Pentamuria-Saga Band 2

Ringwalls Untergang

Wolf Awert



zuerst erschienen bei Zaptos Media 2015

Cover Zaptos Media

Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck

49740 Haselünne

2020

ISBN 978-3-95959-175-1

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Weitere Bücher der gleichen Serie


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Pentamuria-Saga Band 1

Die Macht der Magier

Wolf Awert



zuerst erschienen bei Zaptos Media 2016

Cover Zaptos Media

Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck

49740 Haselünne

2020



Pentamuria, die Welt der fünf Königreiche, befindet sich im Wandel. Die Macht der Magier und der Adeligen wird bedroht. Krieg steht den Magiern bevor, doch wann und gegen wen, das wissen sie nicht. Darum sammeln sich die Magier in ihrer Hauptstadt, Ringwall, um sich gemeinsam auf jeden nur denkbaren Feind vorzubereiten. In diesen Tagen wird das Findelkind Nill von Druiden entdeckt. Seine magischen Fähigkeiten sind beachtlich, und so bringt man ihn nach Ringwall, wo er zusammen mit anderen Schülern zum Magier ausgebildet werden soll. Noch ahnt niemand, dass ausgerechnet in Nills Kräften der Schlüssel zum Schicksal Pentamurias liegen könnte.



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Pentamuria-Saga Band 3

Die Säule des Lichts

Wolf Awert



zuerst erschienen bei Zaptos Media 2016

Cover Zaptos Media

Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck

49740 Haselünne

2020



Nach dem Fall Ringwalls liegt Pentamuria in Trümmern. Die Magie der Elemente stirbt aus und das Feuerreich beginnt einen gnadenlosen Eroberungszug.

In dieser Situation liegt es an Nill, dem letzten Erzmagier und möglichen Wandler, Ordnung in das Chaos zu bringen und Sergor-Don aufzuhalten.

Doch der König des Feuerreichs ist nicht die einzige Bedrohung.

Ein neuer, unglaublich mächtiger Magier, der sich selbst "Säule des Lichts" nennt, fordert zusammen mit seinen Anhängern die Herrschaft über Pentamuria und zwingt Nill sich zu entscheiden.




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Kapitel XX


Dakh, Ihr habt von dem einen Punkt gesprochen, an dem die Linien der Zeit sich treffen wollten. Ist das jetzt der Punkt?“, fragte Nill den Druiden, als sich alle am nächsten Morgen an dem Ufer des Sees versammelt hatten und darauf warteten, dass der helle Kupferton über dem Horizont durch das Licht der Sonne ersetzt würde. „Wir sind hier alle zusammen, auch Sedramon-Per. Ich weiß, wer meine Eltern sind, wie das Nichts in die Welt kam und vieles mehr.“

Dakh schaute von einem zum anderen. „Das könnte man meinen, wenn da nicht König Sergor-Don wäre. Er ist der Wandler, der Ringwall gestürzt hat. So jedenfalls sieht es aus. Aber König Sergor-Don hat nichts mit uns zu tun, außer, dass er mit dir, Brolok und Tiriwi in Ringwall die Zauberei studierte. Vielleicht findest du die Antwort in dem Buch Kypt, dem einzigen Buch, dass es noch zu lesen gibt.“

„Von dem Wandler und der Legende der Gestalt aus dem Nebel habe ich gehört“, sagte AnaNakara. „Aber es ist keine Geschichte der Oas. Wir kennen den grünen Mann, und die Oas aus der Wasserwelt erzählen seine Geschichte. Er steht in seinem schmalen Boot, das er über die stillen Wasserläufe der Sumpfwelt stakt. Wenn die Zeit gekommen ist und man ihn braucht, dann treibt er sein Boot die Flüsse hinunter und auf das Meer hinaus. Die Wellen vor ihm ziehen sich zurück, so dass er wie auf einem stillen See dahingleitet. Er verschwindet in der aufgehenden Sonne und kehrt erst am nächsten Morgen aus der Sonne wieder zurück. Wenn er dann wieder in den Sümpfen verschwindet, sind alle Sorgen gelöst.“

„Gibt es einen so mächtigen Wasserzauber, dass das Meer stillstehen kann? Und dass man auf dem Meer staken kann, ist ein Gedanke, der in meinem Kopf keinen Platz finden will. Der höchste Baum als Ruder wäre nicht lang genug, und kein Arm stark genug ihn zu halten“, bemerkte Nill.

„Man darf diese Legenden nicht so wörtlich nehmen“, lachte AnaNakara und zerzauste ihm die Haare. Aber Nill blieb nachdenklich. Zu viele Wahrheiten waren in den alten Legenden verborgen. Die Magier hatten bei der Legende des Mannes aus dem Nebel jede Einzelheit für wichtig erachtet. Warum sollte man es hier nicht ebenfalls tun?

„Du hast es selbst gesagt“, beruhigte AnaNakara ihn. „Keine Stange wäre lang und kein Wasserzauber stark genug, das Meer zu bändigen.“

„Mal etwas ganz anderes“, sagte Brolok. „Meint Ihr, ich werde Galvan wieder treffen? Es gibt da noch einen unerledigten Traum, der mich hin und wieder heimsucht. Na ja“, sagte er, als er in Dakhs neugierige Augen blickte. “Ist irgend so ein Kampf. Weiß nicht so recht, aber Galvan ist dabei und stützt die linke Seite meines Schildes ab.“

„Du bist ein guter Schmied“, antwortete der Druide. „Wo anders als in der Metallwelt soll so ein Schmied wie du arbeiten? In der Metallwelt lebt dein Vater, der dir noch vieles beibringen wird. Und in der Metallwelt ist die Harmonie zwischen dir und dem Königshaus noch nicht wieder eingekehrt. Du wirst es herausfinden.“

„Harmonie noch nicht wieder eingekehrt. Das habt Ihr schön gesagt. Wenn ich in Fugmanns Hort einreite, wird man mich einfangen und die Schärfe magischer Klingen an mir erproben“, knurrte Brolok.

„Schaut“, unterbrach Sedramon-Per die Unterhaltung. „Die Sonne erhebt sich.“

Wenn im Sumpfland die Sonne das Land bescheinen will, muss sie den hohen Nebel um Erlaubnis bitten. Manchmal, und nur manchmal erteilt er sie nach zähem Ringen. Manchmal aber auch gar nicht. Und so kleidet sich jeder Morgen in ein silbrig graues Kleid und schüttet sein Silber aus über jedes Wasser, das zum Himmel aufblickt. Der See vor ihnen war einer dieser vielen flachen Seen, zu denen sich die Wasserläufe immer wieder verbreiterten, wenn die Strömung sich auszuruhen trachtete und das Wasser von ihrer Fracht aus abgefallenen Blättern und dem Schlamm des letzten Regens befreite.

Der See lag wie aus Blei gegossen vor ihnen. Nichts bewegte sich in diesem magischen Moment des frühen Tages.

