Beschrieben werden die Erlebnisse und Träume aus meiner Kindheit und Jugendzeit sowie die Lehren und Erfahrungen, die ich während meiner fast drei Jahrzehnte andauernden Tätigkeit in den Leuna-Werken und in den 9 Jahren als Direktor des Instituts für Technologie der Polymere (ITP) der Akademie der Wissenschaft (AdW) gemacht habe.

Von

Manfred Rätzsch

Manfred Rätzsch

Lebensbrüche und andere Überraschungen

Teil 1

Die DDR war meine Heimat

(Lebenserinnerungen 1936 - 1990)

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Prolog

Kapitel 1: Meine Kindheit (1936 -1945)

Kapitel 2: Meine Jugendzeit (1946 - 1955)

Kapitel 3: Die Lehrjahre (Erster Teil der „Leuna - Trilogie“ 1954 - 1963)

Kapitel 4: Die Zeit der Ernte (Zweiter Teil der „Leuna - Trilogie“ 1963 - 1972)

Kapitel 5: Die Geburt von Polymir-50 und mein Abschied aus Leuna (Dritter Teil der „Leuna-Trilogie“ 1972 - 1981)

Kapitel 6: Als Direktor des ITP der AdW (1981 - 1990)

Inhaltsverzeichnis

Teil 2 (Vorschau)

Kapitel 7: Als Forschungsleiter der PCD (1991 - 2000)

Kapitel 8: Als Berater bei der AMG/AMI (2001 - 2010)

Kapitel 9: Gedanken über Gegenwart und Vergangenheit mit Anhang

Prolog

Nein, einen Lebensverlauf wollte ich anfangs nicht schreiben. Wozu auch und worüber eigentlich?

Mir war weder von meinen Eltern noch von den bösen Russen nach dem Krieg oder gar von der STASI, unter der ich als DDR-Bürger gelebt habe, Gewalt angetan worden. So kann ich bei dem deutschen Spießbürger auch kein gruseliges Gefühl des Mitleids hervorrufen und aufzeigen, wie ich dann mit meinen psychischen Schäden fertiggeworden bin. Die sind heute offensichtlich für einen literarischen Bestseller unentbehrlich. Die erschöpften und verzweifelten Vertriebenen aus dem heutigen Tschechien, deren erschreckter Zeuge ich nach Kriegsende werden musste, eignen sich auch nicht für einen Opferroman aus großdeutscher Vergangenheit. Meine Erfahrungen zu den diversen menschlichen „Sümpfen und Feuchtgebieten“ sowie die eigenen sexuellen Erlebnisse und Praktiken waren auch nicht geeignet, die einschlägig unbefriedigten möglichen Leser und Leserinnen aufzugeilen, einem literarisch immer wieder erfolgreichem Sujet der letzten Jahre.

Also keine Chance.

Meine Erlebnisse basieren im Wesentlichen auf den Forschungsarbeiten zur Entwicklung eines Verfahrens zur Herstellung von Polyäthylen, vom Labormaßstab bis zu einer Mammutanlage von 50-, 60-, ja 100-tausend Tonnen pro Jahr in den Leuna-Werken. Wir hatten erkannt, dass die Kenntnis über die Nebenreaktionen der Polymerisationsreaktion die Voraussetzung für die Beherrschung des Verfahrens in der Praxis war. Auch die Erlebnisse nach meinem Ausscheiden aus den Leuna-Werken, als Direktor des ITP in Dresden und als Forschungsleiter der PCD in Österreich, gehören zu den fachlichen Highlights meiner Erlebnisse. Bestand meine Aufgabe doch stets darin, den dort tätigen Wissenschaftlern zu helfen, den an uns und damit auch an sie gestellten Anforderungen gerecht werden zu können. Aber nicht nur die zahlreichen Entdeckungen, die ich erleben und mitbestimmen durfte, schienen mir es Wert zu sein, aufgeschrieben zu werden. Ein weiterer Antriebsfaktor war ein Rückblick zur Erinnerung an und der Würdigung von großartigen Menschen und hochtalentierten Wissenschaftlern in den damaligen Leuna-Werken, sowie den meisten Mitarbeitern im ITP, Dresden und den Managern und Kollegen der PCD, Linz, ohne die diese Entwicklungen nicht möglich gewesen wären. Die Frage, wie das alles möglich war und was uns zu diesen Leistungen befähigt hat, wollte ich auch für mich selbst beantwortet wissen.

