JAMES H. SCHMITZ

 

 

DÄMONENBRUT

- Galaxis Science Fiction, Band 21 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DÄMONENBRUT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

Das Buch

 

Im Schutze der undurchdringlichen Vegetation der Wasserwelt Nandy-Cline nehmen Entwicklungen ihren Lauf, die zu einer Bedrohung für den Planeten werden. Noch ahnt niemand etwas von der großen Gefahr, die sich buchstäblich unter den Augen der Beobachtungsschiffe zusammenbraut. Erst im letzten Augenblick wird man auf die Bedrohung aufmerksam, aber da scheint es bereits zu spät zu sein, um die Planeten der Föderation vor einem grauenhaften Schicksal zu retten...

 

Der Roman Dämonenbrut von James H. Schmitz erschien erstmal im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1973.  

Dämonenbrut erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  DÄMONENBRUT

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Als der Schmerz nachzulassen begann, stellte Ticos Cay mit Erstaunen fest, dass er noch immer auf seinen Beinen stand. Diesmal war die Behandlung besonders brutal gewesen - es hatte Augenblicke gegeben, in denen er schon geglaubt hatte, den Schmerz nicht mehr beherrschen zu können. Aber es war ihm gelungen. Die Empfindungen versehrender Glut, die nicht mit voller Stärke in sein Bewusstsein gedrungen waren, reduzierten sich allmählich zu einem matten Glimmen. Dann hörte auch dieses auf. Sein W ahrnehmungsvermögen kehrte langsam zurück.

Vorsichtig erlaubte er sich, seine Körperempfindungen wieder vollständig wahrzunehmen. Es war noch immer ein unangenehmes Erlebnis. Überall spürte er ein scharfes Stechen, so als sei er vor kurzem von tausend winzigen glühenden Messern durchbohrt und aufgeschlitzt worden: der Rückstand des Schmerzes. Was eine solche Schmerzbehandlung dem menschlichen Nervensystem und Sinnesapparat an bleibendem Schaden zufügte, war zwar geringfügig, aber immerhin messbar. Die Nachwirkungen einer Reihe solcher Behandlungen konnten allerdings nicht mehr als geringfügig bezeichnet werden; und in der vergangenen Woche hatte er mehr als zwanzig davon über sich ergehen lassen müssen. Jedes Mal, wenn Ticos nach einer Behandlung den erlittenen Verlust an physischen Kräften berechnete, fragte er sich, ob der Punkt bereits erreicht sei, an dem er sich eingestehen musste, dass der Schaden nicht mehr wiedergutzumachen sein würde.

Diesmal war es jedenfalls noch nicht so weit. Sein Bewusstsein war zwar getrübt; aber dieser Zustand pflegte nach jeder Behandlung eine Zeitlang fortzudauern. Beruhigt wandte er seine Aufmerksamkeit von sich und seinem inneren Zustand auf seine Umgebung.

Der riesige Raum, in dem er sich befand, lag zum größten Teil im Dunkel, da die Ungeheuer bis auf den mittleren Teil der Deckenbeleuchtung alles Licht ausgeschaltet hatten. Der verbliebene Lichtkegel fiel auf einen Abschnitt des langen Arbeitstisches, an dem Ticos lehnte, und auf die erhöhte Plattform in sechs Meter Entfernung, von der herunter sie ihn beobachteten. Die Wände, die Borde mit den biologischen Versuchsobjekten, die Untersuchungs- und Aufzeichnungsgeräte waren in Dunkelheit getaucht.

Ticos Cay blickte sich um, nahm die einzelnen Gegenstände wahr und kehrte wieder in die Realität zurück. Zuletzt sah er zu den Ungeheuern hinüber.

»Ist es Ihnen wieder gelungen, den Schmerz nicht zu fühlen?«, fragte die kleinste der drei Gestalten.

Ticos überlegte. Er wusste zuerst noch nicht so recht, wen er vor sich hatte, aber dann fiel es ihm ein. Ja, das kleine Ungeheuer war Koll - der Großpalach Koll. Einer der einflussreichsten Führer der Ewiglebenden. Der zweite Kommandoführende der Stimme der Tat...

Ticos ermahnte sich innerlich: Nimm dich in Acht vor Koll!

