Hab ich selbst gemacht

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Längere Links sind durch Kurz-URL ersetzt

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr genau, womit alles anfing. Ich weiß nur: Auf einmal war da dieser Wunsch, so viel wie möglich selbst zu machen.

Es gab eine Menge gute Gründe dafür: Ich könnte kreativ sein, etwas mit meinen eigenen Händen herstellen, würde ausprobieren, weniger zu konsumieren – stattdessen würde ich produzieren. Nicht zuletzt: Ich würde mich mit der Umsetzung der Idee in ein Abenteuer stürzen – und wer bitte mag keine Abenteuer?

Ich jedenfalls brauchte eines, dringend, das wurde mir über die letzten Wochen oder vielleicht sogar Monate hinweg klar. Tag für Tag sitze ich acht bis zehn Stunden am Computer. Wie vermutlich jeder andere Durchschnittsarbeiter in der Wissensgesellschaft. Wir produzieren und produzieren, aber es »entsteht« nicht wirklich etwas daraus. Zumindest nichts »Handfestes«. Am Ende des Tages existieren ein paar neue Ideen, neue Texte, neue Vereinbarungen. Aber die kann ich nicht anfassen, nicht sehen, nicht riechen. Stattdessen: Computer aus, Bezug zum Tagewerk weg.

Meine Hände sind notorisch unterfordert, fast schon gelangweilt, meistens berühren sie den ganzen Arbeitstag lang kaum etwas anderes als die Plastiktastatur des Computers. Dabei könnten sie doch eigentlich so viel mehr: kneten,

Gedanklich habe ich meinen Händen diese Möglichkeiten schon ziemlich oft gegeben. Ich dachte mir, während ich eine Fertigpizza in den Ofen schob: ›Ich könnte Pizza auch einfach selber backen.‹ Oder: ›Ich sollte versuchen, mir so ein Kleid selber zu nähen‹, als ich das Preisschild des Designerkleides sah, in das ich mich gerade verliebt hatte. ›Und könnte ich nicht mehr als nur Salbei, Basilikum, Rosmarin und Pfefferminze auf dem Balkon anbauen?‹, fragte ich mich, während ich ein paar Blätter vom Basilikum zupfte und über die gekauften Tomaten streute.

Immer öfter kam mir der Gedanke: Ich sollte viel mehr selber machen. Und immer wieder folgte dem Gedanken die Erkenntnis: Das kann ich doch gar nicht. Oder: Mir fehlt dazu einfach die Zeit.

In einem Selbermach-Jahr dagegen müsste ich mir die Zeit nehmen. Und ich müsste eben lernen, wie etwas gemacht wird.

Also beschloss ich: Im nächsten Jahr mache ich alles selbst. Kann schon sein, dass so ein Entschluss manchen Menschen seltsam vorkommt. Aber ich bin nicht allein mit meinem Wunsch, mehr mit meinen Händen zu arbeiten. Zeitungen und Magazine im ganzen Land schreiben, Selbermachen sei das neue große Ding. Sie sagen, die Deutschen würden wie verrückt gärtnern, werkeln, stricken – ganz Deutschland suche im Baumarkt und in der Gartenerde das Glück.

Vielleicht suchen Menschen Erfüllung im Selbermachen, weil sie sie im Konsum nicht finden. Vielleicht ist es wie bei mir das einfache Bedürfnis, etwas mit den Händen zu tun. Vielleicht zeigt sich in diesem Trend auch die weltweite Wirtschaftskrise, und Menschen machen wieder mehr selber, weil ihnen das Geld fehlt, um alles einfach zu kaufen.

Vielleicht ist es auch eine Mischung aus allem. Es gibt auf jeden Fall viele gute Gründe, meine T-Shirts in Zukunft selber zu machen. Da ich sogar eine Nähmaschine besitze, die ich sogar hin und wieder benutze, hält mich eigentlich gar nichts davon ab, Teil der Do-it-yourself-Bewegung zu werden. Außer meiner Faulheit.

So politisch der Selbermachgedanke sein kann, so egoistisch können auch die Motive sein. Denn eine kreative Sinnsuche kann sich beispielsweise nur leisten, wer ansonsten keine oder nur sehr wenige Probleme hat. Wer jeden Tag auf dem Feld oder in der Fabrik mit seinen Händen malochen muss, hat vermutlich kein Bedürfnis, abends noch etwas »Echtes« herzustellen. Do it yourself ist ein Phänomen, das durch die Konsum- und Luxusgesellschaft noch angefeuert wird. Zu der auch ich gehöre, denn ich habe keine grundlegenden existenziellen Sorgen. Ich arbeite fünf Tage pro Woche, in der Regel von zehn bis sieben Uhr. Und zwar als freie Journalistin in einem Büro, in dem auch andere selbstständige Autorinnen und Autoren arbeiten. Ich biete Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen Texte an und verbringe deswegen meine Arbeitszeit vor allem am Computer, mit Lesen und Telefonieren.