Begonnen hat alles in der Ostzone und danach in der DDR, wo ein Regime herrschte, das zwar letztendlich an den damaligen wirtschaftlichen Umständen und seiner eigenen Unfähigkeit zugrunde gegangen ist. Heute wird die DDR nur noch als diktatorisch und menschenverachtend beschrieben, was nicht der Realität entspricht. Wenn das zutreffend wäre, müssten mir inzwischen selbst Zweifel an meiner Vergangenheit gekommen sein. Wie konnten in diesem wirtschaftlich angeblich so schwachen Teil Deutschlands und unter den Bedingungen der „engstirnigen Planwirtschaft“, wissenschaftlich-technische Höchstleistungen gedeihen? Die waren doch nur, folgt man den Behauptungen der Besserwisser, die uns nun, nach dem Untergang der DDR, regieren, in der lichten Atmosphäre einer freiheitlichen Demokratie, unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen, möglich sein sollten.

Deshalb verbinde ich auch mit der Veröffentlichung meiner Geschichte die Hoffnung, dass meine Beschreibungen der Wirklichkeit ein wenig mit dazu beitragen können, dass für viele Menschen die DDR, neben dem heute immer wieder beschriebenen dunklen, einem Gefängnis gleichenden Staat, auch ein Stück lebenswerte Vergangenheit gewesen ist.

Die meisten Auslassungen über das Leben in der DDR stammen bisher von den Opfern, die es ohne Zweifel gegeben hat. Es ist auch erst einmal völlig verständlich, dass sich diese Menschen ihre Erlebnisse von der Seele schreiben mussten. Dass es in ihren Augen nicht auch positive Seiten gegeben haben kann, ist menschlich noch nachvollziehbar. Einige ehemalige DDR-Bürger haben sich aufgrund ihrer lautstarken Verurteilungen des DDR-Regimes nach der Wiedervereinigung, im geeinten Deutschland, eine neue lukrative Existenz schaffen können. Interessant dabei ist, dass es diejenigen waren, die sich in dem „Unrechtsstaat“, wie von denen die DDR im Nachhinein bezeichnet worden ist, entweder gut eingerichtet hatten oder am wenigsten haben leiden müssen. Die Gauck´ler und Biermänner lassen grüßen!

Nachdem sich dann aber auch immer mehr Besserwisser zu Wort gemeldet haben, die die Verhältnisse in der DDR, ohne eigenes Erleben, zu zerschreiben versucht haben, fühlte ich mich herausgefordert. Ich stimme da schon eher der Meinung des Schauspielers, Jan Josef Liefers, an, der in einem Interview mit dem Spiegel gesagt hat, dass es aus dem Blickwinkel der Ostdeutschen 17 Millionen DDRs gegeben hat.

In der Realität war die Entwicklung der DDR ein „Staat der vier Jahreszeiten“. Begonnen hatte alles mit dem Frühling des Wiederaufbaus nach dem verheerenden Krieg, unter den Demokraten Wilhelm Pieck und seinem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Anfangs hat der Nachfolger von Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, dessen Politik noch fortgesetzt, bis er, wie wir es noch heute bei vielen Langzeitpräsidenten erleben, die demokratischen Spielregeln verlassen hat, um unter dem Mantel eine „Diktatur der Arbeiterklasse“ erschaffen zu wollen, sich danach mit Hilfe seiner Unterstützer und dem Beifall aus Moskau, selbst an deren Spitze zu stellen. Unter seiner Führung haben die DDR-Bürger anfangs noch einen Sommer des Aufschwungs und des steigenden Wohlstandes erlebt. Der Herbst der DDR war, in den 70iger Jahren, trotz einer Reihe nicht zu übersehender wirtschaftlicher Erfolge auch sein Niedergang eigeleitet. Die wesentlichen Ursachen waren die Wirtschaftsblockaden der Westmächte, die mangelhafte Kooperation im RGW, die hohen Kosten im Verteidigungshaushalt. Die Erfahrungen aus den vergangenen 30 Jahren bundeseinheitlicher Wirtschaft hat mich nicht davon überzeugt, dass die Verstaatlichung der Banken, der Energiekonzerne, der großen Industriekonzerne, die Erhaltung der gesamten Verkehrswege und Eisenbahnen, der Wohnraumgesellschaften und von Grund und Boden so verurteilungswürdig sind, wie es die Verteidiger der gegenwärtigen nur auf Profit orientierten Wirtschaftsführung heute behaupten. Die Enteignungen der mitteständigen Industrie war demgegenüber ein großer Fehler. Nicht zu übersehen waren auch die Schäden die durch die steigende Westflucht von gut ausgebildeten DDR-Bürgern auf Grund des höheren Lebensstandards in der BRD zur Schwächung der Volkswirtschaft der DDR beigetragen haben. Ich zögere ein wenig, die heute so in Verruf stehende Planwirtschaft mit in die Reihe der Ursachen für den Niedergang der DDR aufzuzählen. Die Kritiker einer vom Staat geplanten Wirtschaft, machen sich gar nicht erst die Mühe darüber nachzudenken, welches andere Wirtschaftsmodell für die auf ihre eigenen Ressourcen angewiesene DDR zur Sicherung der Versorgung der Menschen mit Grundnahrungsmitteln und den Gütern des täglichen Bedarfs besser geeignet gewesen wäre. Ich bin überdies davon überzeugt, dass eine Zeit anbrechen wird, in der eine zentrale Planung der Bedürfnisse der Bürger, auf hohem Niveau notwendig wird. Notwendig, weil sich die zukünftigen Generationen nicht mehr die gegenwärtigen Methoden der unwirtschaftlichen Überproduktionen und das gegenwärtig verbreitete Wegwerfen der Überschüsse werden leisten können. Vielleicht ist nicht eine zentrale Planung der Bedürfnisse die vorteilhafteste, sondern eine von den Konzernen ausgehende.

