Cover

Der neue Sonnenwinkel
– Box 7 –

E-Book 36-40

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-778-0

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Leseprobe:
Sophienlust Special Edition

Leseprobe

5 unveröffentlichte Romane

Titel:

1 E-Book: Jessicas schlauer Plan

2 E-Book: Mutter auf Zeit

3 E-Book: Daheim in einem fremden Land

4 E-Book: Sieg auf der ganzen Linie

5 E-Book: Die brasilianische Erbschaft

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Eine große Liebe

Doch wird sie vom Winde verweht?

Roman von Dornberg, Michaela

Der Krach an der Haustür hörte nicht auf. Da schien jemand die Klingel abreißen zu wollen.

Roberta verabschiedete sich hastig von ihrer Freundin Nicki. Doch ein schlechtes Gewissen musste sie deswegen überhaupt nicht haben. Sie hatten lange genug miteinander telefoniert, und eigentlich war auch alles besprochen worden. Und es hatte bei Nicki schon einige Neuigkeiten gegeben, keine Festanstellung mehr, ein anstehender Umzug in einen Loft, und dass die Bredenbrocks nach San Francisco ziehen würden, das hatte Roberta beinahe die Sprache verschlagen. Doch darüber dachte sie allerdings jetzt nicht mehr nach.

Ehe Roberta zur Haustür lief, warf sie rasch einen kurzen Blick auf den kleinen Philip. Der war zum Glück durch das Geklingele nicht wach geworden, sondern schlief tief und fest mit seinem geliebten Teddy im Arm und mit vom Schlaf gerötetem Gesichtchen.

Es war ein anrührendes Bild, das einem so richtig ins Herz ging. Wie gern wäre Roberta jetzt einfach noch eine Weile ganz ruhig vor dem Bettchen stehen geblieben, um dieses idyllische Bild zu genießen. Es ging leider nicht. Sie musste sich sputen, denn sonst wurde der kleine Philip wirklich noch wach. Und da konnte er sehr unleidlich werden. Das wusste sie aus Erfahrung, und leider war Alma nicht daheim. Sie war mit ihrem Gospelchor unterwegs und würde erst in der Nacht oder gar morgen früh zurückkommen.

Ein wenig ungehalten riss sie schließlich die Haustür auf. Sie hatte keine Ahnung, wer so spät noch Einlass begehrte, und sie hatte bereits ein paar scharfe Worte auf der Zunge, denn so spät machte man keine Besuche. Es sei denn, es handelte sich um ihren Exmann, der war in jeder Hinsicht schmerzfrei, und eigentlich hatte Max ja angeordnetes Hausverbot. Doch für ihn würde sie keine Hand ins Feuer legen.

Roberta prallte allerdings zurück, als sie sah, wer da vor der Haustür stand. Von wegen Max. Nein, wer da Einlass begehrte, obwohl er einen Haustürschlüssel besaß, das war Lars …, ihr Lars, und mit dem hatte sie nicht einmal ansatzweise gerechnet.

Wieso war er hier?

Sie hatten sich doch eine Auszeit verordnet, und die hatte gerade erst begonnen.

Das hatte ihr jetzt die Sprache verschlagen, sie konnte ihn nur ansehen. Und er sah wieder einmal umwerfend aus, dieser Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen, die sie anstrahlten, als sei die Welt zwischen ihnen in Ordnung, als hätten sie sich gerade erst liebevoll und ohne Zoff voneinander getrennt.

Roberta verstand die Welt nicht mehr, dabei war sie nun wirklich nicht auf den Mund gefallen.

Er reagierte zuerst, er machte ein paar Schritte auf sie zu, und dann nahm er sie einfach in seine Arme, und bei ihr machte es klick, und prompt war die alte Magie wieder da, durchströmten sie Wellen der Liebe.

Sie wehrte sich nicht, es gab kein wenn oder aber, es gab nur dieses unbeschreibliche Gefühl, das allen Verstand ausschaltete, das warm, schön und voller Zärtlichkeit war.

Ihre Blicke versanken ineinander, er verstärkte den Druck seiner Arme, zog sie noch enger an sich heran, und dann küssten sie sich. Es ging überhaupt nicht anders.

Was immer sie auch trennte, worin sie unterschiedlicher Meinung waren. All das gab es in diesem Augenblick nicht mehr.

Liebe brauchte keine Worte.

Liebe kannte keine Grenzen.

Liebe schwebte über allem. Wenn es da bloß nicht den Alltag gäbe!

Sie genoss seine Nähe, seine Wärme, seine leidenschaftlichen Küsse.

Sie verloren jedes Gefühl für Zeit und Raum, und gewiss hätten sie noch eine ganze Weile in der geöffneten Haustür gestanden, wenn draußen nicht ein Auto vorbeigefahren wäre und jemand begeistert gehupt hätte.

Sie fuhren auseinander. Roberta konnte nicht sehen, wer das Auto fuhr, doch ein wenig peinlich war es ihr schon. Es musste um diese Zeit jemand aus dem Sonnenwinkel sein. Hier gab es keine Durchgangsstraßen. Und hier war sie bekannt wie ein bunter Hund, schließlich war sie die Ärztin, die jeder mal in Anspruch nehmen musste.

Und trotz dieser Tatsache hatte sie sich gerade präsentiert wie in der Liebesszene eines Films. Wie peinlich!

Hastig zog sie Lars mit ins Haus, schloss die Tür.

Er schien das eben genossen zu haben, alles.

»Liebes, entspann dich. Es wissen doch alle, dass wir ein Paar sind, und da ist es ja wohl auch selbstverständlich, dass man sich küsst.«

Sie sah das nicht so locker.

»Das muss ja nicht vor den Augen aller sein«, bemerkte sie. Er lachte.

»Liebes, übertreib nicht. Ein einsamer Autofahrer hat uns gesehen, und es schien ihm gefallen zu haben, denn sonst hätte er nicht gehupt. Für mich war das eine Zustimmung.«

Sie sagte dazu nichts, ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und das jetzt nicht wegen des Autofahrers, sondern sie fragte sich, warum er die Regeln durchbrochen hatte. Warum war er hier?