Er gab einen Laut von sich, der sowohl als Stöhnen wie als vergeblicher Versuch zum Sprechen aufgefasst werden konnte. Er hätte ohne weiteres antworten können. Aber es war nicht ratsam, zu antworten, solange sein Bewusstsein noch getrübt war - vor allem nicht, wenn Koll die Fragen stellte.

Die drei Ungeheuer starrten ihn schweigend und reglos an. Ihre Haut und die umgeschnallten Gurte mit verschiedenen Ausrüstungsgegenständen glänzten feucht, so als seien sie kurz vor Betreten des Raums geradewegs dem Meer entstiegen. Was durchaus möglich war; Salzwasser war ihr Element, und sie fühlten sich unwohl und wurden krank, wenn sie längere Zeit nicht damit in Berührung kamen. Die Gestalt rechts neben Koll trug ein Gerät mit einem glimmenden blauen Lämpchen. Das Aufleuchten des Lämpchens zeigte jedes Mal den Beginn einer Schmerzbehandlung an. Das andere Wesen zur Linken Kolls hielt eine Waffe auf Ticos gerichtet. Diese beiden Ungeheuer waren gedrungene Geschöpfe, die auf muskulösen Froschbeinen hockten. Einmal war Ticos Zeuge gewesen, wie eins dieser Wesen seine Arme um den Brustkorb eines Mannes geschlungen und ihn ohne sichtliche Anstrengung langsam zu Tode gedrückt hatte.

Das war auf Kolls Befehl hin geschehen. Die großen Ungeheuer waren Untergebene der Palache und wurden von ihnen Oganoon genannt. Koll gehörte der gleichen Spezies an, war aber viel kleiner und leichter. Er war wie die meisten Großpalache ein runzliger Zwerg, kaum mehr als dreißig Zentimeter groß. In seinem Kapuzenumhang wirkte er wie eine eingeschrumpfte Mumie. Doch er konnte sich mit der Kraft und Geschwindigkeit einer Stahlfeder bewegen. Ticos hatte selbst beobachtet, wie Koll einmal zweieinhalb Meter hoch geschnellt war und einem Oganoon, der ihn geärgert hatte, eine paralysierende Nadel ins Auge gebohrt hatte. Er hatte fünf- oder sechsmal hintereinander zugestoßen, so rasch, dass das Opfer erstarrte, ohne überhaupt begriffen zu haben, was geschehen war.

Ticos wollte auf keinen Fall Kolls Zorn erregen. Andererseits musste er das Schweigen so lange wie möglich ausdehnen, damit sein Bewusstsein sich klärte und er Kolls Frage besser beantworten konnte. Er wartete, bis der Sprechschlitz über Kolls Augen sich öffnete, und sagte dann mit unsicherer Stimme: »Ich konnte es nicht ganz vermeiden, den Schmerz zu fühlen, aber er blieb erträglich.«

»Er blieb erträglich!«, echote es aus dem Sprechschlitz, so als sinne Koll über diese Antwort nach. Ticos war an die Tatsache gewöhnt, dass ein Großteil der Ewiglebenden die menschliche Sprache ausgezeichnet beherrschte, doch Kolls Stimme fiel ihm noch immer als unnatürlich auf. Sie hatte einen tiefen, warmen Klang, der ganz und gar nicht zu einem so boshaften kleinen Wesen passte. »Diese Kinder haben Angst vor Ihnen, Dr. Cay«, teilte Koll ihm mit. »Wussten Sie das?«

»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete Ticos.

»Ein Teil Ihrer Instrumente gleicht den Werkzeugen, mit denen sie für schwere Vergehen bestraft werden«, erklärte Koll. »Sie flößen ihnen Furcht ein. Sie haben Angst vor Ihnen, weil sie glauben, dass Sie ihnen große Pein zufügen können. Und auch noch aus anderen Gründen... Ihr Kommunikator hat in den letzten beiden Tagen sechs Rufsignale erhalten.«

Ticos nickte. »Das habe ich gehört.«

»Sie haben vorausgesagt, dass einer von den sogenannten Tuvelas versuchen würde, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen.«

Nach kurzem Zögern sagte Ticos: »Der Ausdruck Tuvela stammt von Ihnen. Die Person, auf die Sie sich beziehen, ist mir unter der Bezeichnung Wächter bekannt.«

