Klaus Bednarz

Östlich der Sonne

Vom Baikalsee nach Alaska

Inhaltsverzeichnis

TEIL 1: DIE LENA HINAB – VON IRKUTSK BIS TIKSI

Taigamarsch

Winterhütte im Sommer

Jägererzählungen

Der Bärenforscher

An der Lena-Quelle

Die Felsbilder von Schischkino

Aufstieg und Fall von Ust-Kut

An Bord der «Morgenröte»

Der Kapitän

Im Dorf Tumul

«Der Himmel ist hoch, und der Zar ist weit» – Jakutsk

Die Türken Sibiriens

Beim Sonnenfest der Jakuten

Flugversuche

Tiksi, das Tor zum Eismeer

Im Lena-Delta

TEIL 2: ANS ENDE DER TAIGA – VON JAKUTSK ZUM STILLEN OZEAN

Straße des Todes

Die Lena – Wiege der Menschheit?

Gesandte des Himmels

Rentier-Nomaden

Streckenposten

Am kältesten Punkt der Erde

«Sei verflucht, Kolyma!»

Der Traum vom Gold

Magadan

Die Maske des Leids

TEIL 3: DER WEG ÜBERS MEER – LINKS UND RECHTS DER BERINGSTRASSE

Grenze zweier Kontinente

Armes reiches Tschukotka

Troja der Arktis

Waljagd

Uelen, das Ende der Welt

Alaska in Sicht

Die Eskimos von Teller

Archäologen am Karibu-Trail

Wald-Indianer

Das Vermächtnis des Tlingit-Häuptlings

TEIL 1

DIE LENA HINAB – VON IRKUTSK BIS TIKSI

Taigamarsch

Bootsman und Valet kennen sich gut. Sie sind im selben Dorf am westlichen Ufer des Baikalsees geboren, im selben Jahr. Gemeinsam haben sie ihre Kindheit verbracht, im Ufersand gespielt, ihre ersten Erfahrungen gemacht – mit den anderen Dorfbewohnern, dem See und der angrenzenden unendlichen Taiga. Sie haben gelernt, wie man sich im Sommer vor den Stechmücken schützt und im Winter sogar durch den dicksten Schnee noch einen Weg findet. Sie können fast 24 Stunden ununterbrochen auf den Beinen sein, aber auch ganze Tage träge in der Sonne verdösen.

Freunde allerdings sind sie nicht. Wo immer sie einander begegnen, und das geschieht in dem kleinen Dorf ein paar Mal täglich, kommt es zu Reibereien, lautstarken Auseinandersetzungen und nicht selten zu blutigen Raufereien. Bei einem dieser Treffen verlor Valet ein Auge, doch Reue hat Bootsman nie gezeigt, und auch sein Opfer scheint wenig beeindruckt. Angst lässt Valet jedenfalls nicht erkennen, einen Bogen um Bootsman macht er noch immer nicht. Im Gegenteil. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden sind heftiger geworden, seit vor zwei Jahren Susanna im Dorf auftauchte. Susanna gehört zur selben Rasse wie Bootsman und Valet. Es sind sibirische Laikas, östliche Verwandte jener etwas kleineren, legendären karelischen Vierbeiner, die einst – noch vor Jurij Gagarin – zum höheren Ruhm des Sozialismus in einem Sputnik die Erde umkreisten. Doch die Zeiten, zu denen die Augen der Weltöffentlichkeit auf ihnen ruhten, sind längst vorbei, und auch in den sibirischen Dörfern ist von ihrem außerirdischen Ruhm nicht allzu viel geblieben. Hier sind sie das, was sie seit Jahrtausenden waren: die wichtigsten Verbündeten der Menschen beim Überlebenskampf in einer unwirtlichen und gefährlichen Natur. Und in dieser Funktion werden sie auf unserem Marsch vom Ufer des Baikalsees zur Quelle der Lena auch für uns von Bedeutung sein. Drei Tage, so heißt es, würden wir bei gutem Wetter für den Hinweg brauchen: zunächst über den Pass im Baikal-Gebirge, dann abwechselnd durch Taiga und Waldtundra.

Ausgangspunkt wird der Ort sein, in dem Bootsman, Valet und Susanna zu Hause sind. Er trägt den sinnigen Namen Pokojniki, was im Russischen sowohl die Ruhigen als auch die Verblichenen bedeuten kann. Außer den Laikas, ein paar Kühen, Schweinen und Hühnern leben hier noch sechs Männer, drei Frauen und vier Kinder. Im Sommer kommen, vor allem nachts, gelegentlich einige Bären, im Winter hungrige Wölfe hinzu. Ansonsten sagen sich hier, so heißt es auch bei den Russen, Fuchs und Hase gute Nacht.

Die Idee, zur Lena-Quelle zu Fuß zu gehen, stammt von Semjon Ustinow. Wir hatten ihn bereits bei unserer ersten Reise an den Baikalsee vor sechs Jahren kennen und als eine in jeder Hinsicht imposante Persönlichkeit schätzen gelernt. Wissenschaftler, Umweltschützer und Naturfreunde nennen seinen Namen weit über die Grenzen des Baikal-Gebiets hinaus mit Ehrfurcht. Seine Visitenkarte ziert der Hinweis, dass er Doktor der Biologie ist, verdienter Ökologe der Russischen Föderation, verdienter Mitarbeiter der Jagdwirtschaft der Russischen Föderation und Mitglied des Schriftstellerverbandes der Russischen Föderation. Und außerdem zeigt die Visitenkarte klein gedruckt neben fünf Bärentatzen an, dass Ustinow «Leiter der Abteilung für naturschützende Bildungsarbeit des Baikal-Lena-Biosphären-Reservates» ist, des größten Naturschutzgebiets der Baikal-Region. Er, so hatte Ustinow bei unserer ersten Begegnung wie beiläufig und dennoch mit unüberhörbarem Stolz erklärt, sei der eigentliche Entdecker der Lena-Quelle, zumindest der Erste, der sie wissenschaftlich beschrieben habe. Natürlich könne man, so hatte er gesagt, wenn man genug Geld habe, auch mit dem Hubschrauber zu der sonst nur schwer zugänglichen Quelle des gewaltigsten der sibirischen Ströme fliegen. Aber dies sei erstens umweltschädlich und zweitens kaum geeignet, einen Eindruck von dem grandiosen Naturschauspiel zu vermitteln, das der Weg vom Baikal, dem heiligen Meer der Sibirier, zur Mutter Lena, der wichtigsten Lebensader Sibiriens, für den tapferen Fußgänger bereithält.

