Inhaltsverzeichnis

für Dani und Max

Ihr Töchter und Söhne von Turicum hört

die Legende vom mächtigen Wunderschwert

mit dem Mythenvogel schwarz wie Pech.

Als Tod und Schrecken in eurem Lande gärt,

eine holde Maid die einzig Hoffnung nährt,

mit dem Mythenvogel schwarz wie Pech.

Nur sie die goldenen Worte lesen kann,

was nicht fertig bringt der beste Rittersmann

mit dem Mythenvogel schwarz wie Pech.

Denn fehlen tut des Herzen Reinheit allen,

die es wagen, die Hand ans Schwert zu krallen

ohne den Mythenvogel schwarz wie Pech.

Einmal es mit dem Mythenvogel landet,

einmal nur jene holde Maid es findet

ohne den Mythenvogel schwarz wie Pech.

Leuchten tut die Inschrift nicht dem düstren Feind,

sondern nur der Auserwählten, diesem Kind

mit dem Mythenvogel schwarz wie Pech.

Am Hexenkopf mit Rabe dann das Schwert

zum dritten und letzten Mal uns Glück beschert

mit dem Mythenvogel schwarz wie Pech.

Und aller Zeiten entsetzlich grosser Schmerz

besiegt nur die Schwertträgerin Rabenherz

mit dem Mythenvogel schwarz wie Pech.

1

Böse Überraschungen

«Huu-hu-hu-hu-huuh!» – Margarethe lief es kalt über den Rücken. Sie kuschelte sich tiefer in ihre Decke und schloss die Augen. Der schauerliche Ruf eines Waldkauzes, untermalt vom Rascheln des Laubes, drang erneut ins Zimmer der Elfjährigen. Im Mittelalter galt dieser Vogel als Botschafter des Todes, dachte sie und lauschte mit geschlossenen Augen dem gespenstischen Gesang.

Viel hatte sie für ihre Schularbeit über das Mittelalter gelesen und malte sich in ihrer blühenden Fantasie aus, eine Heldin zu sein und mit Schwert und Ross gegen die bösen schwarzen Ritter vorzugehen – eine Rolle, die ein krasses Gegenstück zu ihrem Alltagsverhalten war. Margarethe war in Wirklichkeit ängstlich und scheu, dabei wäre sie doch so gern tapfer und mutig gewesen. Ihre strähnigen, dunkelblonden Haare lagen zerzaust auf dem Kissen und gehörten zu einem runden, kindlichen Mädchenkopf, auf den der Schimmer des Vollmondes fiel. Noch war sie ein Kind, doch Margarethe stand nahe an der Schwelle zur Welt der Jugendlichen.

Margarethe – oh wie hasste sie ihren Namen! «Margarine mit Rettich» nannte man sie in der Schule, oder schlicht und einfach «Gräte», mit oder ohne «Fisch» davor. Auch ihre Eltern wussten nichts Besseres, als ihren Namen weiter zu verunstalten. Denn «Gretli» hiess sie bei der Mama, «Reti» beim getrennt von ihnen lebenden Vater. Nicht einmal ihr bester Freund nannte sie so, wie sie genannt werden wollte, denn er rief ihr ein krächzendes «Grrritta» nach. Doch ihm verübelte sie es nicht, denn er konnte nicht wissen, dass sie ihren Namen hasste. Am schlimmsten aber verhielten sich Gerhard Ulstein, kurz «Gul» genannt, und Ariane Vontobel aus ihrer sechsten Klasse. Von ihnen wurde sie zusätzlich zu allen andern Spitznamen als «hässliches Entlein» betitelt.

Eine Woche voll wiederkehrender Hänseleien und Plagereien hatte sie hinter sich. Sie sehnte sich danach, die Primarschule zu verlassen – doch es war jetzt September, und die sechste Klasse hatte erst begonnen. Noch ein Jahr musste sie durchstehen. Eine Träne rann ihr bei diesen Gedanken über die linke Wange, und sie blinzelte – als plötzlich jemand an ihrem Fenster vorbeihuschte und einen fürchterlichen Schatten in ihr Zimmer warf.

Margarethe verbarg ihren Kopf unter der Bettdecke, doch dann atmete sie tief durch und sagte zu sich: «Du bist jetzt mutig und gehst nachschauen.» Dabei zitterte sie am ganzen Körper, aber schliesslich blinzelte sie doch unter ihrer Decke hervor. Ein Schlüssel drehte sich dumpf im Schloss, der Schatten war verschwunden und die Wohnungstür sprang auf. Ihre Mutter war heimgekehrt, aber warum ausgerechnet über den Gartensitzplatz vor ihrem Fenster?

Blitzartig zog Margarethe die rechte Hand hervor und tastete nach dem Wecker, um die Zeit zu lesen. Drei Uhr siebzehn. «Mama, bist du es? Warum kommst du erst jetzt heim?», jammerte Margarethe, doch niemand antwortete. Sie schlug die Decke zur Seite und hüpfte aus dem Bett.

An der Badezimmertür stand sie nun in ihrem blauen Pyjama und blickte zu einer übermüdeten Mutter auf, die sich das dunkelrote Jackett auszog und dann die Zähne putzte. «Du, ich habe für meine Arbeit über das Leben im Mittelalter eine Sechs erhalten! Toll, was?», frohlockte Margarethe.

«Schön, bravo! Ach, die Verhandlungen haben länger gedauert, Gretli, wegen dieser Bankenfusion, verstehst du? Hast du gestern Abend etwas gegessen? Komm lass mich auf die Toilette gehen, ich muss dringend», entgegnete die Mutter zerstreut. Margarethe verzog ihr Gesicht und konterte: «Es interessiert mich nicht, mit wem du wieder mal fusionierst oder an welche Geleise Papa sich dauernd kettet! Der Einzige, der für mich da ist, ist mein bester Freund Plonk. Du hörst mir ja nicht einmal zu!», schrie Margarethe, und Tränen rannen ihr aus den Augen. Sie schlug beleidigt die Tür zu und rannte schluchzend in ihr Zimmer zurück.

Da war der furchteinflössende Schatten wieder vor dem Fenster. Mit verweinten Augen stand Margarethe zuerst stocksteif da, doch dann verwandelte sich das Mädchen. Wut war in ihr aufgekommen. Das, was vor ihrem Zimmerfenster herumschlich, sollte ihren Ärger zu spüren bekommen! Es war also nicht Mutter gewesen, nein, denn sie sass auf der Toilette und konnte unmöglich gleichzeitig Einbrecher spielen. Margarethe bückte sich und schlich auf allen Vieren zum Fenster. Dann schob sie ihren Kopf zur Scheibe und versuchte, etwas zu erkennen.

Das fahle Licht einer Taschenlampe huschte über die Büsche, eine unheimliche Person – einer aus Märchenbüchern entsprungenen Hexe nicht unähnlich – hinkte umher. «Das ist doch die neue Nachbarin, die seltsame alte Frau Groll, die mit dem einäugigen Kater», dachte Margarethe und sah, wie die gebückte Gestalt sich aufrichtete und mit der Taschenlampe in Margarethes Richtung fuchtelte. Erschrocken drückte sich das Mädchen mit dem Rücken an die Wand und hielt den Atem an, während das Licht in ihrem Zimmer spielte und gespenstische Muster an die Wände malte.