Mit dem Nachfolger von Ulbricht, dem typischen Parteikarrieristen Erich Honecker, der den Kurs seines Vorgängers anfangs noch verstärkt hat, war die Winterzeit der DDR angebrochen, an dessen Ende der Untergang besiegelt wurde. Der Wandel von Honecker in einen den Frieden beschwörenden Politiker hat nicht geholfen, seinen eigenen Untergang aufzuhalten. Die DDR war auch eines der Opfer, das Russland, beim Zerfall der UdSSR, den Westmächten zu Füßen gelegt hat. Jeder DDR-Bürger hatte sein eigenes Erleben und er hat das (und hier ergänze ich: wie die meisten Menschen auch!) in unterschiedlicher Weise, ohne Angst, verbringen können.

Um es gleich vorwegzunehmen, ich war und bin gegen jede Form von Repressalien und Unterdrückung. Ich finde zudem, dass jeder Mensch, der einen anderen zu Tode bringt, hart bestraft werden muss, und dass keine Regierung, die sich ihrem Volke verpflichtet fühlt, die Todesstrafe legitimieren darf. Das betrifft, nach meinem Verständnis, aber auch und besonders die Hinrichtungen in den USA, die stets den Anspruch erheben, Vorbild zu sein für eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft.

Ich hatte nie eine Nahbeziehung zu den Partei- und Regierungsoberen der DDR. Anfangs haben mich ihre proklamierten hehren politischen und wirtschaftlichen Ziele mehr überzeugt als das revanchistische Verhalten der westdeutschen Politiker. Immer dann aber, wenn ich doch einmal ungewollt in die Nähe der „führenden Genossen“ geraten bin, war ich enttäuscht über deren Arroganz und geistige Bescheidenheit.

Mitten in meinen Bemühungen, neben den damaligen Arbeitsbedingungen, die Abhängigkeiten unserer Forschungsarbeiten von den Mitarbeitern allgemein verständlich darzustellen, hat mich meine Tochter Katrin gebeten, doch auch die ihr von meinen Erzählungen her bekannten Erlebnisse aus meiner Kindheit und Jugendzeit mit aufzuschreiben. Die habe ich dann, der Einfachheit halber, dem bisherigen Text unter dem Titel: „Leuna-Trilogie“ vorangestellt. Die so entstandenen Buchteile haben mich dann wiederum dazu angeregt, den dann noch fehlenden Zeitraum Stück für Stück dazu zu erzählen.