Auch diesmal führte unsere Route zunächst über das etwa 400 Kilometer südlich der Lena-Quelle gelegene Irkutsk. Mit der «Wega», einem Schwesterschiff der «Minkas», die wir ehedem benutzt hatten, fuhren wir von dort rund 36 Stunden über den Baikal nach Norden, Richtung Pokojniki – vorbei an vielen Ortschaften, Buchten, Flussmündungen und Felsen, die uns von früher vertraut waren: der Fels Rytyj etwa, der Aufgewühlte, kurz vor Pokojniki, auf gleicher Höhe mit der Lena-Quelle, nur zwölf Kilometer Luftlinie von ihr entfernt. Den Burjaten, den Ureinwohnern am Baikalsee, gilt er als schrecklich und heilig zugleich; als Ort, wo böse Götter wohnen, die Söhne des burjatischen Gottes Ucher, der Verderben bringende Winde schickt. Sie bestrafen jeden, der es wagt, sich mehr als zwei bis drei Kilometer vom Baikal-Ufer weg auf ihr heiliges Territorium zu begeben – just das Gebiet, in dem die Lena-Quelle liegt. Als wir den Rytyj mit dem Schiff passierten, herrschte strahlender Sonnenschein, und es wehte kein Hauch. Unser Kapitän betrachtete ihn dennoch mit Argwohn.

Semjon Ustinow hatte sich erboten, uns beim Marsch zur Lena-Quelle zu begleiten. Als Führer, wissenschaftlicher Berater, Träger und Beschützer. Denn der Baikal-Lena-Naturpark gilt, wie einer Broschüre zu entnehmen ist, als «besonders schwer zugängliche, wilde Taiga, in der es zudem von Bären wimmelt». Touristen dürfen ihn nur mit Genehmigung – vier Dollar pro Tag – und in Begleitung eines Jägers mit Gewehr betreten. Dass sich Semjon Ustinow dabei auch noch ein Zubrot zu seinem kärglichen Gehalt als Angestellter der staatlichen Naturschutzbehörde verdient, versteht sich von selbst.

In Irkutsk erstanden wir die letzten für unsere Expedition noch erforderlichen Ausrüstungsgegenstände. Zu den Rucksäcken, Zelten, Isomatten, Schlafsäcken und Bergschuhen, die wir aus Moskau mitgebracht hatten, kamen noch kreisrunde, erdfarbene Taigahüte mit bis auf die Schultern fallenden Moskitonetzen; Plastikfolien zum Einpacken der Kameraausrüstung, der Nahrungsmittel und Kleidung; ferner Gummistiefel und Gamaschen, die bis hoch über die Knie reichen und dort fest verknotet werden. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass beim Waten durch Sumpfgebiete, durch Flüsse und Bäche Wasser von oben in die Gummistiefel rinnt. Glauben wir wenigstens.

Beim Einkauf des Proviants war uns Semjon Ustinow persönlich behilflich: Brot, Dauerwurst, Buchweizengrütze, Suppenwürfel, Teebeutel, ein paar kleine Dosen Büchsenfleisch sowie eine Flasche armenischen Kognaks – als Medizin gegen Unterkühlung, falls jemand in einen der eiskalten Gebirgsbäche plumpst. Gegen die Mitnahme von Toilettenpapier hatte Ustinow zunächst protestiert. «In der Taiga nimmt man Gras.» Erst auf unseren nachdrücklichen Hinweis, dass es sich um umweltfreundliches Klopapier handle, das sich binnen kurzem in seine natürlichen Bestandteile auflöse, willigte der verdiente Ökologe der Russischen Föderation brummend ein.

Proviant und Ausrüstungsgegenstände wurden mühsam in den winzigen Kajüten der «Wega» verstaut; überdies zwei Kisten Wodka und 100 Liter Diesel, abgefüllt in fünf Blechkanistern. Allerdings nicht für den Eigenbedarf, sondern als kostbarstes Zahlungsmittel im heutigen Sibirien. Wir wussten nämlich, dass wir in Pokojniki würden versuchen müssen, noch zwei ortskundige Männer für den Marsch zu engagieren: einen Jäger mit Gewehr und, wenn möglich, auch Hunden sowie einen weiteren Träger für die Teile unserer umfangreichen Kameraausrüstung und des Proviants, die wir selbst nicht mehr schleppen konnten. Mehr als 30 Kilo auf dem Rücken traute sich keiner von uns zu.

 

Pokojniki, malerisch in einer sanft geschwungenen Bucht am Fuße des steil aufragenden Baikal-Gebirges gelegen, hat zweifellos schon bessere Zeiten erlebt. Ein paar kleine Holzhäuschen, dazu einige Stallgebäude und Scheunen – alles ist altersschwach und vom Verfall bedroht. Die meisten Zäune sind vom Wind niedergedrückt, die winzigen Badehütten, Banjas, mit rostigen Schlössern verrammelt. Lediglich die Wetterstation mit ihrem unter freiem Himmel aufgestellten Wald von Geräten scheint auf den ersten Blick noch intakt.

Außer der Wetterstation befindet sich in Pokojniki nur noch ein Außenposten des Baikal-Lena-Naturparks, besetzt mit drei Rangern, wie sie sich stolz nennen. Einer von ihnen ist Kostja, ein Taigajäger, der offiziell die Funktion eines Wildhüters ausübt. Kostja zur Teilnahme an unserer Expedition zu bewegen ist allerdings nicht einfach. Wieso solle er sich in dieser Sommerhitze – wir haben über 30 Grad – mit Gepäck übers Gebirge und bis zur Lena-Quelle schinden, wo doch gerade so viele Fischschwärme durch die Bucht ziehen und es nichts Schöneres gebe, als bei gutem Wetter mit dem Motorboot auf dem Baikal herumzubrausen und Netze auszulegen? Außerdem sei er sowieso erst ein einziges Mal an der Lena-Quelle gewesen, und wir fänden sicher andere Leute, die uns führen könnten. Dabei weiß Kostja genau, dass wir ohne ihn nicht losmarschieren können, weil er – offiziell – der einzige Jäger mit Gewehr auf der Station ist. Und er kennt seinen Preis. Geld? Na klar! Und Wodka? Auch klar. Und 20 Liter Diesel für sein Motorboot. Doch das alles ist noch nicht genug. Erst die Zusage, ihn nach unserer Rückkehr auf dem Schiff nach Irkutsk mitzunehmen, lässt ihn endgültig einwilligen. Immerhin, der Handel hat auch für uns seinen Vorteil. Das jedenfalls macht uns Kostja glauben, indem er großzügig versichert, dass er nun sogar bereit sei, seine zwei Hunde mitzunehmen. Später wird er wie selbstverständlich sagen, dass er nie ohne Hunde in die Taiga gehe. «Alles andere wäre viel zu gefährlich.»

Neben Kostja erklärt sich noch Anatolij, ein etwa 50-jähriger untersetzter Mann burjatischer Herkunft, einverstanden, uns zu begleiten. Er ist Förster und ein guter Freund von Semjon Ustinow. Die Expedition ist komplett.