»Es handelt sich offenbar um die gleiche Art von Geschöpfen«, erwiderte Koll. »Wesen, denen übernatürliche Eigenschaften nachgesagt werden. Darunter auch die Eigenschaft, unbesiegbar zu sein. Dr. Cay, was wissen Sie über diese bemerkenswerten Eigenschaften - falls diese Wesen sie überhaupt besitzen?«

Ticos zuckte mit den Schultern. »Wie ich Ihnen bereits erklärte, habe ich erst seit relativ kurzer Zeit Kenntnis von den Wächtern und ihrer Funktion in unserer Zivilisation. Sie arbeiten streng geheim. Ich habe bisher nur eins ihrer Mitglieder persönlich kennengelernt. Sie erschienen mir als ein Mensch mit außerordentlichen Fähigkeiten. Doch wenn sie oder die Wächter im allgemeinen übernatürliche Eigenschaften besitzen sollten, so weiß ich nichts davon.« Er fügte als Nachsatz hinzu: »Offenbar wissen die Ewiglebenden mehr über die Wächter als ich.«

»Das ist möglich. Und wie Sie sagten, behaupten sie von sich, unsterblich zu sein.«

Ticos schüttelte den Kopf. »Mir wurde gesagt, sie hätten Methoden entwickelt, mit deren Hilfe sie einem Organismus Jugend und Gesundheit wiedergeben und lange Zeit erhalten können, aber nicht, dass sie unsterblich sind. Dieser Ausdruck ist für mich ohne Bedeutung.«

»Die Vorstellung von unsterblichen Lebewesen ist für Sie ohne Bedeutung, Dr. Cay?«

Ticos zögerte wieder, denn es konnte gefährlich werden, einem Palach gegenüber zu diesem Thema eine Aussage zu machen. Doch er sagte: »Wer kann beweisen, dass er unsterblich ist, bevor er nicht das Ende der Zeit erreicht hat?«

In Kolls dunklem Gesicht zuckte es. Möglicherweise amüsierte ihn diese Antwort. »Ja, wer?«, meinte er zustimmend. »Beschreiben Sie mir, wie Ihre Beziehung zu diesen Wächtern aussieht.«

Ticos hatte Koll seine Beziehung zu den Wächtern schon mehrfach beschrieben. Er erklärte: »Vor zwei Jahren wurde ich gefragt, ob ich in ihren Dienst treten wolle. Ich habe zugestimmt.«

»Weshalb?«

»Ich werde alt, Großpalach. Als Entlohnung sollte ich unter anderem in den Methoden der Wächter unterwiesen werden, mit deren Hilfe eine lange Lebensdauer und die Wiederherstellung der Jugendkräfte erzielt werden kann.«

»Und Sie haben diese Unterweisung erhalten?«

»Ich bin in die Anfangsgründe eingeweiht worden. Offenbar ist man mit meinen Fortschritten zufrieden.«

»Worin bestehen Ihre Dienste für die Wächter, Dr. Cay?«

»Ich befinde mich noch in der Ausbildung, und man hat mir bisher nicht mitgeteilt, welcher Art meine zukünftige Tätigkeit sein wird. Ich nehme an, dass meine wissenschaftlichen Kenntnisse dabei eine Rolle spielen werden.«

»Die Fähigkeit, durch Nervenkontrolle den Schmerz abzuwehren, haben Sie bei diesen Langlebigkeitsübungen erworben?«

»Ja, das habe ich.«

Darauf folgte eine lange Pause. Kolls Sprechschlitz hatte sich geschlossen, und er verharrte regungslos, wobei der obere Teil seiner doppellinsigen Augen Ticos mit leerem, bösen Blick anstarrte, während der untere Teil von den Lidern bedeckt war. Die ungeschlachten Untergebenen waren ebenfalls in Reglosigkeit erstarrt, vermutlich um ihren Respekt zu bezeigen. Ticos war nicht sicher, was diese Pause zu bedeuten hatte. Das gleiche hatte sich auch schon bei früheren Befragungen ereignet. Vielleicht dachte das kleine Ungeheuer nur über das, was gesagt worden war, nach. Doch es schien in eine Art Trance verfallen zu sein. Wenn man es in diesem Zustand ansprach, würde es nicht antworten. Es schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Ticos vermutete, dass dem merkwürdigen Verhalten Kolls das gleiche Phänomen zugrunde lag, das bei Menschen Wahnsinn genannt wird. Selbst Großpalache von gleichem Rang wie er schienen ihn zu fürchten, während er ihnen mit kaum verhüllter Verachtung begegnete. Sein dunkler Kapuzenumhang, der oft nur leidlich sauber wirkte, war aus einfachstem Material, während seine Kollegen ihre winzigen Körper unter reich verzierten und juwelenbesetzten Gewändern verbargen. Allem Anschein nach zogen sie es vor, Kolls Gegenwart zu meiden, doch er übte starken Einfluss auf sie aus.

