M. L. CARTER (HRSG.)

 

Verlockender Schnee

 

 

 

Erzählungen

 

Apex Horror, Band 38

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

J. Sheridan Le Fanu: ULTOR DE LACY (Ultor de Lacy) 

Marion Zimmer Bradley: ROBINS WELT (The Wind People) 

Jerome Bixby: KANN ES SO VIEL SCHÖNHEIT GEBEN? (Can Such Beauty Be?) 

Algernon Blackwood: VERLOCKENDER SCHNEE (The Glamour Of The Snow) 

Robert Hitchens: WIE DIE LIEBE BEI PROFESSOR GUILDEA EINKEHRT  

(How Love Came To Professor Guildea) 

Robert Bloch: DER MAGISCHE HELM (The Thinking Cap) 

Winston March: ROLYX UND ALJOR (The Naked People) 

Theodore Sturgeon: DER HAUCH DES MERKWÜRDIGEN (A Touch Of Strange) 

 

Das Buch

 

 

Kennen Sie das Gefühl teuflischer Besessenheit, das in Tag- und Nachtträumen Besitz von seinen Opfern ergreift?

Der Todesatem von Dämonen der Dunkelheit streift warmes, sterbliches Fleisch. Kalter Hauch des Verderbens erschüttert den Lebenswillen. Der Gedanke an die Nacht wird zur Qual.

Im Halbdunkel streichelt eine verborgene Hand den willigen Körper, ein unwirklicher Kuss, ein Atemzug erregt die Fantasie. Die verschwommene Grenze des Bewusstseins wird hinweggeschwemmt von einem Gefühl des Entsetzens und der Gier.

Übernatürliche Kräfte entfachen ein todbringendes Inferno erotischer Sündhaftigkeit.

Dies ist das Gefühl, das sich Ihrer beim Lesen dieser meisterhaften Horror-Storys bemächtigen wird...

 

Eine Anthologie der Superlative – ein Festschmaus für jeden Horror-Fan! Mit Erzählungen von Marion Zimmer Bradley, Theodore Sturgeon, J. Sheridan La Fanu, Jerome Bixby, Algernon Blackwood, Robert Hitchens, Robert Bloch und Winston March.

 

»Faszinierend und erregend.«

- Ira Levin, Autor von Rosemaries Baby 

  J. Sheridan Le Fanu: ULTOR DE LACY (Ultor de Lacy)

 

 

I.

 

In meiner Kindheit hörte ich viele irische Familienüberlieferungen von mehr oder weniger übernatürlicher Art, einige sehr seltsam und alle, wenigstens für ein Kind, höchst interessant. Eine davon will ich jetzt erzählen, obwohl das ohne die passende Umgebung des altmodischen Feuerplatzes in der Stube und den lauschenden Kreis erregter Gesichter, ohne die Winterstürme und das Ächzen der kahlen Äste draußen und das gelegentliche Klappern der schweren alten Fensterrahmen nicht ganz einfach ist.

Ungefähr halbwegs das Tal von Capercullen hinauf, nahe der Stelle, wo die Grafschaften Limerick, Clare und Tipperary Zusammentreffen, auf der damals abgeschiedenen, waldigen Hügelkette von Slieve-Felim, standen zu den Regierungszeiten der beiden ersten Georgs die malerisch mächtigen Überreste eines der schönsten anglo-irischen Schlösser von Munster - vielleicht von ganz Irland.

Es krönte die steil abfallenden Hänge der bewaldeten Schlucht, mitten in einem wilden Forst gelegen, der die weite, einsame Fläche bedeckte. Im Umkreis von vielen Meilen gab es keine menschliche Behausung außer dem halben Dutzend elender Hütten und der kleinen, strohgedeckten Kapelle, die das Dorf Murroa bildeten, das am Fuß der Schlucht in den Ausläufern des Waldes lag.

Die Eigentümer dieses noblen Gebäudes und eines Gebietes in den von mir genannten angrenzenden Grafschaften waren Engländer - die de Lacy. Sie hatten diesen Teil ihres Besitzes während der Regierungszeit Heinrichs VIII. erworben und hielten ihn, mit wenigen Veränderungen, bis zum Ausbruch der Revolution in Irland, als sie, wie andere große Familien zu dieser Zeit, Ehre und Eigentum verloren und schließlich ganz erloschen.