Bereits am Vorabend haben wir auf dem Schiff unter Anleitung von Semjon Ustinow unsere Ausrüstung wasserdicht in Plastikfolien verpackt. Die Kameras und Tongeräte ebenso wie den gesamten Proviant und die aufs Notwendigste reduzierten persönlichen Sachen – Schlafsäcke, Socken, Pullover. Im günstigsten Fall, hatte uns Ustinow erklärt, seien wir sechs Tage zu Fuß unterwegs; wenn die Witterung nicht mitspiele, könnten es sogar zehn werden. Der Marsch zur Lena-Quelle führe durch unwirtliches Gebiet, nicht nur durch das steile Baikal-Gebirge, sondern auch durch dichte Taiga mit mannshohem Unterholz und Gestrüpp, durch mehrere Flussläufe, kilometerweite Sümpfe, riesige Geröllfelder mit scharfkantigen Felsformationen sowie weite, mit trockenem Rentiermoos überzogene Flächen der Waldtundra, die aussehen wie ein riesiger grauer Teppich, Menschen aber an manchen Stellen unvermittelt bis zur Hüfte einsinken lassen. Eine Art Weg gebe es nur das Gebirge hinauf, ansonsten müsse man sich nach der Sonne und dem Kompass orientieren. Eine genaue Karte des Gebiets sei noch nicht erstellt. Tagsüber könne das Thermometer in diesem Teil Sibiriens jetzt im Sommer bis auf 35 Grad klettern, nachts dagegen sei durchaus Frost denkbar. Und plötzlich hereinbrechende Unwetter mit gewaltigen Regenmassen könnten die Flüsse und Sümpfe auf Tage hinaus unpassierbar machen.

Ausführlich unterrichtet uns Semjon Ustinow über Vorsichtsmaßnahmen. Gegangen werde grundsätzlich im Gänsemarsch, dicht hintereinander: vorneweg Kostja mit seinem Karabiner, Ustinow als Letzter mit einer russischen Armeepistole aus dem Zweiten Weltkrieg, einer TT 7,62 mm. «Die reicht auch für Bären.» Wenn einer von uns dennoch einmal allein einem Bären begegnen sollte, so gebe es nur zwei Möglichkeiten: laut schreien, am besten die Tonleiter von oben herunter lachen oder anderweitig Krach machen. Sollte dies den Bären unbeeindruckt lassen, bleibe nur noch: «sich auf den Boden werfen, tot stellen und abwarten, was passiert». Auf keinen Fall dürfe man versuchen wegzulaufen, denn das wecke mit Sicherheit den Jagdinstinkt des Tieres. Und selbst der schnellste Läufer habe dann keine Chance mehr. Auch auf einen Baum zu klettern oder ins Wasser zu springen nütze nichts, weil Bären klettern und schwimmen. Aber häufig sei der Bär bloß neugierig und wolle sehen, welcher Fremde sich da in seinem Revier tummelt. Dies sei meist der Fall, wenn er auf den Hinterpfoten stehe. Das Dumme sei nur, dass man es nie so genau wisse 

Gegen die Schwärme von Stechmücken, so Semjon Ustinow, hätten die sibirischen Jäger hingegen ein einfaches Rezept: «Beachtest du sie, stechen sie dich. Ignorierst du sie, lassen sie dich in Ruhe.» Trotzdem könne es nicht schaden, größere Mengen Autan mitzunehmen, das inzwischen auch in Russland erhältlich ist. Glück hätten wir, dass es in dieser Region am Baikalsee die ansonsten so gefürchteten Zecken nicht gebe. Eine echte Gefahr sei aber eine besonders giftige Schlangenart, deren Biss in der Regel eine sofortige Nervenlähmung hervorrufe und tödlich sei. Überwiegend im Gras und auf den sonnenüberglänzten Steinen und Felsen des Baikal-Gebirges sei sie anzutreffen. «Also, Vorsicht bei jedem Schritt und vor allem beim Lagern!»

Für den Fall, dass jemand in der Taiga den Anschluss an die Gruppe verliert, besteht Semjon Ustinow darauf, zu kontrollieren, ob jeder von uns auch die für Notsituationen wichtigsten Dinge bei sich hat: ein Päckchen Streichhölzer, ein solides Taschenmesser und eine Ration Schokolade.

Das Kamerateam, mit dem ich unterwegs bin, ist dasselbe wie schon bei meinen Filmen über Ostpreußen und den Baikalsee: Sascha, der Journalistenkollege aus St. Petersburg, Maxim, der inzwischen mehrfach preisgekrönte Kameramann, Dima, der Toningenieur, sowie der Videotechniker und Fotograf Andrej, mit 23 Jahren der Jüngste von uns. Ihm ist zugleich die schwierigste Aufgabe auf dem Marsch zugefallen: der Transport der schweren, überaus empfindlichen Videokamera mit ihrem Spezialobjektiv. Maxim ist vor einigen Jahren bei Dreharbeiten im äußersten Nordosten Sibiriens mit einem Hubschrauber abgestürzt und hat dabei eine Rückenverletzung erlitten. Wenn es nach den Ärzten ginge, dürfte er überhaupt nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Aber das, so sagt er, sei nun einmal sein Leben; nur kann er sein Gerät nicht mehr selbst über weite und unwegsame Strecken tragen. Wir sind heilfroh, dass er überhaupt dabei ist. Denn er «zaubert» Bilder wie sonst keiner.

 

Die ersten drei Kilometer von der Wetterstation bis zum Fuß des Baikal-Gebirges will Anatolij einen Teil unseres Gepäcks im einzigen noch betriebsbereiten Fahrzeug der Forstverwaltung transportieren. Es ist ein russischer Armeejeep, der aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammt. Während Anatolij in halsbrecherischer Fahrt das Vehikel durch die an dieser Stelle lichte Taiga, über umgestürzte Baumstämme, durch ausgetrocknete Bachläufe und meterhoch wucherndes Steppengras quält, können wir direkt unter uns ins Freie schauen. Der Boden des Jeeps ist durchgerostet. Ein Bremspedal gibt es auch nicht mehr. Unter beängstigendem Krachen schiebt Anatolij beidhändig den ersten und zweiten Gang hinein, die anderen sind kaputt und werden hier im Wald sowieso nicht gebraucht. Alle hundert Meter säuft der Motor ab, und Anatolij wirft ihn mit lautem Fluchen und einer gewaltigen Kurbel nach mehreren Fehlversuchen wieder an.