Lars neigte ja schon immer dazu, einfach da zu sein, da unterschied er sich nicht von ihrem Ex. Der Unterschied bestand darin, dass sie weiche Knie bekam, wenn sie Lars sah, und dass sie ein Magengeschwür befürchtete beim Anblick von Max.

Er ging ins Wohnzimmer, er kannte sich im Doktorhaus aus, entdeckte den Rotwein auf dem Tisch und rief: »Oh, ein Gläschen Wein würde ich jetzt auch gern trinken.«

Roberta, noch immer durcheinander, holte ein Glas aus dem Schrank, stellte es vor ihn hin, beobachtete, wie er sich Wein einschenkte, dann setzte sie sich. Nicht neben ihn, sondern sie nahm ihm gegenüber in einem Sessel Platz.

Und weil er ganz selbstverständlich tat als sei nichts geschehen, stellte sie ihm die Frage, die sie beschäftigte, seit sie ihn gesehen hatte: »Lars, warum bist du hier? Ich meine …, wir haben …«

Sie hatte auch schon flüssiger gesprochen, doch Lars verwirrte sie in jeder Hinsicht. Sie schwammen zwar in vieler Hinsicht auf einer Welle, in sehr vieler sogar. Doch seine Selbstverständlichkeit, mit der er kam und ging, die konnte sie einfach nicht nachvollziehen. Das war nur etwas, was sie an ihm störte, auch wenn sie zugeben musste, dass es ihr anfangs nichts ausgemacht hatte. Vielleicht stimmte das ja wirklich mit den Werbewochen. Ihre Freundin Nicki behauptete steif und fest, dass es sich nach den Werbewochen erst zeigte, ob eine Beziehung Bestand hatte oder nicht. Lars und sie hatten diese sogenannten Werbewochen längst hinter sich gebracht. Doch sie durfte es sich nicht länger schönreden. Das, was sie wollte, unterschied sich ganz gewaltig von dem, was für ihn im Fokus stand.

Doch nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Lars war gekommen!

Und warum hatte sie törichterweise überhaupt die Frage gestellt, warum er gekommen war. Als wenn das von Bedeutung war.

Er zögerte ein wenig, trank einen Schluck des köstlichen Rotweins, den sie beide liebten, sagte, wie herrlich er doch schmecke, dann blickte er sie an. Und in seinem Blick lag so viel Liebe, dass Roberta eine Gänsehaut bekam.

»Es gibt einen Grund für mein Hiersein, und das hat sich mehr als kurzfristig ergeben. Ich habe morgen einen Termin, und dann muss ich auch schon wieder weg. Doch ich möchte jetzt noch nicht darüber reden, weil mir, ehrlich gesagt, alles ein wenig verworren vorkommt. Warum also über ungelegte Eier reden?«

Er machte eine kleine Pause.

»Ich bin so glücklich, dich bei dieser Gelegenheit sehen zu dürfen, und ich pfeife auf unsere Vereinbarung. Roberta, ich liebe dich so sehr. Und ich habe eine wahnsinnige Angst davor, dich zu verlieren. Es hat sich da bei uns etwas eingeschlichen, was mir Unbehagen verursacht, etwas, was unserer Beziehung die Leichtigkeit, die Unbeschwertheit nimmt. Was ist geschehen? Ich habe keine Ahnung, und ich habe dir doch auch von Anfang an nichts vorgemacht. Ich habe offen und ehrlich gesagt, wer und wie ich bin. Und an meiner Liebe zu dir hat sich nichts verändert, im Gegenteil, sie ist größer und inniger geworden. Du bist meine Traumfrau, und ich …«

Plötzlich erklang ein klägliches Wimmern, Lars verstummte und Roberta sprang wie von der Tarantel gestochen auf und rannte dorthin, woher das Geräusch gekommen war.

Philip …

Auf Zehenspitzen lief sie in das Zimmer. Der Kleine schlief.

Er musste schlecht geträumt haben.

Roberta hob den Teddy auf, der auf den Fußboden gefallen war, legte ihn neben Philip auf das Kopfkissen, dann deckte sie ihn wieder zu. Er hatte sie aufgestrampelt. Danach strich sie ihm behutsam über das strubbelige Haar und verließ wieder auf Zehenspitzen den Raum. Ehe sie den verließ, warf sie einen zärtlichen Blick auf das Kind.

Sie war nur eine kurze Zeit weg gewesen, doch alles schien verändert.

Lars hatte einen verbissenen Gesichtsausdruck, und das Schweigen, das plötzlich zwischen ihnen herrschte, wirkte belastend.

Zumindest auf Roberta.

Er knüpfte nicht mehr an das an, was er vorher gesagt hatte.

Es gab keine weiteren liebevollen und zärtlichen Worte. Jetzt schwieg Lars beinahe trotzig.

Um das Schweigen zu durchbrechen, und um überhaupt etwas zu sagen, bemerkte Roberta: »Philip scheint nur schlecht geträumt zu haben.«

Er sagte nichts, zuckte die Achseln.

Das Schweigen begann beklemmend zu werden.

»Lars, der Kleine ist nun mal vorübergehend hier, und ich muss mich um ihn kümmern, bin für ihn verantwortlich.«

»Warum erzählst du mir das jetzt? Ich weiß von dem Kind, und ich habe doch überhaupt nichts gesagt.«

»Was soll ich denn dazu sagen?«, begehrte er auf. »Meine Meinung kennst du, daran hat sich nichts verändert. Ich finde es nach wie vor mehr als nur grenzwertig, dass eine Frau in deiner Position plötzlich Babysitterin spielt.«

»Wäre ich nicht eingesprungen, hätte Trixi diesen Auslandsjob nicht annehmen können«, versuchte sie sich zu rechtfertigen, weil sie spürte, dass die Stimmung zwischen ihnen immer mehr kippte.