Der de Lacy dieser Tage zog sich nach Frankreich zurück, wo er für kurze Zeit ein Kommando in der irischen Brigade hielt, dann seinen Abschied nahm und verarmt am Hof von St. Germain lebte. Er starb Anfang des achtzehnten Jahrhunderts - soweit ich mich erinnere 1705 - und hinterließ einen einzigen Sohn, kaum zwölf Jahre alt, mit dem wunderlichen, aber bedeutsamen Namen Ultor.

An diesem Punkt beginnt meine Erzählung.

Als sein Vater im Sterben lag, rief er ihn an sein Lager. Niemand außer seinem Beichtvater war anwesend; nachdem er ihm zuerst befohlen hatte, bei Erreichung des einundzwanzigsten Lebensjahres Anspruch auf einen kleinen Besitz mütterlicherseits in der Grafschaft Clare in Irland zu erheben, und nachdem er ihm eingeschärft hatte, nicht zu heiraten, bevor er dreißig sei, mit der Begründung, dass frühe Ehen den Geist und die Kraft zu Unternehmungen zerstören und ihn unfähig machen würden, seine Bestimmung zu erfüllen - nämlich die Wiedereinsetzung seiner Familie -, begann er, dem Kind eine Angelegenheit zu enthüllen, die es so erschreckte, dass es jämmerlich zu weinen begann, am ganzen Leibe zitterte, sich mit der Hand an das Gewand des Priesters klammerte, mit der anderen an seines Vaters kaltes Handgelenk, und ihn mit Entsetzensrufen beschwor, von der Mitteilung Abstand zu nehmen.

Aber der Priester, zweifellos von der Notwendigkeit überzeugt, bat ihn zuzuhören. Und dann zeigte ihm sein Vater ein kleines Bild, von dem sich das Kind ebenfalls schreiend abwandte, bis es abermals zum Hinsehen genötigt wurde. Sie ließen es nicht gehen, bis es das Porträt sorgfältig studiert hatte und es aus der Erinnerung beschreiben konnte, die Farbe der Augen und des Haares, die Art und Färbung der Kleider. Dann gab ihm sein Vater ein schwarzes Kästchen, welches das Bild enthielt, eine Miniatur der ganzen Gestalt, ungefähr zwanzig Zentimeter lang, sehr sorgfältig in Öl gemalt, glatt wie Emaille, und darüber gefaltet ein Blatt Papier, mit einer sauberen, gut leserlichen Schrift bedeckt.

Die Urkunde und dieses schwarze Kästchen stellten das wichtigste Vermächtnis dar, das der verarmte Jakobiner seinem einzigen Kind hinterließ, und er übergab es dem Priester zu treuen Händen, bis sein Sohn Ultor alt genug sein würde, den Wert zu erkennen.

 

Bis Ultor das einundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, blieb er unter der Obhut des Geistlichen in Frankreich und kehrte dann nach Irland zurück. Sein Anspruch war durch die Ächtung seines Vaters nicht berührt worden, und so konnte er seine Forderung auf den kleinen Besitz in der Grafschaft Clare leicht durchsetzen, wo er sich dann auch niederließ.

Gelegentlich besuchte er Paris, den gemeinsamen Mittelpunkt englischer, irischer und schottischer Abneigung, und dort, etwas über dreißig Jahre alt, heiratete er die Tochter eines anderen verarmten irischen Hauses. Seine Braut kehrte mit ihm in die melancholische Abgeschiedenheit seines Schlosses zurück, wo sie ihm zwei Töchter gebar - Alice, die ältere, dunkeläugig und dunkelhaarig, ernst und vernünftig, und Una, vier Jahre jünger, mit großen blauen Augen und schönen, langen, blonden Haaren.

Nach wenigen Jahren starb die Mutter, und die Kinder waren der alleinigen Fürsorge ihres trauernden, verbitterten Vaters überlassen. Im Laufe der Zeit wuchsen die Mädchen zu Schönheiten heran. Die Ältere war für das Kloster bestimmt, die Jüngere hoffte ihr Vater so vornehm zu verheiraten, wie es ihre hohe Geburt und ihre große Schönheit erwarten ließ, wenn nur das große Spiel, auf das er so entschlossen alles gesetzt hatte, glückte.

 

 

II.