Plötzlich verschwand das Leuchten, und ein Fluchen drang an Margarethes Ohr. Sie vernahm etwas über «Batterien» und «unzuverlässige Technik», dann schlurfte der nächtliche Besuch davon. Margarethe drehte sich zum Fenster, blickte hinaus, sah niemanden mehr und öffnete rasch einen Fensterflügel. Sie streckte den Kopf in die Dunkelheit und hatte vollkommen vergessen, dass sie ja eigentlich ängstlich und scheu war. Nun schwang sie sich geschickt über das Fenstersims ins Freie.

Das frischgeschnittene Gras stach und kitzelte ihre nackten Füsse. Rasch hastete sie in Richtung Nachbarwohnung und hörte gerade noch, wie hinter einem Schatten eine Tür ins Schloss fiel. Da hielt Margarethe inne. «Jetzt ist die alte Hexe drin, jetzt schau ich ihr mal ins Zimmer», dachte sie und schritt langsam weiter. – «Luzifer, lass dich nicht mit diesem hässlichen Tier ein und bleib nachts drinnen, Mütterchen ist ja so besorgt, Schatzilein», krächzte eine dürre Stimme aus der Nachbarwohnung und raunte, so dass Margarethe nur Bruchstücke hören konnte: «Nicht mehr lange… sorgen, dass… Heim. Dies… abnormal… Tier… und niemand zuhause.»

Margarethe stockte der Atem, und Zornesröte schoss in ihr Kindergesicht. «Sie will mich ins Jugendheim schicken und von Plonk trennen», reimte sie sich zusammen. Das wäre für sie das Allerschlimmste, denn Plonk war der treueste Freund, den sie kannte. Eigenhändig hatte sie ihn aufgezogen. Plonk war ihr ganzer Stolz.

Hastig schaute sie sich um, doch Plonk war nirgends. Die Nächte verbrachte er seit dem Frühjahr immer draussen und suchte sich auch selbst etwas Fressbares. Manchmal ass und trank er aber immer noch mit Margarethe am Tisch, natürlich aus seinem eigenen Teller und Glas.

«Tod… gesät, ja ja… weg ist, der die Sonne nimmt!», krächzte die Stimme weiter, dann erlosch das flackernde Kerzenlicht in Frau Grolls Wohnung, und Margarethe hatte nicht einmal einen Blick hineinwerfen können. Vorsichtig suchte sie den Weg zurück ins Zimmer, schloss das Fenster, schlüpfte ins Bett und zog grübelnd die Bettdecke über sich.

Margarethe schlief sofort ein, die Ereignisse in ihren wirren Träumen verarbeitend, als ihr ein Rehbock erschien. Sein kräftiges, scharfes Geweih blitzte im Gegenlicht, und auf seinem rostroten Sommerfell spielten die Sonnenflecken des Waldes. «Ich kenn dich doch», sprach Margarethe im Traum, «ja, du bist Fao, der Rehbock aus der Geschichte <Fao oder Der Aufschrei der Wildnis>! Ja, der bist du!» – «Oh ja, du Blume von einem Menschen», sprach der Rehbock, «der bin ich, und ich bin hier, um dir zu raten. Renne nicht ins Verderben, nein, sei wachsam und vorsichtig wie ein Reh. Schau dich um zuerst, höre, rieche, und du wirst merken, dass viele Gefahren kleiner wirken, wenn man sie richtig einschätzt.»

Der Rehbock fuhr fort: «Deine Mitschüler beispielsweise, gemeine Teenager, sind bloss unzufriedene, haltlose Kreaturen, die ihre eigene Unzulänglichkeit damit überdecken wollen, andere zur Schnecke zu machen. Erst wenn sie auf jemandem herumhacken, fühlen sie sich gross und mächtig. Du kannst ihnen entgegen treten, indem du deine Wut verbirgst, denn sie wollen sehen, wie du weinst, schreist und leidest. Wenn du ihnen diese Freude nicht machst, werden sie dich in Ruhe lassen.»

Fao schüttelte sein Haupt mit dem prachtvollen Geweih: «Das ist wie bei mir: Wenn ich mich zu oft beim Jäger blicken lasse, erinnert er sich an mich und will mich tot schiessen, um mein schönes Geweih als Trophäe an die Wand zu hängen. Wenn ich mich aber verstecke, vergisst er mich. Die Jäger sind deine Mitschüler, die Gewehre die bösen Bemerkungen, die Trophäen deine Gefühle. Zeig ihnen weder Verzweiflung noch Wut, und sie vergessen, dass es lustig ist, dich zu jagen. Nur der Starke gebraucht seine Waffen und kontert. Gleichgültigkeit ist Schutz und Versteck für die Schwachen. Die Jäger lassen dich in Ruh, in Ruh…» – «Uuuuuuuuh!», schrie eine hohe Stimme, und Margarethe war hellwach.

Sie konnte sich jedoch nur mit Mühe erheben, denn ihr Herz schlug rasant, und sie fühlte sich ausser Atem. Das war die Wirkung des Traumschlafes. In ihrer Tür stand die Mutter, blass und entsetzt. «Unser schöner Kirschbaum ist verdorrt, hast du vergessen, ihn zu giessen, Gretli?» – «Nein», entgegnete Margarethe beleidigt. «Aber diese Nacht war die alte Hexe Groll bei unserem Gartensitzplatz, die ist schuld.» – «Gretli, so redet man nicht über betagte Damen! Zieh dich an und komm frühstücken», gab ihre Mutter im Erzieherton zurück und verschwand.

Ein Blick auf die Uhr, es war fünf vor zehn, und Margarethe ging zuerst ins Badezimmer, um eine warme Dusche zu nehmen, dann zog sie sich Jeans und T-Shirt über die Unterwäsche. Jetzt konnte sie «spätstücken» gehen.

«Genau wie dein Vater», zischte ihre Mutter mürrisch. «Die Tochter einer Bankdirektorin sollte nicht wie ein Clochard rumlaufen.» Margarethe wollte kontern, doch Fao flüsterte ihr ins Ohr: «Gleichgültigkeit ist Schutz und Versteck.» Margarethe schluckte leer und murmelte: «Danke, Fao.» – «Wie bitte?», fragte ihre Mutter und unterbrach ihr Nippen an der Kaffeetasse. – «Nichts, Mama, nichts. Ist Plonk aufgetaucht?»

Ihre Mutter sah sie mit starrem Blick an, und Margarethe wusste, dass jetzt eine «Weisst du, Kind, du kannst nicht immer…»-Rede kam. Mutter öffnete den Mund, während der Kopf noch grübelte, und sprach langsam, als wäre sie in einer Banksitzung: «Weisst du, Kind, du kannst nicht immer an diesem Plonk hängen. Er hat sein eigenes Leben, du solltest ihn ziehen lassen. Bald haben wir zusätzlich auch noch sein Weibchen und eine krächzende Jungschar im Haus. Solange er allein ist, geht es, aber er wird nicht mehr lange allein sein, denn nächstes Jahr ist er erwachsen. Das ist die Natur, weisst du, Kind. Ich habe dir doch schon erzählt, wie das ist mit Mädchen und Jungs, so geht es auch mit Plonk. Er verguckt sich bald in eine hübsche Artgenossin und – plonk! – dann haben wir die Massenproduktion!»