Der Sprechschlitz über Kolls Augen öffnete sich wieder.

»Dr. Cay«, ertönte Kolls Stimme, »meine Neigung, Sie in mein Museum der Menschheit einzureihen, wird immer größer. Sie haben meine Kollektion gesehen?«

Ticos räusperte sich. »Ja«, meinte er.

»Ach ja, natürlich«, sagte Koll, so als sei es ihm gerade eingefallen, »ich habe sie Ihnen vorgeführt, zur Warnung, damit Sie uns nicht anlügen. Und vor allem, damit Sie mich nicht anlügen.«

Ticos sagte vorsichtig: »Ich habe mich sehr darum bemüht, Ihnen keine Lügen zu erzählen, Großpalach.«

»Tatsächlich? Ich bin dessen nicht so sicher«, meinte Koll. »Glauben Sie, dass die Person, die über den Kommunikator mit Ihnen Verbindung aufzunehmen versucht, die Wächterin ist, von der Sie uns berichtet haben?«

Ticos nickte. »Ja, die Wächterin Etland.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Sie ist die einzige, die die Codenummer meines Kommunikators kennt.«

»Weil Sie hier isoliert bleiben sollten?«

»Ja.«

»Die Wächterin Etland beaufsichtigt Ihre Ausbildung?«

»Ja.«

»Sie beschreiben sie als eine junge Frau«, meinte Koll.

»Ich sagte, dass sie jung aussieht«, stellte Ticos richtig. »Ich weiß nicht, wie alt sie ist.«

»Sie sagen, dass diese Wächter oder Tuvelas eine Form der Lebensverlängerung entwickelt haben, die ihnen sogar den äußeren Anschein ewiger Jugend verleiht...«

»So etwas hat die Wächterin Etland angedeutet.«

»Und doch behaupten Sie«, fuhr Koll fort, »dass die Wächter Sie mit der Aufgabe betraut haben, hier unter den Lebensformen dieser Welt nach Substanzen zu suchen, die eine Verlängerung des Lebens gewährleisten. Welches Interesse können die Wächter an einer Forschungsarbeit haben, die ihnen nichts weiter einbringt, als was sie bereits besitzen?«

Ticos zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass sie mich auf verschiedenartige Weise prüfen, und vielleicht ist dies die Methode, mit der sie meine Fähigkeiten als Biochemiker prüfen wollen. Aber es ist ebenso gut möglich, dass sie noch immer daran interessiert sind, einfachere oder zuverlässigere Methoden der Lebensverlängerung zu finden als die es sind, die sie jetzt besitzen.«

»Welche Rolle spielen Chemikalien, bei ihren jetzigen Methoden?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe die Anfangspraktiken beschrieben, in die ich eingeweiht worden bin und in denen ich mich üben soll. Über die fortgeschritteneren Prozeduren hat man mich nicht informiert. Meine Forschungsarbeit beschränkt sich auf die Beobachtung der Wirkungen meines Testmaterials.«

»Sie haben angedeutet, dass Ihre Forschung für die Ewiglebenden einen gewissen Wert haben könnte...«

»Das habe ich nicht angedeutet«, sagte Ticos. »Ich habe allerdings bemerkt, dass eine Reihe von Palachen meine Testergebnisse beobachtet und die dabei verwendeten Substanzen analysiert.«

»Sie sollten daraus nicht schließen, dass das wissenschaftliche Interesse dieser Leute eine Garantie für Ihre weitere Sicherheit ist, Dr. Cay. Unsere Methoden der individuellen Lebensverlängerung bedürfen keiner Verbesserung. Ich bin sicher, dass Sie uns etwas vorlügen. Und ich habe die Absicht herauszufinden, auf welche Weise Sie uns belügen. Weshalb haben Sie die Erlaubnis erbeten, den Ruf der Wächterin zu beantworten?«

»Ich habe dem Palach Moga mein Vorhaben erklärt«, sagte Ticos.