Er warf ihr einen erbitterten Blick zu.

»Roberta, ich bitte dich. Dafür bist du doch nicht zuständig. Es gibt Institutionen, wo man ein Kind vorübergehend parken kann. Und wenn nicht, dann hätte deine Freundin Trixi eben daheim bleiben müssen, so einfach ist das. Ehe man Kinder bekommt, muss man sich vorher entscheiden, was wichtiger ist, Karriere oder ein Kind. Beides geht nicht. Aber darüber möchte ich jetzt nicht wieder diskutieren. Das letzte Mal hatten wir deswegen Krach, und das möchte ich nicht erneut riskieren. Roberta, ich möchte wirklich …«

Wieder erklang ein Wimmern. Doch diesmal schien Philip wachgeworden zu sein. Richtig, denn es dauerte nicht lange, da kam er, den Teddy unter den Arm geklemmt, ohne den überhaupt nichts ging bei ihm, ins Zimmer getappt.

Roberta sprang auf, eilte auf Philip zu, nahm ihn in die Arme, hob ihn zu sich empor, und er legte sofort vertrauensvoll seine Ärmchen um ihren Hals.

»Was war denn los, mein Herz?«, erkundigte sie sich sanft. »Hast du schlecht geträumt?«

Er nickte.

»Dann bringe ich dich jetzt wieder in dein Bettchen, und ich bleibe bei dir, bis du wieder eingeschlafen bist, ja, mein Liebling?«

Wieder nickte Philip.

Roberta warf Lars einen entschuldigenden Blick zu, ehe sie Philip zurück ins Bett brachte.

Für Situationen wie diese gab es kein perfektes Timing. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, doch sie hatte überhaupt keine andere Wahl. Ein Traum hatte den Jungen aufgeschreckt, und da konnte sie ihn doch jetzt nicht sich selbst überlassen.

Sie legte ihn ins Bett, sprach beruhigend auf ihn ein, strich über sein Gesichtchen, seine Haare.

Das gefiel Philip, und er schenkte ihr ein anrührendes Lächeln, bei dem die Sonne aufzugehen schien, ehe er wieder einschlief, ihre Hand fest umklammernd.

Roberta wartete noch eine Weile, bis sie ganz sicher sein konnte, dass Philip tatsächlich schlief. Dann machte sie sich aus seiner Umklammerung frei, warf ihm einen letzten zärtlichen Blick zu, ehe sie das Zimmer wieder verließ.

Sie würde es Lars erklären, er musste es verstehen, es zumindest versuchen.

Als Roberta ins Wohnzimmer kam, war von Lars nichts zu sehen. Sein Weinglas war noch fast gefüllt. Sie vermutete, er sei zur Toilette gegangen, doch dann entdeckte sie den Zettel auf dem Tisch, den er irgendwo herausgerissen hatte.

Sorry, ich hatte mir unser Wiedersehen anders vorgestellt. Diese Nummer mit dem Kind, das kann ich nicht. Bleiben wir lieber bei der vereinbarten Auszeit – Lars.

Nichts von Liebe, kein versöhnliches Wort. Lars war gekränkt, und er hatte überhaupt kein Verständnis für Kinder. Das war nicht unbekannt, doch jetzt hatte sie die Bestätigung.

Kälte breitete sich in ihr aus und eine unendliche Traurigkeit. Sie sah den Abgrund, dem sie entgegensteuerten. Aber es gab nichts, womit sich dieser Sturz aufhalten ließ. Ihre Lebensperspektiven, ihre Vorstellungen von einem Miteinander, drifteten immer mehr auseinander.

Das hatte nichts mit Philip zu tun. Durch seine Anwesenheit wurde der Prozess nur noch beschleunigt. Selbst wenn sie ihren Wunsch nach dem Ring an ihrem Finger, nach einem Zusammenleben, nach Kindern zurückstellen würde. Lars würde weiterhin ein Getriebener sein, den es hinauszog. Er war jemand, der, wie man so schön sagte, sein Ding machte. Und sie war für ihn so etwas wie ein Sahnehäubchen, das man nicht immer in seinem Leben brauchte, doch wenn, dann war es angenehm, dann genoss man es. Vielleicht tat sie ihm unrecht. Sie wollte es vielmehr glauben, dass es so war.

Dass er jetzt einfach gegangen war, das war beinahe schon pubertär.

Sie war wie erstarrt. Er hatte sie kurzzeitig in den Himmel gehoben, und dann hatte er einfach losgelassen und sie war böse auf dem Boden aufgeschlagen. Auf dem Boden der Tatsachen.

Lars Magnusson war in erster Linie ein einsamer Wolf. Er brauchte niemanden, er konnte auch gut ohne sie. Denn sie war sich so sicher, dass er nicht immer so lange unterwegs sein musste, dass er früher zurückkehren könnte. Er wollte es nicht, weil nicht sie an erster Stelle in seinem Leben war, sie war, wenn sie Glück hatte, die Nummer Zwei.

Diese Erkenntnis war nicht neu für sie, warum traf es sie heute ganz besonders?

Weil sein Besuch unverhofft gekommen war, weil er diesen Glücksrausch in ihr ausgelöst hatte zu glauben, er könne doch nicht ohne sie sein. Außerdem war sie noch jetzt wie elektrisiert von seinen Küssen, seinen Umarmungen, seiner spürbaren Präsenz.

Liebe konnte verdammt schmerzhaft sein!

Sie zog ihre Schuhe aus, die Beine aufs Sofa, umfasste ihre Knie mit beiden Händen und starrte stumm vor sich hin.

Sie glaubte, den Schmerz körperlich zu spüren.

Sie lauschte, von nebenan war nichts mehr zu hören. Der kleine Philip schlief wieder ganz fest.

Warum war er wach geworden?

Auf diese Frage wusste sie keine Antwort. Fast schien es, als wolle das Schicksal sie herausfordern und prüfen.

Seine Reaktion war panisch gewesen, deutlicher hätte Lars seine Abneigung gegen Kinder nicht ausdrücken können.