„Hier also liegt das Buch Mun?“, sagte Dakh in einem Tonfall, der zwischen Frage und zufriedener Feststellung lag. „Hier in diesem flachen See. Ich glaube, ich hätte noch unzählige Winter damit verbringen können, diesen Ort zu finden. Hier sieht ein See aus wie der andere und hat man einen Erdhügel kennengelernt, glaubt man, alle zu kennen.“

„Nein, nicht in diesem See“, antwortete Sedramon. „Das Buch Mun liegt auf ihm.“

Und bevor Dakh, Morb und Nill noch fragen konnten, blitzte der See unter der ersten Berührung der Sonne golden auf, und Sedramon führte die Hand zum Mund und blies der Sonne einen Kuss zu. Oder gebührte diese leichte Geste dem hohen Nebel und dessen Großzügigkeit, oder galt er dem Wasser? Nein, keinem von beiden. Sedramon-Per hatte den Wind gerufen, denn wie aus dem Nichts erhob sich ein leichter Wind und schenkte der stillen Seefläche ein paar Kräusel.

„Dort seht ihr Mun“, sagte Sedramon und zeigte auf die Wasseroberfläche, die nun funkelte und strahlte, dass es eine Pracht war. Sie alle sahen, wie die winzigen Wellen das Bild der Sonne auf der Wasseroberfläche in goldene Scheiben, scharf gezackte Haken, und plump geformte Bänder zerriss. Nill war der Erste, der verstand, was geschah.

„Schaut!“, rief er aus. „Das Buch Mun wird jeden Tag neu geschrieben. Es ist die Sonne, die es auf das Wasser schreibt, so wie der Hüter der Quelle seine Geschichten in den Sand schrieb.“

Es war ein anstrengendes Stück Arbeit, die Botschaft zu lesen. Die Zeichen verlöschten so schnell, wie sie geschrieben wurden, und tauchten an anderer Stelle wieder auf. Hätte Nill nicht mittlerweile die alte Schrift so gut beherrscht, er hätte mehr als einen Morgen benötigt, das Buch zu lesen. Endlich nickte er zufrieden.

„Viel ist es nicht, was dort steht.“

„Sag es uns oder lies es uns vor“, bat Dakh-Ozz-Han. „Du weißt, diese Schrift ist mir fremd.“

„Das Buch sagt nichts anderes, als dass das vierte Elemente Luft aufhört zu sein, dass sich die Elemente neu ordnen werden, die Luft sich aufteilt in Feuer, Wasser und das neue Element Metall. Ach ja, und das Holz wird nun dazu kommen, das seine Magie der Welt bisher noch nie dargeboten hatte. Das ist schon alles.“

„Das ist so wenig, dass ich mich frage, ob das, was wir überall gefunden haben, wirklich die Bücher der Prophezeiung sind.“ Dakh-Ozz-Han schien enttäuscht.

„Nein, das sind sie nicht“, antwortete Sedramon-Per. „Es sind Überbleibsel, Notizen eines großen Geistes. Geblieben sind nur die einhundertachtundzwanzig Geschichten des Hüters der Quelle in ihren acht Darstellungen. Und doch glaube ich, dass es die Bücher der Prophezeiung noch gibt. Wenn Eos ein Wächter der Flammen an die Seite gestellt wurde, dann ist es möglich, dass auch neben dem Feuer im Fels, von dem Nill berichtet hat, die vollständige Prophezeiung noch erhalten ist. Vielleicht auch dort nur in Geschichten, die weitererzählt werden. Ich weiß es nicht, denn die Randwelt der Flammen ist mir verschlossen. Vielleicht sind die Bücher aber auch tatsächlich schon lange verloren und wir müssen uns mit dem begnügen, was wir gefunden haben.“

„Es steht noch etwas in Mun.“

Nill schluckte und ließ den Kopf hängen. Niemand bedrängte ihn zu berichten, was Mun noch zu sagen hatte, wusste doch jeder, dass es nichts war, was die Seele erfreute.

„Das Ende der Magie der fünf Elemente. Diese Magie wird zerbrechen an ihrer eigenen Hybris. Wer sich unüberwindlich vorkommt, wird überwunden werden. Und am Ende wird Ringwall fallen.“

„Dann wissen wir alles, nur nicht, wie es weitergeht“, sagte Dakh-Ozz-Han. „Sedramon und du, ihr habt alles gefunden, bis auf das Buch Kypt.“

„Kypt ist das wichtigste der Bücher“, sagte Sedramon-Per. „Alle anderen Bücher deuteten die Zukunft aus einer so fernen Vergangenheit, dass mittlerweile aus der Zukunft Legenden geworden sind. Die fünf Bücher sind in den fünf Königreichen verteilt. Nur in Erdland haben wir nichts gefunden, aber ohne einen Hinweis dorthin zu ziehen und zu suchen, ist aussichtslos. Hast du eine Ahnung, wo wir suchen sollen?“ Sedramon-Per sah Nill an, doch bevor dieser antworten konnte, fiel der alte Druide ein:

„Warum sollte das Buch in Erdland sein? Als die Bücher geschrieben wurden, gab es weder die fünf Königreiche noch die Magie der fünf Elemente.“

„Eine bemerkenswerte Einsicht von einem Druiden, dessen Welt aus den fünf Elementen besteht“, scherzte AnaNakara.

Dakh seufzte. „Meine Wunde schmerzt mich schon genug. Ihr braucht nicht noch zusätzlich das Salz des Spottes hineinzustreuen. Sagt mir lieber, warum das letzte und entscheidende Buch in Erdland liegen soll.“

„Weil das die einzige Gegend ist, in der wir nichts Entsprechendes gefunden haben. Überall sonst, in jedem Königreich fand sich genau ein Buch und nur ein Buch der Prophezeiung“, antwortete Nill.

„Beinahe, mein Junge.“ Sedramon-Per machte ein wissendes Gesicht.

„Im Feuerreich gab es zwei Bücher, das der Schöpfung und das Buch Eos.“

„So bleibt das letzte Buch wohl ein endgültiges Rätsel.“

„Nein, das letzte Buch, so sagten es die Geschichten des heiligen Mannes, liegt im Zentrum der Welt. In der Mitte oder nahe der Mitte aller Magie unserer Welt.“

„Im Knor-il-Ank!“, triumphierte Nill.

„Ja, in Ringwall. Der Olvejin sollte den Weg weisen, bevor er verloren ging, aber es besteht kein Zweifel. Das Buch Kypt liegt in Ringwall“, stellte Sedramon fest.

„Und Ringwall ist zerstört“, sagte Nill mit flacher Stimme.

„Erneut schließt sich der Kreis“, sagte Dakh.

„Aber wo in Ringwall?“, wollte Morb-au-Morhg wissen. „Sedramon, Ihr wart doch viele Winter dort.“

Nill gab sich einen Ruck.