»Erklären Sie es mir.«

Ticos deutete zu den Gärten und den Forschungsexemplaren in den entfernteren Teilen des Raums hinüber, die im Dunkeln lagen. »Die Verantwortung für dieses Projekt trägt die Wächterin Etland. Sie ist auch für mich und meine Ausbildung verantwortlich. Bis zu Ihrer Ankunft hat sie mich in regelmäßigen Abständen aufgesucht, um meine Fortschritte zu begutachten. Seither hat sie sich nicht mehr blicken lassen.«

»Was schließen Sie daraus?«

»Es ist möglich, dass die Wächter von Ihrer Anwesenheit

Kenntnis haben.«

»Diese Möglichkeit sehe ich nicht ein, Dr. Cay.«

»Das ist meiner Meinung nach die einzige Erklärung für das Ausbleiben der Wächterin Etland«, entgegnete Ticos achselzuckend. »Vielleicht ziehen die Wächter es vor, dass Sie und die Ihren sich unbemerkt entfernen, bevor es zu einem allgemeinen Aufruhr kommt. Wenn man mir erlauben würde, beim nächsten Rufsignal den Kommunikator zu benutzen, erfahren wir vielleicht, dass die Wächterin bereits auf dem Weg hierher ist, aber nicht meinetwegen, sondern um mit den Ewiglebenden zu sprechen...«

»Sie würde sich wissentlich in das von uns besetzte Gebiet begeben?«, fragte Koll.

»Nach dem zu schließen, was verschiedene Palache mir erzählt haben«, meinte Ticos, »wäre das nichts Außergewöhnliches für eine Tuvela. Wenn es wahr ist...«

»Nehmen wir an, dass es nicht wahr ist, Dr. Cay.«

»Dann sollte man mir trotzdem erlauben, den Ruf zu beantworten und sie davon abzuhalten, mich im gegenwärtigen Zeitpunkt zu besuchen. Wenn sie von Ihrer Anwesenheit noch nichts weiß und hierher kommt, wird sie es bald erfahren. Und selbst wenn Sie sie daran hindern können, wieder abzureisen...«

Koll fauchte. »Gewiss werden wir sie daran hindern können, wieder abzureisen.«

»Wie Sie mir gegenüber angedeutet haben, geht aus Ihren eigenen Aufzeichnungen hervor, dass Tuvelas äußerst findige Wesen sind«, bemerkte Ticos sanft. »Doch wenn Sie die Wächterin gefangen nehmen oder gar töten sollten, werden sofort andere nachfolgen und sie suchen. Ihre Anwesenheit hier wird in jedem Fall entdeckt werden.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich möchte nicht, dass diese Dinge geschehen. Als ein im Dienste der Wächter Stehender ist es meine Pflicht, sie zu verhindern, soweit ich das vermag. Wie Sie wissen, habe ich versucht, einige der Ewiglebenden davon zu überzeugen, dass die Pläne gegen meine Rasse aufgegeben werden müssen, bevor ein allgemeiner Konflikt unvermeidlich wird.«

»Das ist mir bekannt«, sagte Koll. »Sie hatten damit erstaunlich - und beschämend - viel Erfolg. Die Stimme der Vorsicht wird immer hartnäckiger. Sogar die von Ihnen vorgeschlagene Benutzung des Kommunikators findet Unterstützung. Ist es vielleicht möglich, Dr. Cay, dass Sie ein Wächter sind, der sich absichtlich gefangen nehmen ließ, um die Ewiglebenden zu verwirren und ihre Entschlusskraft zu schwächen?«

»Nein«, antwortete Ticos, »ich bin kein Wächter.«

»Sie sind ein Hulon?«

»Da das der Name ist, mit dem Sie gewöhnliche Menschen bezeichnen, bin ich ein Hulon.«

»Dieser Name bezieht sich auf eine bösartige und dumme Kreatur, der wir in der Vergangenheit begegnet sind«, erklärte Koll. »Wir vernichteten diese Kreatur, so dass die Bezeichnung frei war und von neuem verliehen werden konnte. Trotz all Ihrer Bemühungen werden unsere Pläne nicht aufgegeben werden, Dr. Cay. Ich weiß, dass Sie lügen. Nicht allzu plump, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis wir Ihrer Geschichte auf den Grund kommen... Inzwischen beschäftigen Sie sich mit Ihrer Kollektion hier - und denken Sie gelegentlich auch mal an meine...«

