Philipp Lenhard

Friedrich Pollock

Die graue Eminenz der Frankfurter Schule

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Inhalt

Einleitung

1. Das Fin-de-Siècle in der Provinz

2. Ein Freund fürs Leben

3. Gescheiterte Revolution

4. Marxismus als Wissenschaft

5. Auf der Suche

6. Dämmerung

7. Praktische Hilfe

8. In der Emigration

9. Eine neue Ordnung?

10. Dinner im Weißen Haus

11. Rückkehr?

12. Das neue alte Deutschland

13. Automation

14. Über das Altern

Epilog

Verwendete Archivbestände

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsnachweise

Personenregister

Zeittafel

Anmerkungen

Einleitung

1964 veröffentlichte Max Horkheimer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anlässlich des siebzigsten Geburtstages seines engsten Mitstreiters und lebenslangen Freundes Friedrich Pollock eine kleine Würdigung. Darin heißt es: »Daß Friedrich Pollock […] ausschließlich als Gelehrter bekannt ist, läßt einzig durch seine tiefe Bescheidenheit sich erklären. Wie sehr seine wissenschaftlichen Leistungen der Beurteilung entscheidender wirtschaftlich-gesellschaftlicher Phänomene dienen mögen, seine praktische Wirksamkeit bei der Entstehung, Entfaltung und Erneuerung der Sozialwissenschaften in Deutschland, nicht zuletzt bei der Rettung einzelner ihrer Vertreter zur Zeit der Verfolgung, bildet ein bedeutsames Kapitel in der Geschichte des lange vernachlässigten Forschungszweiges. Sein der Pflicht unendlich viel mehr als dem eigenen Wohl gewidmetes Leben, die produktive Solidarität mit theoretischen Bestrebungen und Institutionen im einzelnen darzustellen, wäre ein Beitrag zum Verständnis der intellektuellen Situation des letzten halben Jahrhunderts.«1

Diese zugegebenermaßen recht hagiographischen Worte, die vom tief empfundenen Respekt vor der Lebensleistung eines Freundes zeugen, könnten dem vorliegenden Buch zweifellos als Vorwort voranstehen. Doch eine Antwort auf die Frage, warum der laut Horkheimer so immens wichtige »Beitrag zum Verständnis der intellektuellen Situation« der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst jetzt, fast ein halbes Jahrhundert nach Pollocks Tod rekonstruiert wird, erschließt sich, wenn man eine zweite, weniger überschäumende Würdigung kontrastierend hinzuzieht. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel publizierte nach dem Tod Pollocks am 16. Dezember 1970 einen Nachruf mit folgendem Wortlaut: »Der Mitbegründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung blieb bewußt im Schatten seines großen Freundes Max Horkheimer, dessen Helfer und Hausmeier er ein Leben lang war. Als Organisator und Finanzverwalter des Instituts hatte er Anfang der dreißiger Jahre Zweigstellen in London, Genf und Paris eingerichtet und damit die Fortführung der Arbeit im Ausland nach Hitlers Machtübernahme ermöglicht. […] Als Nationalökonom erwarb sich Pollock durch seine Veröffentlichungen den Ruf eines Kenners der marxistischen Ökonomie. Der Emeritus lebte im Nachbarhaus Horkheimers in Montagnola bei Lugano. Dort starb er am Mittwoch vorletzter Woche.«2

Auch der Spiegel erwähnt Pollocks wissenschaftliches Werk, mit dem er sich, so heißt es vage, einen »Ruf« als »Kenner der marxistischen Ökonomie« erworben habe – ob zu Recht oder zu Unrecht bleibt offen –, doch die Figur des »Gelehrten«, als die Pollock doch laut Horkheimer einzig bekannt geworden sei, bleibt im Spiegel nur eine blasse Randgestalt. Stattdessen wird er als »Finanzverwalter«, »Helfer«, »Nachbar«, ja »Hausmeier« Horkheimers dargestellt, der bewusst im Schatten der Öffentlichkeit geblieben sei. Es ist vornehmlich dieses Bild, das sich in der Rezeption der Geschichte der Frankfurter Schule etabliert hat. Horkheimers Würdigung musste vor diesem Hintergrund als Freundschaftsdienst, als Lobhudelei unter Kompagnons verstanden werden. Dass Pollock tatsächlich mehr war als nur ein »Hausmeier«, dass sein wissenschaftliches Werk, aber auch sein Lebensweg von überragender Bedeutung für das intellektuelle Profil des Instituts für Sozialforschung gewesen ist und zugleich Dutzende deutsch-jüdischer Intellektueller ihm ganz praktisch überlebensnotwendige Hilfe im Exil verdanken, wird in diesem Buch dargestellt.

Wie alle Persönlichkeiten, die so faszinierend sind, dass Historiker Biographien über sie schreiben, war freilich auch Pollock ein Mann kleiner und großer Widersprüche: Ein Fabrikantensohn, der das Privateigentum abschaffen wollte; ein Professor, der wenig publizierte; ein Ökonom, der sich an der Börse verzockte; ein Badenser, der sich nur noch im Englischen heimisch fühlte; ein Kommunist, der den Marxismus für anachronistisch hielt; ein Jude, der vom Judentum nichts wissen wollte; und schließlich: ein kritischer Intellektueller, der glaubte, das gute Leben in einer intimen, lebenslangen Freundschaft antizipieren zu können. Ihn als Individuum mit all seinen Konflikten, Stärken und Schwächen vorzustellen, die verschlungenen Wege seines Lebens nachzuzeichnen und zugleich in sein Werk einzuführen ist Zweck des vorliegenden Buches.