Die Wochenenden mag ich faul, verbummele sie gern gemeinsam mit dem Mann meines Herzens. Er ist ebenfalls Journalist, und so ein Wochenende verbringen wir vor allem mit Lesen: zum Beispiel während des Frühstücks verschiedene Zeitungen, das sich dadurch bis weit über die

Eigentlich könnten die nämlich einiges: Als Kind habe ich Häkeln und Stricken gelernt, habe es aber schon lange nicht mehr gemacht. Auch Nähen habe ich als Jugendliche gelernt – außer der einen oder anderen Gardine nähe ich aber so gut wie nie etwas. Dabei wird in meiner Familie seit Generationen gestrickt und genäht, überhaupt: selbst gemacht.Meine Mutter ist sogar gelernte Schneiderin, meine Schwester ist Ergotherapeutin, meine Oma war Köchin, mein Opa Konditor. Angesichts meiner Herkunft schlage ich aus der Art mit meinem Job, bei dem die Hände nur zum Tippen gut sind.

Ich hatte in der Schule Werk- und Schulgartenunterricht. Was ich da gelernt habe, ist mir im Laufe der Jahre verloren gegangen. In meinem Leben habe ich eine ganze Reihe Ikea-Schränke auf-, aber noch kein Möbelstück selber gebaut.

An den Wochenenden, aber auch an den Abenden könnte ich also meinen Händen Auslauf geben, könnte sie und mich herausfordern.

Seitdem ich darüber nachdenke, ein Jahr lang alles selber zu machen, stoße ich vor aber allem auf ein Problem: Ich vermute nämlich, wenn ich wirklich alles selber mache, dann werde ich auch bei striktem Faulenz-und-Bücher-Verbot gerade mal dazu kommen, mir die lebensnotwendigen Basics selbst herzustellen: mein Essen und meine Kleidung. Das allerdings würde mein Abenteuer auf schlichte

Trotzdem braucht das Abenteuer ein paar Regeln. Um genau zu sein: fünf.

Auf den ersten Blick mögen meine Regeln nicht besonders bedrohlich erscheinen, aber für mich sind sie eine Herausforderung. Punkt zwei beispielsweise legt fest: Ich darf ein Jahr lang keine Klamotten kaufen. Denn eigentlich kann ich nähen, ich tue es nur nie. Punkt drei kann bedeuten, dass ich zwölf Monate lang Dinge machen muss, die ich langweilig finde. Und Punkt vier heißt nichts anderes, als dass mir meine wichtigste Ausrede abhanden kommt: »Das kann ich nicht.« Was ich nicht kann, muss ich lernen, mir von jemandem beibringen lassen, sei es von einer Person oder einem Buch. Und was ich nicht weiß, muss ich recherchieren.

Dieses Jahr wird deswegen nicht nur eine Reise zu den Grenzen meiner handwerklichen Fähigkeiten, sondern auch eine Expedition in die Welt der Selbermacher. Ich will wissen, warum Menschen das Arbeiten mit den eigenen

Es geht los. Nur: Womit anfangen?

Ich reibe mir am Morgen die Augen, strecke mich, und erst mal ist nichts anders als im letzten Jahr. Bis auf einen kleinen Silvesterkater fühlt sich alles normal an.

Allerdings stellt sich nun die Frage: Womit fange ich an? Ich liege in einem Bett, das ich nicht gebaut und dessen Matratze ich nicht gestopft habe. Die Bettwäsche genäht oder Decke und Kissen gefüllt habe ich auch nicht. Hieße das in meinem Selbermachjahr, ich sollte so bald wie möglich in einen Baumarkt und in einen Stoffladen gehen, um genau das zu tun: Mir meine Schlafstätte mit den eigenen Händen zu erschaffen?

Unsinn. Ich habe ja ein Bett, ein zweites würde nur störend in der Gegend herumstehen.

»Sag mal«, sage ich und drehe mich zum Mann, der neben mir noch Schlaf simuliert, obwohl der Wecker schon vor sieben Minuten geklingelt hat, »sag mal, wo fang ich denn jetzt an?«

»Hm?«, brummt der Mann, »fang damit an, leise zu sein und noch ein bisschen zu schlafen.«

»Ich meine, was soll ich denn jetzt als Erstes machen? Und was soll ich überhaupt alles selber machen? Ich kann ja nicht wirklich alles selber machen.« Vielleicht ist dieser Wunsch,

»Ja, Quatsch, ne.« Okay, der Mann ist keine große Hilfe.

So also nicht.

Aber wie dann?

Ich könnte gleich heute meinen Tag gründlich in Augenschein nehmen: was ich benutze, verbrauche, anziehe, esse, mit mir herumtrage. Ein Protokoll der nächsten 14 Stunden müsste mir doch weiterhelfen bei der Frage, was ich in Zukunft selber machen statt kaufen kann.

Ich stehe auf und schubse den Mann noch mal an: »Hey, aufwachen, der Tag wartet!« Dann suche ich mir einen Zettel und einen Stift und lege sie im Laufe des Tages kaum noch aus der Hand:

  • Ein paar Liter heißes Wasser, ein Klecks Shampoo, ein Klecks Duschgel, etwas kaltes Wasser, ein Frotteehandtuch, eine Handvoll Bodylotion, ein Klecks Gesichtscreme, zwei Wattestäbchen, ein Kamm, etwas Haarpflege.

  • Eine Unterhose, ein Unterhemd, eine Strumpfhose, ein T-Shirt, ein Rock, eine Bluse, eine Strickjacke, ein Paar Hausschuhe.