Ticos sah ihn keine Bewegung machen, aber der Oganoon zur Rechten Kolls befestigte das Nervenpeinigungsinstrument an einem der um seinen massigen Körper gewundenen Gurte und drehte sich halb herum. Die kleine verhüllte Mumie tat einen raschen Satz und hockte dann unversehens auf der Schulter ihres Untergebenen. Die Gruppe entfernte sich von der Plattform und bewegte sich auf einem erhöhten Gang der Ausgangstür zu, wobei der bewaffnete Diener die Nachhut bildete und sich in kraftvollen kurzen Hüpfschritten rückwärts bewegte, seine Waffe unentwegt auf Ticos Cay gerichtet. Die Beleuchtung wurde wieder voll eingeschaltet.

Ticos sah, wie die drei Gestalten durch die Tür verschwanden, und hörte die schweren Schlösser zuschnappen. Er holte zitternd Luft, nahm ein kastenförmiges Gerät vom Arbeitstisch und befestigte es an seinem Gürtel. Es war ein kompliziertes Instrument, mit dessen Hilfe er die Temperatur, Feuchtigkeit, Strahlungsabsorption und andere Eigenschaften seiner biologischen Forschungsexemplare in verschiedenen Teilen des Raums kontrollierte.

Seine Finger zitterten. Die Befragung war nicht so verlaufen, wie er es sich gewünscht hätte. Koll hatte sich nicht so grausam brutal wie sonst gezeigt - und das, obwohl Ticos ihn ein paarmal absichtlich provoziert hatte. Er hatte nur ein einziges Mal von dem Peinigungsgerät Gebrauch gemacht. Koll war für seine Verhältnisse direkt leutselig gewesen.

Das schien ein schlechtes Omen zu sein. Man konnte daraus schließen, dass Koll tatsächlich überzeugt davon war, die Zweifel, die Ticos in anderen führenden Palachen genährt hatte, zerstreuen zu können, indem er ihnen bewies, dass ihr Gefangener sie falsch informiert hatte. Und Ticos hatte sie in der Tat vollkommen falsch informiert. Im Laufe der letzten Wochen hatte er ein sorgfältig konstruiertes Gebäude von Lügen, Halbwahrheiten und beunruhigenden Andeutungen errichtet, das den Zweck hatte, in den Ewiglebenden Furcht vor den Menschen oder zumindest Furcht vor den Tuvelas zu nähren. Die, soweit Ticos Cay wusste, überhaupt nicht existierten. Es war nicht immer ganz einfach gewesen, Widersprüche zu vermeiden, doch inzwischen war ihm die Geschichte schon so vertraut geworden, dass er manchmal beinahe selbst daran glaubte.

Das hatte die Ausführung der Pläne der Ewiglebenden bisher wirksam verhindert. Und trotz Kolls Machenschaften war das vielleicht auch weiterhin möglich - das hing allerdings zu einem großen Teil vom Zufall ab. Ticos seufzte lautlos. Er hatte den Zufallsfaktor so weit wie möglich reduziert, aber er war noch immer zu groß. Viel zu groß!

Ticos ging langsam im Raum umher und hantierte ab und zu an seinem Gerät, um die Bedürfnisse seiner biologischen Versuchsexemplare zufriedenzustellen. Er hatte bisher nicht feststellen können, ob er ständig beobachtet wurde oder nicht, aber es war möglich, und er durfte deshalb keinen allzu besorgten Eindruck machen. Gelegentlich spürte er, wie sich der Boden unter ihm hob und senkte wie das Deck eines riesigen Schiffs, und dann hörte er das Schwappen von Wasser in dem abgeteilten Ende des Raums, in dem sein Kommunikator stand. Er wurde ständig von Oganoonposten bewacht, die aufpassten, dass Ticos nicht in die Nähe des Kommunikators gelangte, solange ihm dies von den Ewiglebenden nicht erlaubt worden war. Der Boden des Raums war mit Wasser bedeckt, damit die Wachposten ihre ledrige Haut nasshalten konnten.