Seit zehn Jahren, so erzählt Anatolij, wenn er gerade mal nicht kurbelt und flucht, seit zehn Jahren hätten die Forstleute hier oben am Baikal nichts, aber auch gar nichts mehr erhalten: keine Ersatzteile für die Fahrzeuge und die anderen Maschinen, keine Geräte, keine Schutzkleidung, keine Arbeitsschuhe und oft nicht einmal den ohnehin nur symbolischen Lohn. Wenn irgendwo in der Taiga ein Feuer ausbreche, müssten sich die Forstleute zu Fuß auf den Weg machen, mit Schaufeln und Äxten. Selbst richtige Feuerpatschen hätten sie nicht. Von Funkgeräten oder auch nur einem funktionierenden Telefon könnten sie lediglich träumen. Und Treibstoff für den Jeep und ihre kleinen Motorboote müssten sie sich im Tauschgeschäft von vorbeikommenden Schiffen erbetteln – ein Korb Fische gegen fünf Liter Diesel oder ein Bärenfell gegen ein ganzes Fass. Vergessen habe man sie offenbar, auch um die vielen Waldbrände habe man sich in der Zentrale wenig gekümmert. Erstmals habe die Forstverwaltung Irkutsk in diesem Jahr, 2001, bei einem gewaltigen Brand im Lena-Nationalpark wieder ein Löschflugzeug und einige Fallschirmjäger geschickt. Gleichzeitig aber habe man ihnen, den Forstleuten, und den zur Brandbekämpfung eingeflogenen Soldaten so sehr misstraut, dass man sofort einen Staatsanwalt entsandte, der kontrollieren sollte, wie die Löschmannschaften arbeiteten 

Der Weg zum Kamm des Baikal-Gebirges führt steil nach oben, fast geradeaus. Es ist ein alter Goldgräberpfad, über den im 18. und 19. Jahrhundert Glücksritter und Abenteurer aus allen Ecken Russlands mit ihren Maultieren kletterten, um an den Ufern der zu Tal rauschenden Bäche nach dem kostbaren Edelmetall zu schürfen. Der als Vater der russischen Wissenschaften geltende Michail Lomonossow, dessen Namen heute die Moskauer Universität trägt, hatte 1763 in einem kleinen Handbuch darauf hingewiesen, dass Gold nicht nur in Bergadern, sondern auch im Sand von Flussbetten und Bächen zu finden sei. Der in der Folgezeit ausbrechende Goldrausch führte dazu, dass in Sibirien bald größere Mengen dieses Edelmetalls zutage gefördert wurden als in Westeuropa, dem übrigen Asien und ganz Lateinamerika zusammen. Russlands Anteil betrug Ende des 18. Jahrhunderts zwei Fünftel der Weltausbeute.

Doch Goldgräber gibt es im Baikal-Gebirge schon lange nicht mehr. Und der Pfad, den sie einst vom Ufer des Sees bergauf gestiegen sind, ist für das ungeübte Auge nicht mehr zu erkennen. Dafür entdecken wir bereits nach einem Kilometer einen großen, frischen, noch dampfenden Haufen Bärenkot. Aus seiner grünlichen Farbe schließt Semjon Ustinow, dass der Bär, der recht gewaltig sein muss, Gras gefressen hat. Das sei um diese Jahreszeit – es ist Juni – auch ganz normal, da es für Bären noch nichts anderes zu fressen gebe, keine Beeren, keine Nüsse, keine sonstigen Früchte. «Und das bedeutet, dass sie ziemlich hungrig sind.»

Wir nehmen es äußerlich gelassen zur Kenntnis. Wozu haben wir schließlich Kostja mit seinem Karabiner und Semjon Ustinow mit seiner Armeepistole sowie die beiden Hunde, die ebenfalls einen gewissen Schutz vor Bären bieten sollen. Dass dies keineswegs sicher ist, erfahren wir erst später. In den fünf Stunden, die unser Marsch bis zum Gebirgskamm auf 1500 Meter Höhe dauert, bekommen wir keinen Bären zu Gesicht, dafür aber immer wieder frischen Bärenkot. Offenbar, so Ustinow, macht unsere Gruppe beim Marschieren und Klettern so viel Lärm, dass sich die Bären lieber verziehen. «Möge es so bleiben!», murmelt Maxim.

Gleich in den ersten Stunden unseres Ausflugs zur Lena-Quelle stellen wir fest, dass die Taigajäger mit ihrem Rezept gegen die Stechmücken, die in riesigen Schwärmen über uns herfallen, offensichtlich Recht haben. Denn während wir uns mit Autan und Moskitonetzen um Kopf und Hals vor den lästigen Blutsaugern zu schützen versuchen und auch Kostja das Moskitonetz seiner Militärmütze heruntergelassen hat – er trägt, wie viele Taigajäger, eine Tarnuniform der russischen Armee –, marschiert der burjatische Forstmann Anatolij im ärmellosen Unterhemd und ohne Kopfbedeckung gelassen durch die dicksten Mückenschwärme und wird nicht gestochen. «Ich hab’s doch gesagt», erklärt er hintergründig lächelnd, «man muss einfach nicht drauf achten.» Alle Versuche, es ihm nachzumachen, schlagen jedoch fehl.

In einem anderen Punkt aber haben sich unsere einheimischen Begleiter geirrt. Mit leisem Spott in der Stimme hatten sie uns abgeraten, Trinkwasser auf den Marsch mitzunehmen. Zum einen sei unser Gepäck ohnehin schon schwer genug, und zum anderen möge es zwar in der Taiga an manchem mangeln, an einem aber nie: an Wasser. Bäche, Flüsse, Seen und so weiter, die Vorräte seien schier unerschöpflich. Nicht gerechnet haben die Taigaleute, wie sie sich selbst nennen, allerdings damit, dass in diesem Jahr die Sommerhitze sogar die Bergbäche in den höheren Regionen austrocknen lassen würde. Und so schleppen wir uns bei sengender Sonne und 33 Grad im Schatten den alten Goldgräberpfad hinauf und lernen, dass man auch aus harten Berggräsern Feuchtigkeit gewinnen kann. Oder zumindest die Illusion davon.

Etwa jede Stunde machen wir Rast. Die Hunde, die zuvor ständig um unsere Gruppe herumgerast sind und das Unterholz nach allen Seiten durchstöbert haben, liegen dann ebenso erschöpft im Gras oder auf den Steinen wie wir. Die Zunge lang heraushängend und mit den Augen blinzelnd, als würden sie jeden Moment einschlafen. Es sind Valet und Susanna, die sich prächtig zu verstehen scheinen und gemeinsam mit heftigen Attacken den ungeliebten Bootsman, der sich uns ebenfalls anschließen wollte, vertrieben haben. Wenn sie, uns oft weit voraus, die Taiga durchstreifen, kann Kostja, so sagt er, an der Art ihres Gebells erkennen, was sie treiben und worauf sie gerade gestoßen sind – ein Eichhörnchen, einen Hasen, Fuchs oder Bären. Respekt hätten sie allenfalls vor Wölfen. Kein Wunder, denn jedes Jahr im Winter holen sich diese im Dorf bei der Wetterstation ihre Opfer. Auch einer von Kostjas Hunden ist im vergangenen Jahr von Wölfen gefressen worden.