  • Ein halber Liter Wasser, ein Wasserkocher, ein Teelöffel schwarzer Tee, ein Tee-Ei, ein großer Teebecher, ein Schluck Sojamilch. Ein Brotmesser, ein Brett, zwei Scheiben Brot. Ein Messer, ein Teller, etwas Butter,

  • Eine Zahnbürste, ein Klecks Zahnpasta, eine Haarbürste. Etwas Haarwachs.

  • Ein Rucksack, ein Geldbeutel, eine Packung Taschentücher, Halsbonbons, Lippenpflege. Ein Paar Schuhe, ein Anorak, ein Schal, eine Mütze, Handschuhe. Ein Schlitten.

  • Ein Teller, eine Gabel, ein Löffel, Spaghetti, Tomatensoße, Reibekäse, etwas Salz, ein Glas Wasser, eine Serviette.

  • Ein Buch. Wasser, zwei Teelöffel Kaffee, ein Schluck Sojamilch, eine Kaffeetasse, ein paar Kekse.

  • Ein Telefon. Ein Computer.

  • Eine Pfanne, ein Herd, zwei Eier, etwas Salz, Schnittlauch, ein Rührlöffel, ein Teller, zwei Scheiben Brot, zwei Scheiben Käse, ein Messer, eine Gabel, ein Glas Wasser.

  • Ein Paar dicke Socken, ein Sofa, eine Decke, ein Fernseher, eine Fernbedienung. Eine Kanne Tee, ein großer Teebecher.

  • Eine Zahnbürste, ein Klecks Zahnpasta, etwas Gesichtsreiniger, ein Handtuch, Gesichtscreme, eine Haarbürste.

  • Ein Schlafanzug, ein Bett, eine Bettdecke, ein Laken.

Als ich mir die Liste abends im Bett anschaue, finde ich: gar nicht so schlecht. Da ist einiges dabei. Klamotten, Brot, Butter, Kresse, Strickwaren, Nudeln und Kekse auf der Liste bekommen ein dickes Kreuz. Das alles lässt sich selber machen, vermutlich ohne Grundlagenstudium. Anders sieht es aus

Und dann gibt es da die sehr interessanten Fälle, die irgendwo zwischen »Easy, kein Ding!« und »Lass ma lieber« liegen: Eier zum Beispiel. Klar könnte ich mir ein Huhn halten. Ein kleiner Stall im Hinterhof – vielleicht ließe sich der mit sehr viel Glück bei meiner Vermieterin durchsetzen. Denn so absurd es klingt – und ich habe auch erst mal gestaunt, als ich das vor Kurzem gelesen habe: Immer mehr Menschen halten sich privat Hühner. In England und Amerika gibt es schon Hinterhof-Hühner-Fanklubs, und auch in Deutschland finden immer mehr Hühnerställe Platz im kleinsten Garten in der Reihenhaussiedlung. Aber will ich mir wirklich ein Huhn zulegen, nur um es die paar Eier produzieren zu lassen, die ich in der Woche esse? Und wäre das überhaupt »selbst gemacht«, wo doch die Hühner die Eier legen?

Ich schaue meine Liste weiter durch und bleibe bei »ein Paar Schuhe« hängen. Ich muss, ich will mir Schuhe machen! Vielleicht finde ich einen Schuster, der mir zeigt, wie man aus einem Stück Leder und einem Stück Gummi ein paar Schuhe näht oder klebt oder wie auch immer das gemacht wird. Zwar könnte das Selbermachen von Schuhen eventuell Abstriche in Modefragen mit sich bringen. Aber meine Neugier sagt: Ausprobieren! Deswegen kringle ich das Wort »Schuhe« ein.

Vor selbst gemachter Kosmetik habe ich ehrlich gesagt Angst. Ich habe komplizierte Haut, seit Jahren benutze ich nur eine Creme, die einzige, bei der meine Gesichtshaut nicht durchdreht. Mindestens genauso kompliziert ist die Kopfhaut, auch hier: Seit Jahren ein und dasselbe Shampoo, bei anderen Shampoos löst sich meine Haut vom Kopf. Selbst gemachte Zahnpasta zu verwenden wird vermutlich vor allem eine Sache der Überwindung sein, aber damit vielleicht

Papier schöpfen, Bücher binden, Geschirr töpfern wiederum – das klingt alles nach klassischem Selbermach-Terrain, nach VHS-Kursleiterin und Freundschaften, die an der Tondrehscheibe geschlossen werden. Darüber muss ich erst mal nachdenken, ob meinem Leben wirklich eine Töpferkurs-Freundschaft fehlt.

Fest steht: Ich brauche einen Garten. Ich will eigenes Gemüse haben und nicht nur ein paar Kräutertöpfe am Küchenfenster wie bisher. Und ich will Käse machen. Beides schreibe ich – versehen mit Ausrufezeichen – auf meinen Zettel. Er ist jetzt voll mit Kringeln und Kreuzchen und Ausrufezeichen und Bemerkungen, und ich halte ihn dem Mann zwischen sein Gesicht und das Buch, das er gerade liest: »Schau!«

Er nimmt mir den Zettel aus der Hand und runzelt die Stirn. »Da hast du ja was vor.«

Ich nicke. »Hab ich.«

»Ich hoffe, ich muss den Quatsch nicht mitmachen«, sagt er, während er weiter auf meine Liste starrt. »Und womit willst du anfangen?«

Gute Frage. Womit eigentlich? Ich würde sagen, mit etwas Grundsätzlichem.