Durch das mit einem Energieschirm gesicherte Lüftungsfenster nahe der Decke drangen dumpfe Laute zu Ticos herein, die wie das entfernte Brüllen eines wilden Tieres klangen. Dieses Geräusch und das gelegentliche Sichheben und -senken des Bodens waren die einzigen Anzeichen, aus denen Ticos in den vergangenen Tagen hatte schließen können, dass draußen noch immer die Taifune rasten...

 

Regenböen verschleierten die Meeresoberfläche unterhalb des Luftfahrzeugs. In den südlichen Breiten von Nandy-Cline herrschte die Zeit der Stürme... blauschwarz wölbte sich in der Ferne der Horizont; schwere Wolkenbänke trieben wirbelnd über den Ozean nach Süden. Das elegante kleine Fahrzeug wurde plötzlich in einen Luftstrudel hineingerissen und hin und her geschleudert, um dann wieder eine Zeitlang ruhig seinen südöstlichen Kurs fortzusetzen.

In der Kabine drückte Nila Etland eine Reihe von Tasten auf dem Schaltbrett des Kommunikators und sagte ins Mikrofon: »Giard Pharmazeutische Station - bitte kommen! Hier ist Nila Etland... Giard, bitte kommen!«

Sie wartete einen Augenblick mit gespanntem Gesicht. Aus dem Kommunikator ertönte ein Summen, das sich zu einem schwankenden, von knatternden Geräuschen durchsetzten Heulton steigerte. Ungeduldig drehte Nila die Geräuschfilterung nach rechts und dann nach links. Auf der ganzen Skala das gleiche Rauschen und Knattern. Ihr Kommentar war ein verärgertes Murmeln. Ihre Finger glitten über die Tasten und wählten eine andere Codenummer.

»Danrich Parrol - hier ist Nila! Bitte kommen! Dan, kannst du mich hören? Melde dich!«

Einen Augenblick lang blieb alles still. Dann ertönte wieder das Rauschen. Nila kniff verärgert die Lippen zusammen. Sie schaltete das Gerät aus und blickte hinab auf das Tier, das neben ihr auf dem Fußboden zu einem dicken Wulst von glänzendem braunem Fell zusammengerollt lag. Es hob seinen schnurrbärtigen Kopf und sah sie mit seinen dunklen Augen an.

»Dan?«, fragte es mit hoher piepsiger Stimme.

»Weder Dan noch sonst jemand!« fauchte Nila. »Wenn wir über dreißig Kilometer hinausgehen, stoßen wir überall auf eine Suppe von atmosphärischen Störungen.«

»Suppe?«

»Lass gut sein, Sweeting. Wir wollen versuchen, die Schlittenmänner zu erreichen. Vielleicht können sie uns helfen, Ticos zu finden.«

»Ticos finden!«, meinte Sweeting beifällig. Die pelzige Gestalt rollte sich auseinander und richtete sich auf. Sweeting stemmte ihre kurzen, kräftigen Vorderbeine gegen das Schaltbrett und blickte suchend auf die Ausschnitte von Meer und Himmel, die auf den Sichtschirmen zu sehen waren, wandte sich dann zu Nila. Sie maß von der Schnauze bis zur Spitze ihres muskulösen Schwanzes zweieinviertel Meter und war die kleinere der beiden mutierten Jagdottern, die Nila gehörten. »Wo sind die Schlittenmänner?«

»Irgendwo vor uns.« Nila hatte den Kurs des Fahrzeugs um fünfzehn Grad nach Osten verschoben. »Leg dich hin.«

Der Schlitten, den sie vor wenigen Minuten auf den Sichtschirmen erblickt hatte, kam wieder in Sicht, diesmal nur wenige Kilometer entfernt. Der Vergrößerungsschirm zeigte ein hundertfünfzig Meter langes Treibholzfloss mit einem flachen, stromlinienförmigen Aufbau, das in zehn Meter Höhe auf Kufen über die tosende See glitt. Der mittlere Schlechtwetterkiel war herabgelassen und durchschnitt zwischen den Kufen die Wogen. An einem weniger stürmischen Tag wäre der Schlitten mit hochgezogenem Kiel und gehissten Segeln mit einem Anschein von Schwerelosigkeit über das Meer geschwebt. Jetzt waren die Masten flach über Deck gekippt, und der Schlitten rauschte mit schwerem Geschützantrieb durch den Sturm. Das regennasse Achterdeck war mit zwei tiefblauen Dreiecken geschmückt - dem Blauen-Guul-Symbol der Sotira-Flotte.