Das Ergebnis hat mich selbst überrascht. Plötzlich haben sich mir erstaunliche und nicht vorhersehbare Zufälle offenbart, die mir vorher nicht bewusst geworden waren. Ich meine damit nicht die Erfindungen und Entdeckungen, die uns so manches Mal in Erstaunen und Euphorie versetzt haben. Wie wir dazu gekommen sind und so den internationalen Stand der Entwicklung auf unserem Fachgebiet einige Zeit mitbestimmen konnten, war auch, was ich aufschreiben wollte. Ich habe dabei versucht, das unglaubliche Gespür und die innere Sicherheit nach dem nächsten Entwicklungsschritt sichtbar zu machen, das mich damals beseelt hat. Besonders in den stürmischen Sechzigerjahren hatte ich manchmal das Gefühl, dass da jemand war, der es gut mit mir gemeint hat.

Ich denke, dass das nur der schon des Öfteren beschriebene Effekt war, zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle gewesen zu sein, verbunden mit Selbstvertrauen, ein wenig Glück und etwas Können und Talent. Das ist auch von anderen Forschern schon vor mir beschrieben worden und damit kein Grund für mystische Überlegungen. Die Erfindungen waren auch keine unvorhersehbaren Zufälle, das waren gesuchte oder geplante Resultate. Und es gab ja auch genügend Versuche, die nicht erfolgreich waren. Aber gerade die dabei gemachten Erfahrungen haben uns dann immer wieder auf den rechten Weg zurückgeführt. Dagegen sind einige Etappen meiner Entwicklungen im Nachhinein schon erstaunlich:

Das waren zum einen die wundersamen „Eingriffe“ von außen in den Verlauf unserer Forschungsprojekte bei der Entwicklung des Hochdruckpolyäthylen (HPPE)-Verfahrens in den Leuna-Werken in den Sechzigerjahren. Zum anderen habe ich auch heute noch Probleme, die nicht erwarteten, geschweige denn vorhersagbaren Veränderungen in meiner Entwicklung zu erklären. Das waren nicht die ständigen kleinen Überraschungen, die das Leben für jeden von uns bereithält. Nein, es waren grobe Brüche, die meinen jeweiligen Lebensablauf entscheidend verändert und in eine vorher nicht erwartete Richtung gelenkt haben.

Diese recht bedeutsamen „Einflussnahmen“ habe ich „Lebensbrüche“ getauft. Nach Fertigstellung meines ersten Textentwurfs schienen mir dann die „Lebensbrüche“ so bedeutsam, dass ich sie zum Titel meiner „Lebenserinnerungen“ gemacht habe. Weiterhin haben mich die 9-Jahreszyklen, in die ich heute meinen Lebensverlauf einteilen kann, zum Grübeln gebracht. Aufgefallen sind mir die wundersamen Etappen bei Überlegungen, wie lange ich wo tätig gewesen bin. Das waren exakt neun Jahre als Direktor des ITP in Dresden. Danach neun Jahre Forschungsleiter der PCD in Linz und zuletzt wieder neun Jahre als Konsulent der AMI und der BOREALIS.

Das hat mich angeregt zurückzurechnen, wobei ich erstaunt festgestellt habe, dass ich ab meinem 3./4. Lebensjahr mit meinen Eltern neun Jahre in Jöhstadt im Erzgebirge meine Kindheit verbracht und danach neun Jahre in Leipzig die Oberschule besucht und mein Chemiestudium in Greifswald und Leipzig abgeschlossen habe. Die 27 (3 mal 9!) Jahre, die ich in den Leuna-Werken tätig war, kann ich heute, im Nachhinein, leicht in drei Perioden einteilen:

Das waren die 9 Lehrjahre, in denen ich mit meiner Dissertation in die ersten Anwendungen der physikalischen Chemie eingetaucht bin. Die Fortsetzung der Lehren aus den Anwendungen des von mir erwählten Wissenschaftsgebietes, war meine erste Verfahrensentwicklung zum Projekt „Die thermische Chlorierung von Methan“. Das Studium der Grundlagen der Äthylenpolymerisation unter hohem Druck kann als Abschluss dieser ersten Periode betrachtet werden.

Die zweite Periode beschreiben neun Jahre „innovativer Hochleistungen“.

Und die dritte Periode waren schließlich, bis zu meinem Ausscheiden aus den Leuna-Werken, wiederum neun „Jahre der Konsolidierung“ bis zu dem von mir gewollten Ausscheiden.

Alles nur Zufall!? Ja sicher, andere Erklärungen gibt es nicht!

Obwohl doch jeder von uns einen „überirdischen Helfer“ hätte, der sich um die kleinen und größeren Wehwehchen und Probleme des Lebens kümmert und alles zur Zufriedenheit richtet. Weil das den aber nicht gibt habe ich mich dann doch lieber auf die Suche nach verständlicheren Erklärungen gemacht. Die wundersamen „Eingriffe“ von außen konnten auch mit einer besonderen Geschäftstüchtigkeit freier Marktwirtschaftler erklärt werden.

