image

Bianca Kos

Das Mundstück

Roman

image

Die Arbeit an diesem Buch wurde durch ein Stipendium
des Landes Kärnten gefördert.

image

www.omvs.at

© 2019 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Inhalt

Serhij

Nikolay

Cedric

Vadim

Martin

Elena

Sigmund

Aleksandr

Olga

Anja und Olja

Stanislav

Felix

Artem

Wowa und Aljoscha

Vera

Natalja

Jura

Sofia

Max Rosenfeld

School Pub

Serhij

Sag bitte U! Ja, so ist es richtig. Aber wenn du ein Ü sprechen willst, dann musst du die Lippen spitzen. Noch spitzer! So: Üüüü! Wenn die Lippen nicht spitz genug sind, bleibt es ein U!

Wenn du bei einem ukrainischen Oligarchen und österreichischem Honorarkonsul zum Tee eingeladen bist, führe die Tasse vorsichtig zum Mund, schlürfe lautlos die heiße Brühe, höre zu, ohne zu unterbrechen, lächle fortwährend und nicke hin und wieder, wirf ab und zu ein passendes Wort oder einen zustimmenden Kommentar ein, nimm den bemalten Folklore-Teller mit entspannter Würde entgegen, bedanke dich und geh beschwingt nach Hause. Fördere die Mikroökonomie und kaufe um Mitternacht am Ausgang der Metro der Apfelfrau noch ein Säckchen Äpfel ab, schließe die Stahltür zu deiner Kommunalka-Wohnung im Stalinka-Stil auf, lass dich müde ins Bett fallen und versuche zu schlafen. Dazu musst du deinen Kopf leer machen, befreien und loslösen von all dem, was du in den vergangenen Tagen und Wochen gesehen hast. Aber das ist leichter gesagt als getan. Denn du bist, bevor du beim Oligarchen warst, zufälligerweise am Rathaus vorbeigegangen und hast gesehen, wie man den Bürgermeister der Stadt in sein Dienstauto getragen hat. Rasch haben zwei mächtige Bodyguards den Rollstuhl durch ein Spalier von Aufpassern und Ordnungshütern in die schwarze, gepanzerte Limousine gehoben, die Autotür zugeschoben und den Wink zum Abfahren gegeben. Dann kommt dir dieses Unglück in den Sinn, bei dem die junge Natalja Zaitschenka im vergangenen Herbst an einer Kreuzung mit Vollgas bei Rot über den Zebrastreifen gerast war und dabei sechs Menschen, darunter drei junge Mädchen, getötet und weitere dreiundzwanzig Passanten schwer verletzt hatte. Bis in das folgende Frühjahr hinein brannten an der Unglücksstelle unzählige Kerzen. Blumen und Kränze bildeten mächtige Gebirgslandschaften, auf deren Gipfel man die Fotografien der Verunglückten gelegt hatte. Im Februar wuchs durch wochenlange Schneefälle der Unglücksort zu einem vergletscherten Alpenhauptkamm an, welcher den Gehsteig völlig unpassierbar machte und die Fußgänger ihn nur auf einem Umweg über die Straße passieren konnten. Die Lenkerin ist die Tochter eines Oligarchen. Das gab Anlass zu gewissen Bedenken. Es gab nämlich noch einen ganz zufällig in das Geschehen verwickelten Autofahrer, der genau zum selben Zeitpunkt über diese Kreuzung fuhr und frontal mit dem väterlichen Oligarchen-SUV zusammengekracht wäre, wenn er sein Auto nicht im letzten Augenblick gegen die Hauswand gefahren hätte. Der Autofahrer hatte eine Stopplinie überfahren, allerdings war diese Stopplinie angeblich erst in der Nacht nach dem Crash aufgebracht worden. Der mutmaßlich prorussische Bürgermeister war genau vor einem Jahr bei einem Attentat durch Schüsse in den Rücken schwer verletzt worden und sitzt seitdem im Rollstuhl.