„Ich weiß, wo ich es finde. Ich muss sofort zurück. Zurück nach Ringwall. Ramsker komm, morgen brechen wir auf.“





Ende des zweiten Bandes der Trilogie


Inhaltsverzeichnis
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
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Die Macht der Magier
Die Säule des Lichts


Kapitel I


Sein Kreuz schmerzte. Der Nacken fühlte sich steif an, und das rechte Handgelenk schrie Königsmord und Beulenpest, weil er sich zu lange darauf abgestützt hatte. Seit Stunden schon hockte Nill, jüngster Erzmagier in der langen Geschichte Ringwalls, auf dem Felsboden einer gewaltigen Halle, die vor unzähligen Generationen in den Kern des Knor-il-Anks hineingebohrt worden war.

Knor-il-Ank! Schäbig abgetragener Rest des ersten Berges der Welt, der sich aus dem tiefsten Inneren der Erde kühn und unerschrocken bis in den Himmel empor erhoben hatte, um für einen winzigen Augenblick die Erde mit dem Kosmos zu verbinden. So jedenfalls erzählten es die Legenden, deren ständiges Spiel mit Wahrheit und Fantasie nicht nur den Erzmagiern in Ringwall, sondern auch den weisen Frauen der Oas und den Ältesten der Druiden so manches Rätsel auferlegte. Aber selbst wenn die Legenden in diesem Punkt die Wahrheit sprachen, so war doch alles schon sehr lange her. Heute war der Knor-il-Ank nicht mehr als nur noch der abgerundete Schädel eines alten Mannes, auf dem wie ein königlicher Stirnreif das geheimnisvolle Ringwall erbaut war. Ringwall, die Stadt der Magier, war keine Stadt wie die fünf Königreiche sie sonst kannte, kein Gewirr von Häusern und Straßen um den Palast eines Regenten gedrängt, um aus dessen Bedeutung einen Nutzen zu ziehen. Nein, Ringwall selbst war eine gigantische Doppelmauer. Und hinter dieser Mauer ruhte allein der flache Gipfel eines alten Berges. Die Mauer war die Stadt.

In Nills Nacken knirschte es, als er seinen Kopf hochnahm und seinen Blick in einem Bogen durch die Weite der Halle schweifen ließ. Nie würde er aufhören können, zu staunen über das, was er hier sah.

Die eine Hälfte der Halle lag in einem so gleißenden Licht, dass die unzähligen dunklen Schriftzeichen einen flirrenden Tanz aufführten. Die andere Hälfte verschluckte das Licht und umschloss es mit Finsternis. Einzig die schimmernden Glyphen, deren Gold Erzadern gleich in der Tiefe des Gesteins versank, belebten das Dunkel. Nill konnte sich nicht sattsehen an diesem Licht, denn es war weiß wie das Innere der Sonne, vor dem die Menschen den Kopf abwenden, aus Furcht blind zu werden. Doch mehr noch faszinierte ihn die Dunkelheit, weil sie mehr war als etwas, das vom Licht nicht berührt wurde. Sie war eine eigene Kraft, und Nill fragte sich, ob sie es nicht war, die darüber entschied, wo das Licht scheinen durfte und wo nicht. Licht war Licht, aber die Dunkelheit war kein Schatten.

Säulen trugen die Decke mit unerschütterlicher Kraft. Sie standen in strenger Würde, und von der Halle aus waren acht weitere Säle in die Wände hinein geschmolzen. Und jeder Saal führte in zwei weitere Säle und von dort in zwei weitere Säle, bis am Ende, im äußersten Kreis, einhundertachtundzwanzig Kammern die Halle begrenzten.

Und alles, die Kammern, die Hallen, Böden wie Decke und selbst die Säulen waren mit Schriftzeichen bedeckt, als sei es ihr einziger Zweck, den Zeichen einen Wohnort anzubieten, in dem sie sich austoben konnten. Jedenfalls kam es Nill so vor, denn die Zeichen hingen zwar aneinander, aber sie bildeten Kreise, Spiralen und wilde Zackenmuster, immer bereit, die Richtung zu ändern. Gerade Linien, wie Gebildete sie von Schriftrollen her kannten, waren so selten wie ein gütiges Lächeln auf den Lippen eines Erzmagiers.

„Was nutzt es mir“, fragte sich Nill, „dass ich gelernt habe, die Zeichen zu lesen, wenn ich die Ordnung nicht verstehe, der sie sich beugen. Es ist, als würde ich mit einem Dolch zwischen die Seiten eines Buches der Magie stechen, es auf einer beliebigen Seite aufschlagen, dort mit meinem Finger auf irgendein Wort tippen und anfangen zu lesen. Hoffnungslos! Ich werde wohl mein ganzes Leben in dieser Halle verbringen müssen, um alles zu lesen, was Generationen von Magiekundigen hier hinterlegt haben, und zwei weitere Leben, um es zu verstehen.“

Doch waren die Zeichen Nills kleinstes Problem. Viel mehr beunruhigte ihn, dass es die Magie von Licht und Schatten überhaupt gab, denn die Kraft, mit der der Knor-il-Ank Ringwall beschenkte und darüber hinaus ganz Pentamuria erfüllte, war die Magie von Feuer und Erde, Metall, Wasser und Holz. Wie konnten zwei magische Welten nebeneinander bestehen, wenn die Magie die Natur aller Dinge war und es nur eine Welt gab, in der sie alle lebten?

Dakh-Ozz-Han hatte ihn gelehrt, dass der Gegner der Wahrheit stets eine andere Wahrheit ist, nicht die Lüge. Aber konnten zwei Wahrheiten neben- und miteinander leben?

Die Magie hier im Bauch des Knor-il-Ank war alt. Sie roch nach Vergangenheit, Vergessen und Verlassenheit und erinnerte Nill an stille Waldtümpel voll abgestandenen Wassers.

Magie und Stille waren Nills Feinde hier. Die Magie war zu stark, und in das Innere des Knor-il-Anks verirrte sich kein Laut. Selbst das leise Wispern und Rascheln, das durch Nills gelegentliche Bewegungen ausgelöst wurde, zog sich schnell und furchtsam wieder zurück. Die Stille blieb lange unbemerkt wie der Dieb in der Nacht und legte sich wie ein niemals endender Schneefall über alles, das nicht fliehen konnte. Weißer Friede in der Höhe, doch ein Leichentuch für alles, was darunter lag. Nills Rücken war krumm, sein Nacken gebeugt und seine Knochen ächzten unter dem Druck. Er musste sich wehren, oder diese niederdrückende Last würde ihn unter sich begraben.

Wie so oft half ihm sein jugendlicher Übermut. Er atmete tief ein und zerriss das Schweigen mit dem gellenden, herausfordernden Geschrei des Felsspötters. Für den Menschen klang dieses laute Keckern wie ein irres Gelächter, und schon mancher Wanderer, der sich in den Schluchten der Metallwelt verirrt hatte, soll davon in den Wahnsinn getrieben worden sein.