Weil der Einzelne einer bekannten Wendung Marx' zufolge immer auch ein »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« ist, in denen er lebt, gewährt die vorliegende Studie darüber hinaus Einblicke in die politische, kulturelle und intellektuelle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Doch sosehr der zeitgeschichtliche Kontext die konkreten Entscheidungen, Handlungen und Denkweisen der historischen Persönlichkeit auch immer prägen mag, so sehr ist doch davor zu warnen, das Individuum als bloßen Knotenpunkt allmächtiger Triebkräfte wahrzunehmen. Der Begriff des Individuums, dem die vorliegende Biographie trotz oder gerade wegen seiner Gebrochenheit durch die Verheerungen der Moderne noch immer verbunden ist, kann nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn der Einzelne nicht vollkommen mit seiner Zeit identisch ist, sondern sich auch durch seine Abweichung, durch sein Überschreiten der bestehenden Normen und seinen Widerspruch zum gesellschaftlichen Mainstream auszeichnet. Das vorliegende Buch ist somit keine Gesellschaftsbiographie, die dem Glauben verfällt, anhand eines einzigen Menschen könne sich das Jahrhundert ablesen lassen, sondern ganz bewusst eine Studie über eine fesselnde Persönlichkeit, die in einer Zeit gewaltiger Katastrophen, Konflikte und Umbrüche lebte und in ihrer eigenen, wie wir sehen werden, durchaus eigentümlichen Weise auf diese reagierte.

Wer sich mit der Geschichte der deutschen Soziologie, des westlichen Marxismus, der sogenannten »Frankfurter Schule« oder auch der deutsch-jüdischen Emigration in die USA auseinandersetzt, kommt an Pollock nicht vorbei. Sein Name taucht in der Literatur und vor allem in den Quellen immer wieder auf, und doch ist Pollock, nach einem Wort von Rolf Wiggershaus, »der letzte Unbekannte der Frankfurter Schule« geblieben.3 Als Wiggershaus seine Diagnose 1994 niederschrieb, hoffte er, damit die Aufmerksamkeit der Forschung auf ein Leben zu lenken, das innerhalb der Geschichte des Instituts für Sozialforschung eine prominente Rolle einnahm. Doch in den mehr als zwanzig Jahren, seit Wiggershaus' knappe biographische Skizze erschien, hat sich nichts Wesentliches am Bekanntheitsgrad Pollocks geändert. Noch immer fristet er ein Schattendasein hinter den Stars der Kritischen Theorie wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse. Nur eingefleischten Experten ist ein kleiner Ausschnitt seines Werkes bekannt und von wenigen Ausnahmen abgesehen ist Pollocks theoretische Arbeit einzig als Fußnote zu den anerkannten Denkern der Frankfurter Schule rezipiert worden. Seine immense theoriegeschichtliche Bedeutung für die Entwicklung der Kritischen Theorie ist bisher höchstens in Ansätzen erfasst.4

Dies erstaunt umso mehr, als Pollock keine Randfigur war, sondern als Mitbegründer und langjähriger (Co-)Direktor des Instituts für Sozialforschung in höchstem Maße die persönliche wie theoretische Kontinuität der Frankfurter Schule repräsentierte und deren wissenschaftlichen Weg entscheidend mitprägte. Der nun endlich vorliegende erste Band der Gesammelten Schriften, der die Frühen Schriften aus der Zeit vor 1933 enthält, mag, so ist zu hoffen, zusammen mit den fünf weiteren geplanten Bänden das Interesse für Pollocks Werk erhöhen.5 Wie nicht zuletzt an der ausgezeichneten, seit 1985 im S. Fischer Verlag erschienenen Horkheimer-Gesamtausgabe zu sehen ist, kann eine solche Veröffentlichung für die intellektuelle Auseinandersetzung mit einem bedeutenden Denker und dessen Werk äußerst fruchtbar sein. Sie lässt das Werk, trotz aller Beeinflussungen von außen, auch als immanent sich entwickelnde Gesamtheit erscheinen, die sowohl durch Kontinuitäten als auch durch Fortschritte, Revisionen und Neuentdeckungen gekennzeichnet ist. Dies hilft, Pollock nicht nur in Abhängigkeit zu anderen, bekannteren Vertretern der Kritischen Theorie zu verstehen, sondern auch als originären Denker, der seinerseits andere nachhaltig beeinflusst hat.

Ganz ähnlich verhält es sich mit Pollocks Leben: Anders als in der bisherigen Literatur zur Geschichte der »Frankfurter Schule«, in der Pollocks Biographie nur dann Erwähnung fand, wenn sie Informationen über Max Horkheimer, Theodor Adorno, Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal oder Franz Neumann bereithielt, wird auf den folgenden Seiten gezeigt, dass Pollocks Lebensgeschichte mindestens ebenso spannend ist wie die seiner Mitstreiter. Hin- und hergerissen zwischen dem Leben auf zwei Kontinenten, zwischen revolutionärer Sehnsucht und realpolitischer Skepsis, zwischen einem theoretischen Pessimismus und einer utopischen Existenzweise, zwischen weltbürgerlicher Selbstdefinition und antisemitischer Fremdzuschreibung war Pollocks Leben durch die Spannung zwischen seinen Vorstellungen, Überzeugungen und Träumen auf der einen Seite und der als zunehmend feindlich erfahrenen Außenwelt geprägt. Nicht zuletzt seine symbiotische Freundschaft mit Horkheimer, die zweifellos aus sachlichen Gründen im Zentrum einer jeden Pollock-Biographie stehen muss, bezog ihre Dynamik und Energie aus dieser Konstellation.