Margarethe schaute grimmig drein und grummelte: «Plonk ist nicht so dumm, und ich auch nicht. Wenn alle Jungs so dämlich sind wie die in meiner Schule, dann will ich gar nichts von ihnen wissen. Ausserdem will ich Naturgeschichte studieren und wie Papa etwas für die Tiere tun.» – «Ach, komm, lerne doch lieber etwas Vernünftiges, Recht oder Wirtschaft, das wird in der Industrie gebraucht.» Margarethe hasste solche Gespräche. Industrie – was hatte das mit Plonk zu tun? Sie wollte nur in Ruhe ihr Müesli essen und Plonk sehen, doch er kam nicht.

«Wohin gehst du?», fragte Margarethes Mutter, als das Mädchen sich die Schuhe anzog. – «Nur rasch in den Garten, nach dem Kirschbaum sehen. Dann möchte ich im Park spazieren», erwiderte Margarethe – keine Reaktion. Sie war es gewohnt, mit Wänden zu sprechen. Deshalb ging sie einfach hinaus und inspizierte wie eine Detektivin den Boden. Er war nass. Ein Papierfetzen hing an einem Ast.

Margarethe identifizierte ihn anhand des schlichten Musters als Rest einer Salzpackung. «Die Groll hat den Boden mit Salz bestreut und Wasser darüber geleert. Damit hat sie die Pflanze abgetötet. So viel Salz! Und sie muss schon nächtelang zuvor herumgegeistert haben. Deshalb war sie auch diese Nacht im Garten, sie sagte ja <Tod… gesät> und <weg ist, der die Sonne nimmt!>. Also hat der Baum ihr die Sonne verdeckt, darum wollte sie ihn abmurksen, so gemein! Wenn die alte Hexe nur nicht so entsetzlich wäre, würde ich ihr die Meinung sagen, aber sie will mich ja ins Heim schicken und von Plonk trennen, da muss ich vorsichtig sein, so wie Fao mir geraten hat. Aber ich werde schon mit ihr fertig, warts nur ab!», flüsterte Margarethe zu sich selbst und fügte hinzu: «Pflanzen töten ist feige und bringt Unglück! Pflanzen sind unsere Freunde.»

*   *   *

Margarethe grübelte immer noch über die böse Nachbarin, als sie bereits auf den geheimnisvollen Pfaden in ihrem Park war. Niemand kannte ihre verschlungenen Wege, die mehr an Rehwechsel durch den Wald erinnerten als an den Pfad einer Elfjährigen. Margarethe setzte sich gern unter das Kronendach dreier Eichen, die ihr Schutz boten. Hier war ihre Zone der Ruhe, hier feierte oder weinte sie für sich allein.

Allein? Ein Lichterbogen blitzte in ihrem Augenwinkel, ein Rauschen, Pfeifen, Flattern und Rascheln erhob sich und verstummte sogleich. «Grrritta!», tönte es von einem niedrigen Ast her, «Grrritta!» Ein majestätischer Kolkrabe beäugte sie seitlich mit dem linken Auge, sein samtschwarzes Gefieder schimmerte blau irisierend im Sonnenschein.

«Plonk! Schön, dass du da bist!», freute sich Margarethe und beeilte sich, aufzustehen, um dem grossen Raben, der furchtlos auf dem Ast sitzenblieb, den Flügel zu streicheln. Plonk verfolgte aufmerksam ihre Bewegungen, sein starker Schnabel knabberte an Margarethes Hand. Leise gab er glucksende und schnarrende Laute von sich. «Plonk, meine Mama ist schlimmer denn je. Sie antwortet nicht einmal, wenn ich wütend werde. Dauernd kommt sie spät heim, ist missgelaunt und… und will, dass ich dich wegjage. Nicht wahr, du bleibst bei mir und holst dir keine Rabenfrau, oder?» Dabei schaute sie Plonk misstrauisch an.

Der Rabe öffnete leicht den Schnabel und sträubte die zottigen Kehlfedern. «Ich wusste doch, dass ich dir vertrauen kann, Plonk, du bist ein wahrer Freund.» Sie ahnte, dass dieses Aufplustern ein Zeichen von Behaglichkeit war, denn Plonk plusterte sich nur auf, wenn er sich in angenehmer Gesellschaft befand. Margarethe schloss daraus, dass sich Plonk bei ihr wohl fühlte.

Nach einer kurzen Streichelpause fuhr sie mit Jammern fort: «Papa hört mir auch nie zu, er redet dauernd von seinen Projekten. Und gesehen habe ich ihn auch schon lange nicht mehr. Jetzt, da er nicht mehr zuhause wohnt, erst recht nicht. Manchmal ist er hier im Park und sucht wie ich Ruhe bei den Bäumen.» Plonk hörte aufmerksam zu und schnarrte zustimmend, doch konnte er unmöglich alles verstehen, was sie sagte. Zu komplex war die Menschensprache, aber Plonk kannte das eine oder andere Wort, wie etwa das für Vögel wichtige «Baum».

«Bam, Grritta, Bam», schnarrte Plonk, liess sich kopfüber fallen und hing an einem Bein am Ast. Seine Unterseite war ebenfalls schwarz und hatte einen stahlblauen Einschlag, das ganze Gefieder schillerte metallisch. Margarethe vergass ihren Kummer sofort und lachte. Mit seinem wuchtigen Schnabel kriegte Plonk den Ast zu fassen und hievte sich mit kräftigen, geräuschvollen Flügelschlägen wieder in seine Ausgangsposition.

«Bam, Grrritta, Bam», wiederholte Plonk. Sie wusste, was zu tun war, und griff nach einem abgebrochenen Aststück, mit dem sie unter den Bäumen durch ins Freie schlüpfte. Kurz blickte sie sich um, doch es war Mittag, und kein Mensch war im Park. Schnell sprang Margarethe mitten auf eine grün prangende Wiese hinaus, ein Schild missachtend, auf dem «Rasen betreten verboten» stand. Ein pfeifendes Geräusch ertönte hinter ihr und wurde lauter, und der bussardgrosse Plonk segelte knapp an ihr vorbei, seine Spannweite von ein Meter fünfzig zur Schau stellend. Im Vorbeiflug wackelte er mit den Schwanzfedern und rief ein sonores, hartmetallisches «Rackrackrack!». Margarethe verstand darunter eine Einladung zum Spielen.

Dann vollführte Plonk einige kräftige Flügelschläge und wendete geschickt. Der grosse, schwarze Vogel steuerte direkt auf das Mädchen zu. Kurz vor dem Zusammenprall warf sie ihm den Ast zu. Plonk erhaschte ihn mit dem Schnabel und drehte ab. Ein luftiger Windstoss von Plonks Flügeln streifte sie. Der Rabe gewann an Höhe und schraubte sich nach oben, das Stöckchen im Schnabel.

Als er in dreissig Metern Höhe war, liess er das Aststück fallen und stürzte mit angelegten Flügeln hinterher. Der Vogel hatte es schnell eingeholt. Doch er griff nicht nach dem Stock, zu leicht schien es ihm. Den Kopf weiterhin abwärts gerichtet, sank er wie ein schwerer Stein herab.