Die Bergkuppe des Baikal-Gebirges bildet die Wasserscheide zwischen Lena-Becken und Baikalsee, dem mittleren Teil Sibiriens und Ostsibirien. Der größte Strom, der jenseits des Baikal entspringt, der Amur, fließt Richtung Osten in den Pazifik; die unweit des westlichen Baikal-Ufers am Fuß des Baikal-Gebirges entspringende Lena fließt nach Norden, ins Polarmeer – 4400 Kilometer weit.

Die Stelle, an der der Goldgräberpfad die Gebirgskette überquert, gilt den Einheimischen als heiliger Ort, über den der burjatische Gott des Baikal, Burchan, wacht. Ihm zu Ehren ist eine kleine Steinpyramide errichtet, an der einfache Opfergaben niedergelegt werden – Münzen, Zigaretten oder bunte Stofffetzen –, die zugleich geheime Wünsche symbolisieren. Bei schönem Wetter hat man von hier aus einen weiten Blick bis hinüber ins Lena-Tal.

Der Abstieg Richtung Westen ins Tal ist vergleichsweise leicht. So schroff das Gebirge vom Ufer des Baikalsees in die Höhe ragt, so sanft fällt es über weit geschwungene Hügelketten zur Lena hin ab. Gegen die nun tief stehende Sonne bewegen wir uns über zerklüftete Geröllfelder und mit dürren Kiefern und Fichten kärglich bewachsene Hänge. Zuweilen versperrt hartes, meterhohes Gestrüpp den Weg und zwingt zu zeitraubenden Umwegen. Unser Ziel für den ersten Marschtag ist eine noch etwa zehn Kilometer entfernte Blockhütte, eine «zimowka», Unterschlupf der Taigajäger im Winter. Natürlich sind wir auch darauf eingerichtet, unter freiem Himmel zu kampieren, doch dies wollen wir, nicht zuletzt wegen der mit der einbrechenden Dunkelheit immer aggressiver werdenden Stechmücken, nach Möglichkeit vermeiden.

Das einzige an diesem Tag noch vor uns liegende Hindernis ist die Lena, die hier im Tal, etwa 40 Kilometer von ihrer Quelle entfernt, die Gestalt eines reißenden, etwa 20 Meter breiten Bergbachs angenommen hat. An manchen Stellen ist sie lediglich knietief, an anderen reicht das Wasser fast bis zur Hüfte. Kostja, der vorneweg den günstigsten Weg durch die Strömung erkundet, hat seine Armeestiefel anbehalten. Wir ziehen die mitgebrachten Gummistiefel an, schnüren die Gamaschen über die Knie und merken spätestens in der Mitte der Lena, wie das eiskalte Wasser von oben über die Waden in die Socken rinnt. Die Stiefel auszuziehen und barfuß weiterzugehen ist jedoch auch nicht möglich. Spitze, glitschige Steine und Felsbrocken auf dem Grund des Bachs verursachen nicht nur höllische Schmerzen an den Fußsohlen, sondern verhindern, dass man in der gewaltigen Strömung irgendwo festen Halt findet. Ein Sturz mit der Kamera aber, mag sie auch vermeintlich wasserdicht verpackt sein, oder mit einem der anderen elektronischen Geräte würde das Ende unserer Drehreise bedeuten.

Am klügsten hat es Semjon Ustinow angestellt. Er hat die Socken einfach ausgezogen und ist in seinen Gummistiefeln zum anderen Ufer gewatet. So braucht er nur das Wasser aus seinen Stiefeln zu kippen, ein wenig zu warten und kann dann trockenen Fußes weitermarschieren. Wir ärgern uns, dass wir nicht selbst auf diese Idee gekommen sind. Ustinow hingegen meint, ein bisschen Lehrgeld könne nicht schaden.

Winterhütte im Sommer

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir die Winterhütte. Bei Nacht zu marschieren, so hatten uns die Taigaleute eingeschärft, sei lebensgefährlich – wegen der Bären, der Wölfe, der Unwegsamkeit des Geländes, der Gefahr, in ein Sumpfgebiet zu geraten und die Orientierung zu verlieren, über quer liegende Baumstämme zu fallen, in mit Rentiermoos überwachsene Felsspalten zu stürzen, und aus tausend anderen Gründen mehr. Also haben wir uns immer wieder aufgerafft, versucht, die Blasen und blutigen Stellen an den Füßen, die unzähligen, widerlich juckenden Mückenstiche und die vor Erschöpfung weichen Knie zu vergessen, um im letzten Licht der Abendsonne noch jenen verwunschenen, von dunklen Tannen umgebenen Taigasee bewundern zu können, an dem die Winterhütte steht. Am Ufer haben sich, an den Spuren im Sand deutlich zu erkennen, kurz vor unserer Ankunft eine Bärenfamilie, ein Elch und ein paar Wölfe aufgehalten.

Die Winterhütte ist ein kleines, aus roh behauenen Stämmen gefügtes Blockhaus mit spitzem Dach, dessen Grundfläche etwa drei mal drei Meter beträgt. Die Tür ist vernagelt. Als wir sie öffnen, entdecken wir im Inneren ein paar Holzpantinen, eine Axt, eine kleine Handsäge sowie eine Schaufel für den Schnee im Winter und einen rußgeschwärzten Blecheimer. An einer der Wände, unter einer winzigen, nicht zu öffnenden Fensterluke, steht ein eiserner Ofen, dessen Rohr quer durch den Raum und dann durchs Dach ins Freie führt. Über dem Ofen hängen an zwei groben Nägeln ein kleiner Plastikbeutel mit Salz sowie ein Leinensäckchen mit getrocknetem Brot. Die Hälfte des Raumes nimmt ein hüfthohes hölzernes Podest ein, auf das genau sechs Schlafsäcke passen. Anatolij will im Freien vor der Hütte schlafen. Als Taigamensch sei er das schließlich gewohnt, im Sommer jedenfalls. Und ihn würden, wie man wisse, die Mücken sowieso nicht stechen. Wir aber spannen zur Vorsicht noch zwei Moskitonetze vor die Tür, doch bei der Findigkeit dieser sibirischen Plagegeister ist auch das für sie kein ernsthaftes Hindernis.

Das sicherste Mittel, Mücken zu vertreiben, ist Rauch. Deshalb, so haben wir es auf alten Zeichnungen gesehen, trugen manche Ureinwohner Sibiriens, etwa die Tungusen am Oberlauf der Lena, im Sommer kleine, mit Birkenrinde umwickelte Tonkrüge auf dem Rücken, in denen Reisig und angefeuchtetes Moos kokelte.