»Mit Brot. Morgen gibt es selbst gebackenes Brot.«

Ich nehme meinen Zettel noch mal in die Hand, mache einen extradicken Kringel um das Wort »Brot« und schreibe eine »1« davor. Ein letztes Mal schaue ich mir meine Liste an. Ein Blatt Papier voller Möglichkeiten und Pläne für das Jahr, das vor mir liegt. Ein bisschen kribbelt es in meinem Bauch.

»Was grinst du denn so?«, fragt der Mann.

»Ach, ich freue mich einfach. Das wird ein aufregendes Jahr«, sage ich. Dann nehme ich ihm mein Kopfkissen weg,

Ein Kopfkissen.

Tag 2

Am Anfang war das Brot

Mein Experiment beginnt also mit Brot. Seit Jahrtausenden backen Menschen überall auf der Welt Brot: aus Roggen, Weizen, Hafer, Mais, Gerste, Dinkel, Maniok, Hirse – aus dem, was in ihrer Umgebung wächst. Es ist Samstagvormittag, ich habe mit dem Mann ausführlich gefrühstückt, bin satt und zufrieden. Und werde jetzt ein Brot backen.

In meinem schon ziemlich alten und zerfledderten Backbuch ist ein Rezept für ein dunkles Mischbrot. Das hatte ich mir schon ein paar Mal angeschaut, meistens, wenn ich hungrig war. Aber wenn man Hunger hat, hat man Hunger. Man kauft sich ein Brot, das man sofort essen kann. Man fängt nicht an, einen Hefeteig anzurühren.

Ab heute gilt: Schluss mit schnell-schnell. Jetzt wird selbst gemacht. Ich gehe einkaufen: eine Tüte Weizenmehl, eine Tüte Roggenmehl, ein kleiner Joghurt, ein Würfel frische Hefe. Für alles zusammen bezahle ich 4,40 Euro. Ich habe Biomehl gekauft, und trotzdem ist es noch billiger als gekauftes Brot: Mit zwei Kilo Mehl kann ich vier Laibe backen.

Wieder zu Hause lese ich mir das Rezept in Ruhe durch und bin schockiert, wie wenig schnell-schnell so ein selbst gebackenes Brot geht. Nach jedem einzelnen Schritt steht da: »Gehen lassen.« Mal eine halbe Stunde. Mal zwei Stunden. Mal so lange, bis die Größe des Teigs sich verdoppelt hat.

Ich zerbröckle, wie im Rezept angegeben, einen halben Würfel Hefe, löse ihn in Wasser und einem Esslöffel Joghurt auf und lasse die Mischung eine halbe Stunde stehen. In der Zwischenzeit wärme ich den Ofen etwas an und stelle eine Schüssel mit 500 Gramm Mehl hinein. Ebenfalls für eine halbe Stunde.

Das warme Mehl fühlt sich schön an, als ich meine Hände hineintauche. Als ich das Hefegemisch dazugieße, ist es nicht mehr so schön. Der Teig batzt eklig an meinen Fingern. Ich knete und knete, bis das ganze Mehl eingeknetet ist, und jetzt soll ich noch zehn Minuten weiterkneten. Aber schon nach drei Minuten tun mir Finger und Arme weh, und der Batz an meinen Händen bewegt sich bei jeder Umdrehung im Teig ein Stückchen weiter Richtung Ärmelsaum. Mit den Zähnen ziehe ich den Ärmel zwischendurch immer wieder hoch, es hilft nichts, am Ende hat er eine angetrocknete Teigkruste.

Nach ganzen 15 Minuten Kneten – mit zittrigen Armen und ein paar Schweißperlen auf der Stirn – lege ich den gut massierten Teig in die Schüssel. Ich schrubbe meine Hände sauber, feuchte ein Küchenhandtuch an und lege es auf die Schüssel. Jetzt habe ich Zeit, bis der Teig doppelt so groß geworden ist. Ich kann sie gebrauchen: Meine Hände bekommen einen großen Klecks Allzweckcreme verpasst, die ich ausgiebig einreibe. Auf dem Sofa sitzend. Ich muss mich ausruhen.

Die beste Freundin ruft an. Sie will wissen, wie das Selbermachen bisher läuft. Vorgestern hatte sie mir einen Vogel gezeigt, als ich ihr ankündigte, in diesem Jahr alles selbst zu machen. »Du hast zu viel Sekt getrunken!«, hatte sie geantwortet. Sie gehört eher zur skeptischen Sorte Mensch, was manchmal ganz gesund für mich ist, weil ich dazu neige,

»Es läuft gut, denke ich«, sage ich der besten Freundin. »Gerade backe ich ein Brot.«

»Na ja, ein Brot. Das kann ich auch. Aber du musst hundert Brote backen in diesem Jahr, das ist dir schon klar?«

»Darum geht’s ja. Ich will sehen, ob ich es hinkriege, hundert Brote in diesem Jahr zu backen. Ich will sehen, wie das ist und was es mit mir macht.«

Sie lacht. »Was soll es denn bitte schön mit dir machen?«

»Vielleicht mein Leben verändern.«

Am anderen Ende der Leitung ist es still. Leben verändern, das klingt pathetisch, ich weiß, aber ich bin mir sicher, dass es mein Leben verändern wird. Ich weiß nur noch nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten.