Auch Pollocks Version der Kritischen Theorie spiegelt diese Widersprüchlichkeit, diese Zerrissenheit wider. Weil Pollock es sich zum Grundsatz machte, auf breiter empirischer Grundlage antizipierend Theorie zu treiben und dadurch gesellschaftliche Tendenzen der Zukunft aufzuspüren, war bei ihm die Fallhöhe gewiss größer als bei rein deskriptiv arbeitenden Sozialwissenschaftlern. Manche seiner Prognosen mögen sich daher als falsch oder zumindest übertrieben erwiesen haben. Andere, wie etwa die einer bevorstehenden »Revolution der Roboter«, vor der Pollock in den sechziger Jahren warnte, klangen damals, als seien sie direkt einem Science-Fiction-Roman entnommen. Heute beherrschen die Debatten über Roboter und Automation wieder die Schlagzeilen.6 Obwohl seine Analysen einer anderen, uns bisweilen fremd erscheinenden Zeit entstammen, sind viele von ihnen – etwa über die wachsende ökonomische Überflüssigkeit der Menschen, die Automatisierung der Industrie oder die zunehmende Bürokratisierung der Gesellschaft – erstaunlich aktuell. Pollock hat diese Entwicklungen, die sich in seiner eigenen Zeit erst partiell abzeichneten, in ihrem totalen Anspruch hellsichtig vorausgeahnt und beschrieben. Wenn es gelingen sollte, diese und andere Diagnosen wieder ins Bewusstsein einer kritischen Öffentlichkeit zu heben, wäre nicht nur der Anspruch des Autors erfüllt – es wäre auch eine dem Werk Friedrich Pollocks angemessene Form der Ideengeschichte.

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Dieses Buch wäre ohne vielfältige Hilfe nicht entstanden. Danken möchte ich allen voran Michael Brenner für die jahrelange Unterstützung und wissenschaftliche Förderung. Eine wichtige Phase in diesem Buchprojekt war auch die Zeit als Gastwissenschaftler am Institute of European Studies der University of California in Berkeley, die vom Deutschen Akademischen Austauschdienst großzügig gefördert wurde. Martin Jay danke ich herzlich für die vielen anregenden Diskussionen über Friedrich Pollock, ganz besonders aber auch für den Zugang zu seinem privaten Archiv. Während eines Aufenthalts als Gastwissenschaftler am Deutschen Literaturarchiv in Marbach hatte ich zudem die Gelegenheit, verschiedene Nachlässe zu sichten und mich über einen längeren Zeitraum hinweg ungestört dem Schreiben zu widmen. Dafür sei ganz besonders Caroline Jessen gedankt.

Mathias Jehn, Oliver Kleppel und Stephen Roeper vom Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main waren mit ihrer Hilfsbereitschaft und Unterstützung über die Jahre hinweg für die Entstehung dieses Buches unverzichtbar. Furio Cerutti, Carlo Campani und Maria Enrica Vadalà haben meine Arbeit mit dem bislang noch weitgehend unbekannten Teilnachlass in der Universitätsbibliothek Florenz bereitwillig unterstützt. Auch Carol A. Leadenham von der Hoover Institution in Stanford, Robert Bierschneider vom Staatsarchiv München, Jochen Rees vom Landesarchiv Baden-Württemberg, Hans-Peter Widmann vom Stadtarchiv Freiburg im Breisgau, Claudius Stein vom Universitätsarchiv München, Melissa McMullen vom Bibliotheksarchiv der State University of New York in Albany sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der New York City Municipal Archives, des Leo Baeck Institute New York und der Asociación de Genealogía Judía de Argentina möchte ich für ihre Unterstützung herzlich danken. Christine Broit, Liliana Ruth Feierstein und Carlos Abraham Weil haben mir geholfen, die argentinischen Spuren der Familie Pollock nachzuverfolgen.

Thomas Sparr und Sabine Landes vom Suhrkamp Verlag danke ich für ihre Unterstützung und für das sorgfältige Lektorat. Die Berthold Leibinger Stiftung hat durch ihren Druckkostenzuschuss dazu beigetragen, dass das Buch in dieser schönen Form erscheinen konnte.

Aufschlussreiche Hinweise habe ich zudem von John Abromeit, Nicola Emery, Jan Gerber, Sander Gilman, Jürgen Habermas, Dirk Heißerer, Hans Dieter Huber, Doris Maja Krüger, Johannes Platz, Gregor-Sönke Schneider, Bernd Serger, Andrea Sinn und Jörg Später erhalten. Alex Gruber, Hartmut Lenhard, Janina Lenhard, Niklaas Machunsky und Elisabeth Uebelmann haben verschiedene Versionen des Manuskripts gelesen und mir wertvolle Anregungen gegeben.

1. Das Fin-de-Siècle in der Provinz

Ein riesiger, massiver Holztisch in der Mitte des Saales, eingedeckt für siebzehn Personen. Es ist Freitagabend, der 5. Februar 1943, kurz vor acht, mitten in Washington, D. ‌C. Draußen ist es kalt, um null Grad, doch der Saal ist gut beheizt. Das Kerzenlicht spiegelt sich in den blank polierten Weingläsern, die aufwendig zu einem Fächer drapierten Servietten liegen nun gefaltet neben den Tellern. Die Bediensteten servieren einen Gang nach dem nächsten, es duftet nach gutem Essen. Es gibt Austern, gebackenen Schinken mit Ananas, verschiedene Gemüse als Beilage, dazu Salat und Käse. Einer der Gäste hat sich sichtlich in Schale geworfen, er trägt einen Dreiteiler mit Fliege. Die dunkelbraunen Haare sind sorgfältig mit Pomade zurückgekämmt. Durch seine schwarzumrandete Brille fixiert er die ihm gegenübersitzende Frau und spricht mit ruhiger Stimme auf sie ein. Er bekräftigt seine Worte mit gestikulierenden Händen, die seine Souveränität unterstreichen sollen, aber es ist ihm trotzdem ein Hauch von Nervosität anzumerken. Die Angesprochene hört aufmerksam zu, schaut ihn mit ihren freundlichen blauen Augen an, manchmal nickt sie leicht. Auf ihrem bis zum Hals geschlossenen weiten Kleid ruht eine Perlenkette. Bisweilen schaut die fast 60-jährige, resolute Dame nach rechts zu ihrem Gatten, der eher teilnahmslos mit seinem Essen beschäftigt ist. Ihr Gatte – das ist der 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Franklin Delano Roosevelt. Seine Frau Eleanor hat die um den reichhaltig gedeckten Esstisch sitzenden Gäste eingeladen, die nun seine Abendgesellschaft bilden. Eleanor Roosevelts Neffe Henry ist gekommen, außerdem die Schwiegertochter Ruth Josephine.1