Er überholte das Stöckchen im Fall, streckte auf Margarethes Kopfhöhe die Flügel aus, bremste damit seinen Fall, kehrte sich blitzschnell auf den Rücken und fing den Ast mit seinen krallenbewehrten Fängen auf. Sofort wechselte er in eine normale Fluglage und nahm mit dem Schnabel den Ast aus den Fängen.

Jetzt kreiste er mit kräftigen, pfeifenden Flügelschlägen um Margarethe herum. Schliesslich landete er unweit von ihr, warf sich auf den Rücken, ruderte kurz mit den Beinen in der Luft, hob den Kopf und nahm mit einem Fuss den Stock aus dem Schnabel. Er schnarrte begeistert und packte den Ast schliesslich wieder mit seinem klobigen Schnabel. Nun kippte er seitlich weg, um sich wieder aufzurichten. Dann erhob er sich erneut in die Lüfte und gewann an Höhe.

Margarethe wusste, was jetzt kommen würde, denn sie kannte Plonks Vorliebe für Geräusche. Der Rabe flog zum nahegelegenen Teich und liess den Ast hineinfallen. Das «Ploff» des Aufpralls schien er mit Befriedigung zu vernehmen und landete am Rand des Weihers. «Korrk!», rief Plonk hallend, dann ein ungeduldigeres «Korrp, korrp, korrp!». Margarethe beeilte sich, zu ihm zu gelangen, denn sie vermutete, dass dies so viel bedeutete wie «Hier bin ich!». Ihr Vater hatte einmal behauptet, das sei der Revierruf der erwachsenen Kolkraben. Doch Plonk war seinem rosa Rachen nach noch ein Jungtier. Erwachsene Raben haben dunkle Rachen. Plonk war erst zweieinhalbjährig.

Als sie bloss ein paar Schritte von ihrem Raben entfernt war, schnarrte Plonk sein zufriedenes «Grrritta!». – «Du bist sehr geschickt geworden, Plonk. Ich kann mich noch erinnern, wie du vorletztes Jahr deine Flugversuche gemacht hast. Da bist du geflogen wie ein Bruchpilot», grinste Margarethe und wusste, dass Plonk fühlte, dass sie ihn hochnahm. Denn sein Gefieder glättete sich, ein Zeichen von Anspannung und Unzufriedenheit. Der metallische Eindruck verstärkte sich durch die Glätte des Federkleides. Auf seinem Kopf erhoben sich zusätzlich die Federn als hätte er zwei spitze Ohren bekommen. «Das hätte ein Kompliment werden sollen», beschwichtigte Margarethe ihren Raben. «Du bist jetzt der König der Lüfte, und kein Vogel über Zürich fliegt so gut wie du, Plonk!» Nun plusterte er sich wohlgelaunt auf, und die «Feder-ohren» verschwanden.

In diesem Moment verdunkelte sich der Himmel, und Margarethe vermutete ein Gewitter. Tatsächlich aber flog eine Rabengruppe über die Wipfel der Bäume. Zwölf Tiere waren es, die in dieser Junggesellenhorde mit dabei waren. Jeder Vogel war schwärzer als schwärzestes Pech. Seit zwei Jahren hatte Margarethe keine andern Kolkraben als Plonk gesehen und staunte.

Plonk fixierte seine Artgenossen wie hypnotisiert, sein Schnabel stand weit offen. Sollte er sie rufen? Sein «Korrk!» blieb ihm im Hals stecken. Bisher hatte er nur seine Eltern und Geschwister gekannt, die nun alle bereits seit langem tot waren. Er war der einzige Überlebende, doch in seinem Gedächtnis war das Bild eines Raben gespeichert, und er wusste, dass Margarethe nur seine menschliche Adoptivmutter war. Plonk hatte die Prägungsphase bereits hinter sich, als er zu ihr kam. Doch die Bindung zu Margarethe war sehr stark.

Trotzdem erhob er sich in die Lüfte und schnarrte: «Grrritta, tssüss.» Dies sagte der kluge Rabe jedesmal, wenn er von ihr fort flog. Margarethe wusste, dass er, so lange er dies tat, auch wieder zurückkehrte. Sie fürchtete den Tag, an dem er einfach davonfliegen würde.

*   *   *

Alleine war es viel weniger lustig im Park, also beschloss Margarethe, ihren Vater zu besuchen. Er lebte in einer kleinen, unordentlichen Einzimmerwohnung. Diese war sein Büro, Ess-, Wohn- und Schlafzimmer in einem. Doch er war nicht zuhause, obwohl seine Wohnungstür nicht verschlossen war. Margarethe ging hinein, holte sich ein Glas und schenkte sich etwas Mineralwasser ein.

Es war schwierig, ein sauberes Glas zu finden, denn meistens brauchte Vater sein Geschirr bis zum letzten Stück auf und wusch dann alles auf einmal ab. Der Zustand vom Benutzen des letzten Stücks bis zum Abwaschtermin währte aber am längsten.

Plötzlich hörte sie Stimmen aus dem Korridor und erkannte sie als die von Vaters Kollegen. Sie mochte diese Männer nicht, da sie immer nur dumme Witze rissen, die sie nicht verstand. Also verbarg sich Margarethe schnell unter Vaters Bett und hielt den Atem an, als die beiden Männer das Zimmer betraten.

«Hallo Heini, wir sinds! Hast du Zeit? He, wo steckst du?», rief eine selbstbewusste Stimme. – «Da ist niemand», stellte der zweite Besucher fest, und seine Stimme tönte eher genervt. Die selbstbewusste Stimme fuhr fort: «Na, da siehts immer noch aus, wie wenn die Bombe eingeschlagen hätte!» – «Meinst du unsere?», erwiderte die zweite Person schnell. – «Nein, die wird hoffentlich schlimmere Verwüstungen anrichten am Gipfel.» Darauf klang die zweite Stimme noch nervöser: «Meinst du wirklich, wir sollen das durchziehen. Was tun wir, falls es Tote gibt?» – «Ach was, mit Verlust muss man rechnen! Heini hat ja bei der Schlauchboot-Aktion unser Leben auch nicht geschont!» – «Wir haben doch nur ein paar Schrammen abgekriegt», meinte der Nervöse ängstlich. – «Schweig! Wir ziehen das gemeinsam durch. Die sollen ruhig merken, dass wir mit den Plänen der IWB nicht einverstanden sind.» Bei dieser Abkürzung ging ein kalter Schauder über Margarethes Rücken, denn IWB war Mutters Bank, die Ian Wäckers Bank of Switzerland.

«Haha, dann schreiben wir auf unsere Plakate: Die Swiss Nature Knights SNK gegen die IWB, die Idiotic Weirdos Bank – die Schweizer Naturritter gegen die idiotische Spinnerbank», grinste die erste Stimme, und die zweite Person grunzte ein nervöses Lachen. Dann verliessen sie die Wohnung. Margarethe rannte wie von der Tarantel gestochen nach Hause, doch ihre Mutter war nicht aufzufinden.

2

Süsse Träume

Eine Bombe! Margarethe war fassungslos. Hatte sie richtig gehört? Oder war das nur ein dummer Scherz? Sie musste unbedingt etwas unternehmen. Zuerst ging es aber darum, mehr herauszufinden. Wo war ihre Mutter? Wo ihr Vater? «Immer wenn man sie braucht, sind sie nicht da – typisch!», regte sich Margarethe auf. Nervös tigerte sie im Wohnzimmer auf und ab, lief in die Küche, ins Badezimmer und sogar ins Schlafzimmer ihrer Mutter – dabei wusste sie doch, dass niemand zuhause war. Was tun? Wenn sie doch nur mit jemandem über die Sache reden könnte!