Warum sage ich eigentlich „Du“? Kann ich es mir nicht endlich merken, dass man sich hier nicht so schnell duzt? Das Du-Wort ist eine Familienangelegenheit oder eine Sache der langjährigen, voraussichtlich ewig dauernden Freundschaft. Weil ich aber so voreilig bin, verbrenne ich mir ständig den Mund damit. Das „Du“ ist eine heiße Kartoffel, auf Russisch eine „kartofelina“, auf Ukrainisch eine „kartoplja“, auf Österreichisch ein „Erdapfel“. Schnell turne ich zurück zum „Sie“ und halte gebotenen Abstand. Meine Erinnerungen setzen am sechzehnten Oktober ein, obwohl mein Leben bereits am dritten September begonnen hat. Was in den sechs Wochen dazwischen passiert ist, weiß ich nicht mehr, wenngleich ich seit meiner Ankunft eine Art Tagebuch führe. Aber die Eintragungen geben nicht viel mehr her als „Olga, 11 Uhr“ oder „350 Grw“. Ich weiß nicht, welche Olga gemeint ist, denn ich kenne mindestens ein Dutzend Olgas hier, und ich weiß auch nicht mehr, wofür ich die Summe von dreihundertfünfzig ukrainischen Griwna gebraucht habe. Das sind etwa zehn Euro und damit kann man ein Zugticket für die vierhundertfünfzig Kilometer lange Reise von Charkiw nach Kiew kaufen. Am sechzehnten Oktober beginne ich mit diesen Aufzeichnungen in einem karierten Schulheft, linierte Hefte gibt es nicht. Dafür glitzert ein buntes Covergirl am Deckblatt des Heftes, welches ich jeden Abend öffne und völlig uninspiriert und ohne emotionale Schnörkel ein Tagesprotokoll in die Kästchen male. Dieser Tag in der Oktobermitte ist auch aus anderen Gründen sehr wichtig, denn an diesem Datum fasse ich einen Entschluss, den ich sogleich jedem, dem ich begegne, mitteile. Kollegen, Freunden, Familienangehörigen, Studierenden, dem Sitznachbarn im Zug, der Beamtin bei der Fremdenpolizei und sogar dem Bürgermeister. Auch diesem schicke ich eine diesbezügliche Ankündigung. Alle wissen nun Bescheid und ich kann keinen Rückzieher mehr machen, ohne mein Gesicht zu verlieren. Der sechzehnte Oktober ist auch deshalb bedeutend, weil ich an diesem Tag meine Jagd auf Serhij Zhadan beginne. Auf den Rumpelpisten, die hier Straßen oder sogar Prachtstraßen genannt werden, ist das allerdings kein großer Spaß. Vier Tage später lasse ich meinen fabelhaften Plan wieder fallen. Meine Begeisterung hat sich rasch in Charkiwer Stadtluft aufgelöst.

Diese Stadt ist voller Menschen, genau genommen sind es ungefähr eineinhalb Millionen, und ein paar davon kenne ich bereits. Die meisten werden Natalja, Natascha oder Nastja und Olena, Elena, Aljona, Aljoscha, Olga und Olja genannt. Dazu kommen noch ein paar Katjas, Wanjas, Wasjas und Wolodymyre, die man auch Wolodja oder Wowa ruft, Aleksandrs und Aleksandras, die man auch Sascha ruft, egal, ob weiblich oder männlich, und eben auch jede Menge Serhijs. Eine der vielen Olenas ist die Leiterin des Lehrstuhls für Interkulturelle Kommunikation, an welchem ich als Lektorin arbeite, mit der anderen Olena mache ich einen Fahrradausflug, der mitten im Wald mit einer Reifenpanne endet, die dritte Olena unterrichtet an der Universität Deutsch und korrigiert dankenswerterweise ab und zu das meinige, ihrem Argument habe ich nichts entgegenzusetzen: „In unseren Lehrbüchern steht das aber so!“ Über die kleine Welt der Österreich-Bibliothek, untergebracht im wahrhaft ehrfurchtsgebietenden Gebäude der Korolenko-Bibliothek, herrscht eine weitere Olena, zur besseren Unterscheidung nennt man sie Lena. Sie spricht viel, schnell und ein etwas fehleranfälliges, aber nicht uninteressantes Deutsch, welches ich, entweder aus Gründen der Höflichkeit oder aber aus vorauseilendem Anpassungswunsch, zeitweise imitiere.