Inmitten dieser familiären Runde sitzen, nicht so ganz ins Bild passend, auch vier Gäste aus Deutschland, allesamt inzwischen amerikanische Staatsbürger, die ihre Pläne für eine europäische Nachkriegsordnung präsentieren wollen. Der ebenfalls anwesende Vizepräsident Henry A. Wallace notiert später über zwei der Gäste: »Lowe and Polak are Jews«, woher auch immer er diese Information hat, und fügt anerkennend hinzu, sie hätten eine exzellente Ausbildung in Wirtschaftsstatistik genossen.2 »Polak« heißt eigentlich Pollock, doch in der amerikanischen Aussprache klingen beide Namen nahezu identisch.

Für Friedrich Pollock, den Mann mit Dreiteiler und Fliege, ist dieser Abend im Februar 1943 der Höhepunkt seines Schaffens.3 Sein Freund Max Horkheimer gratuliert ihm einige Tage später aus Kalifornien zu der einzigartigen »Möglichkeit, Gesprächen von historischer Bedeutung zuhören zu können«.4 Pollock fühlt Genugtuung. Der inzwischen Jahrzehnte währende Einsatz dafür, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, hat ihn vom beschaulichen Freiburg im Breisgau durch halb Europa bis ins Weiße Haus geführt. Jetzt hat er die Gelegenheit, vor dem mächtigsten Mann der Welt seine Ideen und Pläne auszubreiten – auch wenn ihm vorerst nur dessen Frau wirkliche Aufmerksamkeit schenkt. Lang und breit erklärt er, nur die Einrichtung einer »wahren Demokratie« in Deutschland könne langfristigen Frieden bringen. Er verstehe, dass Teile des State Department und der Armee eine Militärverwaltung bevorzugten, doch sei dies nur eine kurzfristige Lösung. Auf lange Sicht bestehe die Gefahr, dass Europa nach einem Abzug der Besatzungstruppen »entweder kommunistisch oder faschistisch« würde.

Die First Lady folgt seinen Ausführungen mit großem Interesse, während der Präsident sich vom etwas oberlehrerhaften Stil Pollocks genervt zeigt. Trude Lash, eine der engsten Vertrauten Eleanors, die wie Pollock aus Freiburg stammt und ebenfalls an dem Abendessen teilnimmt, bemerkt zuhause gegenüber ihrem Mann: »Die Deutschen waren nicht so klar und gut wie letztes Mal. Für das Weiße Haus, den Vizepräsidenten und den Präsidenten war das zu viel. Ihr Auftreten war zu professoral und am Ende forderte der Präsident sie auf, Schulbücher zu verfassen – und behandelte sie damit wie Schulmeister, was insbesondere Pollock Kummer bereitete.«5 Die Sorgen waren allerdings unbegründet, denn es sollte nicht die letzte Unterredung mit den Roosevelts bleiben.

Doch wie kam es eigentlich dazu, dass ausgerechnet Friedrich Pollock zum Abendessen in die 1600 Pennsylvania Avenue NW eingeladen wurde? Was war das für ein Leben, das im Obergeschoss eines kleinen Damenmodegeschäfts in der Freiburger Innenstadt seinen Anfang nahm und bis ins Zentrum der politischen Macht des 20. Jahrhunderts führte?

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Als Friedrich Pollock am 22. Mai 1894 in der 50 ‌000 Einwohner zählenden badischen Universitätsstadt Freiburg im Breisgau zur Welt kam,6 war sein Geburtsort eine mittelgroße Provinzstadt – gerade groß genug, dass städtische Sozialformen, unternehmerisches Know-how und wissenschaftliche Neuerungen spürbar waren, andererseits aber doch so klein, dass das traditionelle Gesellschaftsgefüge durch die politischen und ökonomischen Umwälzungen nicht aus den Angeln gehoben wurde. Die 1457 gegründete Albert-Ludwigs-Universität hatte als eine der ältesten und renommiertesten Hochschulen Deutschlands über 2000 Studenten (erst 1899 wurde die erste Frau immatrikuliert), die im städtischen Leben gut sichtbar waren. Das liberal und bürgerlich geprägte Freiburg hatte nach dem deutsch-französischen Krieg enorm von der Annektierung des Elsass profitiert, insbesondere von der neu errichteten Eisenbahnverbindung nach Colmar. Der wirtschaftliche Aufstieg schlug sich auch in der Architektur und Infrastruktur Freiburgs nieder: Seit 1891 gab es einen Pferdeomnibusbetrieb, ab 1901 sogar eine elektrische Straßenbahn; zahlreiche vom Historismus beeinflusste Bauten entstanden und veränderten das Stadtbild. In der Folge dieses rasanten wirtschaftlichen und kulturellen Aufstiegs wuchs die Bevölkerung bis zum Ersten Weltkrieg auf über 80 ‌000 an, vor allem durch den Zuzug wohlhabender Bürger aus dem Ruhrgebiet und aus Hamburg, die 1892 vor einer Choleraepidemie bis an den Rand des Schwarzwaldes geflohen waren.