Sie beschloss, zurück zur Wohnung des Vaters zu gehen. Vielleicht war er ja unterdessen heimgekehrt. Vor lauter Aufregung rannte Margarethe, als würde sie von einem Rudel hungriger Wölfe gejagt. Die Angst, ihren Eltern könnte etwas zustossen, sass ihr im Nacken. Vielleicht war ja bereits etwas passiert!

Noch zwei Blocks, und sie würde das Haus ihres Vaters erreichen. Sie rannte, war schon völlig aufgelöst, keuchte und rang um Atem. Um keine Zeit zu verlieren, nahm sie die Abkürzung über den Hinterhof, der immer voller Müll war. Die Abfallsäcke waren zum Teil aufgerissen, und zerbrochene Flaschen, Plastikfetzen und undefinierbare, vergammelte Lebensmittel lagen über den ganzen Platz verstreut. War da wohl ein hungriger Fuchs am Werk gewesen? Margarethe wusste, dass sich nachts Füchse auf Futtersuche in der Stadt herumtrieben.

Aber die Füchse interessierten sie jetzt nicht. Margarethe wollte nur eines – ihren Vater finden. Rennend bog sie in die enge Gasse hinter den grossen Mülltonnen ein und – wumms! – stiess mit jemandem zusammen. «He, kannst du nicht aufpassen!», rief eine wütende Stimme. Der Clochard sah Margarethe aus geschwollenen roten Augen an. Sein Atem stank nach Alkohol. In der Tasche seines zerrissenen Mantels steckte eine Flasche.

Der Betrunkene blickte Margarethe mehr fragend als böse an; eigentlich hatte er einen freundlichen Gesichtsausdruck. «Nana, junges Fräulein, wohin so eilig?», fragte er verwundert. Margarethe war jedoch dermassen erschrocken, dass sie wortlos wegrannte.

Sie mochte das Wohnquartier ihres Vaters nicht. Die Gegend war ihr unheimlich – voller Bruchbuden, Dreck und seltsamer Gestalten. Sie erinnerte sich, wie sie einmal ein unbewohntes Haus hatte erkunden wollen. Aus lauter Abenteuerlust war sie eingetreten. Ein grauenvolles Ächzen hatte sie vor Schreck erstarren und dann die Flucht ergreifen lassen. Allein fühlte sich Margarethe einfach nicht mutig genug. Aber sie war ja immer allein, hatte ausser Plonk keine Freunde.

Doch jetzt hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie rannte zur Wohnung ihres Vaters hinauf, riss die Türe auf – und sah ihn gemütlich am Küchentisch sitzen, mit einem grossen Pinsel in der Hand. Der Küchentisch war nämlich gleichzeitig auch noch sein Arbeitstisch. Der Vater sah Margarethe überrascht an. «Reti! Was ist denn mit dir los?»

Sie fiel ihm schluchzend in die Arme, völlig ausser Atem. «Papa, die Bombe, die Bombe», keuchte sie. Er verstand nur Bahnhof. – «Welche Bombe? Was redest du da?» – Margarethe erzählte ihrem Vater, was sie vorhin in seiner Wohnung gehört hatte, als sie unfreiwillig seine Kumpels belauscht hatte.

Ihr Vater schwieg, überlegte – Margarethe konnte seinen Gesichtsausdruck hinter dem wirren Bart nicht genau erkennen – und brach plötzlich in Gelächter aus: «Na sowas, hahaha! Karli und Erik!» Margarethe glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Sie wollte ihn vor einer Katastrophe warnen, und er lachte einfach!

«Diese beiden Spassvögel haben doch immer wieder eine neue lustige Idee», rief er amüsiert. «So etwas Verrücktes habe ich noch nie gehört!» – «Aber Papa, diese Bombe, die meinen das ernst!»

Der Vater sah sie belustigt an und zwinkerte ironisch mit den Augen. «Ach was, ich kenne doch meine Pappenheimer! Die treffen nicht mal beim Büchsenwerfen auf dem Rummelplatz – wie sollen die dann fähig sein, eine Bombe zu werfen? Ausserdem kann Karli keiner Fliege etwas zuleide tun, und Erik ist zu dumm!», sagte der Vater und lachte leise in seinen Bart hinein.

Margarethe war hingegen nicht überzeugt, aber ihr Vater wollte nichts mehr von der Bombe hören. «Reti, das ist doch absurd! Du hast eine blühende Fantasie! Mit Gewalt können wir doch wirklich rein gar nichts erreichen!»

Margarethes Vater war nämlich ein Umweltaktivist, der sich in einer Umweltschutzorganisation engagierte. Bei Demonstrationen und Aktionen wirkte er häufig mit. Dabei war er ein friedlicher Typ, ziemlich unordentlich und zerstreut zwar, aber herzlich und liebenswürdig. Als Spät-Hippie hatte er einen unordentlichen Bart und langes, zerzaustes Haar, das er meist mit einer Pferdeschwanzfrisur zu bändigen versuchte. Ausser Jeans trug er mit Vorliebe bunte, weite Kleider. Margarethe mochte ihren Vater sehr. Im Gegensatz zur Mutter strahlte er eine Ruhe aus, die ihr gut tat.

Was waren ihre Eltern verschieden, schoss es Margarethe durch den Kopf. Margarethes Mutter war eine knallharte Geschäftsfrau, immer perfekt angezogen und mit einem Terminkalender, der auf Monate hinaus ausgebucht war. Sie war ständig unterwegs und deshalb auch meistens sehr nervös. Spontanität? – das kannte sie nicht! Alles musste bei ihr nach Plan laufen. Denn Zeit ist schliesslich Geld. «Ein Wunder», dachte Margarethe, «dass sich meine Eltern damals gefunden haben!»

Aber ihre Gedanken waren immer noch bei der Bombe, und alle Ablenkungsversuche ihres Vaters nützten nichts. «Möchtest du ein Bio-Müesli? Ich habe da auch noch frittierten Tofu im Kühlschrank, echt fein», bot er ihr an. – «Nein danke», erwiderte Margarethe, weil sie lieber keinen Blick in Vaters Kühlschrank werfen wollte. Der Tofu war sicher schon lange vergammelt…

Auch die Wohnungen der Eltern waren so gegensätzlich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Bei Mutter war immer alles piekfein aufgeräumt. Da lag kein Stäubchen auf dem schwarzen Ledersofa. Dafür sorgte die Putzfrau, die wöchentlich vorbeikam und die Wohnung in Schuss hielt, weil die Mutter dafür ja keine Zeit hatte.

Margarethe wollte nach Hause – in ihr Zimmer, den einzigen normalen Raum in ihrem Leben. Ein Zimmer, das weder chaotisch noch tipptopp aufgeräumt war. Es war ihr Reich, ihre Oase. Sie verbrachte viel Zeit darin, las spannende Bücher und dachte sich Geschichten aus. Margarethe war sehr verträumt und hatte wirklich eine blühende Fantasie. Auch jetzt verspürte sie ein starkes Bedürfnis, allein zu sein und nachzudenken. Vielleicht war ja ihre Mutter unterdessen heimgekommen. Aber sie hörte ihrer Tochter ja nie zu, weil sie immer gestresst war. Abgesehen davon war sie sowieso selten zuhause. Und die Geschichte mit der Bombe würde sie ihr ja doch nicht abkaufen.

