In Liebe für Muck und Cuddi

Kapitel 1 Wir ziehen in die Nummer 11, und mir passiert das Eierschlamassel

Ich heiße Emma. Ich bin acht Jahre alt, und ich weiß alles! Na gut, vielleicht nicht alles alles, aber bestimmt viel mehr, als die Großen denken. Ich weiß zum Beispiel, dass es richtig aufregend ist, acht zu sein. Die meisten Erwachsenen glauben ja, mit acht ist man noch babyklein und würde nichts verstehen. Deshalb bereden sie ganz wichtige Erwachsenendinge nicht auf Geheimsprache, sondern so, als wäre man nicht dabei.

Papa sagt zwar manchmal: »Emma, mach deine Ohren zu!«

Aber wie das geht, weiß ich nicht, und ich werde ihn auch nicht fragen.

So hab ich erfahren, dass Papa, Ben, Jojo und ich in der Nummer 11 »ein ganz neues Kapitel aufschlagen« werden. Das hat Papa am Telefon zu Omi gesagt. Ein ganz neues Kapitel. Seine Stimme hat ein bisschen gezittert, als er das gesagt hat. So als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen will. Ich finde es schön, dass wir mit Papa ein neues Kapitel aufschlagen. Denn egal, ob es stürmt oder schneit, Papa hat immer einen Sonnenstrahl in der Kochmütze.

Ben hat natürlich die Stirn gerunzelt. »Du verstehst gar nicht, was Papa meint«, hat er mit seiner Ich-bin-tausendmal-klüger-Stimme gesagt. »Du bist halt noch zu klein.«

So ein Unsinn! Ben tut immer so, als sei er der zweite Mann im Haus! Dabei ist er erst zehn, und weil er im Sommer geboren wurde, ist er nur eine Klasse über mir.

Selbst Jojo versteht schon ganz schön viel. Und Jojo ist noch nicht einmal fünf! Als wir die letzten Umzugskartons mit Papa die Treppe zu unserer neuen Wohnung raufgetragen haben, hat sie Gerti, ihre Stoffschildkröte, fest an sich gepresst.

»Willst du Gerti nicht unser neues Zuhause zeigen?«, hab ich sie gefragt.

Denn Gertis Kopf war komplett in ihrem weichen Stofftierbauch verschwunden. Da konnte sie ja nichts sehen.

»Nee, Gerti macht Winterschlaf«, hat Jojo gesagt.

»Jetzt, im Frühling?«

»Gerti hat Angst«, hat Jojo geflüstert. »Sie kennt sich hier gar nicht aus.«

Wir können uns hier auch noch nicht auskennen.

Wir ziehen ja gerade erst ein!

Natürlich hab ich die Nummer 11 sofort unter die Lupe genommen, als wir mit Papa vor dem Haus geparkt haben. Es ist das rote Backsteinhaus mit den weißen Fenstern. Das Haus ist nicht zu hoch und nicht zu niedrig, sondern gerade richtig groß. Das Schönste an der Nummer 11 sind die kleinen Gärten, die zu den zwei Erdgeschosswohnungen gehören. Der rechte Garten sieht aus wie aus dem Katalog: Die Hecke und der Rasen sind schnurgerade geschnitten, und auf der Terrasse steht eine schneeweiße Bank. Papa hat den Garten gesehen und gesagt: »Wenn das mal nicht richtige Erbsenzähler sind.«

Da hab ich mir lieber den anderen Garten angeguckt. Der ist nämlich kein bisschen erbsenzählerisch. Man kann nicht einmal bis zu den Fenstern gucken, so zugewachsen ist der.

Unsere neue Wohnung hat keinen Garten. Denn wir ziehen in die Mitteletage. Unter uns liegt das Erdgeschoss und über uns die Oberetage. Wenn ich mich nicht verzählt habe, gibt es also genau sechs Wohnungen und einen Dachboden in der Nummer 11.

Ich weiß, dass Papa gern in unserem Reihenhaus wohnen geblieben wäre. Aber das geht natürlich nicht, jetzt wo Papa alles allein hinkriegen muss.

Außerdem liegt die Nummer 11 viel näher an Engls Küche, Papas Restaurant. Jetzt kann Papa zu Fuß zur Arbeit gehen. Oder zwischendurch schnell nach Hause kommen, falls Jojo mal nicht einschlafen kann. Was in letzter Zeit häufiger vorkommt.

Dieses Wochenende hat Papa sich aber freigenommen. Damit wir unsere neue Wohnung so richtig gemütlich herrichten können, hat Papa gesagt. Ben und Jojo und ich werden ganz viel mithelfen: Kartons auspacken, Geschirr einräumen, unsere selbst gemalten Bilder aufhängen. Zum Glück kann ich schon so viel! Sogar Eierpfannkuchenteig anrühren. In dem Karton, den Papa für unseren ersten Abend gepackt hat, finde ich unseren Handrührer, die blaue Schüssel, eine Tüte Mehl, einen Liter Milch, ein Paket mit 6 Eiern von quietschfidelen Hühnern. Andere Eier kommen Papa nämlich nicht in die Pfanne! Und da ist noch der große Topf. Ja, ein Topf! Dabei weiß doch jedes Baby, dass man Pfannkuchen in der Pfanne macht.

