppe immer wieder mit toten Quallen, die durch den Sturm, der in der letzten Nacht getobt hatte, angespült worden waren. Wieder einmal mussten sich die Erzieherinnen fast ausschließlich mit den beiden frechen Jungs beschäftigen und sie maßregeln.

»Ich finde, Kevin ist ein alter Wichser«, sagte der ­fünfjährige Dennis und zeigte mit dem Finger auf einen ­Jungen, der extrem schüchtern wirkte.

»Nö, der ist ein altes Arschgesicht und ’n Furz­knochen«, antwortete Marvin. Beide kicherten.

»Hört ihr wohl damit auf, solche Worte zu ­benutzen!«, schimpfte Heike. »Wenn ihr weiterhin solchen Unfug macht, dann gehen wir zurück zum Kindergarten.«

Daraufhin streckten die beiden Jungen der Erzieherin die Zunge entgegen und rannten laut palavernd voraus.

»Nicht so weit weglaufen! Dennis! Marvin! Kommt sofort zurück!«, rief Sabine ihnen hinterher, doch es war zwecklos. Die Rüpel nahmen bereits einen angespülten Holzhaufen auseinander und kickten mit ihren Gummi­stiefeln darin herum.

Auf einmal fingen die beiden Kinder an zu schreien. So schnell sie konnten, rannten die beiden zu den Erzie­herinnen zurück.

Schon von Weitem sah Heike Schildknecht, dass beide Jungen weinten, für die Jungs äußerst ungewöhnlich. Nach Luft ringend und mit Tränen in den Augen schmissen sie sich in den Schoß der Kindergärtnerinnen.

»Heike, da liegt ein totes Viech, das sieht aus wie ein Mensch«, keuchte Marvin atemlos.

»Wie ein Zombie«, ergänzte Dennis.

Die Kindergärtnerinnen schauten sich verwundert an.

»Sabine, bleib du bei den Kindern, ich gehe nach­sehen«, meinte Heike und machte sich auf den Weg zu dem angespülten Schwemmholz. Schon jetzt standen ihr die Haare zu Berge, denn sie hatte bereits eine Vermutung, was es sein könnte. Erst letzte Woche hatten Dennis und Marvin einen halb verwesten Schweinswal am Ufersaum gefunden. Kein schöner Anblick. Sie rechnete auch diesmal mit einem halbwegs skelettierten Tier.

Kaum angekommen, erkannte sie das »Viech« sofort. Es handelte sich eindeutig um menschliche Überreste. ­Teile eines Rumpfs. Eine Seite davon nackt, die gebrochenen Rippenknochen ragten aus der Haut heraus. An der gegen­überliegenden Seite des Torsos befand sich Stoff einer ­Seglerjacke. Heike Schildknecht musste sich beherrschen. Versuchte ihre beginnende Panik in geordnete Bahnen zu steuern. Entsetzt blickte sie auf den zerfetzten Ober­­körper, an dem sämtliche Extremitäten fehlten. Sie ­zitterte am ganzen Leib. Plötzlich bemerkte sie, dass ein älteres Ehepaar sich von hinten näherte. Ein Mann im Rentenalter legte ihr die Hand auf die Schulter und bat sie, von dort wegzukommen.

»Roswitha, schau dort nicht hin«, sagte er zu seiner Frau, gleichzeitig schaute er zur Erzieherin. Der ­betroffen ­aussehende Senior schüttelte unmerklich den Kopf. »­Kommen Sie bitte weg von hier und kümmern sich um die Lütten. Das müssen die Kinder nicht sehen. Ich rufe die Polizei.«

Kapitel 2

»Verfluchte Drecksau! Hurensohn!«

»Wie halten wir es nur aus mit diesem verrückten Feder­vieh? Kennst du nicht zufällig einen Knopf, um ihn abzustellen?«, fragte Hinnerk Matthiesen.

Malin lachte und schüttelte belustigt den Kopf.

»Nein, mein Lieber, den müssen wir so nehmen, wie er ist. Der benahm sich schon bei meinem Vater nicht anders«, antwortete sie.

»Fuck you! Geh kacken!«

Wieder einmal krächzte der Vogel Schimpfwörter in den Raum, stellte dabei triumphierend seine Kopfhaube auf und nickte siegesgewiss, was in einem irren Lachen ­endete.

Nach dem Tod ihres Vaters hatte Malin den Gelbohr-Rabenkakadu geerbt. Wie alt das intelligente Tier war, ­konnte ihr niemand sagen, aber sie kannte den Vogel schon seit ihrer Kindheit. Ursprünglich stammte sie aus ­Småland. Ihr Vater, ein Kapitän auf großer Fahrt, brachte den ­Kakadu irgendwann mit nach Hause. Jahrzehntelang begleitete das Tier den Käpt’n auf all seinen Reisen um die Welt. Dabei machten sich die Matrosen stets einen Spaß daraus, dem sprachbegabten Vogel Schimpfwörter in ­allen beliebigen Sprachen beizubringen. Monsieur Tourette, wie Malin ihn im Nachhinein taufte, beherrschte sämtliche Aussprachen in Perfektion.