„Hehehehää!“

Die Weite der Halle schluckte den Schall mühelos, und Nills zweiter Ruf klang bereits etwas mutloser. „Hehehää!“ Doch wie immer, wenn Nill zu verzweifeln begann, regte sich irgendwo in ihm ein kleiner widerborstiger Kern, der nicht bereit war, sich zu ergeben. „Hehehehehää!“ Und noch einmal „Hehehehää!“ Nills Rufe wurden lauter und lauter, bis er mit seinen Rufen auch all seine Verzweiflung aus sich herausschleuderte. Der Schall brach sich an den Säulen, überschlug sich und brandete zurück, traf auf den nächsten Ruf und gemeinsam rasten sie erneut den Fels entlang, rieben sich trotzig am glatten Stein und vertrieben durch ihre schrille Lautstärke die Weite, die Einsamkeit und das eingeschlafene Alter von einer vor sich hinbrütenden Zeit.

Nill musste lachen. Nichts hatte sich durch seine Schreie in dieser Halle verändert. Sie war wie zuvor gewaltig, weit und unbegreiflich. Aber er fühlte sich nun besser. Er streckte die müden Gelenke, sprang auf und suchte die Wand nach dem Ausgang ab.

„Für heute ist es genug“, sagte er sich. „Genug, so wie es gestern genug war und vorgestern und an all den anderen Tagen vor dem Gestern.“

Es gab keine Tür zu der Halle, und wer das Geheimnis des Felsgesteins nicht kannte, konnte die Halle weder betreten noch verlassen. Nill wischte mit der Hand über den Fels und schrieb mit den geschlossenen beiden ersten Fingern der rechten Hand zwei Zeichen auf den Stein. Dann wartete er. Ein sanftes Zittern verriet ihm, dass der Knor-il-Ank ihn verstanden hatte. Aus dem Zittern wurde ein Beben, der Fels knackte, und das Gestein zerbrach. Das Echo fallender Gesteinsbrocken irrte zwischen den Säulen und in den acht Sälen herum. Eine schwarze, unruhige Linie schoss Haken schlagend vom Boden bis an die Decke, und endlich, mit einem saugenden Geräusch, halb Stöhnen, halb Seufzen, öffnete sich der Riss zu einem Spalt. Nill quetschte sich seitwärts hindurch, wobei er gut aufpasste, dass er nicht mit einem Teil seiner Kleidung irgendwo hängen blieb.

Mit einem erleichterten Ausatmen fügte sich das Gestein wieder zusammen, und der Fels erbebte ein zweites Mal. „Wenn der Berg sich rührt, müsste ganz Ringwall erzittern“, überlegte Nill, aber er hatte noch nie gehört, dass jemand darüber gesprochen hätte. „Ob überhaupt jemand ahnt, wo ich bin?“, fragte er sich.

Er ließ eine blasse Lichtkugel vor sich herwandern und bewegte sich raschen Schrittes durch den Gang der Schwäche zu dem großen Eingangstor, das seine eigene Geschichte hatte. Es wurde durch ein magisches Siegel geschützt und von einem kleinen Drachen der Urzeit, dem Falundron, bewacht. Zweimal war das Siegel bisher gebrochen worden, und beide Male waren Magier dabei umgekommen, denn der Gang der Schwäche zog den Kundigen erst die Magie und dann die Lebenskraft aus dem Körper. Nur Nill konnte sich in dem Gang frei bewegen.

Fünf Schritte vor dem Eingangstor erstickte Nill seine Leuchtkugel und tastete sich nun in völliger Dunkelheit vor.

Nur in den Katakomben war er sicher. Überall sonst in Ringwall musste er um sein Leben fürchten. Ein schwacher Trost für ihn, dass auch die Magier Angst hatten. Es war erst wenige Winter her, dass es den Weisen dieser Welt gelungen war, in uralten Legenden und Liedern, Mythen und Sprüchen die Scherben und Splitter einer Prophezeiung wiederzufinden und zusammenzufügen. Und als ihnen das gelungen war, schauten sie in den Spiegel ihrer eigenen Bestimmung. Was sie da sahen, war ihr Untergang.

Das Werkzeug des Schicksals war der Wandler, der große Veränderer, aber wer dieser Wandler war, wussten die Magier nicht, denn bisher hatte ihn nur der Magon in seinen Visionen erblickt. Aber es gab Magier in Ringwall, die sich sicher waren, dass Nill dieser Wandler war.

„Nichts wird mehr sein, wie es einmal war“, lautete die Prophezeiung.

War jemand auf der anderen Seite der Tür?

Das war die Frage, die Nill sich jedes Mal stellte, wenn er die Halle der Zeichen verließ. Eine Explosion der Elemente, zu schnell für einen Gegenzauber, und Ringwalls Probleme wären gelöst. Zumindest in den Augen einiger Magier.

Nill streichelte das große Tor und lauschte auf den Atem des Holzes. Bei dem leichtesten Kontakt mit einer anderen Präsenz würde er sich zurückziehen. Sein Rang als Erzmagier bot keinen Schutz. Er war noch lange kein vollwertiger Magier. Selbst gegen einen ganz normalen Zauberer würde er im Kampf nicht bestehen können.

So nahm Nill sich alle Zeit, magischen Ausdünstungen hinterherzuspüren, und erst, als er sich wirklich sicher war, hier unten allein zu sein, lehnte er sich mit der Schulter gegen die Torflügel und stieß sie auf. Er durchschritt den Torbogen, stieg behutsam über die hochgezogene Türschwelle, die Wesen aus der anderen Welt den Zugang verwehren sollte, und gestattete der Tür, sich wieder hinter ihm zu schließen.

„Geschafft. Einen weiteren Tag erfolgreich hinter mich gebracht.“

Nill versuchte, sich Mut zu machen. Aber, in Ringwall zu überleben, war nur der Anfang. Er musste hinter das Geheimnis der Prophezeiung kommen.

Er verriegelte das mächtige Türschloss und zuckte zusammen, als ihn ein kehliges Zischen aus seinen Gedanken riss. Auf Schloss und Riegel saß, wie aus rostigem Eisen gehauen, das Falundron. Nill wartete darauf, dass die Echse das magische Siegel aus den fünf Schichten der fünf Elemente wiederherstellte. Wer immer diese Tür öffnen wollte, musste zunächst das Siegel entfernen und kämpfte dabei gegen dessen Hüter. Selbst der größte Magier musste dabei unterliegen, wenn er es allein und ohne Hilfe versuchen wollte.

Doch dieses Mal dachte das Falundron nicht daran, seinen Dienst zu verrichten. Der Drache, dessen starre Unbeweglichkeit ihn als Teil der Tür erscheinen ließ, hielt seinen Rachen weit geöffnet. Sein Zischen hatte sich in ein heiseres Fauchen verwandelt, unter dessen Ansturm sich Nills Haut am Hinterkopf und im Nacken so sehr zusammenzog, dass selbst seine Ohren flach an den Schädel gepresst wurden.