»Ich bin gespannt«, sagt die beste Freundin. »Du wirst das schon hinkriegen.« Das höre ich gern. Ich werde ein paar Verbündete gebrauchen können in den kommenden zwölf Monaten.

Die beste Freundin und ich quatschen noch ein bisschen, dann strecke ich mich auf dem Sofa aus und lese die Wochenzeitung. Als ich keine Lust mehr aufs Lesen habe, schaue ich vorsichtig in meine Teigschüssel. Zweieinhalb Stunden liegt der Brotteig jetzt schon da, aber verdoppelt hat er sich noch nicht. Eine halbe Stunde gebe ich ihm noch. In unserer Küche ist es etwas kühl, vermutlich lässt sich der Teig deshalb so viel Zeit.

Als ich ihn dann rausnehme, soll ich ihn zwei Mal zusammenfalten. Das soll einen schönen Laib ergeben, bei dem die »Nähte«, also die Ritzen vom Teigfalten auf der unteren Seite, versteckt werden. Schwierig, wenn er gleich beim Herausnehmen aus der Schüssel überall Nähte und Falten kriegt und aussieht wie ein ungemachtes Bett. Vorsichtig lege ich

Ich setze mich mit meiner Liste vom Vortag an den Küchentisch und lese sie mir noch mal durch. Ich kritzle kleine Notizen an den Rand: »Kann ich selber lernen«, »Hilfe holen«, »Unbedingt ausprobieren!«, »Buch kaufen«, »Baumarkt«, »Mama fragen«. Ich hole mir meinen Computer und lasse mich durch Foren treiben, in denen die Menschen übers Kochen diskutieren, über ihre Gärten oder Strickmuster.

Als ich auf die Uhr schaue und sehe, dass ich schon seit über zwei Stunden herumklicke, klappe ich den Computer zu und schaue nach meinem Brot. Es liegt schön dick auf dem Blech. Ich heize den Ofen vor, schneide die obere Seite des Brots ein paar mal ein und schiebe es hinein.

35 Minuten später versuche ich mir beim Wenden des Laibes im Ofen nicht die Haare an den Armen zu versengen. Dann klopfe ich wie im Rezept geschrieben auf den Boden des Brots. Es soll hohl klingen. Tut es irgendwie auch. So richtig weiß ich nicht, wie sich das anhören muss. Aber ich würde sagen: Ja, hohl. Nur: Das Brot sieht so … komisch aus. Hässlich. Es ist blass, irgendwie grau. Ich schiebe es noch mal für fünf Minuten in den Ofen und mache die Oberhitze an, den Grill.

Danach ist es ein bisschen dunkler, aber immer noch stumpf und grau, jetzt halt dunkelgrau. Ich lege es direkt neben das Bild in meinem Backbuch, schaue nach links, nach

Ich rufe den Mann in die Küche. »Guck dir das mal an. So soll das aussehen, es sieht aber so aus. Das ist doch scheiße.«

Er schnuppert. »Es riecht aber gut.«

»Es soll aber auch gut aussehen.«

»Wenn es schmeckt, ist es doch egal, wie es aussieht.«

»Ist es nicht.« Ich bin beleidigt. Oder enttäuscht. Nein: beides. Auf dem Bild halten zwei mehlbedeckte Hände ein braunknuspriges Brot, man kann es bis in meine Küche riechen. Aber ich habe hier einen grauen Klumpen auf dem Küchentisch liegen.

Zum Abendessen schneiden wir das Brot an, und es schmeckt: okay. Es ist kein Brot wie das von der Hofpfisterei, das wir sonst immer kaufen. Pfisterbrot ist saftig und zart und hat eine schöne Kruste. Es ist perfekt. Das hier ist halt ein Brot.

Aber es ist ein selbst gebackenes Brot. Mein erstes selbst gebackenes Brot.

Zufrieden bin ich trotzdem nicht. Vielleicht ist das gleich Aufgabe Nummer eins, die mir das Selbermachen stellt: mit unperfekten Ergebnissen umgehen zu lernen – und das Brot einfach deshalb zu mögen, weil ich es mit meinen eigenen Händen gemacht habe und nicht eine Maschine Teig in eine Form gepresst hat und mein Brot deshalb wie jedes andere aussieht, gleichmäßig und schön.

Es ist ein Experiment, da sollte ich auch dem Ergebnis offen gegenüberstehen. Alles andere wäre unwissenschaftlich, wäre Propaganda. Also ringe ich mir ein kleines bisschen Stolz über mein erstes Brot ab. Und hoffe trotzdem, dass meine zukünftigen Brote befriedigender sein werden.

Mit etwas Hilfe von Müttern und Büchern

Eine Woche rum. Ich bin jeden Morgen aufgestanden, etwas schwerfälliger als sonst, weil mir noch die erholsamen Weihnachtsferien in den Knochen steckten. Dann bin ich ins Büro gefahren, habe Themenangebote an Redaktionen verschickt, einen kleinen Text geschrieben und ging meistens schon um sechs völlig erschöpft nach Hause.