 

Der Aufstand des Jahres 1745 kam, und Ultor de Lacy war einer der wenigen Iren, der in diese kühne romantische Rebellion verstrickt war. Natürlich wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen, aber er war nicht zu finden. Seine Töchter lebten weiter in dem einsamen Schloss ihres Vaters in Clare; ob er über das Meer gegangen war oder sich noch in Irland befand, war sogar ihnen lange Zeit unbekannt. In Abwesenheit wurde er verurteilt, und sein kleiner Besitz verfiel dem Staat. Offiziere der Krone kamen und nahmen das Schloss in Besitz, die jungen Damen mussten ausziehen. Zu ihrem Glück war der Geistliche, den ich erwähnte, nicht so zuversichtlich wie ihr Vater gewesen, was die Zurückgewinnung des glänzenden Erbes der Ahnen betraf; dank seines Rates waren jeder Tochter im Heiratsvertrag der Eltern zwanzig Pfund jährlich zugesichert worden, und das war buchstäblich alles, was sie vor bitterster Armut rettete.

Eines Abends, als einige kleine Buben aus dem Dorf von einem Streifzug durch das dunkle, abgelegene Tal von Capercullen zurückkehrten, sahen sie zu ihrem Erstaunen und Schrecken ein Licht aus dem schmalen Fenster eines der Schlosstürme scheinen, die sich zwischen Efeu und mächtigen Zweigen über dem Abhang erhoben.

»Seht, seht, seht, es ist der Phooka-Turm!«, riefen sie und liefen davon.

Der kleine Shaeen Mull Ryan, der letzte in der verschreckten Schar, rief seinen Kameraden zu, auf ihn zu warten, da sah er plötzlich eine weiße Gestalt aus dem Dickicht am Fuße der Treppe, die von der Schlossmauer den Abhang hinabführte, auftauchen, und eine misstönende männliche Stimme schrie: »Habe ich dich!«

Im selben Augenblick stolperte und fiel der Knabe mit einem Schrei des Entsetzens, fühlte sich rau am Arm gepackt, geschüttelt und wieder auf die Füße gestellt.

»Wer ist das, Larry? Was ist los?«, rief eine Stimme hoch oben aus dem Turmfenster. Die Worte schwebten durch die Bäume herab, klar und süß, wie die tiefen Töne einer Flöte.

»Nur ein Kind, Mylady; ein Knabe.«

»Ist er verletzt?«

»Bist du verletzt?«, fragte der weiße Mann, aber der Knabe fuhr fort, zu weinen und um Gnade zu betteln. Er war verletzt und blutete über dem Auge.

»Ein bisschen angekratzt, Mylady!«

»Bring ihn herauf.«

Shaeen Mull Ryan ergab sich. Er befand sich unter den Guten Leuten, die ihn für immer und einen Tag gefangen halten würden. Sich zu wehren half gar nichts. Sie gelangten aus der Schlucht auf die Plattform darüber; die knotige Hand seines Entdeckers lag immer noch auf seinem Arm. Shaeen sah rundum die großen, geheimnisvollen Bäume und die graue Fassade des Schlosses, die sich in dem schwachen Mondlicht wie ein Traumbild enthüllte.

Der alte Mann, der auf dünnen, drahtigen Beinen neben ihm ging, trug einen schäbigen weißen Rock mit blauen Aufschlägen und großen Zinnknöpfen, und seine silbergrauen Haare quollen unter einem verbeulten Dreispitz hervor. Sein verrunzeltes, listiges Gesicht, in dem der Knabe kein Anzeichen von Mitgefühl lesen konnte, schien im Mondlicht weiß und gespenstisch - das fleischgewordene Idealbild eines Zauberers.

Die Gestalt führte ihn schweigend durch den großen Torbogen und über den grasbewachsenen Schlosshof zu einer Tür in der hintersten Ecke des Gebäudes, eine steinerne Wendeltreppe hinauf und um eine Ecke in einen großen Raum, wo ein Feuer in einem großen Herd brannte. Ein Topf hing darüber, an dem sich eine alte Frau mit einem Holzlöffel zu schaffen machte. Auf dem Boden des Raumes wie auch auf dem Tisch und den Stühlen herrschte ein großes Durcheinander. Berge von alten verblichenen Vorhängen, Kästen, Koffer, Kleider, Zinnteller und -tassen lagen herum.

Was den ängstlichen Blick des Knaben sofort gefangen nahm, waren die Gestalten zweier Damen; sie trugen rote Umhänge aus grober Wolle wie die Bauernmädchen aus Munster und Connaugh, und ihre übrige Kleidung passte dazu. Doch es umgab sie Vornehmheit, ein verfeinerter Ausdruck, Schönheit und darüber hinaus die ruhige Sicherheit, die den Menschen höherer Schichten zu eigen ist.