Ein Bild tauchte vor ihr auf …

Wie schön wäre es gewesen, sie hätten den Kleinen gemeinsam wieder in sein Bettchen gebracht, hätten gemeinsam gewartet, bis er eingeschlafen war.

Ahnte Lars eigentlich, worum er sich mit seiner strikten Abwehrhaltung eigentlich brachte?

Jetzt kamen ihr doch die Tränen.

Roberta weinte um sich, um Lars, um ihre Liebe, die immer mehr verwehen zu schien. Ihre Liebe, die sie umschloss wie ein warmer, weicher Mantel, wenn sie allein waren, wenn sie sich ihren Gefühlen hingeben konnte.

Sie hatten keinen gemeinsamen Alltag, das wurde Roberta immer mehr bewusst. Wie sollten sie auch, sie lebten ja nicht zusammen, sie waren mal da und mal dort. Und so etwas, das war wie Urlaub.

Sie trug seinen Ring, der leider kein Verlobungsring war, wieder. Sie schaute auf ihren Ringfinger, an dem der Ring verheißungsvoll glänzte.

Einem Impuls folgend, wollte sie ihn erneut abziehen, in die Schublade legen, als sie mitten in ihrer Bewegung innehielt. Ein derartiges Verhalten war töricht, kindisch. Außerdem war alles offen.

Unzufriedenheit allein war kein Grund für eine Trennung, dann müssten die meisten Paare in Bewegung sein.

Musste man nicht um eine Beziehung kämpfen, besonders dann, wenn es die ganz große Liebe war? Und das war es, ohne Zweifel.

Lars Magnusson war ihr Mr Right, und an seiner Liebe zu ihr zweifelte sie ebenfalls nicht. Er liebte sie, und er war bereit, ihr alles zu geben, wozu er bereit war, es geben zu können.

Heirat … Kinder …

Davor hatte er eine geradezu panische Angst, das wies er ganz weit von sich. Und das konnte nicht daran liegen, dass er, ebenso wie sie ja auch, eine gescheiterte Ehe hinter sich hatte.

Es musste etwas in seinem Leben geben!

Ihr Blick fiel auf das Blatt Papier, sie las diese unverbindlichen Worte noch einmal, dann zerknüllte sie den Zettel und warf ihn in den Papierkorb, und sie traf sogar.

Die Worte wollte sie vergessen, sich stattdessen lieber an all die zärtlichen Worte erinnern, die er ihr nicht nur gesagt, sondern die er ihr auch geschrieben hatte.

Schon wollte sie ihr Handy holen und das lesen, was er ihr geschickt hatte und was sie niemals löschen würde, weil alles viel zu schön war.

Lars …

Roberta riss sich zusammen. Sie wollte nicht schon wieder weinen, sondern versank erneut in düstere Grübeleien, in die so verstrickt war, dass sie nicht einmal bemerkte, dass Alma von ihrem Chor gekommen war.

Erst als die beinahe entsetzt ausrief: »Frau Doktor, Sie sind ja noch wach. Wissen Sie eigentlich, wie spät es schon ist?«, zuckte Roberta zusammen, blickte hoch.

Alma bemerkte die beiden Weingläser, die noch immer auf dem Tisch standen, Roberta hatte einfach nicht die Energie aufgebracht, die in die Küche zu bringen, denn ihr Glas leerzutrinken, dazu war ihr die Lust vergangen.

Wenn sie Wein trank, dann, weil es ein Genuss war, nicht aus Frust.

Roberta folgte ihrem Blick, jetzt musste sie Farbe bekennen.

»Lars war kurz hier, er hat morgen einen Termin, und weil Philip angefangen hatte zu jammern und ich mich um ihn kümmern musste, da …, da ist Lars gegangen.«

Alma sagte nichts darauf, doch ihrem Gesichtsausdruck war anzusehen, wie bekümmert sie jetzt war.

Ehe das Schweigen zwischen ihnen unangenehm werden konnte, sagte Alma: »Dann will ich mal die Gläser in die Küche bringen, und Sie, Frau Doktor, sollten jetzt schleunigst ins Bett gehen. Sie haben morgen wieder einen sehr anstrengenden Tag.«

Roberta erhob sich mühsam.

»Und wegen Philip müssen Sie sich keine Gedanken machen, Frau Doktor, ich bin ja jetzt da. Und sollte er wach werden, so werde ich es auch, denn ich habe Ohren wie eine Maus.«

Es war rührend, wie Alma sich bemühte. Und es war sehr, sehr angenehm, dass Alma, solange Philip bei ihnen war, nicht in ihrer eigenen Wohnung schlief, sondern in einem der Gästezimmer.

»Danke, Alma«, sagte Roberta leise, dann verabschiedete sie sich von ihrer treuen Haushälterin, ohne die sie vollkommen aufgeschmissen wäre. Sie bemerkte nicht, wie bekümmert Alma ihr nachblickte.

Es zerriss Alma beinahe, wenn sie sah, wie sehr die Frau Doktor litt, der sie alles zu verdanken hatte, was sie auch niemals vergessen würde. Ohne die Frau Doktor gäbe es sie nicht mehr, dann wäre sie längst schon tot. Sie hatte ihr nicht nur das Leben gerettet, nein, sie hatte ihr, der Obdachlosen, auch wieder ein Zuhause gegeben, und was für eines. Die Frau Doktor war ohnehin ein so herzensguter Mensch, sie opferte sich für ihre Patienten auf. Sie wurde von ihren Patienten richtig verehrt, aber sie konnte auch etwas. So schnell konnte der Frau Doktor niemand das Wasser reichen.

Nur privat …

Warum ließ der liebe Gott sie nicht endlich ein privates Glück genießen?

Sie hatte eine schreckliche Ehe hinter sich, mit einem Mann, der sie ausgenommen hatte wie eine Weihnachtsgans, von dem sie nach Strich und Faden betrogen worden war.