Das Feuer, das wir vor der Winterhütte mit zuhauf in der Gegend herumliegenden vertrockneten Ästen und Baumstümpfen entfachen, dient aber nicht nur dem Schutz vor Mücken, sondern auch zum Trocknen der noch immer feuchten Schuhe, Socken und Hosen sowie zum Kochen von Suppe und Tee. In dem verrußten Eimer, den wir in der Hütte vorgefunden haben, wird Wasser aus dem See mit Buchweizengrütze erhitzt. Dann kommen einige Löffel Dosenfleisch dazu, und fertig ist die Mahlzeit. Die Rationen sind genau abgezählt, wie die Teebeutel – zwei pro Kopf. Zum Tee gibt es die getrockneten Brotstückchen, «suchariki», die wir ebenfalls gefunden haben, und für jeden einen Riegel Schokolade, Marke «Roter Oktober».

Am Feuer erweisen sich unsere einheimischen Begleiter, die tagsüber eher wortkarg waren, als durchaus gesprächig. Sie schwärmen, als seien sie zum ersten Mal in der Taiga, von deren Reichtum und Schönheit. Die beiden mächtigen Zedern etwa, zwischen denen sich die Winterhütte hinduckt, sind, so erklärt Anatolij, der Forstmann, mehr als 400 Jahre alt. Und all die Gräser, auf denen wir uns gerade ausgestreckt haben, seien Nahrungsmittel oder Heilpflanzen – «Tscheremscha» zum Beispiel, ein längliches, fleischiges Zwiebelgewächs, das auch im Kaukasus vorkommt. In seiner sibirischen Variante trägt es den wissenschaftlichen Namen «Allium ursinum», Bärlauch.

Wenn er allein in der Taiga unterwegs sei, so Anatolij, nehme er überhaupt keinen Proviant mit – allenfalls etwas Brot. Aber selbst darauf verzichte er häufig. «In der Taiga wiegt jede Nadel.» Im Grunde reichten ein Gewehr und ein Messer, mehr brauche man auch auf längere Zeit nicht zum Überleben.

Umso bitterer kommt es Anatolij an, dass dort, wo eigentlich, wie er sagt, «zivilisazija» («Zivilisation») herrschen sollte, das Leben oder Überleben immer schwieriger wird. In Pokojniki etwa, wo er und Kostja, der Jäger, mit ihren Familien wohnen. Zu Sowjetzeiten, so Anatolij, wurde das Dorf, das praktisch nur aus der Wetterstation und dem Außenposten der Naturparkverwaltung besteht, «königlich» versorgt. Regelmäßig wurden über den Baikalsee Lebensmittel und andere wichtige Güter gebracht, Diesel etwa für die Fahrzeuge und Boote. Die Kinder waren kostenlos in einem Internat in Irkutsk untergebracht, mehrmals im Jahr kam per Schiff ein Arzt vorbei. Strom erzeugte der dorfeigene Generator, und für ständigen Kontakt mit der Außenwelt – die nächste Stadt, Irkutsk, ist immerhin 400 Kilometer entfernt – sorgte ein Funkgerät. Und im Notfall – bei Krankheit, einer schwierigen Geburt, einem Unfall – wurde ein Hubschrauber geschickt. Heute, so Anatolij, würden keine Lebensmittel mehr gebracht, auch kämen keine Schiffe mit Diesel und anderen Versorgungsgütern. Sogar die medizinische Betreuung sei eingestellt. Und die Kinder könnten nicht mehr zur Schule gehen, da für die Unterbringung im Internat nun bezahlt werden müsse. Das altersschwache Funkgerät breche ständig zusammen, und wenn man im Notfall einen Hubschrauber anfordere, laute die erste Frage: «Welche Organisation bezahlt denn?» Der staatliche Wetterdienst und die Naturschutzverwaltung seien «so gut wie pleite», und für private Unternehmen lohne der Transport in diesen entlegenen Winkel der Welt nicht. «Kapitalismus eben!»

Wenn es ihnen, ergänzt Kostja, doch einmal gelinge, nach Irkutsk zu kommen, so zeige sich rasch, dass es im Kapitalismus auch nicht alles gebe. Nicht einmal mehr Dochte für Petroleumlampen, von Petroleum selbst ganz zu schweigen. Die Produktion, so heiße es, sei eingestellt. «Dabei sind Petroleum und Dochte lebenswichtig für Pokojniki – seit Diesel für den Generator eine Rarität ist.»

«Und wie», frage ich, «behelfen Sie sich?»

«Wir schlafen viel», sagt Kostja und lächelt.

 

Am nächsten Morgen weckt uns geradezu hysterisches Hundegebell und lässt uns alarmiert aus den Schlafsäcken fahren. Vor der Hüttentür steht Kostja, den Karabiner mit dem Lauf nach vorne über die Schulter gehängt, und schaut aufmerksam in die Richtung, aus der der ungewöhnliche Lärm herüberdringt. Doch das Gebell kommt nicht näher, sondern entfernt sich tiefer in die Taiga hinein. Kostja wirkt zunehmend entspannter. Nach einiger Zeit verstummt das Gebell, und wieder etwas später trotten Valet und Susanna gemächlich, aber immer noch hechelnd und mit weit heraushängender Zunge zur Hütte zurück. Vermutlich, so Kostja, seien sie auf eine frische Bärenspur gestoßen, hätten sie dann aber verloren oder die Verfolgung aus irgendeinem anderen Grund aufgegeben. «Auch besser so», meint Kostja. Warum, wird er uns allerdings erst später erzählen.

Wir springen zum Waschen kurz in den eiskalten See, frühstücken Buchweizengrütze mit Büchsenfleisch und rollen unsere Schlafsäcke zusammen. Für die nächsten Besucher der Hütte, die vielleicht erst im Winter kommen, stapeln wir neben dem Ofen ein paar Lagen Brennholz, hängen ein frisches Säckchen mit Salz an die Wand und ein anderes mit Brotscheiben, die bald trocknen werden. Dann vernageln wir sorgfältig die Tür.

Bevor wir losmarschieren, nimmt Anatolij die Pudelmütze vom Kopf, die er am frühen Morgen aufgesetzt hat, verbeugt sich vor der Hütte und sagt, für alle Umstehenden deutlich vernehmbar: «Danke diesem Haus. Gebe Gott, dass wir nicht zum letzten Mal hier waren.» Dann zieht er die Mütze wieder auf, um sie erst in der Mittagshitze endgültig wegzupacken. Die Mücken lassen ihn auch an diesem Tag in Ruhe.

Jägererzählungen

Am Abend des dritten Marschtages sitzen wir wieder am Feuer vor einer Winterhütte. Obwohl alle, außer unseren einheimischen Begleitern, völlig erschöpft sind, kann niemand einschlafen. Am Mittag waren wir in einem riesigen Sumpfgebiet in ein schweres Unwetter geraten, das unsere Führer zeitweilig die Orientierung verlieren ließ. Angesichts der Wassermassen, die wie aus Eimern vom Himmel strömten, war an ein Weitergehen nicht zu denken. Unser einziges Zelt aufzuschlagen war aber auch nicht möglich, da wir schon bis zu den Knien im Wasser standen. Was, fragten wir uns, würde passieren, wenn das Unwetter bis zum Abend andauerte und wir über Nacht im Sumpf feststeckten? Die Antwort Kostjas, des Jägers, war einfach: «Die Mücken würden uns fressen.» Nur Anatolij, der Forstmann, blieb unbeeindruckt.