»Papa«, rufe ich. »Wo ist unsere Pfanne? … Papa!«

Da rutscht mir die blöde Eierpappe aus der Hand, der Deckel springt auf, und ehe ich zufassen kann, fallen sechs braune Eier auf den Boden! So ein Mist! Wie soll ich mit dieser Glibberpampe Pfannkuchen backen? Vielleicht wenn ich versuche, die Eier mit einem Löffel in die Schüssel zu löffeln?

Ausgerechnet in diesem Moment schaut Papa in die Küche. »Ich glaube, die Pfannen sind im Küchenkarton Numero …« Papa blickt erstaunt auf den Boden. »Emma, du weißt schon, dass man Eierkuchen in der Pfanne macht und nicht auf den Fliesen?«

»JA! Aber der oberbescheuerte Karton ist mir aus der Hand gerutscht«, sage ich.

Nun kommen auch Ben und Jojo in die Küche gerannt.

»Iiiieh«, ruft Jojo. »Schleimi! Schleimi!«

»Ist das unser Abendessen?«, fragt Ben und wirft mir einen wilden Blick zu.

»Das war unser Abendessen.« Papa seufzt.

»Aber Papa, du hast doch bestimmt noch etwas anderes eingepackt«, sage ich. Schließlich ist Papa der beste Koch der Welt, der sogar davon geträumt hat, an dem Wettbewerb »Die drei goldenen Kochmützen« teilzunehmen.

Papa nimmt den Lappen von der Spüle. »Für heute Abend leider nicht, Emma.«

»Was?«, ruft Ben. »Weißt du, was für einen Hunger ich hab, Papa?«

»Bärenhunger!«, jammert Jojo.

Ich mag gar nicht vom Boden aufschauen.

Ich sehe zerbrochene Eierschale und zerlaufenes Eigelb, Glibbereiweiß und die Spritzer auf meinen Leggings.

Vor meinen Augen wird alles ganz verschwommen.

»Zum Einkaufen ist es zu spät«, sagt Papa. »Aber vielleicht können wir uns ein paar Eier bei den Nachbarn leihen.«

»Wir können doch nicht wildfremde Leute fragen, ob sie uns was zu essen leihen«, sagt Ben.

»Ach, das wird schon gehen«, sagt Papa und schaut sich an, was ich ganz ordentlich auf die Arbeitsfläche gestellt habe. »Und Öl fehlt uns auch«, sagt er.

»Das hab ich aber nicht fallen lassen«, sage ich leise und wische mir über die Augen.

Papa zieht mich an sich. »Nee, das hat der Meisterkoch vergessen.« Er sieht zu mir und Ben. »Ich schlage vor, ihr zwei versucht, im Haus Eier und Öl zu besorgen.« Er schaut zu Jojo. »Du deckst den Tisch, und ich kümmere mich um dieses Eierschlamassel.«

»Einverstanden«, sage ich.

»Na meinetwegen«, brummt Ben.

Und schon sind wir draußen im Hausflur.

Kapitel 2 Meine zwei Glücksdaumen

»Wir fangen im Erdgeschoss an«, brummt Ben, und ohne meine Antwort abzuwarten, poltert er die Stufen hinunter.

Ich würde ja viel lieber bei der Wohnung direkt gegenüber klingeln. Erstens wäre Papa dann ein bisschen näher, und zweitens bin ich neugierig, wer in der Wohnung mit der himmelblauen Sternchenfußmatte wohnt.

Aber große Brüder müssen eben immer den Ton angeben. Vor allem, wenn sie erschöpft und ausgehungert sind. Also sage ich nichts, sondern flitze Ben nach.

Unten auf dem Klingelschild steht »C.v. Freudenhain«. Freudenhain, was für ein schöner Name! Und wie die silberne Briefklappe in der Tür schimmert. Als wäre sie frisch poliert! Ich bin schon kribbelig, wer die Tür aufmachen wird.

»Emma«, sagt Ben.

»Ben?«, sage ich.

»Klingelst du jetzt endlich, oder sollen wir hier versteinern?«

»Muss ich? Aber ich dachte, du klingelst und wir fragen zusammen.«

Ben schüttelt den Kopf. »Du hast unsere Eier geschrottet. Du fragst. Ich hab keine Lust, fremde Leute anzubetteln.«

»Wir betteln gar nicht«, stelle ich klar. »Wir wollen uns nur etwas leihen.«

Dann atme ich ein und drücke die Klingel. Durch die Tür hören wir ein leises Läuten. Nichts rührt sich. Ich klingle noch einmal. »Da ist niemand«, sage ich.