Er hatte ihr den Herrn Magnusson auf den Weg geschickt. Der war ja schon ein toller Mann, aber was hatte die Frau Doktor von dem, wenn er die meiste Zeit unterwegs war. Und was für komische Sachen er machte, Bücher über Eisbären schreiben, praktisch unter ihnen leben, dann die Vulkane von Island. Warum blieb er nicht einfach da und genoss die Zweisamkeit mit dieser großartigen Frau?

Wusste er eigentlich, welches Glück er hatte?

Andere Männer würden sich die Finger danach lecken, und was tat er? Er suchte immer neue Herausforderungen und trat sein Glück mit Füßen und machte, und das war besonders schlimm, die Frau Doktor unglücklich.

Ehe sie ihr Zimmer aufsuchte, ging Alma noch einmal in den Raum, in dem Philip schlief. Er hatte sich wieder aufgedeckt.

Alma richtete seine Decke, strich ihm liebevoll über das Haar.

»Du bist ein so friedliches Kind, hast bislang jede Nacht durchgeschlafen. Du weißt vermutlich selbst nicht, warum du ausgerechnet wach werden musstest, als der Freund der Frau Doktor hier war, der Kinder nicht gerade leiden kann. Philip, Philip, ich glaube, du hast da Schicksal gespielt.«

Philip lächelte im Schlaf, doch das jetzt ganz gewiss nicht, weil er sich über das, was er unwissentlich getan hatte, gefreut hatte. Er hatte geträumt, doch diesmal war es ein schöner Traum gewesen.

Alma strich ihm noch einmal übers Haar, dann ging sie und vergewisserte sich, dass die Notbeleuchtung brannte, für alle Fälle.

Durch die Türritzen bemerkte Alma, dass im Zimmer der Frau Doktor noch Licht brannte, und das bekümmerte sie sehr. Sie war aufgewühlt, konnte keine Ruhe finden, die Ärmste.

Am liebsten wäre Alma jetzt zu ihr gegangen, hätte sie getröstet. Doch das ging gar nicht. Sie verstanden sich zwar ganz ausgezeichnet, hatten ein enges Verhältnis, aber sie waren und blieben Chefin und Angestellte, auch wenn die Frau Doktor sie das nicht spüren ließ.

Doch Ordnung musste sein.

Alma zögerte einen Augenblick, dann bezwang sie sich und ging in das Gästezimmer. Sie nahm sich ganz fest vor, die Frau Doktor heute besonders in ihre Gebete einzuschließen, mehr als sonst. Irgendwann musste der liebe Gott doch ein Einsehen haben!

*

Ihr Sohn Jörg kam zu Besuch, und Inge war wie immer hocherfreut. Sie liebte ihre Kinder, und für sie war es jedes Mal ein ganz großes Glück, wenn sie sie besuchten.

Jörg, der derzeit in Stockholm lebte, kam meistens nur auf einen Sprung für ein paar Stunden vorbei, und Inge konnte ihr Glück nicht fassen, wenn er hier und da einmal sogar über Nacht blieb.

Sie war mehr als erstaunt, als Jörg sich plötzlich erkundigte: »Mama, kann ich für ein paar Tage bleiben?«

Inge fiel beinahe der Kaffeebecher aus der Hand.

Welche Frage.

»Aber natürlich, mein Junge, du kannst bleiben, solange du willst. Ich freue mich. Seit du in Stockholm lebst, waren es nur kurze Stippvisiten. Glaubst du, dass die Verhandlungen mit den ehemaligen Münsterwerken sich tagelang hinziehen werden?«, erkundigte Inge sich.

»Nö, Mama, das mit den Münsterwerken ist für uns endgültig passé. Wir haben die Verhandlungen abgebrochen, und was letztlich jetzt geschieht, das interessiert uns nicht mehr. Jetzt sind die Werke endgültig gegen die Wand gefahren worden, und auch wenn man jetzt alles für einen Appel und Ei haben kann, wie man so schön sagt, hat das für uns keinerlei Bedeutung. Der Imageverlust ist einfach zu groß. Wir wollten zu einem guten Preis kaufen, als der Ruf noch nicht ruiniert war. Was für ein Glück, dass Felix Münster das alles nicht mehr mitbekommt. Er hat aus der väterlichen Firma ein Unternehmen von Weltruf gemacht, und das haben diese neuen Möchtegernunternehmer zerstört. Aber lass uns bitte nicht mehr darüber reden. Das, was dort geschehen ist und noch geschieht, ist schließlich kein Einzelfall. Mit den Leuten an der Spitze steht und fällt ein Unternehmen. Ich habe keine geschäftlichen Verpflichtungen, ich will einfach nur ein paar Tage Urlaub machen, mit dir, Papa, Pamela und den Großeltern reden, unsere Ricky besuchen, dann will ich viel unterwegs sein, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Ich brauche einfach mal Ruhe, und unser Sonnenwinkel, vor allem unser herrlicher Sternsee, bieten sich an, mal die Seele baumeln zu lassen. Unser Hannes braucht den Jakobsweg, um zu sich zu finden. Ich gebe mich mit unserem See zufrieden.«

Bei Inge gingen urplötzlich alle Alarmglocken an.

Das war neu an Jörg, solche Worte kannte sie nicht von ihrem Sohn. Jörg war jemand, der Herausforderungen liebte, der immer auf der Überholspur war.

Und jetzt zu sich finden …

Sie blickte ihn an, als habe sie ihn jetzt gerade erst zum ersten Mal seit seiner Ankunft gesehen. Vielleicht war es ja auch so, wenn man das Wörtchen ›richtig‹ hinzufügte.

Vorher war sie eigentlich nur entzückt gewesen, überglücklich, Jörg unverhofft in die Arme schließen zu können.

»Jörg, bist du krank?«, erkundigte sie sich angstvoll mit zitternder Stimme.

Er blickte seine Mutter an, mit einem geradezu waidwunden Blick, dann zuckte er die Achseln.

»Krank?«, wiederholte er. »Nun ja, in gewisser Weise schon.«

Welch ein Glück, dass Inge mit ihrem Sohn an dem großen Familientisch saß, sonst hätten ihr in diesem Augenblick die Beine den Dienst versagt.