Auch die kleine jüdische Gemeinde, die zur Zeit von Friedrich Pollocks Geburt etwa 1000 Mitglieder hatte, war fest im Bürgertum verankert und pflegte einen liberalen Ritus, was häufig zu Konflikten mit der benachbarten Gemeinde in Sulzburg führte, die das Paradebeispiel einer orthodoxen jüdischen Landgemeinde darstellte.7 Als 1886 der Sulzburger Rabbiner verstarb, wurde die Gemeinde im Zuge einer Gebietsreform derjenigen in Freiburg angeschlossen. Anlässlich der Ausschreibung einer neuen Rabbinerstelle in Freiburg klagte die orthodoxe Zeitschrift Der Israelit: »Die Freiburger Gemeinde ist streng – unfromm. Eine Orgel spielt dort am Sabbat und Feiertage: gesinnungstüchtigen, prinzipientreuen Rabbinern war also die Bewerbung unmöglich gemacht. Nun, wie es ein altes Sprichwort ist, daß wie die Gemeinde, so der Rabbiner, so hat auch die Freiburger Gemeinde einen Rabbiner bekommen, der seiner ›Richtung‹ nach vollkommen für sie geeignet ist. Und wir sind tolerant genug, den Freiburgern ihren Rabbiner zu gönnen; nur eines wünschen wir, daß er uns nicht aufgedrängt werde.«8

Der für die Frommen offenbar unzumutbare Rabbiner, von dem hier die Rede ist, hieß Adolf Lewin und stammte aus Posen. Er war am berühmten Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminar ordiniert worden und hatte vor seiner Anstellung in Freiburg bereits reichlich Erfahrung als Rabbiner im polnischen Koźmin sowie in Koblenz gesammelt. Lewin prägte die Gemeinde in seiner 24-jährigen Amtszeit nachhaltig. In der 1870 eingeweihten, ersten neuzeitlichen Synagoge Freiburgs führte Lewin 1894 eine neue Synagogenordnung ein, die unter anderem verbindlich einen bürgerlichen Kleidungsstil für den Gottesdienst vorschrieb: »Es wird von den Synagogenbesuchern erwartet, daß sie in passender, möglichst dunkler Kleidung erscheinen. […] Verheirathete Gemeindemitglieder müssen an Samstagen und Festtagen mit schwarzen Cylinderhüten bekleidet sein. Bei Erwachsenen ist dunkler Hut geboten.«9 Stattdessen wurde das Tragen des Gebetsmantels ebenso untersagt wie lautes Beten. Mit dem liberalen Judentum Lewins war zugleich ein ostentativer Patriotismus verbunden, der insbesondere in Auseinandersetzungen mit Judenfeinden selbstbewusst hervorgehoben wurde, wenn diese die Juden der nationalen Unzuverlässigkeit bezichtigten.10 Lewins Haltung war damit charakteristisch für viele Mitglieder der Freiburger jüdischen Gemeinde: Der bürgerliche Habitus verband sich mit einer sehr selektiven religiösen Praxis, so mancher entsagte dem Gemeindeleben sogar vollständig, ohne formell auszutreten. Das Judentum bestimmte zwar meist nicht mehr den Alltag, die jüdische Identität wurde aber gegenüber Angriffen von außen selbstbewusst verteidigt.

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Familie Pollock, 1902

Auch Friedrich Pollocks Eltern scheinen diesem Typus entsprochen zu haben. Ein Foto aus dem Jahre 1902 zeigt die vierköpfige Familie in geradezu klassisch bürgerlicher Selbstinszenierung: Der Vater, Julius Pollock (1866-1937), einen Kaiser Wilhelm II. Respekt zollenden Bart tragend, ist mit Abstand die größte Person auf dem Bild. Er repräsentiert das Zentrum der Familie und richtet seinen Blick nach außen, auf die Gesellschaft. Die Mutter, Elisabeth »Elsa« Pollock (1867-1930), züchtig gekleidet, schaut zur Seite auf den jüngeren der beiden Söhne, Hans Pollock (1895-1973), der einen seinerzeit modischen Matrosenanzug trägt. Auch Friedrich Pollock, ganz rechts, trägt diesen Anzug, der dem hohen Ansehen der kaiserlichen Marine entspricht. Er steht jedoch etwas abseits, ganz so, als ob er bereits den ersten Schritt gemacht hätte, der eines Tages in die Unabhängigkeit führen sollte. Gleichwohl hält er sich noch mit einem Arm an der Mutter fest, die den Kopf von ihm abwendet.

Zweifellos waren solche in bürgerlichen Kreisen ganz üblichen Familienaufnahmen vom Fotografen arrangiert und folgten dem immer gleichen Muster. Zweck dieser Fotografien, die für Besucher gut sichtbar in der Wohnstube ausgestellt wurden, war es, das Bild einer den sozialen Normen des Kaiserreiches entsprechenden bürgerlichen Kleinfamilie zu erzeugen. Zwischen jüdischen und christlichen Familien gab es diesbezüglich kaum Unterschiede. Im Falle der Familie Pollock deutet nichts auf ihre jüdische Herkunft hin – die jüdische Identität war ihr offenbar in ihrer Außendarstellung nicht wichtig.