Die ältere Dame, mit schwarzem Haar und großen dunklen Augen, saß schreibend an dem Kiefernholztisch, auf dem eine Kerze stand. Die andere, die Kapuze zurückgeschlagen, schön und heiter, mit einer Flut welliger, goldener Haare, großen blauen Augen und einem freundlichen, schalkhaften und seltsamen Ausdruck, erschien ihm als die wunderbarste Schönheit, die er sich vorstellen konnte.

Sie befragten den Mann in einer dem Kind fremden Sprache. Der Bericht des Mannes schien sie zu erheitern. Die beiden Damen tauschten einen Blick und lächelten geheimnisvoll. Er war mehr denn je überzeugt, unter den Guten Leuten zu sein. Da trat die Jüngere vor und sagte:

»Weißt du, wer ich bin, kleiner Mann? Nun, ich bin die Fee Una, und dies ist mein Palast; und die Fee, die du dort siehst, ist meine Schwester, die Lady Gravairs; und diese« - wobei sie auf den alten Mann und die Frau blickte - »sind meine Höflinge. Ich überlege jetzt, was ich mit dir tun soll. Ob ich dich heute Nacht noch auf einem Schilfrohr reitend nach Lough Guir schicken soll, um dem Grafen von Desmond in seinem verwunschenen Schloss meine Grüße zu überbringen, öder gleich in dein Bett, zweitausend Meilen unter der Erde, bei den Zwergen, oder für dreimal dreihundert Jahre und einen Tag ins Gefängnis auf der kleinen Ecke des Mondes, die du durch das Fenster siehst, den Mann im Mond als Wächter. Na, weine doch nicht. Du siehst jetzt, wie gefährlich es ist, meinem Schloss zu nahe zu kommen. Nun, für dieses Mal will ich dich noch gehen lassen. Aber von jetzt an soll jeder Knabe, den ich oder einer meiner Leute im Umkreis von einer halben Meile um mein Schloss finden, mir auf Lebenszeit gehören und sein Heim und seine Leute nie wiedersehen.«

Und sie sang eine kleine Melodie und machte einige zierliche, geheimnisvolle Tanzschritte, ihren Umhang mit ihren hübschen Fingern ausbreitend, und vollführte dann einen tiefen Knicks.

Darauf sagte sie mit einem kleinen Lachen: »Mein kleiner Mann, wir müssen deinen Kopf versorgen.«

Sie wuschen die Schramme, und die Ältere legte ein Pflaster auf. Die mit den großen blauen Augen nahm aus ihrer Tasche eine kleine Dose mit Bonbons, leerte sie in seine Hand und sagte: »Du kannst sie ruhig essen, sie sind sehr gut - und jetzt schicke ich den Zauberer Weiß-Blau, dich freizulassen. Nimm ihn«, sagte sie zu Larry, »ermahne ihn und lass ihn frei.«

Abermals öffnete sich die Eichentür, und Shaeen und sein Führer stiegen die Treppe hinab. In finsterem Schweigen ging er den halben Weg den wilden Abhang nach Murroa zu neben dem verschreckten Knaben her, dann hielt er an und sagte:

»Du hast die Feen nie zuvor gesehen, Bursche, und es geschieht nicht oft, dass die, die uns mit Augen gesehen haben, zurückkehren, um davon zu berichten. Wer jemals näher als bis zu diesem Stein kommt, am Tage und in der Nacht«, und er tippte mit der Spitze seines Stockes darauf, »wird sein Heim nie mehr erblicken, denn wir behalten ihn bis zum Jüngsten Tag; nun fort mit dir!«

 

Die beiden Feen waren Alice und Una gewesen, die auf Anweisung ihres Vaters mit zwei alten Dienstboten ihren Wohnsitz in einem Seitentrakt des alten Schlosses genommen hatten, der über die Schlucht blickte; mit einigen Möbeln und Vorhängen, die sie aus ihrer früheren Residenz geholt hatten, und mit Hilfe von Glas in den Fensterhöhlen, einigen anderen unerlässlichen Ausbesserungen und einer gründlichen Durchlüftung hatten sie die ausgesuchten Räume notdürftig bewohnbar gemacht, eine karge, vorübergehende Unterkunft.

 

 

III.

 

Zuerst hörten und sahen sie nichts von ihrem Vater. Sie wussten aber, dass er plante, Dienst in Frankreich zu nehmen und sie dorthin zu bringen. Ihr gegenwärtiges seltsames Heim war nur vorübergehend, und jeden Tag glaubten sie, Anweisung zu erhalten, die Reise anzutreten.