Der Kopf der Echse pendelte im Gleichgewicht der auf der Stelle tretenden Füße hin und her. Die Spitzen der Rückenstacheln sonderten nass glänzende Gifttropfen ab, der Schwanz war drohend nach vorn erhoben und zuckte, als wolle er jeden Augenblick zustoßen. Auch die Tür war unter den trampelnden Krallen zum Leben erwacht. Sie ächzte und seufzte und krümmte sich dermaßen, dass Schloss und Angeln sie kaum noch halten konnten. Nill sah, wie die Magie die alten Holzfasern auseinanderriss und wieder miteinander verschmolz. Er fühlte die Luft über der Tür immer dichter werden, sodass selbst das Atmen schwer wurde. Alle Kräfte von diesseits und jenseits der Tür schienen zusammenzuströmen und sich im Türschloss unter dem Falundron zu vereinen.

„Wenn du doch sprechen könntest“, seufzte Nill. Aber Mensch und Drache waren zu verschieden. Nur auf der untersten und primitivsten Ebene ihrer Gehirne, dort, wo die Gefühle zum Leben erweckt wurden, wo die Angst sich verkroch, der Hass explodierte, aber auch wo das Vertrauen wuchs, war es ihm gelungen, eine Verbindung zu diesem seltsamen Wesen herzustellen. Zischen, Fauchen und Knurren verstand Nill nicht. So schloss er die Augen und tastete sich mit seinem Geist an das Falundron heran. Er schickte Bilder von Wärme, Freundschaft und schließlich Liebe in das dumpfe Gehirn. Das Falundron spürte die Berührung, drängelte und schob, und, als Nill nicht verstehen wollte, antwortete es mit Magie. Nill flog zurück und wurde von der Stärke des magischen Bandes wieder herangezogen. Die Magie des Falundron war nicht die der Magier.

„Es ist, als wenn es eine Magie innerhalb der Magie gäbe“, seufzte Nill. „Wie soll ich das verstehen, wo ich doch schon mit den fünf Elementen so meine Schwierigkeiten habe?“

Der Körper schaukelte nun wild über den trampelnden Beinen. Lichtreflexe tanzten über das zerrissene Leder des Echsenpanzers, einer Landschaft mit Klüften und Spalten, wie mit einer Handaxt hineingeschlagen. Mit Narben und zerfurchten Wülsten, die sich trotzig einem Schwert entgegen zu recken schienen, und mit zerbrochenen Linien, die die Trümmer kaum noch erkennbarer Formen zu halten versuchten. Und doch war alles ganz anders. Der Panzer des Falundron trug als lebendes Buch die Glyphen einer alten Macht. Nill konnte sie lesen, aber verstand ihre Botschaft nicht. Doch nun wurden sie vor seinen Augen undeutlich, als aus der Drachenhaut eine magische Aura emporwuchs.

„Wieso ist mir das nicht schon vorher aufgefallen?“

Nill konnte nur den Kopf schütteln über seine eigene Begriffsstutzigkeit. Ein magisches Wesen sollte von einer Aura umhüllt sein, aber das Falundron war bisher immer nackt gewesen.

„Wie versteckst du deine Aura, mein Alter? Würde ich dieses Geheimnis kennen, könnte kein Magier mich jemals aufspüren.“

Die Aura wuchs und wuchs, war milchig grau, dicht gewirkt und verschmolz mit der Luft, sodass niemand sagen konnte, wo sie endete und die Luft begann. Wie hatte Tiriwi, die Oa, immer gesagt? „Dichte Auren ohne klare Farben sind starke, zusammengesetzte Auren und nicht zu lesen.“ Das hier war die Aura eines mächtigen Magiers und nicht der blasse Saum eines Tieres.

Während Nill noch auf die Aura des Falundron starrte, entwickelte sich in ihm eine Idee, die so verrückt und gefährlich war, dass er sie ganz schnell wieder vergaß. Doch manche Ideen lassen sich nicht einfach vergessen. Mit derselben Widerborstigkeit, die auch Nill auszeichnete, bohrte sich diese Idee durch seinen Schädel und wurde immer stärker und klarer.

Die mächtigsten Zauberer vernichteten ihre Feinde, indem sie deren Aura zerstören. Wem es gelang, die Aura seines Gegners zu zerreißen oder sie gar in Gänze abzusaugen, ließ einen hilflosen Idioten zurück. Und niemand konnte voraussagen, ob er seine magischen Fähigkeiten jemals wieder erlangen würde. Aber ein solcher Angriff war gefährlich, denn der Einsatz war die eigene Aura.

Nills Gabe war nicht seine Kraft, aber er konnte Auren schärfer sehen und besser lesen als andere Kundige. Er wollte dem Falundron seine Aura öffnen. Ein Wahnsinn. Ein Versuch, aus reiner Verzweiflung geboren.

Nill suchte erneut eine Verbindung der Gefühle zwischen ihm und dem hin und her schaukelnden Falundron. Gleichzeitig ließ er seine Aura wachsen, bis sie den Rand des magischen Feldes der Echse berührte. Zupfend, prüfend, sich vorsichtig vortastend. Nicht mehr als ein erster scheuer Kuss. Nill hielt inne. Er wollte nicht missverstanden werden. Doch als die Antwort kam, zwang sie Nill in die Knie. Der Schlag ließ ihn sich an dem pulsierenden Holz der Tür abstützen, und er fühlte voller Entsetzen, wie ihm die Wirklichkeit entglitt. Alles, was blieb, war die drängende Ungeduld des Falundron und ein Gefühl, das mit der Zeit zu tun hatte. Und alles war in lodernde Flammen getaucht. Das Falundron drang in seine Aura ein, ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf und in dessen Gefolge überschwemmten Gefühle und Bilder sein Gehirn. Nill konnte das Falundron verstehen.

Es waren weder Worte noch klare Gedanken, die er aufnahm. Es waren Fetzen hingeworfener Bilder, flüchtige Eindrücke, und vor allem waren es Gefühle. Eile, Hast und ein fast körperliches Drängen, das in einem monotonen, treibenden Rhythmus einherkam. „Da da damm, da da damm, es ist Zeit, es ist Zeit, da da damm, nicht viel Zeit, da da damm, nicht viel Zeit, nicht mehr weit, da da damm.“

Der Strom aus Rhythmus und Wortfetzen wollte nicht enden. Oder doch keine Worte? Trommelnder Hufschlag eines galoppierenden Pferdes? Kriegstrommeln?Da da damm, da da damm! Nein, doch Worte! Oder?