Nach einigen Stunden jedoch – jeder von uns war trotz Regenhülle nass bis auf die Haut – verzog sich das Unwetter. Es klarte auf, und unsere Begleiter fanden die Marschrichtung wieder.

Doch nicht nur die Erinnerung an den, wie Maxim es formuliert, etwas ungemütlichen Tag lässt uns an diesem Abend länger als sonst am Feuer sitzen. Es ist auch die immer stärker werdende Vorfreude, die uns erfüllt. Morgen nämlich sollen wir, wenn alles gut geht, die Quelle der Lena erreichen. Jenen geheimnisvollen Ort, an den vor uns noch kein Kamerateam zu Fuß gelangt ist, die Stelle, an der die wichtigste Lebensader des östlichen Sibirien ihren Ursprung hat. Entlang dieses Stromes sind ganze Völkerschaften nach Norden gezogen und dann – wie die Vorfahren der nordamerikanischen Indianer – weiter Richtung Osten, bis nach Alaska. Mehr als 4400 Kilometer, von der Quelle der Lena bis zu ihrer gewaltigen Mündung im Polarmeer, wollen wir auf der ersten Etappe unserer Reise dem Lauf des Flusses folgen. Danach soll es auf den Spuren weitergehen, die die Menschen vor Tausenden von Jahren auf ihrem Weg in die Neue Welt hinterlassen haben, bis zu den Tlingit-Indianern im Süden Alaskas – eine Route von über 10 000 Kilometern.

Aber nicht von der Vergangenheit und den Vorfahren unserer sibirischen Begleiter ist an diesem Abend am wärmenden und trocknenden Feuer die Rede, sondern von dem, worüber sich Kostja und Semjon Ustinow in jeder freien Minute am liebsten unterhalten – von Bären. Ustinow hat mehr als 50 Jahre lang Bären in Sibirien beobachtet und unzählige Bücher und Artikel über sie geschrieben. Kostja, in Pokojniki geboren, ist ebenfalls seit seiner Kindheit mit Bären vertraut und lebt davon, sie sich und anderen vom Leibe zu halten. Was er erzählt, klingt wie Jäger- oder genauer: Bärenlatein. Doch Ustinow, der Wissenschaftler, korrigiert ihn an keiner Stelle, meldet bei keiner von Kostjas Geschichten Zweifel an.

Und so berichtet Kostja, der auch einige Zeit als Bärenjäger auf der Halbinsel Kamtschatka vor der Ostküste Sibiriens gearbeitet hat, von jenem französischen Kameramann, der in Begleitung eines einheimischen Jägers Filmaufnahmen vom Leben der Bären dort machen wollte. «Plötzlich», so Kostja, «steht vor beiden ein riesiger Bär, unerwartet, zweifellos angriffslustig. Der Jäger schießt zweimal, trifft zweimal, doch der Bär ist unbeeindruckt, springt auf beide zu. Während der Jäger zu den Patronen greift, um nachzuladen, rennt der Kameramann weg und hechtet in den nahen Fluss. Der Bär, ihm nach, schwimmt dem Kameramann hinterher. Erst mit dem dritten Schuss kann der Jäger den Bären erlegen.»

Maxim, unser Kameramann, hat sich die Erzählung Kostjas ungerührt angehört. «Ich hoffe», sagt er lakonisch, «du schießt besser.»

Das ist das Stichwort für Kostjas nächste Geschichte. Selbst der beste Schütze, erklärt er, ist im Zweifelsfall gegen den Bären machtlos. So sei der Chefjäger des Baikal-Lena-Naturparks, in dem wir uns gerade befinden, ein im Zweiten Weltkrieg mehrfach ausgezeichneter Scharfschütze, als er vor ein paar Jahren mit seinen zwei Hunden in der Taiga unterwegs war, von einem Bären angefallen worden. Und zwar so blitzschnell, dass er gar nicht erst zum Karabiner oder zu seiner Parabellum-Pistole greifen konnte. Er wurde zerfleischt.

Semjon Ustinow, damals der Vorgesetzte des Chefjägers, bestätigt Kostjas Geschichte ausdrücklich. Und weist darauf hin, dass Bären schnell laufen können, bis zu 80 Kilometer in der Stunde, und zuweilen auch von einem Baum herab auf Menschen springen. Das sei vielleicht beim Tod des Chefjägers der Fall gewesen. Im Übrigen, so Ustinow, hätten Bären einen ausgesprochen bösartigen Charakter. Selbst von klein auf im Haus aufgezogene Bären seien unberechenbar und höchst gefährlich. Deshalb würden laut Statistik die meisten Unfälle beim Zirkus bei Bärendressuren passieren, nicht etwa bei der Arbeit mit Löwen, Tigern, Panthern oder anderen Raubtieren.

Auch über die gewaltigen Körperkräfte des Herrn der Taiga weiß Kostja zu erzählen. So habe er beobachtet, wie ein Bär am Ufer des Baikalsees im Frühsommer mit seinen Tatzen einen riesigen Stein umwälzte, um an ein Nest der von ihm heiß geliebten Schmetterlingslarven zu kommen. Später sei es sechs Männern nicht gelungen, den Stein von der Stelle zu bewegen.

Und auf Kamtschatka sei er Zeuge gewesen, wie im November im Schnee ein hungriger Bär mit einem Tatzenhieb drei Hunde erledigte. Als man den Bären schließlich erlegte, stellte man fest, dass er ein Gewicht von 586 Kilo hatte.

Beim Bau der Baikal-Amur-Magistrale (BAM), der neuen Transsibirischen Eisenbahn, die um die Nordspitze des Baikalsees herumführt, so Kostja weiter, mussten vor einigen Jahren wegen der Bären vorübergehend die Arbeiten eingestellt werden. Und im Baikalsee, nahe dem Ufer seines Dorfes Pokojniki, habe sich ein wütender Bär bis zur Hälfte aus dem Wasser gereckt und an einem Ruderboot mit drei Fischern gerüttelt. «Noch stundenlang haben die Fischer gezittert.»

Glück, meint Kostja, dem nun eine Schauergeschichte nach der anderen einfällt, habe auch sein Freund gehabt, der von einem Bären angefallen und schwer verletzt worden sei. Vier Stunden habe er den zeitweise Bewusstlosen, der zu verbluten drohte, in seinem Boot über den Baikalsee zum nächsten Dorf gerudert, in dem es einen Arzt gebe. «Der war an diesem Tag nüchtern.»

Ob denn, fragen wir Kostja, die Hunde, die er immer in die Taiga mitnehme, tatsächlich ein Schutz vor Bären seien?