Der Ruf des Schlosses, verwunschen zu sein - denn in dieser Zeit waren in Sachen des Übernatürlichen die ältesten Leute wie die Kinder -, sicherte ihnen die Abgeschiedenheit, die sie wünschten. Ein- oder manchmal zweimal in der Woche machte der alte Laurence mit seinem struppigen kleinen Pony eine heimliche Reise in die Stadt Limerick, brach vor der Morgendämmerung auf und kehrte im Schutze der Nacht mit seinen Einkäufen zurück. Außerdem gab es gelegentlich bei Mondschein verstohlene Besuche des alten Gemeindepfarrers und eine Mitternachtsmesse für die kleine geächtete Gemeinschaft.

Als die Unruhe und die Untersuchungen gegen ihn nachließen, machte ihnen ihr Vater hin und wieder kurze heimliche Besuche. Zuerst dauerten diese nur eine Nacht, unter großen Vorsichtsmaßnahmen; aber nach und nach dehnten sie sich aus.

So kam es, dass er zuletzt bis zu zwei Monate hintereinander blieb und dann so plötzlich und geheimnisvoll wieder verschwand, wie er gekommen war. Ich vermute, er hatte immer einen vielversprechenden Plan zur Hand und den Kopf voller unerfüllter Hoffnungen.

Die Unterbrechung der geheimen Besuche des alten Priesters war die erste Folge der mysteriösen Erscheinungen, die sich plötzlich zu zeigen begannen. Eines Nachts, nachdem er sein Reittier in der Obhut seines alten Sakristan gelassen hatte, wanderte er mühselig den sich windenden Pfad zwischen den grauen Felsen entlang, in der Absicht, den Einsiedlerinnen im Schloss einen heimlichen Besuch zu machen, da kam er auf merkwürdige Weise von seinem Weg ab.

Zwar schien der Mond, aber ein langer Zug düsterer Wolken segelte langsam über den Himmel, so dass, schwach und- bleich wie es war, das Licht selten voll leuchtete und oft für eine oder zwei Minuten ganz verschwand. Als der Priester den Punkt in der Schlucht erreicht hatte, wo die Treppe zum Schloss sich befinden musste, konnte er sie nicht entdecken und auch keine Spur von den Türmen des Schlosses oben. So setzte er leicht verwundert seinen Weg fort, erstaunt, wie ungewöhnlich beschwerlich und ermüdend dieser war.

Endlich sah er das Schloss so klar wie nur möglich vor sich; eine einzelne Kerze leuchtete, wie immer, wenn er erwartet wurde, aus einem Turmfenster. Aber die Treppe war nicht zu finden, und so musste er so gut es ging über Felsen und durch Unterholz klettern.

Als er endlich oben anlangte, war da nichts als die nackte Heide. Dann stahlen sich wieder Wolken über den Mond; zögernd und beschwerlich bewegte er sich weiter, und wieder sah er die Umrisse des Schlosses scharf und klar gegen den Himmel abgehoben, da schob sich eine ganze Wolkenbank am Horizont heran. Plötzlich war er ganz nahe vor der grauen Fassade, die sich drohend in dem schwachen Licht auftürmte, doch bevor er sie mit seinem eichenen Knüppel hätte berühren können, entdeckte er, dass es nur einer der wilden grauen Felsen war, die hier und da malerisch an den Abhängen der einsamen Hügel liegen. Und so jagte er bis zum Morgengrauen durch Wasser und über Steine dem Trugbild des Schlosses nach und verbrachte eine Nacht voll jämmerlichen Missgeschicks und großer Anstrengungen.

In einer anderen Nacht ritt er die Schlucht hinauf, soweit der Weg es gestattete, mit der Absicht, sein Reittier am gewohnten Baum festzumachen, da hörte er plötzlich einen schrecklichen Schrei von der Höhe der steilen Felsen über seinem Kopf, und etwas - es schien eine riesenhafte menschliche Gestalt zu sein - fiel kopfüber durch die Felsen und prallte mit fürchterlicher Wucht direkt vor die Hufe seines Pferdes, wo es liegen blieb. Das Pferd erschrak und ebenso sein Reiter, erst recht, als dieses augenscheinlich leblose Ding plötzlich aufsprang, die Arme ausbreitend ihren weiteren Weg versperrte und ihnen sein riesengroßes weißes Gesicht näherte. Das Pferd bäumte sich auf, warf dabei beinahe den Priester ab und verfiel in einen wilden ungezügelten Galopp.