Und zwischen diesen hämmernden Schlägen immer wieder die offene Weite der Welt. Schnelle Blicke von hohen Berggipfeln bis weit zum Horizont. Graues Wasser, durchbrochen von treibenden Schilfinseln, wütende Berge unter Asche, die Gesteinsbrocken und Feuer in den Himmel warfen und unter ihrem eigenen Dreck erstickten. Nill sah von der Sonne verbrannte Erde mit einer eisenhart gehämmerten Kruste, die sich keinem Keimling mehr öffnen konnte. Er sah grüne Wälder voller Fruchtbarkeit, mit Ästen und Zweigen so dicht verwoben, dass ihre Welt niemandem zugänglich war. Und immer wieder das Gefühl von Eile und Feuer. Das Falundron schob Nill von sich und der Tür weg, gab ihm einen letzten, schmerzhaften Stoß und erstarrte in erneuter Bewegungslosigkeit. Die Tür erzitterte ein letztes Mal. Der Raum wurde still, und über dem Türschloss verdichteten sich die magischen Schichten des großen Siegels. Alles war wieder so, wie es immer war.

Nills Beine gaben nach. Er fiel in sich zusammen und schlief auf der Stelle ein.


Erst viel später wurde er wieder wach und schleppte sich zu seiner Wohnhöhle, deren Einrichtung unverändert aus nicht mehr als einer Truhe, einem Haufen auf dem Boden liegender Decken und Felle, die sein Nachtlager ausmachten, einem Tisch, einem Stuhl und einem Wasserkrug bestand.

„Passend für einen Zauberschüler“, dachte Nill, „und auch passend für einen Erzmagier des Nichts.“

Er hatte diesen Ort nicht leichtfertig ausgewählt. Seine Wohnhöhle war eine der vielen kleinen Höhlen, die die legendären Gründer Ringwalls in das Gestein des Knor-il-Ank gegraben hatten, um sich dort in der schwarzen Zeit der Verfolgung zu verstecken. Nun lag sie weit genug entfernt von den Quartieren und Logen der anderen Erzmagier. Aber auch tief unter der Oberfläche.

„Ich sollte mich ausruhen, einige Tage etwas völlig anderes machen, aber die Zeit läuft mir davon.“

Nill spürte den Drang und die Eile, die ihn nun antrieb, körperlich, und seine eigene Unrast störte ihn. Er verlangsamte seinen Atem, ließ ihn ruhiger und tiefer werden und versuchte alle Gedanken, die wie wütende Affen in seinem Schädel herumtobten, zu vertreiben, um wenigstens etwas Schlaf zu finden. Vergeblich!

Die Affen blieben und rasten im Kreis herum. „Das Falundron, Schriftzeichen, Perdis, das Amulett, alte Magie, Magie des Nichts, Magie der fünf Elemente, andere Welt, Kosmos und Gedanken, Prophezeiung, Wahrheit, welche Wahrheit, Schicksal und Zeitstrom, Vergangenheit, Beginn der Schöpfung, Magie des Nichts, alte Magie, Magie der Elemente, Nichts, Nichts, Nill das Nichts, Nill, Nill, Ich, Ich, Ich.“ Nill schlug sich die Fäuste gegen den Schädel und der kurze Schmerz zerriss den Spinnenfaden der Gedanken. Er keuchte und schnappte nach Luft.

„Ich war zu lange hier unten. Ich muss raus aus den Katakomben. Die Magie hier bringt mich um.“ Er sprang auf und eilte zu dem Eingangstor, das die Höhlen der Eremiten von dem Rest Ringwalls abteilte. Er wusste, wo und wie er das Durcheinander in seinem Kopf wieder klären und neue Kraft schöpfen konnte. Im heiligen Hain. Aber dafür musste er sein Quartier verlassen und Ringwall durchqueren.

„Was nutzt alle Vorsicht, wenn sie mich umbringt“, sagte er sich. Er verließ die Höhlen der Eremiten und stieg die Stufen hinauf, die ihn in den Eingangsbereich von Ringwall führten. Links von ihm, den Gang hinunter, residierte Gnarlhand, Erzmagier der Erde. Rechts, hinter den großen Speisesälen und dem Küchentrakt, hatte die Loge des Metalls unter seinem alten Feind Bar Helis ihre Räume. Vor ihm lag der Weg in die Welt außerhalb von Ringwall, in die Sonne, das Licht und hinein in die Geräusche von Wind und Leben. Doch das war nicht sein Ziel.

Nills Weg zum heiligen Hain von Ringwall führte ihn zur entgegengesetzten Seite der Stadt in die Nähe der Loge des Holzes. Er durchschritt eine Folge von Portalen und fand sich bald vor dem Kreis der fünf magischen Symbole wieder. Die Basaltsäule für die Erde, der schimmernde, zusammengesetzte Kristall für das Element Metall, der murmelnde Brunnen für das Wasser, der Baum für das Holz und die ewige Fackel für das Element Feuer. Sein Element, das Nichts, befand sich in der Mitte der fünf anderen und alles, was darauf hinwies, dass es existierte, waren blasse Farben, unscharfe Konturen und ein tiefes Gefühl der Leere.

Nill betrat das Heiligtum auch heute noch mit derselben Ehrfurcht, die er einst als Zauberschüler verspürt hatte. Hier residierte die Magie der fünf Elemente in ihrer reinsten Form. Er wünschte sich, er würde sie besser beherrschen, aber die Kunst der Magie brauchte neben der Gabe selbst Handwerk, Übung und viel Erfahrung.

Nill sog die Stille des Ortes in sich auf wie die Erde den Tau des frühen Morgens. In der Stille war er allein und nur verbunden mit der Magie dieses Ortes. Doch das Alleinsein wohnt neben der Einsamkeit, die ihn an diesem Ort unerwartet plötzlich überfiel. Er musste aufpassen, dass aus der Einsamkeit nicht Verlassenheit wurde. Nill gab sich einen Ruck.

„Ich habe es selbst so gewollt. Ich habe mich für Ringwall und für die Magie entschieden.“


Das Heiligtum war selten leer. Immer wieder suchten weiße Magier wie die Buntkutten der Logen diesen Ort auf, denn nur hier waren die fünf Elemente in all ihrer Reinheit zu spüren. Nill sah das flammende Rot eines Magiers aus der Feuerloge und das Blau eines Wassermagiers, das sich schnell und unauffällig zurückzog. Niemand suchte freiwillig die Nähe eines Erzmagiers, auch wenn dieser wie Nill noch ein halber Junge war. Nill schaute nicht länger als die Dauer eines halben Atemzuges hinter ihnen her, bevor er in den inneren Kreis der fünf Symbole trat und sich dort auf dem blassen Gras niederließ.

Seine Gedanken verflüchtigten sich, von seinen Gefühlen wurde er vergessen, und sein Körper ging verloren. Einzig sein Ich schwebte noch eine Zeit lang über dem Gras, bis auch das sich auflöste. Das Nichts als Ende aller Dinge war gekommen, ihn zu holen, und das Nichts als Anfang der Welt schleuderte ihn wieder in die Welt zurück. Die Spuren der alten Magie waren aus seinem Körper geflohen, seine Gedanken hatten sich beruhigt, und die unruhige Erschöpfung war einer großen Müdigkeit gewichen. Kurz bevor er auf die Seite fiel und einschlief, gluckste noch ein leichtes Lachen in seiner Kehle. Er, Nill, Erzmagier und damit Beherrscher des Nichts. Ein Scherz, den wahrscheinlich nur er selbst verstand. Seine einzige Meisterschaft bestand darin, sich dem Nichts zu ergeben, damit es ihn holte. Wer konnte da noch Zweifel haben, wer hier Meister und wer Knecht war. Nill lächelte im Schlaf. Die prüfenden Augen, die auf ihm ruhten, bemerkte er nicht.