Hinnerk und Malin lebten in einem kleinen Haus in Preetz, einer Kleinstadt vor den Toren Kiels, am Rande der Holsteinischen Schweiz. Beide genossen seit einiger Zeit ihre neue Freiheit. Nach über zweiundzwanzig Ehejahren hatten sie sich in der letzten Zeit etwas entfremdet, fanden aber gerade nach dem Auszug ihrer beiden Kinder zu einer Art zweitem Frühling wieder zusammen.

»Drecksack«, krächzte Monsieur Tourette und ­kreischte danach wie eine quietschende Tür. Ohrenbetäubend!

»Also ich kenne diesen Sabbelkopp nun seit über ­zwanzig Jahren, aber manchmal überlege ich doch, ob ich ihn nicht mit meiner Dienstwaffe erschießen ­sollte«, ­kommentierte Hinnerk, was mit einem »Blödmann« ­quittiert wurde.

»Wehe, ich liebe diesen Schreihals! Genau wie dich, du oller Holsteiner Büffelkopp.«

»Büffelkopp … Arschgeige … saublödes ­Sackgesicht!«, kreischte der Vogel, woraufhin Hinnerk und Malin los­prusteten.

Dieser verrückte Kakadu hatte wirklich im wahrsten Sinne des Wortes einen Vogel, und wenn der Haupt­kommissar ehrlich war, mochte er diesen Kreischhals sehr und hatte schon oft über ihn gelacht.

Plötzlich klingelte sein Mobiltelefon. An der ­Melodie erkannte er bereits, wer anrief. Kriminaloberrat Jürgen ­Pönitz, Leiter der Kieler Mordkommission.

Nicht jetzt, dachte der Hauptkommissar, es ist Sonntag und ich habe noch eine Woche frei! Verflixt und zugenäht!

Er nahm das Gespräch trotzdem an.

»Guten Tag Herr Matthiesen. Es tut mir ja leid, dass ich Sie in Ihrer Freizeit anrufe, aber wir brauchen Sie hier in Kiel. Es ist wichtig. Es brennt und ich bin momentan mit Herrn Paul allein hier. Sie kennen ja unsere momentane personelle Situation.«

Hinnerk seufzte. Er wusste genau, wovon sein Chef sprach. Zurzeit nur zu dritt, waren sie deutlich unterbesetzt. Es kam ihm sowieso wie ein Wunder vor, dass er überhaupt freibekommen hatte. Eine Kollegin befand sich momentan auf einer längeren Weiterbildung in Wiesbaden, ein ­anderer musste nach einem schweren Autounfall noch geraume Zeit im Krankenhaus verbringen, und der Kriminaldauerdienst beschwerte sich sowieso schon ständig, weil sie in der unterbesetzten K1 häufig aushelfen mussten.

»Schießen Sie los, was gibt es?«, fragte Hinnerk.

»Ein Leichenfund an der Kieler Förde. Oder besser gesagt, die Leiche wurde quasi fragmentiert an mehreren Strandabschnitten rund um die Förde herum angespült. Dabei fehlen immer noch diverse Teile des Leichnams.«

Hinnerk wurde hellhörig.

»Wissen wir schon, um wen es sich dabei handelt?«

»Nur, dass es eine männliche Person ist. Wie gesagt, bisher sind nur Fragmente aus der Ostsee gefischt worden.«

»Hört sich mies an«, entfuhr es Hinnerk.

»Sie sagen es, Herr Matthiesen. Ich weiß ja, dass Sie Urlaub haben. Es wäre trotzdem gut, wenn Sie uns hier schnellstmöglich unterstützen könnten. Bitte. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Und dann tritt übermorgen ja auch noch die neue Staatsanwältin ihren Dienst an.«

»Blöde Missgeburt! Altes Sackgesicht! Stinkstiefel!«, krächzte Monsieur Tourette lauthals.

»Oh, ’tschuldigung, Herr Matthiesen, ich habe Sie nicht verstanden. Was sagten Sie gerade?«

»Nein! Äh … nichts, Herr Pönitz. Ich … äh … habe nur gesagt, dass ich so schnell wie möglich nach Kiel ­komme.«

Hinnerk hörte, wie der Kriminaloberrat erleichtert aufatmete, und sie verabschiedeten sich voneinander.

Dieser verdammte Vogel! So ein Sabbelkopp! Er zielte mit seinem Zeigefinger auf den Kakadu.

»Peng!«

»Hahahahahahahaha … kirrrrikirrrrr … Arschgeige.«

Monsieur Tourette stellte seine Kopffedern auf, ­wippte mit dem Oberkörper und kreischte lauthals wie ein ­Irrsinniger.

Malin beobachtete Hinnerk die ganze Zeit über. Sie machte ein enttäuschtes Gesicht und zog einen Schmollmund.

»Hinnerk, sag, dass das nicht wahr ist! Wir wollten morgen für ein paar Tage zu meiner Mutter nach Småland fahren«, sagte sie traurig.

»Asshole! Stupid Idiot! Geh kacken!«, mischte sich der Kakadu ein.

Nun mussten sie beide unwillkürlich lachen.

Hinnerk ging zu Malin und nahm sie in den Arm, ­dabei küssten sie sich leidenschaftlich. Er schob die schlanke Frau Richtung Schlafzimmer. Der olle Pönitz konnte noch etwas warten.

»Fuck you, crazy Bastard! Kriiikriiikriii!«