So war es auch. Als Margarethe heimkam, war ihre Mutter soeben eingetroffen, und sie war überhaupt nicht ansprechbar. «Hallo Gretli, dein Abendessen ist in der Mikrowelle, Mah Meh aus dem Laden an der Ecke.» Bevor Margarethe auch nur den Mund öffnen konnte, eilte ihre Mutter an ihr vorbei Richtung Badezimmer und stöhnte: «O weh, ich habe solche Kopfschmerzen, ich muss jetzt dringend eine Tablette schlucken!» Und weg war sie. Margarethe wusste, dass ihre Mutter jetzt ganz sicher nichts hören wollte – schon gar nichts von einer Bombe.

Also zog sie sich in ihr Zimmer zurück und las ein Buch, um auf andere Gedanken zu kommen: einen spannenden Roman, der im Mittelalter spielte. Margarethe liebte das Mittelalter. Damit bildete sie eine Ausnahme in ihrer Schulklasse, denn die anderen interessierten sich überhaupt nicht für Geschichte.

Doch Margarethe stellte sich gerne vor, in der Vergangenheit zu leben. Gewiss war es keine einfache Zeit gewesen, sondern eine Epoche der Gewalt, der Krisen und der Ungewissheit. Margarethe war jedoch überzeugt, dass es auch eine Zeit der Helden war, und ganz besonders der Heldinnen. Eine Zeit, in der tapfere Frauen beweisen konnten, aus welchem Holz sie geschnitzt waren!

Eine solche Heldin war Margarethe in ihren Tagträumen. Sie konnte sich dermassen in ihre Fantasiegeschichten vertiefen, dass sie nichts mehr von dem mitbekam, was um sie herum vorging. Auch in der Schule, wo sie als Aussenseiterin galt, war ihre Fantasie oft die einzige Rettung vor dem öden, trostlosen Alltag.

*   *   *

Ja, die Schule! Margarethe hasste sie. Den Unterricht fand sie zwar meist interessant, aber mit ihren Klassenkameraden hatte sie ihre liebe Mühe. Dauernd wurde sie gehänselt, deshalb fiel es ihr immer wieder schwer, sich am Morgen aufzuraffen und erneut zur Schule zu gehen. Doch leider war der Sonntag schon wieder vorbei – viel zu schnell!

Zu kurz war die Nacht, und Margarethe wurde viel zu früh von der Mutter aus ihren süssen Träumen gerissen. «Gretli, wach auf, schnell! Frühstück ist bereit, und ich muss um acht an einer Sitzung sein.» Der Morgen fing ja wieder gut an! Seufzend und gähnend wälzte sich Margarethe auf die andere Seite, aber nachdem ihre Mutter bereits zum dritten Mal gerufen hatte und ihre Stimme immer nervöser klang, gab sie sich geschlagen. Mit schweren Gliedern kletterte sie aus dem Bett.

Eine anstrengende Nacht lag hinter ihr. Im Traum hatte sie eine Horde böser Ritter bekämpft und in die Flucht geschlagen. Die Bewohnerinnen und Bewohner der geretteten Stadt hatten ihr zu Ehren ein Fest veranstaltet, und sie war gar einem galanten und gutaussehenden Ritter begegnet. Margarethe, die Heldin!

Aber die verheissungsvollen Träume beschützten sie leider nicht vor dem grauen Schulalltag. Schlaftrunken trottete Margarethe in die Küche, löffelte lustlos ihr Müesli, ging mit schlurfenden Schritten in ihr Zimmer zurück und zog irgendwelche Kleider an, die herumlagen.

Der Ordnungsfimmel und die perfekte Garderobe ihrer Mutter hatten sie zu einer Art Trotzreaktion veranlasst, deshalb zog sie sich besonders schlampig an. «Wie siehst du wieder aus!», rief die Mutter entsetzt, die schon im eleganten lachsrosa Zweiteiler bei der Haustüre stand, das Gesicht makellos geschminkt. Margarethe nahm einen Hauch von Mutters süsslichem Parfum wahr, das bei ihr immer Übelkeit erregte. «Egal, komm jetzt, wir sind schon spät dran», sprach die Mutter nervös und drehte bereits den Schlüssel im Schloss herum. Margarethe konnte nur noch schnell ihre Zähne putzen, dann rannte sie hinter ihrer Mutter her aus dem Haus und stieg ins Auto – einen silbergrauen Saab, der stets blitzblank poliert war. Die Mutter war sehr nervös und schimpfte bei jeder Ampel, die auf Rot sprang. In der Nähe von Margarethes Schule hielt sie an, und die Tochter sprang hinaus.

Immer dieser Morgenstress! Und dann noch diese Schule! Margarethe hätte am liebsten den Unterricht geschwänzt. Aber nicht deshalb, weil er sie nicht interessierte, sondern weil sie keinerlei Lust verspürte, ihre Mitschülerinnen und Mitschüler zu sehen. Denn die behandelten sie immer so gemein.

Sie wusste, dass Ariane Vontobel, ihre schlimmste Feindin, am vergangenen Samstag eine Party organisiert hatte. Alle waren eingeladen – ausser Margarethe. Darüber hinaus hatte Ariane sie angezündet: «Ich würde dich ja schon einladen, aber die Jungs finden dich sowieso blöd, da würdest du mir nur die Party verderben!» Mit den Jungen konnte Margarethe nicht viel anfangen, denn die benahmen sich einfach zu kindisch. Aber die Mädchen waren auch nicht besser.

Kein Wunder, war Margarethes bester Freund ein Rabe! Eine Ausnahme gab es allerdings: Mit einem Mädchen aus der Parallelklasse verstand sich Margarethe einigermassen gut. Lucia war ebenfalls eine Aussenseiterin, aber abgesehen davon hatten die beiden nicht viel gemeinsam.

Margarethe interessierte sich für andere Dinge als Lucia. Ausserdem fand Margarethe, dass Lucia zu langweilig und zu oberflächlich war. Auch Lucia wurde von den anderen gefoppt, zumal sie für ihr Alter körperlich schon ziemlich weit entwickelt war. Margarethe mochte ihre Leidensgenossin zwar, aber sie waren wirklich zu verschieden, um dicke Freundinnen zu sein. Denn Lucia hielt nicht viel von tiefgründigen Gesprächen, las kaum Bücher und interessierte sich gar nicht für das Mittelalter. Sie sass zuhause meist vor dem Fernseher oder spielte Klavier. Da sie viele Geschwister hatte, machte es ihr auch nicht viel aus, in der Klasse nicht akzeptiert zu werden.

Margarethe hingegen machte das schwer zu schaffen, dass sie immer ausgeschlossen wurde. Und dass Gerhard Ulstein, den alle «Gul» nannten, sie als «hässliche Schnepfe» und «Fischgräte» bezeichnete, weil sie so dünn war, kränkte sie am meisten. Denn ausgerechnet er, der immer so gemein zu ihr war, gefiel ihr eigentlich recht gut. Gul war nämlich ziemlich hübsch, hatte dunkle Locken und leuchtend grüne Augen.