In einer dem Eingang entfernt gelegenen Ecke, im unruhigen Schatten des Holzelements, stand ein alter Mann in einer unansehnlichen, grauen Kutte, deren Oberfläche sich in ständiger Bewegung befand. Unter der gewaltigen Last vieler Winter hatte sich sein Rücken gebeugt, und der roh behauene Stab der Magier diente ihm mehr als Stütze denn als magisches Werkzeug. Seine Lippen murmelten im stillen Selbstgespräch vor sich hin, und die Worte entströmten dem Mund in einem unendlichen Fluss. Seine Augen waren nicht zu erkennen. Sie hatten sich halb geschlossen tief in den Schatten ihrer Höhlen zurückgezogen. Es war ein friedliches Bild. Der alte Mann und der schlafende Junge.

Nill begann sich zu rühren. Seine Augenlider ließen ihre Wimpern wie durchsichtige Flügel vibrieren, und die Füße zuckten.

„Ich grüße Euch, Bruder im Geiste.“ Der alte Magier trat so lautlos und unerwartet aus dem Schatten hervor, dass Nill erschrak. Er hatte den Bruder nicht bemerkt und fragte sich, wie es möglich war, sich so unauffällig zu bewegen.

„Auch ich grüße Euch, Murmon-Som.“ Nill vermied sorgsam die Anrede „Bruder“, denn der Erzmagier der anderen Welt ließ ihn schaudern, ohne dass er einen Grund dafür angeben konnte. Nach seinem Sieg über Mah Bu in der Bibliothek Ringwalls hatte ein neuer Erzmagier der anderen Welt gewählt werden müssen. Der Hohe Rat von Ringwall entschied sich für Tofflas. Aber Bruder Tofflas siechte schnell dahin. Für jedermann sichtbar verlor er täglich ein Quäntchen seiner Lebenskraft, ohne dass er etwas dagegen hätte unternehmen können. Einige der Erzmagier fühlten sich beunruhigt und befürchteten einen Angriff auf den Rat, andere sahen einen persönlichen, noch nicht beendeten Konflikt und missbilligten lediglich, dass der Angreifer sich nicht zeigte. Aber ein frisch berufener Erzmagier, der nicht in der Lage war, sich selbst zu schützen, konnte auch dem Rat nicht dienen. Und so überließ man Tofflas seinem Schicksal.

Nachdem auch Tofflas die Welt der Lebenden verlassen hatte, folgte ihm Murmon-Som auf den Stuhl. Es war nicht viel Zuversicht im Rat, dass dieser alte, immer etwas leidend ausschauende Magier dort lange verweilen würde. Zur Überraschung aller fand er wohl doch einen Weg, sich zu behaupten. Böse Zungen sagten ihm nach einiger Zeit sogar nach, dass er es gewesen sei, der Tofflas aus dem Weg geräumt habe.

Nill wartete mit der Höflichkeit des Jüngeren einige Herzschläge, aber Murmon-Som schien seinem Gruß nichts Weiteres hinzufügen zu wollen. Er blieb einfach stehen, rührte sich nicht und blickte Nill schweigend und durchdringend an, bis diesem unter dem strengen Blick immer unbehaglicher zumute wurde. Mehr, um überhaupt irgendetwas zu sagen, als dass er über seine Worte nachdachte, murmelte er: „Ist Bruder im Geiste nicht etwas zu würdevoll für jemanden wie mich? Es ist kein Geheimnis, dass ich kein richtiger Erzmagier bin. Ich führe keine Loge an und bin nicht viel mehr als ein Jungzauberer. Ich bin wahrscheinlich der schwächste Erzmagier, der jemals im Rat vertreten war.“

Nill lächelte etwas mühsam, denn er wusste schon bei seinen ersten Worten, dass ihm sein Scherz nicht gelingen würde.

Murmon-Som machte eine schlaffe Handbewegung, als wolle er Fliegen oder üblen Geruch verscheuchen. „Ihr selbst seid das Geheimnis, Bruder im Geiste. Euer Mitschüler Prinz Sergor-Don hatte wenig Mühe Euch zu besiegen. Das war in der Tat kein Zeichen von Stärke. Und trotzdem ist es Euch gelungen, das Turnier gegen so mächtige Zauberer zu überstehen wie den großen Morb-au-Morhg oder den alten Infiralior. Ihr seid der Aufmerksamkeit der Hexenzwillinge Binja und Rinja entgangen, und auch Malachiris, die Zauberin des Holzes, hat euch keinen Schaden zugefügt. Und nur wenig später habt Ihr Mah Bu getötet, der einer der mächtigsten Erzmagier des Rates war.“

„Ihn habe ich nicht besiegt“, entgegnete Nill leidenschaftlich. „Er hat sich selbst getötet, weil er die Kräfte, die er entfesselte, nicht mehr kontrollieren konnte.“

„Ach ja?“ Das Lachen des alten Mannes war mehr ein hustendes Bellen als Ausdruck seiner Erheiterung. „Und wer verfügt über die Kraft, einen Erzmagier dazu zu bringen, sich selbst zu besiegen. Ein Erzmagier ist kein Dummkopf, Bruder, der so törichte Fehler macht, dass er am Ende sein Leben verliert. Und schon gar nicht in einem Kampf.“

Nill wurde ärgerlich. Er hasste es, wenn ihm Verdienste zugeschrieben wurden, die nicht die seinen waren, zumal es zweifelhaft war, ob man es sich als Verdienst anrechnen sollte, einen Erzmagier getötet zu haben. „Ich hatte Hilfe. Hat sich das nicht herumgesprochen? Ich weiß bis heute nicht, wie ich den Kampf gewonnen habe, aber ich vermute, dass der Bocksbeinige mich in der Gestalt eines Freundes begleitet und letztlich auch gerettet hat.“

„Ja, ja. Davon habe ich wispern hören. Der Greifbeinige, der Bocksbeinige und der große Serp. Die drei großen Fürsten der Dämonen.“ Der Alte lachte wieder bellend. „In den alten Legenden hört man von großen Zauberern, die damit prahlen konnten, einem Dämonenfürsten begegnet zu sein. Aber niemand konnte behaupten, ihn als Unterstützer gewonnen zu haben. Und Ihr gebt vor, gleich alle drei zu kennen. Nicht, dass ich Euch nicht glauben würde. Nur ist jede weitere Eurer Erklärungen wundersamer als die vorhergehende.“

Murmon-Som stand weiterhin wie eine Statue, unbeweglich, ungerührt und mit starren Augen.