Am einundzwanzigsten Oktober habe ich folgende Notiz in mein Tagebuch eingetragen: „Meine Schuhe beim Schuster abgegeben. Absatz kaputt. Hundert Griwna im Voraus bezahlt.“ Das ist nicht ganz so läppisch, wie es klingt. Denn ich habe, als ich die Schuhe wieder abholen wollte, wochenlang dieses eine Schusterhäuschen, in welchem ich sie abgegeben hatte, gesucht, aber ich habe es nicht wieder gefunden. Ich bin alle Straßen, Gässchen, Durchgänge und Höfe in der Umgebung abgegangen, ich habe viele ähnliche, ja identische Schusterhäuschen aus Blech entdeckt, in denen auch die darin sitzenden Schuster sich bis aufs Haar glichen, aber dieses eine Schusterhäuschen, in welchem nun meine reparierten Schuhe in einem Regal auf die Abholung warten, blieb wie vom Erdboden verschluckt. Jeden Tag kann so etwas passieren und es passiert auch jeden Tag etwas. Es muss nicht immer gleich eine Tragödie sein. Es kann sich ja auch um eine Komödie handeln, außer sie wird aus technischen Gründen abgesagt wie letztens „Die Möwe“ von Anton Tschechow, von der ich mir den Text besorgt und innerhalb von vierzehn Tagen auswendig gelernt habe. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, einen Tschechow in der Originalsprache hören und auch verstehen zu können. Statt der abgesagten „Möwe“ gab es als Ersatzvorstellung eine andere Komödie, bei der ich, weil ich mich nicht vorbereiten konnte, außer „der Tee ist fertig“ und dem minutenlangen Geschrei einer Frau „Ich habe verstanden, ich habe verstanden“ nichts verstanden habe. Im Theater vergaß ich meine Jacke, die ich auf den freien Stuhl neben mir gelegt hatte. Da ich noch nicht weit weg war, als ich es bemerkte, bin ich noch einmal zurückgegangen, fand aber in dem großen Gebäude mit den vielen Gängen und Treppen den Zuschauerraum nicht mehr. Plötzlich befand ich mich in einer riesigen Halle, in der viele Leute gebeugt an kleinen Tischen saßen und Diamanten schliffen. Dann wachte ich auf und lag in einer ehemaligen sowjetischen Gemeinschafts-Wohnung im sechsten Stock eines Plattenbau-Wohnblocks im Bett, und als ich zum Fenster hinaus sah, erblickte ich, soweit ich schauen konnte, unzählige solcher Wohnblöcke derselben Machart. Ich weiß nicht, welcher der beiden Szenerien ich den Vorzug geben würde, wenn ich die Wahl hätte.

Jedenfalls bin ich heute mit einer etwas getrübten Laune aufgewacht. Der Grund ist mir unbekannt, aber ich werde es sicher gleich erfahren. Vielleicht ist es, weil der Trinkwasserkanister leer ist und ich noch vor dem Frühstück sechs Stockwerke hinunterlaufen muss, um beim Wasserautomaten Wasser zu holen. Und dann wieder sechs Stockwerke mit den vollen Wasserkanistern hinauflaufen. Es gibt zwar einen Lift im Haus, aber ich verwende ihn nur in Notfällen oder mit schwerem Gepäck. Obwohl man ihn gerade dann nicht verwenden sollte. Wasserholen ist hierzulande eigentlich Männersache. Vermutlich wird den ukrainischen Männern, während sie vor dem Fernseher sitzen, gesagt: „Geh schnell mal Wasser holen und beeil dich bitte“, worauf sie brav zwei bis vier leere Kanister in die Hand nehmen und, lässig diese hin und her schwingend, zum Automaten oder zur Wasserfrau spazieren, so, als ob sie ganz von selbst auf die Idee gekommen wären, Wasser zu holen. Ein, zwei Zigaretten gehen sich immer aus, ein etwas längeres Telefongespräch am Handy natürlich auch, und die meisten schaffen es tatsächlich, noch am selben Tag wieder nach Hause zurückzukehren.