Die Mutter, zu der Friedrich Pollock bis zu ihrem frühen Tod ein enges Vertrauensverhältnis hatte, stammte aus der alteingesessenen Kölner Familie Franck.11 Ihre Eltern seien »zwar noch an Feiertagen in die Synagoge gegangen«, erinnerte sich Pollock später, »aber sie waren ja auch schon liberale Juden und meine Mutter hat ja zugestimmt, daß sie nie in die Synagoge geht, sie war ja genauso wenig in der Synagoge wie ich«.12 Wie es um Julius Pollocks religiöse Erziehung bestellt war, ist nicht bekannt, doch sein Sohn erinnerte ihn rückblickend als »Antisemiten«, »der mit Juden eigentlich nicht verkehren wollte«.13 Allerdings scheint es, als hätte die negative Stellung zum Judentum in erster Linie denjenigen Juden gegolten, die nicht seinem bürgerlichen Ideal entsprachen – wie etwa die orthodoxen Mitglieder der jüdischen Gemeinde Sulzburgs. Jedenfalls ist Julius Pollock, anders als sein Bruder Isidor Louis (später: Hans Ludwig), nie aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten und liegt im Israelitischen Teil des Stuttgarter Pragfriedhofes begraben.14

Als Teilhaber der im Jahr 1900 gegründeten Firma Nördlinger & Pollock, einer großen Leder- und Reisewarenfabrik im 200 Kilometer entfernten Stuttgart, gehörte Julius Pollock zu den wirtschaftlichen Aufsteigern der Stadt, doch die Familie lebte noch jahrelang in einer Wohnung oberhalb ihres Ladenlokals in der Freiburger Innenstadt. Der Vater musste, wie man heute sagen würde, zwischen den beiden Standorten »pendeln« – keine einfache Aufgabe in einer Zeit, da das Automobil noch ein Luxusgut war. Sooft er konnte, fuhr er mit der Eisenbahn nach Stuttgart, aber sein Lebensmittelpunkt blieb vorerst der Breisgau. Der wirtschaftliche Erfolg rechtfertigte den alltäglichen Spagat zunächst. Die Lederindustrie hatte, so schreibt Werner Sombart, »in Deutschland schon um die Mitte des [19.] Jahrhunderts einen Entwicklungsgrad erreicht, wie wenig andere Industriezweige in jener Zeit«.15 Um die Jahrhundertwende hatte das Konkurrenzprinzip die Anzahl der 1846 noch 551 gezählten deutschen Lederunternehmen allerdings merklich ausgedünnt. Auch Julius Pollock war gezwungen gewesen, sich mit einem Partner zusammenzuschließen, um am Markt bestehen zu können. Wie so häufig fand sich auch in diesem Falle der Geschäftspartner im Kreis der Familie: Sigmund Nördlinger (1868-1942) war zugleich der Ehemann von Julius' Schwester Rosalia (1871-1942).

Die Firma Nördlinger & Pollock war bereits Ausdruck eines seit der Großen Depression ungemein verschärften Konkurrenzkapitalismus. Dabei hatte Julius Pollock das Glück, bei der Unternehmensgründung von seinen Eltern Salomon (1834-1899) und Pauline Pollock (1839-1912) kräftig unterstützt zu werden.

Salomon Pollock – Friedrichs Großvater – stammte ursprünglich aus dem kleinen Ort Rust, nördlich von Freiburg gelegen, in dem es seit dem 17. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde gab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verarmte die Gemeinde, die etwa 10 ‌% der Gesamtbevölkerung ausmachte, und die jüdischen Bewohner zogen zunehmend in die Städte.16 Seit 1810 das auf Napoleons Code Civil basierende Badische Landrecht eingeführt wurde, durften sich Juden nach über vierhundert Jahren auch in Freiburg wieder offiziell ansiedeln. Ganz langsam kam es dort aufgrund der Verschlechterung der Situation der umliegenden Landgemeinden zu einem Anstieg der jüdischen Bevölkerung, aber noch in der Mitte des Jahrhunderts hielten sich in Freiburg aufgrund der nach wie vor bestehenden rechtlichen Beschränkungen lediglich zwanzig Juden auf.17 Erst ab 1862, als den Juden volle Gewerbefreiheit und die freie Wahl des Wohnsitzes zuerkannt wurde, stieg ihr Bevölkerungsanteil sukzessive an.18

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Annonce in der Freiburger Zeitung, 1869

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Familie Pollock, 1898

Salomon und Pauline Pollock nutzten diese Chance und kamen kurze Zeit später in die Stadt. Friedrichs Großvater eröffnete am 18. Oktober 1862, nur zwei Wochen, nachdem das »Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten im Großherzogtum Baden« erlassen worden war, ein »Herren-Kleider-Magazin« mit »deutscher, französischer und englischer Mode« in der Schustergasse.19 In der Zeitungsannonce, die die Eröffnung des Ladens verkündete, verwies Salomon Pollock ausdrücklich auf seine »vielfältige[n] Erfahrungen in allen Zweigen dieses Geschäfts«. Nachdem er 1864 das Bürgerrecht erhalten hatte, nahm er »auf vielseitigstes Verlangen, neben meinem Herrenkleider-Geschäft auch das Feinste und Modernste in Damen-Mäntel & Jacken« in sein Angebot auf.20 Im Jahr seiner Einbürgerung erwarb Pollock in der Eisenstraße 6 in der Freiburger Innenstadt ein Wohnhaus – in Sichtweite des Freiburger Münsters, dessen Innenportal eine antijüdische Synagoga-Darstellung ziert, und wenige hundert Meter vom ersten Betsaal der Gemeinde entfernt.21 Die ›Israelitische Religionsgesellschaft Freiburg‹, zu deren Gründungsmitgliedern die Pollocks als eine von 35 in der Stadt lebenden jüdischen Familien zählten, konstituierte sich ebenfalls 1864 zum ersten Mal.22 Doch schon bald lockerte sich die religiöse Bindung der Pollocks und sie nahmen immer seltener am Gottesdienst teil.23 Sie waren vor allem Geschäftsleute, die am bürgerlichen Leben der Stadt partizipieren wollten. Salomon Pollock wurde ein begeisterter Anhänger der ›Fasnet‹ und engagierte sich im lokalen »Carnevals-Verein«, der zu den »angesehenen, eher großbürgerlichen Vereinigungen« gehörte, in dem sich »vor allem Fabrikanten und Unternehmer, Rechtsanwälte und Architekten« zusammenfanden.24

Im Oktober 1873 eröffnete Salomon Pollock zusätzlich zu seinem Kleidergeschäft auch noch ein »Großes Schuh- und Stiefellager« in der Eisenstraße 1-2, in direkter Nachbarschaft zum eigenen Wohnhaus.25 Das Geschäft scheint nicht gut gelaufen zu sein, denn 1880 stellte er den Schuhverkauf wieder ein und konzentrierte sich voll und ganz auf das sich inzwischen im Erdgeschoss des Wohnhauses befindliche Modegeschäft.