Wo ich dann eigentlich eine ganze Menge Zeit fürs Selbermachen gehabt hätte. Ja, hätte. Ich habe nämlich nichts gemacht! Doch. Ein Brot habe ich am Mittwochabend gebacken. Das ein bisschen weniger grau als sein Vorgänger war, aber auch nicht besonders erfreulich schmeckte. Die anderen Abende saß ich auf dem Sofa, las und verdrängte mein schlechtes Gewissen. Wollte ich nicht abends mehr mit meinen Händen anstellen, als sie nur ein Buch halten zu lassen? Ja, das wollte ich. Dass es so viel Überwindung kostet, nach einem Arbeitstag am Abend weiterzuarbeiten, hatte ich dabei nicht bedacht.

Nun hat das Wochenende angefangen, wir haben gefrühstückt – den harten Rest des Mittwochsbrots –, und ich habe einen neuen Teig zurechtgeknetet. Als ich ihn in den Ofen schiebe, beschließe ich: Der Druck muss erhöht werden. Ich brauche soziale Kontrolle! Denn der Mann scheint ganz zufrieden damit, dass sich unser Leben eigentlich überhaupt nicht geändert hat.

Am Frühstückstisch fragte er angesichts meines neu erwachten Tatendrangs vorsichtig: »Wirst du jetzt wunderlich? Viele Selbstversorger sind wunderlich. Die fangen mit ein

Ich fragte zurück: »Bin ich denn nicht jetzt schon wunderlich?«

Seine Angst, dass mein eh schon vorhandener Öko-Aktivismus in -Extremismus umschlagen könnte, kann ich gut nachvollziehen. Ich habe ihn im Laufe der letzten Jahre überredet, Öko-Strom zu beziehen, Sparlampen und -wasserhähne zu benutzen, unser Geld bei einer Ökobank anzulegen, und liege ihm seit Anbeginn unserer Liebe in den Ohren, er solle sein Auto abschaffen. Für ihn scheint der Gedanke, ab sofort würde ich in selbst genähter Jutekleidung herumlaufen, durchaus realistisch.

»Ich werde alles ausprobieren«, erklärte ich ihm, »aber wenn du etwas wirklich ätzend findest, können wir das diskutieren, okay?«

»Können wir dann gleich mal über dieses Brot hier reden?«, fragte er und zeigte auf den grauen Brotrest auf unserem Frühstückstisch.

»In zwei Monaten vielleicht.«

Der Mann brummte, und dann sagte er: »Irgendwie ist es ja auch cool, dass du alles ausprobierst, weißt du.«

Er ist eben doch der Sohn seiner Mutter, denke ich mir jetzt, als ich sie am Telefon habe. Sie will ich nicht nur in meinen Plan einweihen, um den Druck zu erhöhen, wirklich etwas zu tun. Ich erhoffe mir von ihr auch Hilfe. Zum Beispiel Gartentipps. Sie hat einen riesigen Garten, sie liebt ihn über alles, und dementsprechend enthusiastisch reagiert sie auf meine Selbermachpläne.

»Ein Garten ist das Größte!«, ruft sie in den Telefonhörer. »Es gibt nichts Besseres als selbst angebautes Gemüse!«

Die Mutter des Mannes begeistert sich aber auch sonst für alles Selbstgemachte. Deswegen redet sie ohne Luft zu holen weiter: »Du könntest töpfern, wir haben hier in der Gegend

Ich nicke langsam vor mich hin. »Mal sehen, ja.«

Die Mutter des Mannes ist jetzt nicht mehr zu bremsen. Sie ist die lustigste Hippie-Frau, die ich kenne, und ich glaube, wenn sie die Zeit dafür hätte – die sie aber auf Demos und beim Unterschriftensammeln gegen Atomkraft verbringt –, würde sie alles selber machen. Nie wieder einkaufen, ganz autark leben.

Meine Mutter dagegen sagt erst einmal gar nichts, als ich sie eine halbe Stunde später anrufe und auch ihr erzähle, was ich in den nächsten zwölf Monaten vorhabe.

»Ist das nicht ganz schön anstrengend?«, fragt sie dann doch.

»Vielleicht ja, mal sehen.«

»Also ich fand das immer anstrengend. Als Kind habe ich aufs Feld gemusst, Kartoffeln sammeln, und Butter haben wir auch gemacht. Das muss ich nicht mehr haben.«

Dabei dachte ich immer, meine Mutter sei überzeugte Selbermacherin, immerhin habe ich von ihr gelernt, was man mit Stricknadeln tut, wie man eine Nähmaschine bedient oder die Bohrmaschine benutzt. Ich sehe auch vor mir, wie sie und meine Oma im Sommer in unserer Datsche Brombeersträuche setzen und im Herbst Marmelade einkochen.