Was hatte das denn zu bedeuten? So kannte sie Jörg nicht. Der klang ja irgendwie erloschen. Hatte es ihn eingeholt, weil Stella ihn und die Kinder verlassen hatte, mit ihnen und einem anderen Mann nach Brasilien gegangen war? Inge wusste, dass die Scheidung der beiden inzwischen rechtskräftig war. Das war etwas, was die Endgültigkeit, das endgültige Aus einer Ehe bedeutete. Und daran hatte man schon zu knapsen, besonders dann, wenn die Familie das Ein und Alles gewesen war. Jörg liebte seine Kinder, und wie sehr musste es ihn schmerzen, dass sie jetzt, so weit von ihm entfernt, bei einem anderen Mann aufwuchsen. Er hatte, um die Kinder nicht in einen Zwiespalt zu bringen, aus Liebe und aus Fürsorge auf das Sorgerecht verzichtet. Wie sollte das denn auch zu praktizieren sein? Schweden und Brasilien, das lag nicht gerade um die Ecke, da konnte man keine wöchentlichen, nicht einmal monatliche Besuchsrechte regeln. Sie standen in Verbindung miteinander, skypten, schrieben, telefonierten. Sie nutzten alle sich bietenden Möglichkeiten. Doch Jörg hatte bereits bei seinem letzten Besuch gesagt, dass es immer weniger wurde, dass sie, trotz vereinbarter Zeit, anderweitig beschäftigt waren. Ob sie dahintersteckten, oder ob Stella daran drehte, das konnte niemand sagen.

Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis Jörg seinen Schmerz überwunden hatte, und Inge wünschte so sehr, dass die Zeit die Wunden heilte, wie man immer so schön sagte.

Auf jeden Fall war es gut, dass ihr Jörg wieder eine Frau an seiner Seite hatte, die unglaubliche, die sehr sympathische Charlotte. Und Inge hatte sich längst damit abgefunden, dass die beiden sich im Internet kennengelernt hatten. So sollten ein viel beschäftigter Manager und eine ebenfalls viel beschäftigte Handchirurgin denn sonst kennenlernen? Menschen, die von ihrer Arbeit mehr oder weniger aufgefressen wurden. Die gingen nicht mal spazieren, setzten sich in ein Café oder besuchten eine Veranstaltung und hielten nach einem Partner oder einer Partnerin Ausschau.

Ja, Charlotte war ein Glücksfall in seinem Leben, und aus diesen Gedanken heraus sagte Inge auch: »Jörg, es ist gut, dass du Charlotte an deiner Seite hast. Was immer dich jetzt auch bedrückt, was immer dir auch fehlt. Gemeinsam schafft ihr alles.«

Jörg antwortete nicht sofort, und das wunderte Inge ein wenig, denn normalerweise begann er von seiner Charlotte zu schwärmen, wenn man die nur erwähnte.

Ein wenig verunsichert blickte Inge ihren Sohn an, und da platzte es aus ihm heraus: »Mama, ich habe mich von Charlotte getrennt.«

Was vorhin beinahe passiert wäre, jetzt geschah es. Inge fiel der Kaffeebecher aus der Hand, der Kaffee breitete sich im Nu auf dem schönen alten Tisch aus.

Inge sprang auf, holte ein Tuch, beseitigte mechanisch das Malheur, während ihre Gedanken sich überschlugen.

Was hatte Jörg da gerade gesagt?

Er hatte sich von Charlotte getrennt?

Sie musste sich verhört haben, so etwas ging doch überhaupt nicht. Das mit Charlotte und Jörg war Harmonie pur, die beiden passten viel besser zusammen als Jörg und Stella.

Inge war vollkommen durcheinander, sie setzte sich wieder hin, hielt das Tuch, mit dem sie den Kaffee aufgewischt hatte, noch immer in der Hand, ohne dass es ihr bewusst war.

Sie blickte vorsichtig ihren Sohn an. Dessen Gesicht schien noch blasser geworden zu sein, um seinen Mund lag ein schmerzerfüllter Zug, sein Blick wirkte erloschen. Er litt. Und nun verstand Inge überhaupt nichts mehr. Er hatte doch gesagt, dass er sich getrennt hatte. Das tat man doch nicht, wenn es Schmerz bereitete.

»Jörg …, ich verstehe nicht …, bitte erkläre mir, was geschehen ist, mein Junge.«

Es dauerte noch eine Weile, ehe Jörg zu seiner Mutter sprach, und seine Stimme war dabei ganz leise.

»Mama, ich habe Charlotte sehr geliebt, ich liebe sie noch immer. Doch ich kann mit ihr nicht zusammen sein. Wie du weißt, hat sie einen zehnjährigen Sohn, Sven, den sie über alles liebt. Er ist auch ein sehr netter Junge, und unter normalen Umständen …« Er brach seinen Satz ab, sein Blick verlor sich im Leeren.

Inge wagte kaum zu atmen, und ehe er weitersprach, ahnte sie die Tragödie.

Klar, Charlotte hatte einen Sohn, der zwar im Internat war, den sie jedoch traf, so oft es nur möglich war. Und da sie und Jörg jetzt ein Paar waren, war es unausweichlich, dass auch Jörg immer wieder auf Sven traf. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was das für ihn bedeutete.

Durch Sven wurde er immer wieder an seine eigenen Kinder erinnert, die er sehr geliebt, doch die er jetzt verloren hatte.