Margarethe war überzeugt, dass er in Wirklichkeit ein sensibler Junge war, aber da er von den anderen Jungen als «Boss» akzeptiert wurde, gab er sich Mühe, möglichst hart zu sein. Natürlich musste er der Stärkste sein. Dies selbstredend auf Kosten der Schwächeren.

Margarethe war da ein dankbares Opfer, sensibel wie sie war. Meist konnte sie sich nicht zur Wehr setzen und wusste nicht, wie sie auf die Foppereien reagieren sollte. Häufig fiel ihr erst viel später die richtige Reaktion ein. Schlagfertig wollte sie werden und mutig, wie die Heldin, die sie in ihren Traumgeschichten war!

Wie eine Verurteilte, die zum Schafott ging, trottete Margarethe zum Schulgebäude. Zum Glück klingelte gerade die Schulglocke. Denn in einer Ecke des Pausenhofs stand schon eine Gruppe aus ihrer Klasse und beobachtete die Ausgeschlossene mit gemeinem Grinsen. «Jetzt können sie mich nicht mehr plagen, denn jetzt fängt der Unterricht an», dachte sie erleichtert.

Auf der Treppe holte Ariane Vontobel Margarethe ein. «Hallo Gräte, hattest du einen lustigen Samstagabend?», fragte sie frech und lachte hämisch. «Meine Party war ganz toll; wir haben einen lustigen Film auf DVD geguckt, ganz neu, den hat sonst noch niemand», schwafelte sie. – «Meinst du, mich interessiert, was du und die andern Deppen an deiner doofen Party gemacht haben?», wollte Margarethe erwidern, zog es dann aber vor, zu schweigen.

Sie dachte an den Rat des Rehbocks: «Lass dich nicht provozieren, sei wachsam und vorsichtig». Margarethe setzte deshalb einen gleichgültigen Gesichtsausdruck auf und tat so, als hätte sie Ariane gar nicht bemerkt. – «Ist die Dame etwa beleidigt?» – «Nein, sicher neidisch», hörte sie den Fanclub von Ariane Vontobel plappern. – «Sie rennen ihr hinterher wie Hündchen», dachte Margarethe und musste innerlich lachen. Äusserlich blieb sie ganz emotionslos. Bevor aber die Mädchen weiter auf ihr herumhacken konnten, waren sie auch schon beim Klassenzimmer angelangt, und der Lehrer war bereits dort.

Alois Wettstein war etwa vierzig und hatte nicht mehr viel Haare auf dem Kopf. Er trug eine runde Brille mit Metallrand und war sorgfältig rasiert. Ein dünner, eher kleiner Mann, der selten lachte – eigentlich lachte er überhaupt nie. Er wirkte immer nervös und blickte beinah ängstlich aus seinen kleinen Schweinsaugen auf die Klasse. Seine lange Nase erinnerte an eine Mäuseschnauze, sein Mund war schmal wie ein Strich. Immer, wenn er den Unterricht begann, bildete sich eine tiefe Falte auf seiner Stirne, und er fixierte die Klasse mit strengem Blick. – «Das ist kein glücklicher Mensch», überlegte Margarethe. «Sicher hat er Angst, dass sie auch auf ihm herumhacken.»

Sie mochte ihren Lehrer trotzdem nicht, denn er war launisch und manchmal sehr unfair. Alois Wettstein hingegen hegte offensichtlich Sympathien für Margarethe, wenn er überhaupt für irgend jemanden aus seiner Klasse etwas übrig hatte. Margarethe war nämlich eine sehr gute Schülerin, dabei ruhig und ordentlich. Er sprach zwar fast nie ein Wort des Lobes aus, doch merkten die anderen natürlich, dass er Margarethe bevorzugte. Das machte sie nur noch unbeliebter in ihrer Klasse. Sie fragte sich ja, ob sie mehr Freunde gehabt hätte, wenn ihre Noten schlechter gewesen wären.

«Klasse, heute nehmen wir die Kreuzzüge durch», verkündete der Lehrer. Margarethe war sofort Feuer und Flamme. Sie freute sich sehr, dass ihr Lehrer auch eine Vorliebe für die Geschichte des Mittelalters hatte. In der Parallelklasse dagegen wurden nur die Griechen und Römer durchgekaut, endlos, als ob die Geschichte in der Antike stehengeblieben wäre. Lucia hatte sich oft darüber beklagt, wie langweilig der Unterricht bei ihrer Lehrerin sei.

Margarethe war neugierig auf das Gymnasium. Dort würde sie sicher noch viel mehr über das Mittelalter erfahren. Als eine der besten Schülerinnen stand schon jetzt für sie fest, die Prüfung für das Gymnasium abzulegen. Ihre Mutter hätte gar nichts anderes geduldet, und ihr Vater hatte schliesslich Wildbiologie studiert, und dazu war die Matura nötig. Margarethe freute sich richtig aufs Gymnasium. Sie wäre ausserdem endlich ihre verhassten Klassenkollegen los. Doch bis dahin dauerte es noch fast ein Jahr.

Während der Lehrer Blätter verteilte, liess Margarethe ihren Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Zwei Mädchen am Pult direkt hinter ihr tuschelten miteinander und schauten immer wieder zu Margarethe hinüber. Dann kicherten sie und zwinkerten sich gegenseitig zu. – «Was führen die wohl im Schilde?», dachte sie misstrauisch.

Plötzlich spürte sie, wie jemand an ihren Haaren zog. Blitzschnell drehte sie sich um. Die beiden Plaudertaschen grinsten ihr hämisch ins Gesicht. – «Einfach nicht beachten», dachte Margarethe und konzentrierte sich auf den Unterricht.

In der Pause ging Gul an ihr vorbei. «Hey, Fischgräte, hast du eine neue Haarspange?» Ein Mädchen stiess hinzu: «Wääk, da klebt ja etwas in deinen strähnigen Haaren!» Schon war Margarethe umringt von einer grinsenden Gruppe. «Tja, da hilft nur Abschneiden», spottete Ariane Vontobel, und die anderen lachten. Margarethe fasste sich an den Hinterkopf. Wie entsetzlich! Da klebte ein riesiger Kaugummi. Die Haare waren völlig verklebt.

Margarethe schluckte leer und spürte, wie ihr die Tränen hochstiegen. «Bloss nicht weinen», dachte sie. Während sie mit den Tränen kämpfte, befreite sie sich aus dem Kreis der lachenden Mädchen und Jungen und ging zielstrebig zur Toilette. – «Hahaha, gleich heult sie los, die dumme Gans», hörte sie eine Stimme hinter sich, begleitet von johlendem Gelächter.

Die Geplagte zog die Türe zu und unterdrückte ein Schluchzen. Sie ging zum Spiegel, sah von vorne aber nichts, weil der Kaugummi an ihrem Hinterkopf klebte. Doch sass er dermassen fest in den Haaren, dass sie nichts tun konnte.

Vielleicht wusste ja ihre Mutter Rat, wie man einen Kaugummi aus den Haaren entfernt. Aber die Mutter hatte mit ihrem rassigen Kurzhaarschnitt sicher keine solchen Probleme. Abgesehen davon würde es wohl keiner der Bankangestellten wagen, der Direktorin einen Kaugummi in die Frisur zu kleben!