„Und dann das Nichts“, fuhr der Erzmagier der anderen Welt nach der Pause einer langen Gedankenreise fort. „Ihr vergesst das Nichts, Bruder Nill. Ihr mögt darüber lachen und es leicht nehmen, aber Ihr seid, so wie es aussieht, wohl der Einzige, der es gefahrlos betreten kann. Selbst unser Magon ist dazu nicht in der Lage. Ringwall hat viele Opfer unter denen zu beklagen, die es versucht haben. Heute ist der Weg ins Nichts kein Weg der Suche mehr, sondern nur noch ein Weg für Verzweifelte, die sich etwas davon erhoffen, ihr Leben dem Tode zu weihen.“

Nill musste Murmon-Som widerwillig zustimmen. Einer von Mah Bus Gehilfen hatte ihm geraten, das Nichts aufzusuchen, um dort sowohl Wahrheit als auch magische Kraft zu finden. In seiner Vertrauensseligkeit war er diesem Rat gefolgt und hatte den Anschlag überlebt. Das Nichts hatte ihm eine zweifelhafte Berühmtheit eingebracht.

„Ihr wurdet nicht umsonst von dem Magon und den Erzmagiern auf den Stuhl des Nichts gewählt, einen Stuhl, der lange Zeit leer gestanden und nur auf seinen Herrn gewartet hat“, unterbrach Murmon-Som Nills Schweigen.

Nill wollte erwidern, dass der leere Stuhl nicht mehr als ein Symbol sei, aber das Sprechen fiel ihm plötzlich schwer. Er fühlte sich in der Aura des Erzmagiers gefangen und konnte sich nicht wehren. Er wusste auch nicht, wogegen er hätte kämpfen sollen. Ihm war, als ob die Zeit selbst Fäden zog und sich zähflüssig dahinquälte. Murmon-Som tat nichts, als zu schauen, aber das tat er mit einer solchen Kraft, dass Nill vergaß, wo er war. Er konnte noch nicht einmal sagen, ob wirklich Murmon-Som ihn festhielt, oder ob es einer jener magischen Augenblicke war, in denen die Zeit innehielt und die Welt stillstand.

Nill sprach und hörte seine Worte als ein gedehntes Jaulen, unverständlich selbst für die eigenen Ohren. Er zog sich in das Symbol des Nichts zurück und machte sich leicht und leichter. Die Zeit wurde dünnflüssiger und schneller. Nills Sprache formte sich zu Worten, und er hörte sich sagen:


Aus dem Nichts, aus dem Einen

formt sich die Zwei.

Mit sich selbst nicht im Reinen

versucht sie die Drei.

Vier, Fünf, mannigfaltig

Im Chaos gewaltig

zerbricht’s.

Im Zauber des Nichts

bleibt ungesehen

das, was geschehen.


Die Symbole der Elemente begannen zu pulsieren und ihre Farben zu verlieren, der sanfte Wind setzte aus, die Zeit drängte vorwärts, und Murmon-Som wurde bleich. Seine Finger gruben sich in das Holz seines Stabes und seine ohnehin schon gebückte Gestalt sackte noch weiter in sich zusammen. Nill bekam von alledem nichts mit. Er blinzelte mit den Augen, schaute sich verwirrt um und war endgültig wieder im Hier angekommen.

„Was war das denn?“, platzte es aus ihm heraus. „Ich hatte das Gefühl, als wäre die Zeit stehengeblieben.“

„Die Zeit macht, was sie will“, antwortete der Erzmagier, der seine Fassung wiedergefunden hatte.

„Was ist denn geschehen?“ Nill schaute sein Gegenüber hilflos an.

Murmon-Som zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Ihr habt, so war mir, eine Beschwörung gesprochen. Aber ich habe Eure Worte nicht verstanden, noch habe ich deren Kraft gespürt. So kann ich auch nicht sagen, ob Ihr Ursache oder Ziel magischer Kräfte wart. Aber daran besteht kein Zweifel. Es hat sich etwas gerührt hier im Hain. Der Hauch der Magie hängt immer noch in der Luft.“

Der alte Mann hob den Kopf und schnüffelte. „Viel Magie, starke Magie. Welche, kann ich nicht sagen.“

Der Erzmagier machte ein Abschiedszeichen und ließ einen verwirrten Nill hinter sich zurück. Nill wusste nie so recht, woran er war. Immer hatte er das Gefühl, als würde man mit ihm spielen. Machtlos, jung und unerfahren in der Magie und gleichzeitig gefürchtetes Mitglied des Hohen Rates zu sein, war ein Widerspruch, der erfahrenere Geister in die Knie hätte zwingen können. Wenn es nach Tiriwi gegangen wäre, hätte er besser Ringwall den Rücken gekehrt, aber auch sie hatte einsehen müssen, dass er nur hier die Suche nach seinen Eltern beginnen konnte. Mehr noch als Tiriwi vermisste er Broloks einfache Sicht der Welt, die nur aus Kampf und Ruhe, Überleben oder Sterben und Essen und Trinken bestand. „Versuche nie, die Gedanken eines Erzmagiers zu verstehen“, war sein ständiger Ratschlag gewesen. „Die leben in einer Welt, die anderen nicht zugänglich ist.“

Was hätte er jetzt dafür gegeben, mit einer kleinen Herde Rams um sich herum über die Hügel von Erdland zu ziehen und die Sonne im Rücken und den Wind im Gesicht zu spüren. Die Begegnung mit Murmon-Som und der plötzliche Stillstand der Zeit lasteten schwer auf seinem Gemüt.

„Der Mensch will immer das haben, was ihm gerade fehlt“, seufzte er. „Und was ihm gerade fehlt, scheint ständig etwas anderes zu sein. Doch was kann der Mensch anderes tun, als den Dingen hinterher zu laufen, wenn er keinen Platz zum Stehenbleiben hat?“


*


Der Zauberschüler, der Nill die Niederlage beigebracht hatte, über die Ringwall immer noch redete, hieß Sergor-Don, stammte aus der Linie der Herfas-San und dem Geschlecht derer von Ombras. Als Sohn und Thronfolger des Herrschers über das Feuerreich forderte und erhielt der Prinz die Ehrerbietung aller, die im Rang unter ihm standen, so selbstverständlich, wie sich die Grashalme dem Sturmwind beugten. Allein Tiriwi, die als Oa keinen Herrschaftsanspruch des Adels anerkannte und zudem dem Prinzen mit ihrer fremdartigen Magie mehr als nur ebenbürtig war, und Nill, dieser magiekundige Dreckling unbekannter Abstammung, verweigerten ihm, was Pentamurias Ordnung gebot. Doch das erklärte kaum die Heftigkeit ihrer gegenseitigen Abneigung. Unfähig, das Haupt zu beugen, der eine aus Tradition und dem Gefühl königlicher Größe, der andere aus angeborener Halsstarrigkeit, prallten sie in den Grenzen Ringwalls immer wieder aufeinander. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis aus der Abneigung Hass wurde und dieser Hass sich seine Bahn brach.