Ich brauche nicht all die merkwürdigen und mannigfachen Missgeschicke, die der Priester in seinem Bemühen, das Schloss und seine abgeschiedenen Bewohner zu besuchen, erlitt, aufzuzählen. Sie reichten aus, die Besuche - oder auch nur den Versuch dazu - einzustellen.

Nun waren die jungen Damen im Schloss mehr denn je allein. Ihr Vater, dessen Anwesenheit häufig von langer Dauer war, hatte in letzter Zeit völlig aufgehört, von der erwogenen Reise nach Frankreich zu sprechen, wurde bei jeder Erwähnung davon ärgerlich und hatte, wie sie befürchteten, den Plan ganz aufgegeben.

 

 

IV.

 

Kurz nachdem die Besuche des Priesters aufgehört hatten, sah der alte Laurence eines Nachts zu seinem Erstaunen Licht aus einem Fenster im Glockenturm fallen, ein zitternder, rötlicher Schein, nur für Minuten sichtbar.

Alle waren über das Erscheinen des Lichtschimmers besorgt. Niemand wusste ihn sich zu erklären. Aber Laurence, der mit seinem alten Herrn, dem Großvater der jungen Damen, in Italien gekämpft hatte, war entschlossen, es herauszufinden, nahm seine großen Reiterpistolen und stieg zu dem Korridor hinauf, der zum Turm führte, aber seine Suche war vergebens.

Das Licht rief ein Gefühl großer Unruhe unter den Bewohnern hervor, denn es war nicht angenehm, die Anwesenheit eines anderen oder womöglich gefährlichen Mieters oder sogar mehrerer in den Mauern des alten Gebäudes vermuten zu müssen.

Das Licht erschien bald wieder, diesmal stetiger und heller. Wieder legte der alte Laurence seine Waffen an, im Stillen einen unheilvollen Schwur ablegend und ernsthaft zum Kampf entschlossen. Die jungen Damen sahen in erregter Erwartung von ihrem Fenster aus zu. Aber als man annehmen konnte, dass Laurence sich der Kammer näherte, von der dieses geheimnisvolle Leuchten ausging, wurde es schwächer und verschwand schließlich ganz, einige Sekunden ehe Laurence aus dem gewölbten Fenster fragte, wohin das Licht denn verschwunden sei.

Dieses Leuchten in der großen Kammer im Glockenturm wurde am Ende eine häufige, fast ständige Erscheinung. Es kam von dort, wo früher in Zeiten der Not und Gefahr die de Lacy jener Tage über gefangene Gegner zu Gericht zu sitzen pflegten und, wie die Überlieferung berichtet, ihnen oft nicht mehr Zeit für Beichte und Gebet ließen als nötig war, die Brustwehr des Turmes zu ersteigen, wo sie am Halse aufgehängt wurden als Warnung und Abschreckung für alle, die von unten zusahen.

Der alte Laurence beobachtete dieses geheimnisvolle Licht halb ärgerlich, halb besorgt, und mannigfaltig waren die Listen, die er vergeblich anwandte, um die verwegenen Eindringlinge zu vertreiben.

Schließlich kam die Familie dazu, das geheimnisvolle Licht ruhig hinzunehmen. Der alte Laurence, wenn er in dem grasbewachsenen Hof seine Pfeife rauchte, warf einen ärgerlichen Blick hinüber, wenn es sanft durch die dunkle Öffnung leuchtete, und murmelte einen Fluch oder ein Gebet. Und die alte Peggy Sullivan, das Mädchen für alles, bekreuzigte sich oder drehte ihren Rosenkranz, wenn sie zufällig einen Schimmer davon im Augenwinkel einfing (absichtlich sah sie niemals auf den verwunschenen Trakt). Die Leichtfertigkeit, mit der die jungen Damen, über die das Licht seine Macht verloren hatte, sich angewöhnt hatten, darüber zu sprechen, zeigte nur, dass Gewöhnung mit Missachtung verbunden ist.

 

 

V.

 

Als diese Aufregung abgeklungen war, verursachte die alte Peggy Sullivan eine neue, indem sie feierlich schwor, einen schmalgesichtigen Mann mit einem hässlichen roten Mal auf einer Wange gesehen zu haben, der aus dem bewussten Fenster blickte, just bei Sonnenuntergang, bevor die jungen Damen von ihrem Abendspaziergang zurückkehrten.

In deren Ohren klang das wie ein Hirngespinst einer alten Frau, trotzdem war es aufregend; lustig am Morgen, gruselig, wenn die Nacht das riesige verlassene Gebäude einhüllte, im Ganzen aber nicht unangenehm.