Diese für ein Städteleben gerade im jugendlichen Flegel-Alter stehende Stadt besteht zu achtzig Prozent aus Straßen mit Schlaglöchern, zu neunzig Prozent aus Straßenfegerinnen, zu neunundneunzig Prozent aus lackierten Fingernägeln und zu hundert Prozent aus nicht trinkbarem Leitungswasser. Seit ich hier bin, übertreibe ich gerne, und zwar maßlos. Das habe ich von Serhij Zhadan gelernt. Meine zahlreichen Versuche, ihn zu kontaktieren, waren bis jetzt vergeblich. An einem Sonntag kam er mir auf der Sumskaya-Straße, ziemlich genau vor dem großen Schewtschenko-Denkmal im Schewtschenko-Park entgegen, er schob einen Kinderwagen, ihm zur Seite spazierte eine junge Frau, möglicherweise die Mutter des Kindes. Bevor ich etwas sagen konnte oder auch nur freundlich nicken, waren sie vorbeigegangen, und ich werde nie wissen, ob er es wirklich war oder ob ich mich geirrt habe.

Es gibt Städte, in die zieht es niemand. Nicht im Sommer, nicht im Winter. Auch nicht im Frühling, und im Herbst soundso nicht. Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Wahrheit wirklich jedem zumutbar ist, aber wenn, dann ist sie oft unsagbar langweilig. Die Wahrheit ist nämlich, dass heute ein ganz normaler Sonntag ist, ganz normaler Sonnenschein herrscht, ganz normale Frühlingstemperatur und ganz normaler Betrieb unter meinem Fenster. Ein paar ganz normale Kinder hoppeln über den Spielplatz, ein ganz normal verrückter Motorradfahrer dreht sein Motorrad auf der Geraden unter mir in zehn Sekunden auf hundertachtzig, ich bin ganz normal müde nach einer arbeitsamen Woche und ruhe mich nun auf meinen Lorbeeren etwas aus. Mein Smartphone brummelt in regelmäßigen Abständen, weil ich meine Studenten aufgefordert habe, mir endlich die Hausarbeiten zu schicken, die sie mir schon vor zehn Tagen hätten schicken sollen. An so einem ganz normalen, langweiligen Tag muss man Geschichten erfinden. Diese sind naturgemäß immer nur Teile von Geschichten. Ganze Geschichten gibt es nicht. Man kennt ja immer nur eine Hälfte oder noch viel weniger davon. Wenn man trotzdem eine ganze Geschichte erzählen möchte, muss man sich eben für die fehlenden Teile etwas einfallen lassen. So ist die Geschichte mit der Frau, die in der Wohnung unter mir wohnt und ständig an meiner Tür läutet, sogar nachts um drei Uhr, und sich beschwert, dass ich so laut bin, auch nur eine halbe, weil ich ja ihre Geschichte nicht kenne. Ich weiß nicht, was für einen Lärm sie hört und warum sie glaubt, ich sei die Verursacherin. Ich war ziemlich verwirrt, denn ich hatte tief und fest geschlafen, und antwortete aufgebracht und unbeholfen in einer Sprache, die ich gar nicht gut beherrsche.

Nikolay

Am nächsten Tag rufe ich Nikolay, meinen Vermieter, an. Er kommt sofort, kappt das Kabel und legt die Türklingel tot, dann läutet er bei der Frau Nachbarin unter mir und erzählt ihr, ich sei ein sehr wichtiger politischer Besuch aus dem Ausland und wenn sie mich nicht in Ruhe lasse, werde das sehr weitreichende diplomatische Konsequenzen haben. Wir sind uns einig, dass diese Frau nicht ganz normal ist. Natascha, Nikolays Frau, die auch gekommen ist und sich als mein persönlicher Security-Dienst am Küchentisch niedergelassen hat, trinkt mit mir ein paar Schlucke Meduwocha, ein vergorener Honigsaft, den ich letztens am Markt gekauft habe, springt kurz darauf wie ein kleiner Gummiball durch die Wohnung, kichert und sprudelt russisches Zeugs, ich verstehe, wie fast immer, gar nichts.