Wenn die Experten der westdeutschen IMHICO über unsere damalig aktuellen Forschungsvorhaben informiert waren, hatten sie die Möglichkeit, genau zum Zeitpunkt unserer Planungen für den Aufbau einer neuen Pilotanlage für Hochdruckpolyäthylen (HPPE), mit ihrem Angebot für eine erste kleine Produktionsanlage an das Management der Leuna-Werke herantreten. Bei diesem präzisen Timing kann man leicht auf unsaubere Gedanken kommen. Aber vielleicht waren es unsere ersten Patentanmeldungen, die sie auf unsere Spur gebracht haben.

Auch das Angebot des angelsächsischen Konzerns ICI kann mit der Überlegung erklärt werden, lieber noch ein Geschäft mit den sog. Ostblockländern zu machen, bevor sich die sozialistischen Länder mit einer eigenen Technologie selbst versorgen. Die konnten sich sicherlich die Zerrissenheit des RGW nicht vorstellen, mussten aber damals mit ihrem Angebot warten, bis das HPPE von der Embargoliste gestrichen war.

Unsere späteren russischen Partner, die Dritten aus der Reihe der „wundersamen Erscheinungen“ zum richtigen Zeitpunkt, waren sicher über unsere Arbeiten gut informiert. Das auf ihren Besuch folgende Regierungsabkommen war auch nur deshalb ein Erfolg, weil der Beschluss dazu genau zu dem Zeitpunkt erfolgt ist, an dem wir gewusst haben, was für ein modernes HPPE-Verfahren erforderlich ist.

Die anderen Regierungsabkommen hatten diesen Vorteil nicht und sind deshalb auch gescheitert. Also keine Wunder und aus heutiger Sicht eher zufällige Zusammentreffen.

Ich will und kann an dieser Stelle nicht alle die unvorhersehbaren Eingriffe in meinem Lebensablauf, die ich unter dem Begriff „Lebensbrüche“ beschreiben werde, diskutieren. Wer aber hat gerade den Leipziger Abiturienten Manfred Rätzsch an die Ernst-Moritz-Arndt-Universität nach Greifswald geschickt, obwohl der doch ein sehr gutes Abitur vorzuweisen hatte und fast einhundert Neuimmatrikulationen für das Fach Chemie an der Karl -Marx - Universität (KMU) in Leipzig erfolgt waren? Warum hat die Technische Hochschule Leuna-Merseburg (THLM) mich nicht als Student haben wollen, dann aber neben der KMU Leipzig mich als Hochschullehrer haben wollen? Warum bin gerade ich zum Diplom an der KMU ausgerechnet dem Dozenten Dr. Gerhard Geiseler in die Hände geraten, der seinen Arbeitsort in den Leuna-Werken hatte? Warum ich meine Karriere in der DDR lieber in der Akademie der Wissenschaften (AdW) fortsetzen wollte, werde ich noch begründen. Als diese Entwicklungsstufe wieder nach neun Jahren beendet war, habe ich dies als einen „Lebensbruch“ der besonderen Art empfunden. Ich will hier die Aufzählung meiner Fragezeichen zu den „Lebensbrüchen“ nicht fortsetzen und schon gar nicht für jeden eine Erklärung suchen. Vielleicht gab es da neben mir, wie ich einmal gelesen habe, ein „zweites Ich“, was mich, das Original, gesteuert hat. Ein „zweites Ich“ kommt mir auch insoweit entgegen, dass ich, das Original, es dann auch für meine gegenwärtigen körperlichen Gebrechen verantwortlich machen könnte, ohne die ich sicher nicht die Zeit des Schreibens gefunden hätte.

Und damit kann ich nicht jemand anderen die Schuld an meinem gegenwärtigen Zustand in die Schuhe schieben.

Denn das „zweite Ich“ bin ja auch nur wieder ich! Aber damit bin ich im Bereich der Esoterik angekommen, die so gar nicht in meine sonstige Denkweise passt. Besser gefällt mir die Erklärung, dass ich unbewusst, durch mein Verhalten oder meine mir heute nicht mehr geläufigen Äußerungen, manche der Veränderungen selbst mitverschuldet habe.