Margarethe holte tief Luft, als müsse sie untertauchen, und ging erhobenen Hauptes aus der Toilette hinaus. Draussen warteten schon ihre «Feinde». «Da lauern sie, wie Hyänen», schoss es ihr durch den Kopf. Sie ignorierte den Spott, der sich über sie ergoss. – «Tolle Frisur!» – «Reg dich nicht auf, eine Glatze steht dir sicher gut!» – «Haha, dann ist sie noch hässlicher!» – Und Margarethe ging zurück ins Klassenzimmer.

Während des Unterrichts versuchte sie, nicht an den Kaugummi zu denken. Sie war doch so stolz auf ihre langen dunkelblonden Haare! Sie waren zwar strähnig und widerspenstig, aber Margarethe fand, dass ihr lange Haare besser standen als der Pagenschnitt, den sie früher hatte. Stirnfransen konnte sie nicht leiden. Abgesehen von den Haaren mochte sie ihr Aussehen überhaupt nicht.

Sie war dünn und wirkte schwächlich. Dabei fand sie selbst, sie sei viel zäher, als sie aussah. Zudem war ihre Nase viel zu gross und meist rot umrandet, weil Margarethe oft Schnupfen hatte. Ihre Zähne zeigte sie nicht mehr, seit ihr die Zahnärztin eine Zahnspange verpasst hatte. Ihre Mutter hatte das so gewollt: «Damit du später schöne Zähne hast». Doch inzwischen sah Margarethe aus wie der Eisenbeisser aus dem James-Bond-Film! Auch deswegen foppten sie ihre Klassenkameraden.

Und jetzt noch der Kaugummi im Haar! Das war einfach zu viel! Die Schulstunden bis zur Mittagspause waren eine Qual. Düstere Gedanken, sie müsse wegen des Kaugummis ihr schönes Haar opfern, quälten das Mädchen, und das Gekicher der anderen wurde unerträglich.

Als die Pausenglocke schrillte, beeilte sich Margarethe, als Erste das Zimmer zu verlassen, und spurtete die Treppe hinunter und aus dem Schulhaus hinaus an die frische Luft. Bevor ihre Feinde sie einholen konnten, war sie auch schon aus dem Tor verschwunden. Vor lauter Wut und Aufregung verspürte sie gar keinen Hunger, also verkroch sie sich in ihrem Park, der ganz in der Nähe war. Dort klagte sie ihren Lieblingsbäumen ihr Leid.

«Die sind immer so gemein zu mir, dabei habe ich ihnen doch gar nichts angetan», seufzte sie. Margarethe wünschte sich sehr, selbstbewusster zu werden und sich nicht mehr so leicht verunsichern zu lassen. Sie umarmte den grössten Baum und spürte dabei die Energie, die durch den mächtigen Stamm floss. Ein Teil der Energie durchströmte jetzt ihren Körper und gab ihr Kraft und Mut. Margarethe liebte ihre Bäume und hatte ihnen Fantasienamen gegeben, die sie niemandem anvertraute. Denn das waren ihre lieben, treuen Bäume, die alle Geheimnisse für sich behalten konnten.

Am Nachmittag versuchte sie, ihre Umgebung zu ignorieren und versteckte sich in der Pause auf der Toilette. Tapfer überstand sie auch die letzte Schulstunde, dann ging sie erleichtert nach Hause.

*   *   *

Als Margarethe heimkam, war ihre Mutter bereits zuhause und sass in der Badewanne. Margerethe ging ins Badezimmer, aber bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte, schrie ihre Mutter entsetzt auf: «Um Himmels Willen, was hast du denn da in deinen Haaren?» – «Einen Kaugummi, was sonst», entgegnete Margarethe ungerührt. Was sollte sie sich noch aufregen, es nützte ja doch nichts. Ausserdem genügte es, wenn sich ihre Mutter aufregte.

Sie brauchte gar nichts mehr zu erklären. Für einmal hatte die Mutter einen Beweis vor Augen, wie gemein ihre Tochter in der Schule behandelt wurde. Bisher hatte sie ihr das ja nie geglaubt. «Das ist doch der Gipfel, so eine Gemeinheit!», tobte die Mutter, «Na warte, ich werde mich beim Lehrer beschweren!»

Margarethe versuchte, ihre Mutter zu beschwichtigen. Eine Beschwerde würde doch alles nur noch schlimmer machen! Wütend stieg die Mutter aus dem Bad, schlüpfte in ihren Morgenrock und rannte in die Küche. «Da hilft nur Essig – ein Hausmittel von deiner Oma», verkündete sie.

Tatsächlich – mit Essig liess sich der riesige klebrige Kaugummi leicht aus den Haaren lösen. Margarethe war erleichtert. Nachdem sie ihre Haare vom Kaugummi befreit und mit duftendem Shampoo gewaschen hatte, ass sie mit der Mutter zu Abend und ging ziemlich bald ins Bett. Die Mutter hatte nämlich ununterbrochen auf die Klassenkameraden von Margarethe geschimpft und sich auch über den Lehrer beschwert, der gefälligst besser aufpassen sollte. Margerethe hatte die Nase voll von der üblen Laune ihrer Mutter und zog sich zurück in ihr Zimmer. Bald schlief sie ein.

Als sie am andern Morgen erwachte, erinnerte sie sich nur vage an ihren Traum. Sie hatte jemanden kennengelernt, eine junge Frau, die ebenfalls Margarethe hiess. Doch spielte ihr Traum zweifellos im Mittelalter – denn da kamen finstere Burgen und blutige Ritterturniere vor. Wer war diese geheimnisvolle Frau, die sie in der Traumwelt vor bösen Verfolgern gerettet hatte? Und überhaupt, wer hatte eigentlich wen gerettet? War Margarethe selbst die Heldin? Leider blieb ihr nicht mehr als ein sehr kurzer Traumfetzen in Erinnerung.

3

Luftangriff

«Wie hast du den Kaugummi rausgekriegt, ohne Kopfrasur?», hörte Margarethe Arianes hohe, wichtigtuerische Stimme hinter ihr, und eine Note der Enttäuschung war in ihr Gesicht geschrieben, als Margarethe sich nach ihr umdrehte und konterte: «Ich kann eben zaubern! Bin eine Hexe, hast du das nicht gewusst?» Ariane streckte ihr die Zunge raus und erwiderte im Vorbeigehen: «Dann verbrennen wir dich in der nächsten Pause!» Und eins nach dem andern trippelten die Mädchen an Margarethe vorbei und streckten ihr wie Ariane die Zunge raus.

«Dumme Nachäfferinnen», dachte Margarethe, und sie dachte dies noch häufig, denn Ariane war die unumstrittene Anführerin der Mädchen. – «Nicht Vontobel, sondern <Volldubbel> sollte die Ariane zum Nachnamen heissen», dachte Margarethe und seufzte. Die Pausenglocke hatte schon lange geläutet, und sie war die Letzte, die noch vor dem Klassenzimmer stand.

Hinter ihr näherte sich Lehrer Wettstein und wisperte aus seinem schmalen Mund: «Vorwärts, vorwärts, Mädchen, die Schule fängt an!» Margarethe blickte in strenge kleine Augen, die jedoch für sie immer Sympathie übrig hatten. Margarethe hastete zu ihrem Pult, das sie mit niemandem teilte, da sich keine und keiner in der Klasse neben sie setzen wollte.