Meinen Plan könnte man durchaus großartig nennen. So laufen die Dinge normalerweise: Man bemerkt, dass etwas, was dringend notwendig ist, fehlt, erklärt es daraufhin zu einer Marktlücke und beginnt sofort mit der Arbeit. Dazu braucht man Begeisterung und die feste Überzeugung, dass es sich um eine geniale Idee handelt, die man soeben geboren hat. Ich war so begeistert und überzeugt von meinem Vorhaben, einen deutschsprachigen Reiseführer für die Stadt Charkiw zu verfassen, dass mir zunächst gar nicht in den Sinn gekommen war, mir in diesem Zusammenhang die entscheidende Frage zu stellen: Gibt es überhaupt ein Interesse dafür? Die Antwort lautet: Nein. Es gibt keine Touristen, und schon gar keine deutschsprachigen Touristen in der Ostukraine. Und es wird – so versicherte mir der Reiseführer-Verlag, dem ich voller Eifer mein Projekt angeboten hatte, durchaus glaubhaft – in absehbarer Zukunft auch keine geben. Wenn eine Stadt an einer menschlichen Krankheit leiden könnte, dann wäre es bei der im Solarplexus einer mutmaßlichen Gefahrenzone liegenden Stadt Charkiw die Lepra. Dabei handelt es sich natürlich um eine Ferndiagnose, denn man traut sich wegen der Gefährlichkeit der vermuteten Krankheit nicht näher an den Patienten heran. Man befürchtet faulende Gebäudeteile, eigenartige Gerüche und ein eingeschränkt funktionierendes geistiges Leben. Jeder, der sich in eine solche Gegend wagt, bekommt entweder einen Heiligenschein oder eine Dummkopf-Prämie verliehen. Daher habe ich, etwas gekränkt, meinen Plan ad acta gelegt und bin nun in der glücklichen Lage, völlig zwang- und planlos und nur zu meinem eigenen Vergnügen die Stadt erforschen zu können. Ich benötige keine Fotos von Sehenswürdigkeiten, brauche keine exakten Öffnungszeiten und Adressen zu notieren, in keinen Hotelbetten probezuliegen, keine Gastronomie-Kritiken zu formulieren, keine praktischen Hinweise zu geben, keine Streckenpläne der U-Bahn zu zeichnen, keine Highlights zu nennen, keine Geheimtipps zu verraten, keine Top-Ten-Ratings zu erstellen und keine wertvollen Ratschläge zu erteilen. Und ich kann mir die Tatsachen so ausdenken, wie ich es will. Ich brauche mir auch keine Gedanken zu machen, wie ich sprachlich hilflosen Touristen schnell die wichtigsten Sätze auf Ukrainisch beibringe. Dazu wäre ich durchaus imstande gewesen, denn die Lautsprecher-Durchsagen in der Metro haben meine Ukrainisch-Kenntnisse auf ein Niveau gebracht, welches im Alltag völlig ausreichend ist. Seit ich in dieser Stadt bin, schnipsle ich an den beiden hier gängigen Sprachen – der russischen und der ukrainischen – herum, werfe sie in einen Topf, vermische sie eifrig, kaue ein bisschen daran und spucke sie bei Bedarf wieder aus. Außer der Auswechslung des Buchstabens O durch ein I (das russische Charkow ist dieselbe Stadt wie das ukrainische Charkiw), das Ersetzen des Gs durch das H (der russische Sergej ist derselbe wie der ukrainische Serhij, der russische Grigorij ist der ukrainische Hryhorij) und noch ein paar weiteren Kleinigkeiten, sind nicht wirklich viele Divergenzen festzustellen.

In dieser Stadt liegen Licht und Schatten, das Schöne und das Hässliche, das Angenehme und das Unangenehme so eng beieinander, dass man den Unterschied gar nicht mehr erkennt. Der Mensch verträgt nämlich keine großen Gegensätze. Zu seiner eigenen Sicherheit schaltet das Gehirn dann in einen milden Gleichgültigkeits-Modus, andernfalls würde es die Nerven zerreißen. Ich durchforste die Straßen, die Plätze, die Kaffeehäuser, die Kantinen, die Museen, die Kinos, die Pfandleih-Buden, die Geldwechselstuben, die Universitäten, die Hotels, die Sportplätze, die Parks, die Märkte, die Metro-Stationen und die Straßenbahnen. Ich steige hinunter zu den Kellerloch-Geschäften, den Untergrund-Bars und Untergeschoß-Lokalen. Ich klettere in die Marschrutkas, diese grünen, ständig überfüllten Minibusse, die wie emsige Ameisen quer durch die Stadt krabbeln und von den Einheimischen am liebsten zum Teufel geschickt würden, wenn man sie nicht so dringend brauchen würde.

MundstückPiroschkiMundstück“