Kostja kratzt sich am Hinterkopf und schiebt seine Schirmmütze etwas tiefer ins Gesicht. Mit den Hunden, meint er und starrt dabei gedankenvoll ins Feuer, sei das so eine Sache. Im Prinzip gebe es drei Möglichkeiten: Entweder die Hunde verjagen den Bären, oder sie halten ihn wenigstens auf, oder sie laufen vor ihm weg, zurück zu Herrchen – und der Bär hinter ihnen her. Erst unlängst habe er Letzteres erlebt und dabei Glück gehabt. Der Bär, der hinter den Hunden herhetzte, die zu ihm zurückliefen, habe ein solches Tempo gehabt, dass er glatt an dem Baum vorbeirannte, hinter dem sich Kostja versteckte. «Ich hier – und der Bär prescht an mir vorbei, ganz nah, ich hab sogar den Luftzug gespürt.»

Am meisten gefährdet, so wirft Semjon Ustinow mit einem kurzen Blick auf Kostja ein, seien erfolgreiche Jäger. Sie seien häufig zu selbstsicher, unvorsichtig, überschätzten sich und verließen sich zu sehr auf ihr Gewehr. Dabei wisse eigentlich jeder, dass ein Bär mit einem Schuss nicht zu erschrecken sei.

Kostja hört es nicht gern, wenn man ihn einen Bärenjäger nennt. Obwohl er in seinem Leben, wie er sagt, schon mehr als 30 von ihnen erlegt hat. Natürlich, er gehe auf die Jagd, nach Hirschen, Rehen, Elchen, Wildschweinen, Füchsen, Zobel und im Winter auch auf Robben. Aber noch nie habe er sich vorgenommen, einen Bären zu jagen. Wenn er einen von ihnen erschieße, dann nur aus Notwehr – um sich, sein Vieh, sein Dorf zu beschützen.

«Aber wir haben gehört», wende ich mich an Kostja, «dass auf dem Schwarzmarkt in Irkutsk von Ausländern bis zu 1000 US-Dollar für ein Bärenfell geboten werden.»

«Auch für 1000 Dollar riskierst du keine Begegnung mit einem Bären», sagt Kostja. «Ein Bär ist kein Hase.» Und zur Bekräftigung spuckt er ins Feuer, dass es zischt.

 

Das Verhältnis von Semjon Ustinow zu Bären ist durchaus zwiespältig. Sie faszinieren ihn und sind ihm zugleich unheimlich. Ganz offen erklärt er: «Ich glaube, mich in der Natur einigermaßen auszukennen. Und dennoch habe ich in der Taiga vor zwei Dingen Angst: in eine Schneehöhle zu fallen, aus der man nicht wieder herauskommt, und vor Bären. Man weiß nie, was sie tun werden. Da scheint einer nur neugierig und verspielt, doch wenn er auf zehn Meter herangekommen ist, wird dir plötzlich anders. Wenn der Riese dann nämlich losspringt, hast du keine Chance mehr. Deshalb gehe ich auch nie ohne Waffe in den Wald. Ein paar Mal schon hat sie mir, als ich von Bären angefallen wurde, das Leben gerettet. Ich erschieße sie nicht gern, sondern nur, wenn ich gezwungen bin.»

In seinen Büchern hat Ustinow mehr als hundert Fälle beschrieben, in denen Menschen im Baikal-Gebiet von Bären angegriffen wurden. Besonders aggressiv sind sie bei Futtermangel, wenn sie verwundet oder alt sind. Dann gehen sie weite Wege, erscheinen an den ungewöhnlichsten Plätzen, sind noch hinterhältiger als ohnehin schon. Ustinow weiß von einem angeschossenen Bären zu berichten, der sich in einer Grube versteckte und einen vorbeigehenden Jäger von hinten anfiel. «Von dem Mann sind nur die Stiefel und Fußlappen übrig geblieben.» Auch gebe es, so Ustinow, «ausgesprochene Mörderbären», Kannibalen, die sich bei jeder Gelegenheit auf ihresgleichen und Menschen stürzten.

Noch eine andere, nach menschlichem Verständnis negative Eigenschaft hat Ustinow bei Bären entdeckt: «Sie sind schreckliche Väter. Mit Vorliebe fressen sie ihren eigenen Nachwuchs. Bärenmütter fürchten nichts mehr als das Erscheinen von Bärenmännern.»

Trotz der vielen negativen Eigenschaften der Bären sieht Ustinow in ihnen ein «sehr gelungenes System der Natur». Bären seien nämlich keineswegs ungeschickt und auch mitnichten Klumpfüße, wie der russische Volksmund sie nenne. Im Gegenteil: Wie kein anderes Tier verfüge der Bär über mehrere, ganz verschiedene Fähigkeiten in höchster Vollendung. Er könne blitzschnell laufen, springen – aus dem Stand zwei Meter hoch –, auf Bäume und Felsen klettern und hervorragend schwimmen. Er fresse Fleisch und Fisch, Insekten, Gras und Wurzeln, Beeren und Nüsse und sogar Aas. Als Allesfresser könne er selbst unter extremen Bedingungen überleben und – als Gattung – auch in jedem Klima: im ewigen Eis ebenso wie im tropischen Urwald. Und er verfüge über Fähigkeiten, für die die Forscher noch immer keine endgültige Erklärung haben.

So wissen Bären, das jedenfalls ist das Ergebnis jahrzehntelanger Beobachtungen von Semjon Ustinow, schon im Voraus, ob ein Winter streng wird oder nicht. Dementsprechend legen sie ihre Höhlen an. «Wenn sie spüren, dass es ein milder Winter wird, bauen sie ihre Höhlen nur ganz knapp unter der Erde. Wenn ein harter Winter kommt, graben sie sich tief ein – unter Bäumen oder Felsen.»

Bei einigen Völkern Sibiriens, so Ustinow, gelte der Bär – wie auch der Adler, der Rabe, der Schwan, die Eule oder der Storch – als eine Art heiliges Tier und stehe unter dem besonderen Schutz der Geister. Er sei für die Jagd tabu. Dies sei vielleicht auch der tiefere Grund, warum Kostja so vehement bestreite, ein Bärenjäger zu sein.

An ein anderes sibirisches Tabu scheint sich, bewusst oder unbewusst, auch Semjon Ustinow zu halten. Aus Furcht und Respekt vor der Erscheinung und der beinahe an die des Menschen reichenden Intelligenz des Bären nämlich darf der Name dieses Tieres nicht ausgesprochen werden. Stattdessen werden im Russischen und den Sprachen der sibirischen Völker unzählige Umschreibungen verwendet wie «Herr der Taiga», «Großvater» und «alter Mann der Wälder». Semjon Ustinow nennt den Bären meist «Mischa» oder – entgegen seiner eigenen wissenschaftlichen Erkenntnis – «Klumpfuß».