»Mama, Sven kann nichts dafür, er ist wirklich sehr, sehr nett. Und gäbe es nicht die Last meiner Vergangenheit, wären wir auf Dauer prima klargekommen …, ich habe mich bemüht, ich habe versucht, meine Vergangenheit abzuschütteln, mich mit dem jetzigen Zustand abzufinden. Es ging nicht. Je näher ich Sven kennenlernte, umso schlimmer wurde es. Mir wurde immer klarer, was ich verloren hatte, und ich konnte immer weniger damit umgehen. Ich konnte ja auch Sven überhaupt nicht gerecht werden, der unbewusst gewiss mitbekam, dass ich mich nicht auf ihn einlassen konnte, nicht so, wie er es verdient hätte … Mama, das Experiment ist gescheitert. Oder ich habe Charlotte noch zu früh kennengelernt. Wäre sie ohne Anhang, dann hätte es vielleicht funktionieren können. Da wäre der Schmerz meiner Vergangenheit allmählich verblasst, so war alles noch zu frisch, und die alten Wunden sind immer wieder aufgebrochen …, weder Charlotte noch Sven haben es verdient, dass da jemand ist, der Probleme mit seinen eigenen Gefühlen hat … Mama, es ist sehr schlimm, und ich leide unter der Trennung von Charlotte, doch es geht nicht anders. Während meines Aufenthaltes hier werde ich mich auch mal mit Frau Dr. Steinfeld unterhalten und mit ihr darüber reden, ob ich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Und da es da viele Möglichkeiten gibt, bitte ich sie, mir den Weg aufzuzeigen, der für mich der richtige sein könnte. Ich möchte nicht als seelisches Wrack den Rest meines Lebens verbringen.«

Er redete noch weiter, doch all seine Worte rauschten an ihr vorüber wie ein eiliger Bach, den es hinunter vom Berg zog.

Jörg und Charlotte waren getrennt!

Ihr Sohn erinnerte ihn an seine verlorenen Kinder!

Und wie aufgewühlt musste er sein, dass er sogar therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen wollte. Jörg! Ihr Sohn, der coole Geschäftsmann, für den es niemals Probleme gegeben hatte, sondern nur Herausforderungen und Lösungen.

Eine unbändige Wut auf Stella überkam sie, die das alles verursacht hatte. Und die wusste schon, dass sie Dreck am Stecken hatte, denn sonst hätte sie sich ja mal irgendwo gemeldet. Ihre Eltern wussten ja bis heute nicht von ihr, dass sie einen neuen Weg für sich gewählt hatte, und auch der spärliche Kontakt zu ihrem Bruder Fabian war mittlerweile ganz eingeschlafen, dabei waren die beiden früher ein Herz und eine Seele gewesen.

Ihr armer, armer Junge!

Auch wenn die Kinder erwachsen waren, längst schon selbst Kinder hatten, zerriss es eine Mutter, wenn bei denen etwas nicht stimmte. Und bei Jörg war alles aus dem Ruder gelaufen, in privater Hinsicht. Seine Familie war zerbrochen, die Kinder waren aus seinem Leben verschwunden. Und als sei das nicht schon genug, zogen sich die Schatten seiner Vergangenheit bis in die Gegenwart. Er hatte sich von Charlotte getrennt, weil er unter der Nähe zu ihrem Sohn gelitten hatte, dem er nicht gerecht werden konnte.

Was für ein Durcheinander!

Sie sprachen beide nicht mehr. Es war still in der gemütlichen Wohnküche, nur das Ticken der Uhr an der Wand war zu hören. Und selbst Luna spürte, dass da etwas ganz gehörig aus dem Ruder gelaufen war, dass sie jetzt besser still auf ihrem Kissen liegen blieb, denn niemand würde sich jetzt um sie kümmern, ihr Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten schenken, und an Leckerli war in einer solchen Situation schon überhaupt nicht zu denken.

Die Auerbachs waren immer eine Bilderbuchfamilie gewesen, die in einer heilen Welt gelebt hatten, in der es nur Sonnenschein zu geben schien.

Und plötzlich waren die Risse da!

Zuerst war ihnen ihr Leben ganz gehörig um die Ohren geflogen, als ihre Jüngste, ihr Bambi, wie Pamela damals noch genannt wurde, von Fremden erfahren musste, dass sie keine echte Auerbach war, sondern dass man sie adoptiert hatte. Es hatte viele Scherben gegeben, Verletzungen, und es hatte sehr lange gedauert, bis sie sich wieder versöhnt hatten. Dann die Scheidung von Jörg, jetzt dessen Trennung von Charlotte. Und Hannes war ebenfalls mit einem Knall in der Wirklichkeit gelandet. Er hatte es sich in Australien gemütlich eingerichtet. Die Surf- und Tauchschule, die er zusammen mit seinem Kumpel Steve betrieben hatte, war ein großer Erfolg, Hannes war nicht nur das Werbegesicht für das besondere Surfbrett ›Sundance‹ gewesen, nein, er hatte gehörig daran verdient, und an der zweiten Version hatte er sogar mitgearbeitet. Besser ging es nicht. Er war glücklich mit seiner Freundin Joy gewesen, einer Medizinstudentin.

Und dann war er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Auf einem kaum befahrenen Highway hatte ein unachtsamer Autofahrer sein Leben zerstört, es aus allen Fugen platzen lassen, wie all seine Träume.

Niemand hatte das Glück für alle Ewigkeit gepachtet, auch die Auerbachs nicht. Zu dieser bitteren Erkenntnis war Inge nicht erst heute gekommen. Doch Jörgs Eröffnung gerade, die hatte allem noch die Krone aufgesetzt.

Wie sollte es denn weitergehen?

Inge hatte keine Ahnung. Und was für sie als Mutter besonders schlimm war, das war die Tatsache, dass sie nichts tun konnte. Ihr waren die Hände gebunden. Sie konnte für Jörg da sein, alles für ihn tun. Doch sie wusste, dass es nicht ausreichte, einen besonderen Kuchen zu backen oder ein schönes Essen zu servieren. Damit heilte man keinen Seelenschmerz.

Es war Jörg, der in die Gegenwart zurückfand, indem er sagte: »Hast du noch einen Kaffee für mich, Mama? Danach möchte ich gern eine Runde um den See drehen. Mein Fahrrad steht hoffentlich noch in der Garage?«

Das bestätigte Inge, dann stand sie auf, um Jörg einen weiteren Kaffee zu bringen. Sie selbst schüttete sich keinen ein. Und daran konnte man erkennen, wie durcheinander Inge war. Normalerweise ging bei ihr ohne Kaffee überhaupt nichts.