Als der Schlitten unter der nächsten Wolkenbank verschwand, schaltete Nila den Kommunikator auf Fünfzehn-Kilometer-Kontakt um und sagte ins Mikrofon: »Dr. Nila Etland von Giard Pharmazeutische Station ruft Sotira-Schlitten! Bitte antworten!« Der Nahbereich-Kontakt schien noch in Ordnung zu sein. Und dort unten musste man sie eigentlich dem Namen nach kennen. Die Sotira-Schlitten brachten für Giard regelmäßig Meeresernte ein.

Plötzlich antwortete der Kommunikator: »Hier Kapitän Doncar vom Sotira-Schlitten. Sprechen Sie, Dr. Etland...«

»Ich bin hinter Ihnen in der Luft«, sagte Nila. »Kann ich an Bord kommen?«

Kurzes Schweigen. Dann antwortete Doncar: »Wenn Sie unbedingt wollen. Aber wir werden in weniger als fünfzehn Minuten in einen schweren Sturm geraten.«

»Ich weiß - ich möchte Sie nicht aus den Augen verlieren.«

»Dann kommen Sie sofort herunter«, riet Doncar. »Wir werden bereit sein.«

Und das waren sie. Noch bevor Nila aus dem Fluggerät klettern konnte, war es schon von einem halben Dutzend Männern in Schwimmausrüstung, deren muskulöse nackte Rücken im Regen glänzten, sicher an Deck des Schlittens vertäut worden, gleich neben einem plastikverhüllten Gegenstand, der einem übergroßen Harpunengeschoss ähnlich sah. Es war ein geübter und disziplinierter Einsatz. Als die Männer sich zurückzogen, kam ein braunhäutiges Mädchen, das wegen des Wetters wie die Mannschaft gekleidet war, von der mittleren Kabinenreihe herangelaufen. Sie rief etwas, das von Wind und Regen fast verschluckt wurde.

Nila drehte sich um. »Jath!«

»Hierher, Nila! Bevor wir von der Nässe ertränkt werden...«

Sie liefen auf die Kabinen zu, gefolgt von der Otter, der die Matrosen bereitwillig Platz machten. Viele von Sweetings Verwandten zogen ein Leben in ungehinderter Freiheit im Ozean von Nandy-Cline einem domestizierten Leben vor; und diese im Meer lebenden mutierten Ottern waren jedem Schlittenmann zumindest vom Hörensagen bekannt. Es hatte wenig Sinn, sich mit ihnen anzulegen.

»Hier herein!« Jath stemmte eine Tür auf, schlüpfte hinter Nila und der Otter in die Kabine und ließ die Tür hinter sich zufallen. Auf einem Tisch lagen Handtücher bereit; sie warf Nila zwei davon zu und tupfte mit einem dritten flüchtig ihre kupferfarbene Haut ab. Sweeting schüttelte ihren Pelz, dass es in der Kabine nur so spritzte. Nila wischte ihren tropfenden Overall ab, reichte ein Handtuch zurück und trocknete mit dem anderen Gesicht, Haar und Hände. »Danke!«

»Doncar ist im Augenblick beschäftigt«, erklärte Jath. »Er hat mich beauftragt, herauszufinden, was wir für dich tun können. Also - was führt dich bei diesem Wetter zu uns?«

»Ich suche jemanden.«

»Hier?« Jaths Stimme drückte Überraschung aus.

»Dr. Ticos Cay.«

Schweigen.

»Dr. Cay befindet sich in diesem Bereich?«

»Es ist möglich, dass...« Nila hielt inne. Jath hatte ebenso rasch wie absichtsvoll ihre rechte Hand ans Ohr gehalten und wieder sinken lassen.

Sie kannten einander gut genug, um diese Geste zu verstehen. Jemand an Bord des Schlittens lauschte auf das, was in der Kabine gesprochen wurde.

Nila zeigte Jath mit einem kurzen Nicken, dass sie verstanden hatte. Offenbar ging in diesem Bereich des Ozeans etwas vor, das die Schlittenmänner als ihre ureigene Angelegenheit betrachteten. Nila kam vom Festland und war somit eine Außenseiterin, wenn auch eine privilegierte.