Der alte Laurence jedoch, der nicht zu Träumereien neigte und einen kühlen, klaren Kopf hatte und Augen wie ein Falke, sah die gleiche Gestalt zur gleichen Stunde, als der letzte schräge Strahl der Sonne die Spitzen der Türme und der großen Bäume färbte.

Er hatte den Schlosshof gerade durch das große Tor betreten, als er plötzlich das laute eigenartige Zwitschern vernahm, welches Spatzen von sich geben, wenn eine Katze oder ein Habicht sie bedroht. Es kam aus dem dichten Efeu, das die Mauer zu seiner Linken überwucherte. Gleichgültig hob er die Augen und sah einen dünnen, unscheinbaren Mann in der Fensternische lehnen, aus der sonst das Licht leuchtete, die Ellbogen auf die steinerne Brüstung gestützt, mit einem schwachen, höhnischen Lächeln heruntersehend, seine eingesunkenen gelben Wangen auf einer Seite tief verfärbt durch das, was man ein Blutmal nennt.

»Hab' ich dich endlich, du Schurke«, schrie Larry. »Komm herunter und ergib dich, oder ich schieße.«

Die Drohung wurde durch einen Fluch unterstrichen, und er zog die große Pistole aus seiner Rocktasche und nahm seinen Mann aufs Korn.

»Ich gebe dir Zeit, bis ich bis zehn gezählt habe: eins - zwei - drei - vier. Wenn du dich nicht verdrückst, schieße ich; fünf - sechs - beeil dich lieber - sieben - acht - neun - noch ist Zeit; willst du herunterkommen? Da hast du es also - zehn!«

Bäng! machte seine Pistole. Der unheimliche Fremde war kaum fünfzehn Fuß von ihm entfernt, und Larry war ein sicherer Schütze. Aber diesmal schoss er schmählich vorbei. Der Schuss löste nur ein wenig weißen Staub aus der Steinwand einen guten Meter daneben; der Kerl änderte währenddessen nicht einmal seine nachlässige Haltung oder sein höhnisches Lächeln.

Larry war tief gedemütigt und wütend.

»Diesmal kommst du nicht davon, Freundchen«, schrie er und tauschte die rauchende Waffe gegen die geladene Reservepistole aus.

»Was schießt du da, Larry?«, fragte eine bekannte Stimme dicht neben ihm, und er sah seinen Herrn in Begleitung eines gutaussehenden jungen Mannes.

»Den Schurken dort am Fenster, Euer Gnaden, da!«

»Aber da ist niemand, Larry«, sagte de Lacy lachend, obwohl das sonst nicht zu seinen Gewohnheiten zählte.

Als Larry hinsah, zerfloss die Gestalt und löste sich gleichsam auf. Ein hängendes Büschel gelben und roten Efeus nickte wunderlich an Stelle des Gesichts, zerbrochenes, verfärbtes Mauerwerk nahm in der Perspektive die Umrisse und die Farbe von Armen und Gestalt an, und zwei schadhafte rote und gelbe Flechtenstreifen an der Wand zeichneten die spindeldürren Beine nach. Larry bekreuzigte sich, fuhr mit der Hand über die Augen und konnte eine Minute lang nicht sprechen. Das alles war ein teuflischer Trick.

Der junge Herr, der mit de Lacy gekommen war, blieb über Nacht und teilte mit offensichtlichem Vergnügen das einfache Mahl der Familie. Er war ein fröhlicher ritterlicher Franzose, und die Schönheit der jüngeren Dame, ihre Artigkeit und ihr Geist ließen ihm die Stunden scheinbar allzu schnell vergehen und erschwerten den Augenblick der Trennung.

Nachdem er am Morgen auf gebrochen war, hatte Ultor de Lacy ein langes Gespräch mit seiner älteren Tochter.

Er erzählte, dass er Frankreich besucht habe, seit er zuletzt in Capercullen gewesen war, und dass er eine vornehme Heirat für ihre Schwester Una arrangiert hätte. Der junge Mann sei von hoher Geburt und obwohl nicht reich, hätte er doch sein Land und seinen Nom de Terre neben seinem Rang als Hauptmann in der Armee. Es war, kurz gesagt, der gleiche Herr, von dem sie sich an diesem Morgen verabschiedet hatten. Er hatte ihn hergebracht, um ihn seiner Tochter vorzustellen, und hatte gefunden, dass der Eindruck, den sie machte, ganz der erwünschte war.