Als ich ihr das sage, antwortet sie: »Das ist doch was anderes. Das ist doch normal.«

»Aber in meinem Alltag mache ich das alles nicht. Die meisten Leute machen das nicht, weißt du.« Meine Mutter denkt, dass alles, was sie weiß und kann, normal ist. Sie denkt nie, dass sie was ganz Besonderes könne oder wisse – sie ist in dieser Hinsicht sehr ostdeutsch. Dieses ganze

»Mama, ich werde dich in diesem Jahr auf jeden Fall ziemlich oft um Rat fragen müssen.«

»Kannst du gerne machen.« Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: »Und wenn mal was nichts wird, kannst du es ja immer noch kaufen.«

Als ich den Hörer auflege, habe ich das Gefühl, meine Mutter findet ihr jüngstes Kind merkwürdig.

Aber mich hat jetzt wieder der Enthusiasmus gepackt, den ich vor einer Woche in der Magengegend spürte, als ich meine Liste schrieb. Deswegen lege ich sie mir neben meinen Computer, schalte ihn ein und fange an, im Online-Buchladen nach Büchern zu suchen, die mir das beibringen, was ich nicht kann.

Nachdem ich mich ein paar Stunden durch Selbermachbücher geklickt habe, merke ich: Auf meine Kaufliste habe ich fast nur englische Titel gesetzt. Die machen mich viel mehr an, versprühen einen rauen Charme: Man muss sich erst einmal trauen, ein Buch »The Big-Ass Book of Crafts« zu nennen. Jugendfrei übersetzt »Das verdammt dicke Buch vom Handwerkern«. Wobei »Craft« im Englischen sowohl Handarbeit als auch Handwerk bedeuten kann. Es wird nicht wie bei uns in weibliche Handarbeit und männliches Handwerk unterteilt.

Deutsche Do-it-yourself-Titel zum Gärtnern, zu Handarbeit und zum Basteln sind nicht nur seltener, sondern sehen auch wahnsinnig dröge aus. Auf dem hiesigen Büchermarkt dominieren immer noch praktische Tipps in mittelmäßig designter Ratgeberoptik. Zum Beispiel bei den Nähbüchern: Da heißt das einzige halbwegs modern aussehende deutschsprachige Buch »Nähen lernen: Das 23-Projekte-Einsteigerprogramm«. Ein englischsprachiger Titel dagegen lautet »Sew

Ich gehe meine Liste noch einmal durch, trenne mich von einigen Titeln wieder und bestelle ein sehr dickes Bücherpaket. »Design-it-yourself« und »Naturseife – Herstellung in der eigenen Küche« bleiben die einzigen deutschsprachigen Bücher, alle anderen Titel sind englisch: »Making Stuff. An Alternative Craft Book«, »Yeah! I Made it Myself. DIY Fashion for the not very domestic Goddess«, »Bend-the-rules Sewing. The Essential Guide to a Whole New Way to Sew« und »The Guerilla Art Kit. For Fun, Non-profit And World-Domination«.

Als Letztes füge ich meiner Bestellliste noch den Klassiker der neueren amerikanischen Strickbücher hinzu: Debbie Stollers »Stitch’n’Bitch. The Knitter’s Handbook«. Damit hat sie einen Hype ums Stricken ausgelöst, denn Stoller gründete 1999 die erste »Stitch’n’Bitch«-Gruppe in New York. Junge Frauen trafen sich in Cafés zum Stricken und Tratschen – womit man »stitch’n’bitch« salopp übersetzen kann. Und weil Debbie Stoller gleichzeitig Gründerin und Chefredakteurin des popfeministischen Magazins BUST war und ist, wurden die »Stitch’n’Bitch«-Zirkel unter New Yorker Jungfeministinnen sehr schnell sehr populär. Auch ich entdeckte

Offensichtlich traf sie damit den Nerv einer ganzen Generation, auf der »Stitch’n’Bitch«-Webseite haben sich mittlerweile über 480 Strickzirkel in den USA und knapp 220 Gruppen außerhalb der Vereinigten Staaten registriert, unter anderem auch in China, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Costa Rica, Tschechien und Südkorea. In Deutschland gibt es sechs Gruppen, die sich regelmäßig treffen, zwei in Berlin – dort gibt es sogar ein Stitch’n’Bitch-Café – und jeweils eine in München, Stuttgart, Hamburg und Regensburg.

Ich klicke auf »Bestellen«. Und habe damit gerade Bücher für 140 Euro gekauft. Aber hey, irgendwoher muss ich ja lernen, wie es geht. Ein Jahr ist lang.

Tag 11

»Garten ist, was du draus machst.«

Der erste Schritt zum eigenen Garten ist getan. Ich habe meiner Vermieterin eine Mail geschrieben, ob ich unseren Hinterhof bzw. das Dach der Garage im Hinterhof zum Anbau von Gemüse nutzen darf. Bisher hatte ich nur einen 40 Zentimeter tiefen Mauervorsprung vor unserem französischen Küchenfenster zur Verfügung, den wir wohlwollend

Das Garagendach dagegen ist ein 30 Quadratmeter großer grün-brauner Fleck Erde, den ich sonst nur vom Fenster aus sehe. Denn bisher galt dort: Betreten verboten. Ein Gitter versperrt eine steile Metalltreppe, die vom Hinterhof auf das Dach führt. Aber das Gitter kann man aufmachen, an der Rückseite gibt es einen kleinen Riegel, den ich jetzt mit Gewalt beiseiteschiebe. Schon lässt sich das Gitter aufklappen, und 22 Stufen später stehe ich auf dem Dach.