Rückblickend waren die meisten „Lebensbrüche“ für meine Persönlichkeitsentwicklung mehr förderlich, als dass sie ihr geschadet haben, weshalb ich auch nicht mit ihnen hadern muss.

Aber da ich schon immer auf der Suche nach den Ursachen von Erscheinungen war, muss ich nun auch dabei bleiben, dass der Zufallsgenerator mit am Werke gewesen ist.

Es gibt aber, neben dem Chemiker, auch noch den Menschen Manfred, mit seinen Gefühlen und Verletzlichkeiten. Dass dabei besonders meine zweite Ehefrau und alle meine drei Kinder eine dominante Rolle gespielt haben, werde ich darzustellen versuchen. Christianas offene Natürlichkeit und stete Hilfsbereitschaft haben mir geholfen, mir auch ein privates Leben aufbauen und erhalten zu können. Meinen Eltern, die mich zu einem freien Geist mit Pflichtbewusstsein und Liebe erzogen haben, fühle ich mich, so lange ich lebe, verbunden. Den Schwiegereltern, die ich ob ihrer Lebenseinstellung und ihres Fleißes bewundert habe, bin ich dankbar für ihre offenherzige Zuneigung und dafür, dass sie mich so akzeptiert haben, wie ich auch versucht habe, mich ihnen gegenüber zu verhalten. Besonders dankbar war ich ihnen dafür, dass sie meine Liebe zu ihrer Tochter akzeptiert haben.

Die unberechtigten Vorwürfe der sich als Kollegen ausgegebenen ehemaligen Mitarbeiter des ITP haben meine Verletzlichkeit und die von Christiana auf eine harte Probe gestellt. Diese böswilligen Unterstellungen haben uns den Übergang aus der DDR in ein freies und demokratisches, wiedervereinigtes Deutschland gründlich verdorben.

Mit dem Wechsel nach Österreich haben wir die Vorteile der freien und auch sozialen Marktwirtschaft erleben können. Beeindruckt haben mich, nach meinen Erlebnissen im ITP, die bei der PCD vorherrschende offene und echt kollegiale Atmosphäre. Die Manager des Unternehmens haben persönlich einen hohen Anteil an der Atmosphäre und haben damit wesentlich zum Erfolg des Unternehmens beigetragen. Es war mir ein Anliegen, denen und meinen engsten Mitarbeitern Dank für ihre Kollegialität zu sagen. Das Vertrauen in die Rechtschaffenheit und die Integrität der Manager hat auch die problematischen Situationen während der Wirtschaftskriese und der Fusion in die größere Borealis überdauert.

In dem zweiten Teil meiner Lebenserinnerungen habe ich versucht in meinen Briefen aus Oberösterreich meine dienstlichen und unsere privaten Erlebnisse darzustellen. Es kann auch wieder als Lebensbruch verstanden werden, dass ich nach meiner 8- jährigen Tätigkeit als „Forschungsleiter“ der PCD und dem einen Jahr als „Chief Scientist“ der Borealis noch einmal 9 Jahre als „Fachberater“ der AMG/AMI tätig war. Das war eine völlig neue Erfahrung, die ich rückblickend nicht missen möchte, weil sie mir völlig neue Einblicke in ein mir bisher unbekanntes Fachgebiet gewährt hat. Auch die Reaktionen der Manager waren nach dem Wechsel von fachlich geprägten Experten zu selbstbewusst auftretende Wissenschaftsorganisatoren waren manchmal frustrieren, aber immer erlebenswert.

Die Borealis hat sich währen der Jahre meiner Beratungstätigkeit zu einem eigenständigen Unternehmen entwickelt, das nach mehreren misslungenen Versuchen endlich einen neuen und qualifizierten „R&D-Vicepräsident“ gefunden hat. Ihre Übernahme der AMI war auch der Abschluss meiner Beratungstätigkeit. Der Abschluss der Aktivitäten in Österreich war meine Mitarbeit im Team der Einschätzung der Forschungsaktivitäten der Borealis.

Unser Entschluss, in dieser Zeit doch noch unser Haus in Dresden zu verkaufen und dafür uns am Bau eines Eigenheims in Altenberg bei Linz zu beteiligen, war einerseits mit der Ansiedelung unserer Kinder in Österreich verbunden. Andererseits hat auch unsere Entfremdung von Dresden dazu beigetragen, die wir erstaunlicherweise während der Jahre nicht überwunden haben.