«Du, du weißt es, liebe Alice, bist dem Kloster versprochen. Wäre es anders...«

Er zögerte einen Augenblick.

»Ihr habt Recht, lieber Vater«, sagte sie und küsste seine Hand. »Ich bin versprochen, und keine irdische Bindung oder Lockung hat die Kraft, mich dieser heiligen Verpflichtung zu entziehen.«

»Ich habe nicht die Absicht, dich in diesem Punkt zu drängen«, bemerkte er. »Nur kann es auf keinen Fall sein, bevor Linas Heirat stattgefunden hat. Aus vielen guten Gründen geht das nicht früher als in einem Jahr; dann werden wir diesen schrecklichen, barbarischen Ort mit Paris vertauschen, wo es viele passende Klöster gibt, in die einige der vornehmsten Damen Frankreichs als Nonnen eingetreten sind; und dort wird durch Unas Heirat wenn auch nicht im Namen, so doch jedenfalls im Blut unser Geschlecht und unser Titel fortgeführt und, so wahr Gerechtigkeit am Ende siegt, wird er in diesem Lande wieder machtvoll und geehrt eingesetzt werden. In der Zwischenzeit dürfen wir die Verlobung Una gegenüber nicht erwähnen. Hier läuft sie nicht Gefahr, umworben und gewonnen zu werden; aber das bloße Wissen, dass ihre Hand vergeben ist, könnte Widerstand und Murren hervorrufen, wie weder du noch ich es wünschen. Darum sei verschwiegen.«

Am selben Abend nahm er Alice mit sich auf einen Streifzug um die Schlosswälle. Sie schritten über Rasen von tiefstem Grün, der auf der einen Seite von den Schlossmauern überschattet wurde und auf der anderen von den Bäumen des Waldes, da begegneten sie, gerade als sie um die Ecke des Glockenturmes biegen wollten, einer Person, die direkt auf sie zukam. Der Anblick eines Fremden war an diesem Ort so völlig unwahrscheinlich, dass Alice erstaunte und erschrak und einen Moment stockstill stehenblieb.

Die Gestalt war sehr fremdartig: ein großer, magerer, linkischer Mann, nach spanischer Art in einen schmutzig-braunen Anzug, einen braunen, spitzenbesetzten Mantel und rote Strümpfe gekleidet. Er hatte lange, dünne Beine, lange Arme, Hände und Finger und ein schmales, kränkliches Gesicht mit einer langen, hängenden Nase, einem verschlagenen, höhnischen Grinsen und einem großen, purpurnen Fleck, der mehr als die Hälfte einer Wange überzog.

Als er vorbeiging, berührte er mit dünnen, verfärbten Fingern seine Mütze, warf einen gemeinen Seitenblick auf sie und verschwand um eine Ecke. Die Augen von Vater und Tochter folgten ihm stumm.

Ultor de Lacy schien anfangs völlig entgeistert und dann von unbändiger Wut erfüllt zu sein. Er zog seinen Degen und setzte, ohne einen Gedanken an seine Tochter zu verschwenden, hinterher und erhaschte noch einen Schimmer der sich entfernenden Gestalt. Die Feder, das spärliche Haar, die Spitze des Rapiers, der flatternde Mantelsaum, ein roter Strumpf und die Ferse; das war alles, was er von ihm sah.

Als Alice ihn erreichte, hielt er den Degen noch in der Hand und befand sich in einem Zustand heftigster Erregung.

»Dem Himmel sei Dank, er ist fort!«, rief sie aus.

»Er ist fort«, echote Ultor mit seltsam starrem Blick.

»Und du glaubst nicht, dass er zurückkommt?«

»Er! Wer?«

»Der Fremde, der uns gerade begegnet ist. Kennst du ihn, Vater?«

»Ja - und nein, Kind. Ich kenne ihn nicht - und doch kenne ich ihn nur zu gut. Wollte der Himmel, wir könnten diesen verfluchten Ort noch heute verlassen. Der Elende ist von weither gekommen, um mit sicherem Instinkt meine letzte Hoffnung zu zerstören - uns in unserer letzten Zuflucht aufzustöbern - und in seinem Triumph noch den Schutt und die Ruinen unseres Hauses zu vernichten. Was fällt dem blöden Priester ein, seine Besuche einzustellen? Sollen meine Kinder ohne Messe und Beichte bleiben? Ohne die Sakramente, die sowohl schützen als auch retten - nur weil er einmal im Nebel seinen Weg verfehlt hat oder Schaum im Burggraben für das Antlitz eines Toten hielt? Verflucht soll er sein!