Zwei Jahre nach dem Tod von Friedrich Pollocks Großvater ging das »Damenkonfektionsgeschäft S. Pollock« 1901 auf den ältesten Sohn Julius – Friedrich Pollocks Vater – über, der nun zwei Unternehmen zu verwalten hatte.26 Mit Erfolg: Seine Entscheidung, sich nur noch auf Damenkleidung zu konzentrieren, brachte dem Geschäft nochmals Aufschwung und Julius Pollock wurde 1905 zum »großherzoglich badischen Hofflieferanten« ernannt. Doch schon 1910 entschloss er sich, mit der Familie ganz nach Stuttgart überzusiedeln, um in der Nähe seiner Fabrik zu sein, und machte 1911 die vormalige Angestellte Adele Rüdenberg zur Teilhaberin des Damenkonfektionsgeschäftes.27 Jetzt konnte er sich voll und ganz auf seine Lederwarenfabrik konzentrieren. 1914, als die Firma Nördlinger & Pollock auf Kriegsproduktion umstellte und ihre Produktionskapazitäten vervielfachte, verkaufte er schließlich seine Anteile am Damenmodegeschäft ganz an Rüdenberg.28 Der Zusammenschluss mit dem Geschäftsmann Sigmund Nördlinger brachte zwar eine konkurrenzfähigere Kapitalstärke mit sich, bedeutete zugleich aber auch eine Teilung der Macht innerhalb des Unternehmens. Julius Pollock war nicht mehr der unumstrittene Alleinherrscher wie noch sein Vater Salomon, sondern ein Teilhaber, der seinem Partner gegenüber Rechenschaft ablegen musste.

Sein Status als Familienoberhaupt stand dadurch freilich nicht zur Debatte. Zu bieten hatte Julius Pollock, der auch in der Ehe den Ton angab, seinen Söhnen Friedrich und Hans immerhin eine vielversprechende Zukunft als Nachfolger in seiner Firma. Dafür verlangte er von seinen Kindern Unterordnung, Fleiß und Gehorsam. Nicht Liebe, Herzlichkeit und Humor dominierten somit das alltägliche Leben im Elternhaus, sondern vielmehr eine »puritanische Einstellung«,29 die sich ausschließlich ums Arbeiten und Geldverdienen drehte. Für geistige Dinge hatten die Eltern wenig übrig. Das änderte sich auch nicht, als die Familie in die Großstadt Stuttgart umzog, die 300 ‌000 Einwohner zählte und wo das kulturelle Leben blühte.30 Die Pollocks waren »relativ kleine Leute«: bürgerlich, auch wohlhabend, aber man entbehrte der Weltläufigkeit und klassischen Bildung des großstädtischen Bürgertums. Die im Jahr 1890 geborene Tochter eines anderen in Stuttgart ansässigen jüdischen Textilfabrikanten, Alice Nägele-Nördlinger, berichtete beispielsweise 1961 rückblickend über ihre Kindheit: »Wir hatten eine schöne Jugend, da unsere Eltern trotz großer Sorgen um meines Vaters Gesundheit außerordentlich aufgeschlossen und bestrebt waren, uns Kinder an allem teilnehmen zu lassen, was Stuttgart an Kulturellem zu bieten hatte. Man las außer dem Neuen Tagblatt den Beobachter und die Frankfurter Zeitung, man war im Theater und zu den Symphonie-Konzerten abonniert, man ging regelmäßig in den Kunstverein und zu den Vorträgen im Handelsgeographischen Verein.«31 Wenn die Pollocks sich derlei Veranstaltungen gelegentlich anschlossen, dann vor allem, um gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Lieber unternahm man an Sonn- und Feiertagen gemeinsam »mit befreundeten Familien Wanderungen auf der Schwäbischen Alb und im Remstal«. Die Naturbegeisterung war Ausdruck eines ausgeprägten Heimatstolzes, der nicht im Widerspruch zur jüdischen Identität stand. Anders aber als Alice' Vater, der sich »nicht als schwäbischer Jude, sondern als jüdischer Schwabe« fühlte und die Zugehörigkeit zur israelitischen Religionsgemeinschaft als eine Selbstverständlichkeit betrachtete, hielt sich Julius Pollock vom Gemeindeleben fern.32 Während Alice' Vater, der nur zwei Gehminuten entfernt von den Pollocks wohnte, gewisse religiöse Vorschriften einhielt, an Feiertagen den Gottesdienst besuchte und einige Ehrenämter in der Gemeinde bekleidete, hatte Julius Pollock sämtliche religiösen Verbindungen zum Judentum abgebrochen.33 Er war zuerst Unternehmer, dann Deutscher und schließlich Familienvater. Seine jüdische Herkunft verleugnete er zwar nicht, aber sie spielte für sein Selbstbild keine Rolle. Trotzdem bestand sein unmittelbares soziales Umfeld, sowohl beruflich als auch privat, fast ausschließlich aus Juden. Politisch konservativ eingestellt, aber wenig interessiert an allen Dingen, die über das persönliche Geschäft hinausgingen, verachtete Julius Pollock das liberale Großbürgertum mit seinem Hang zum Ästhetischen. Die schönen Künste, aber auch Religion und Philosophie wurden als unnütz angesehen, ja sogar die Medizin, wie Pollock sich erinnerte: »Ich weiß aus meiner eigenen Familie, daß man alle Universitätsprofessoren, die nicht Naturwissenschaften lehrten, einschließlich der Mediziner, im Grunde verachtete. Ein ordentlicher Kaufmann, der leistet etwas. Was die leisten ‌… die lesen Bücher!«34