Links und rechts der Steinplatten, die sich aneinandergereiht durch den Dachgarten schlängeln und im Laufe der Jahre von Löwenzahn und Ahornsprösslingen auseinandergeschoben und angehoben wurden, stehen unzählige Büsche – jetzt noch kahl, aber im Sommer werden sie dafür umso voluminöser und grüner sein. Von meinem Küchenfenster aus sah das Garagendach immer aus wie eine Punkfrisur. Das Konzept dieser Dachbegrünung ähnelt dem des Pausenhofes meiner ehemaligen Grundschule im Jahre 1987: Beton + Sträucher = muss reichen.

Ein paar Schritte weiter ist ein Teich, na ja, eher ein kleines Schlammloch. Es ist mit verdörrtem Seegras vom letzten Sommer zugewuchert; und das Wasser dazwischen ist gefroren.

Das Garagendach wäre für ein paar Gemüsekisten geradezu ideal: An ihnen latscht nicht ständig jemand vorbei und schmeißt vielleicht seine Kippen hinein, und sie bekommen mehr Sonne ab, als wenn sie auf dem Boden stehen.

Der Hinterhof, um den es hier geht, liegt im Zentrum Münchens, und ohne Alys wäre ich nicht auf die Idee gekommen, hier einen Garten anzulegen. Alys gärtnert sogar in New York – und New York ist noch um einiges größer und kann um einiges mehr Beton vorweisen als München. Alys

Im Modernsprech nennt sich der städtische Gemüseanbau »Urban Agriculture« oder »Urban Farming«. Die Idee hinter alldem geht mit einer Grundhaltung zum Leben in der Stadt einher: Mir gehört in dieser Stadt mehr als nur die Wohnung, für die ich Miete zahle. Die Stadt gehört uns allen. Jeder soll und kann sie nutzen, und zwar kreativ. So, dass es eine bessere Stadt wird.

Das Urbarmachen von städtischen Flächen ist aber nicht einfach ein Modetrend, sondern sogar eine wissenschaftliche Disziplin, habe ich gestern herausgefunden: An der Humboldt-Universität Berlin gibt es zum Beispiel seit 2003 einen Fachbereich »Urbaner Gartenbau«, unterrichtet von Professor Dr. Dr. Christian Ulrichs. Das urbane Gärtnern ist eine Vision für die Zukunft, sagen Organisationen wie die nordamerikanische Community Food Security Coalition. Sie glauben, dass in ein paar Jahrzehnten, wenn Ackerland immer rarer wird und für viele Menschen zu teuer, die Flächen in der Stadt, zum Beispiel Dächer oder eben Hinterhöfe, eine wichtige Rolle spielen werden, um große Teile der Bevölkerung mit frischen Lebensmitteln zu versorgen. Immerhin leben schon heute 50 Prozent der Menschen weltweit in einer Stadt, und es werden immer mehr.

Es gibt auch bereits Restaurantbetreiber, die ihr Gemüse auf Brachflächen oder Dächern in der Stadt anbauen. In

Das größte Projekt dieser Art ist eine 13000 Quadratmeter große Anbaufläche auf einem Fabrikdach in Brooklyn, das gleich mehrere Restaurants mit frischen Zutaten versorgt. Überhaupt scheint New York die Hauptstadt der urbanen Farmer zu sein. Während ich versuche, mehr über den Trend des urbanen Gärtnerns herauszufinden, stoße ich auf eine Bilderserie mit Aufnahmen von grünen Dächern und Fassaden in New York, und zwar nicht nur private Terrassen, sondern richtig groß angelegte Grünflächen, auch vertikale. Was ein Hinweis darauf sein könnte, dass Hausbesitzer und Architekten auf die Experten hören, die sagen: Es gibt keine bessere Wärmedämmung als ein Garten auf dem Dach.

Mein Gemüse wird einen weiteren Vorteil haben, den die Vertreter des urban farming propagieren: Es benötigt keine langen Transportwege und ist damit extrem umweltfreundlich: Wenn ich mit meiner Ernte anstatt des Fahrstuhls die Treppe zu mir in die Wohnung nehme, produziert mein Essen grandiose 0,0 Gramm CO 2 und verbraucht keinerlei Kraftstoff.

Nicht zu vergessen: Jeder Hinterhof und Balkon, auf dem etwas angebaut wird, sieht besser aus als kahler Beton.

Außerdem kann urbaner Gartenbau gut für die Nachbarschaft sein: Wenn man Ackerflächen gemeinsam nutzt, lernt

Die Idee des urbanen Gärtnerns ist so einfach und gut, dass ich mich frage, warum ich bisher schon mit meinen fünf, sechs Kräutertöpfen auf dem Fenstersims zufrieden war. Und warum ich beim Stichwort Gärtnern ausschließlich an Leben auf dem Land, kleine Gärten in Vorstädten oder höchstens noch an Datschen am Stadtrand gedacht habe. Platz für ein paar Kästen und Kübel ist ja eigentlich überall.

›Garten ist, was du draus machst‹, denke ich. Ich drehe mich auf dem Garagendachgarten noch mal um mich selbst, stelle mir vor, was ich hier alles anstellen könnte, und hoffe, dass mir meine Vermieterin dieses braune Stück Stadt überlässt.