Während er seinen Kaffee trank, warf Inge ihrem Sohn einen liebevollen Blick zu. Auf jemanden wie ihn konnte man sehr stolz sein, und das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass er großartig aussah. Nein, die Auerbach-Kinder hatten alle ein gutes Herz, einen guten Charakter, sie waren klug, fleißig. Sie hätte noch eine ganze Menge guter Eigenschaften aufzählen können.

Die bittere Erkenntnis war doch, dass das alles nicht zählte, dass man sich dadurch nicht einen Freifahrtschein für ein glückliches Leben erkaufte. Es konnte die Guten und die Schlechten treffen. Inge kam immer mehr zu der Erkenntnis, dass man sich zwar bemühen konnte, ein ordentliches Leben zu führen, dass jedem Menschen aber sein Schicksal vorbestimmt war. Ein Schicksal, das man annehmen oder an dem man scheitern konnte.

Ja, ja, stimmte alles. Doch was sich im Kopf abspielte, das war nicht das, was man fühlte.

Nachdem sie Jörg den Kaffee gebracht hatte, stand sie noch einmal auf, stellte eine Schale mit Keksen vor ihn hin. Früher, als die Kinder klein gewesen waren, hatte sie diese mit so etwas ein wenig ablenken können, sei es nun von einem aufgeschlagenen Knie oder einem anderen Kümmernis.

Jörg lächelte seine Mutter an, und dass das etwas war, was heute nicht mehr zog, merkte Inge daran, dass er nicht nach den Keksen griff.

Stattdessen sagte er: »Mama, danke, dass du mir zugehört hast und ein noch größeres Dankeschön dafür, dass von dir keine Vorwürfe kamen. Bitte glaub mir, ich habe mir meine Entscheidung wirklich nicht leicht gemacht, doch niemand kann über seinen Schatten springen. Außerdem muss eine Beziehung für jeden der beiden Partner stimmig sein. Und wenn dann gar noch Kinder im Spiel sind, muss man besonders vorsichtig sein. Ich wäre Sven nie gerecht geworden, und nachdem der Junge bereits eine trübe Erfahrung mit seinem eigenen Vater machen musste, ist es ihm nicht zumutbar, mit jemandem konfrontiert zu werden, der nicht einmal laue Gefühle für ihn entwickeln kann. Und auch für Charlotte wäre es auf Dauer unzumutbar gewesen. Ich kann sie nicht als eigenständige Person sehen, sie und ihr Sohn sind wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Und wenn es ein neues Glück auf ihrem Weg gibt, dann muss es für alle Beteiligten stimmig sein. Mama, es tut mir so unendlich leid, es schmerzt so sehr, dass ich die Erwartungshaltung der beiden nicht erfüllen konnte. Daran kann man sehen, was für ein seelischer Krüppel ich geworden bin.«

Er vergaß, seinen Kaffee auszutrinken, sprang auf, ging auf Inge zu, umarmte sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann verließ er mit einem ›bis später‹ den Raum, und Inge blieb wie erschlagen zurück.

Sie würde Jörg so gern helfen, doch ihr waren die Hände gebunden. Sie konnte es nicht, sie konnte allenfalls für ihn da sein. Doch reichte das, um seinen Seelenschmerz zu lindern? Sie konnte sich nicht einmal damit trösten, dass Jörg nach Hause gekommen war, um seine Wunden zu lecken.

Sie sprang auf, sie hielt es nicht mehr aus.

»Komm, Luna, wir gehen nach nebenan«, rief sie, dann verließ sie, zusammen mit der weißen Labradorhündin, die brav neben ihr hertrottete, ebenfalls das Haus. Und Luna eilte ihr sogar voraus. Sie kannte nicht nur den Weg, nein, sie wusste auch, dass es dort für sie auf jeden Fall diese köstlichen Leckerli gab.

*

Natürlich hatten Teresa und Magnus von Roth ihren Enkelsohn schon begrüßt, doch Teresa war sehr erstaunt, ihre Tochter jetzt allein zu sehen. Wenn eines der Kinder bei ihr war, da nutzte sie jeden Augenblick mit ihnen, und da vergaß sie sogar ihre Eltern, die sie sehr liebte und mit denen sie viel Zeit verbrachte.

»Ist Jörg wieder weg?«, erkundigte Teresa sich.

Inge schüttelte den Kopf, erzählte ihrer Mutter, dass er für ein paar Tage in seinem Elternhaus bleiben würde und das er gerade eine Radtour um den Sternsee machte.

Teresa blickte ihre Tochter ganz erstaunt an. So etwas war seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen. Jörg war immer nur zu Stippvisiten im Sonnenwinkel gewesen, auch, als er noch mit Stella verheiratet gewesen war und in Deutschland gelebt hatte.

Teresa blickte ihre Tochter an, die einen ganz bekümmerten Eindruck machte. Und das passte nicht zu dem Verhalten, das sie sonst an den Tag legte, wenn eines der Kinder da war. Da sprühte sie vor Glück.

»Inge, was ist los?«, erkundigte sie sich deswegen auch, und Inge konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Jörg hatte ihr zwar nicht ausdrücklich gestattet, dass sie mit jemandem darüber reden durfte, was er ihr anvertraut hatte. Doch die Großeltern waren nicht ›jemand‹. Inge war sich sicher, dass es für ihn schon okay war, dass sie darüber sprach. Und das musste sie, weil sie sonst das Gefühl hatte, zu ersticken.

»Mama, Jörg und Charlotte haben sich getrennt. Genauer gesagt, hat er die Trennung vollzogen.«

Dann erzählte Inge ihrer Mutter, was sie von ihrem Sohn gehört hatte.

»Mama, ich finde es ganz schrecklich. Jörg und Charlotte passten so wunderbar zusammen, sie waren so glücklich miteinander.«