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Villa Pollock in Freiburg

Diese Haltung mag durch die Konkurrenzsituation zwischen Julius und seinem weitaus jüngeren Bruder Isidor Louis (1873-1939) verstärkt worden sein, der sich bewusst gegen den kaufmännischen Beruf des Vaters entschieden hatte und Urologe geworden war. Isidor Louis, oder, wie er sich seit seiner Promotion zum Doktor der Medizin 1898 nannte: Hans Ludwig Pollock, Vater der beiden Söhne Heinz und Walter, war fest in das gesellschaftliche Leben in Freiburg integriert und, anders als sein Bruder, 1904 aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten.35 Damit repräsentierte er in Julius Pollocks Wahrnehmung den Weg des geringeren Widerstandes: Er schien die vom Vater übertragene Verantwortlichkeit zu scheuen und sich aus rein opportunistischen Gründen dem Zeitgeist anzupassen. So distanziert Friedrich Pollocks Vater auch dem Judentum gegenübergestanden haben mag, es weder offiziell zu verlassen noch gar zum Christentum überzutreten war eine Sache des Stolzes.

Wie Julius Pollock das Geschäft seines Vaters weitergeführt und sein Bruder Hans Ludwig einen anderen Lebensweg gewählt hatte, so wiederholte sich die Geschichte – gewissermaßen auf einer höheren Stufe – bei Julius' eigenen Kindern. Diesmal sollte es allerdings ausgerechnet der ältere der beiden Söhne, nämlich Friedrich, sein, der vom ›rechten Weg‹ abkam. Sein Bruder Hans Pollock dagegen, geboren am 9. September 1895 und somit knapp eineinhalb Jahre jünger als Friedrich, sollte das väterliche Geschäft übernehmen und Fabrikant werden. Friedrich scheint kein besonders enges Verhältnis zu ihm gehabt zu haben, sah vielmehr etwas arrogant auf das Brüderchen herab, dem anscheinend der Mut fehlte, eigene Entscheidungen zu treffen. Hans heiratete wie sein Vater in eine jüdische Kaufmannsfamilie ein und nahm Ida Stern (1892-1982), geborene Joseph, zur Frau, deren erster Ehemann, Emil Stern, 1916 im Krieg gefallen war. Aus ihrer ersten Ehe stammte die Tochter Liselotte (geb. 1913), die 1922 von Hans adoptiert wurde.36 Als die politische Situation im Deutschen Reich vollends unerträglich wurde, floh die Familie zunächst im Januar 1936 nach Amsterdam, dann weiter nach Buenos Aires. Hans hispanisierte seinen Vornamen in »Juan«. Nach dem frühen Tod der Mutter im Jahr 1930 und dem des Vaters 1937 blieb der Kontakt zwischen den Brüdern auch während des Krieges auf ein Minimum beschränkt. Einen ausgeprägten Familiensinn sollte Friedrich Pollock erst im hohen Alter entwickeln.

Doch all das lag noch in der Zukunft. Der Ablösungsprozess von seiner Familie und ihren Wertvorstellungen ging langsam vor sich. Friedrich Pollock besuchte bis zum ›Einjährig Freiwilligen‹ in Freiburg das humanistische Gymnasium und wurde von seinen Eltern frühzeitig darauf vorbereitet, später in die Firma des Vaters einzusteigen. Die schulischen Leistungen Friedrichs waren nicht herausragend und so war es nicht verwunderlich, dass ihm, als die Familie nach Stuttgart umzog, die Aufnahme ins dortige Gymnasium verwehrt blieb.37 Da ein späteres Studium ohnehin nicht in Betracht kam, benötigte er aus Sicht der Eltern auch kein Abitur. Vielmehr sollte er praktische Erfahrungen in des Vaters Firma sowie in befreundeten Unternehmen im Ausland sammeln. Derartige Ausbildungswege waren in wohlhabenden Kaufmanns- und Unternehmerfamilien keineswegs Ausnahmen: Die Söhne (nur selten auch die Töchter) lernten in der Praxis des Firmenalltags, was es bedeutete, Entscheidungen zu treffen, Anordnungen zu geben und die Tätigkeiten der Angestellten optimal zu koordinieren. Auslandserfahrungen wurden dazu genutzt, Fremdsprachen zu erlernen und Kontakte mit anderen Unternehmerfamilien zu knüpfen. Im besten Falle ließ sich auf diesen Reisen sogar eine geeignete zukünftige Ehefrau finden.

Der Lebensweg Friedrich Pollocks schien also vorgezeichnet zu sein: Er sollte ein erfolgreicher Unternehmer werden, heiraten, ein oder zwei Kinder bekommen und sich ansonsten als guter Staatsbürger in den Dienst des Vaterlandes stellen. Dass seine Zukunft anders verlaufen würde, hatte auch mit einer ganz besonderen Freundschaft zu tun, die in der Jugend ihren Anfang nahm und bis zum Tod das Leben bis in die kleinsten Verästelungen des Alltags hinein bestimmen sollte: die Freundschaft mit Max Horkheimer.