Aber auf der anderen Seite habe ich mehr Glück. Denn noch bevor ich überhaupt klingeln kann, geht die Tür auf. Vor uns steht eine Frau mit roten Stachelhaaren und Doppelkinn.

»Aha«, sagt sie. »Seid ihr also doch noch gekommen, um euch vorzustellen, wie es sich gehört?«

Ich wusste gar nicht, dass sich das so gehört, und blinzle schnell rüber zum Klingelschild. »Hallo, Frau Neumann. Ich bin Emma Engl. Engl ohne E«, sage ich mit einem großen Lächeln. So wie Mama immer gelächelt hat, wenn neue Gäste in Papas Restaurant gekommen sind.

»Und ich heiße Ben«, sagt Ben mit einer kleinen Verbeugung.

Ich finde, wir haben uns sehr schön vorgestellt. Jetzt kann ich unsere neue Nachbarin bestimmt nach den Eiern fragen.

»Also, wir sind heute eingezogen, und weil mir die …«, beginne ich mit meiner Eierschlamasselgeschichte, als Frau Neumann die Lippen noch ein bisschen fester zusammenpresst.

»Na, das haben mein Mann und ich allerdings bemerkt. So ein Getrampel! Das war ja ohrenbetäubend! Und was für einen Dreck ihr gemacht habt! Ich musste die Treppe einmal komplett frisch wischen, so schmutzig war alles!« Ihr Doppelkinn wackelt.

»Wirklich?«, rutscht es mir raus. Das hatte ich gar nicht gemerkt.

»Das war keine Absicht«, sagt Ben. »Aber jetzt haben wir alles oben.«

»Trotzdem sagt ihr euren Eltern bitte, dass wir hier Wert auf ein sauberes Ambiente und eine gute Nachbarschaft legen. Und einmal im Monat seid ihr mit dem Treppe-Putzen dran.«

In meinem Kopf beginnen die Worte zu tanzen. »… könnt ihr euren Eltern sagen, euren Eltern, Eltern, Eltern.«

An Bens Gesichtsausdruck sehe ich, dass auch er mit aller Kraft versucht, die »Elterntür« in seinem Kopf zuzuhalten.

Frau Neumann verschränkt die Arme vor ihrer Brust. »Gut, das musste mal gesagt werden.« Sie greift nach der Klinke.

»Wir … wir wollten fragen, ob Sie uns ein paar Eier und etwas Öl leihen können. Wir haben nämlich sonst gar kein Abendbrot«, sage ich ganz schnell, damit Frau Neumann nicht die Tür zumacht.

»Ein paar Eier? Und Öl?«, fragt sie. So wie sie uns jetzt mustert, fühlt es sich doch so an, als wären wir zwei Bettelkinder, und plötzlich weiß ich, welcher Garten den Neumanns gehört.

»Eier kaufe ich erst morgen auf dem Markt. Aber etwas Öl kann ich wohl entbehren.«

Sie kommt mit einer winzigen Ölpfütze in einem gespülten Joghurtbecher zurück an die Tür. »Und vergesst nicht, mir das Öl gleich morgen zurückzubringen.«

»Machen wir«, sage ich.

»Danke«, sagt Ben.

»Blöde Erbsenzählerin!«, sage ich, als wir oben auf dem Treppenabsatz ankommen.

Ben nickt.

»Zum Glück wohnen wir nicht im Erdgeschoss«, sagt Ben.

Ich schaue zu der Tür mit der hellblauen Fußmatte. Plötzlich habe ich gar keine Lust mehr, zu klingeln.

»Weißt du, Ben, ich hab gar nicht mehr so großen Hunger.«

Ben schiebt mich nach vorn. »Aber ich! Komm, bringen wir es hinter uns.«

Jetzt stehen wir nur noch einen Schritt von der Fußmatte entfernt. Auf der Klingel steht König. Ich schiebe meine Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger und beginne zu drücken.

»Emma!«, sagt Ben. »Los!«

»Warte doch mal! Ich muss erst Daumendrücken!«

»DAUMENDRÜCKEN?«, fragt Ben, der mal wieder nichts kapiert.

»Na, dass hier bei uns in der Mitteletage richtig nette Nachbarn wohnen.«

Ben verdreht die Augen. »Voll unnötig.«

Ich schließe die Augen und drücke noch ein bisschen fester. Da hören wir unten die Haustür, und jemand kommt pfeifend die Treppe hoch. Es ist ein Junge. Er ist fast so groß wie Ben und ein Stückchen größer als ich. Seine dunklen Haare sind nass, und aus der Tasche, die er über der Schulter trägt, tropft es.

»Hallo«, sagt er.

»Hallo«, sage ich.

Ben hat die Hände in der Hosentasche vergraben und sagt nichts.

Der Junge sieht zu Ben. »Wolltet ihr zu uns?«

»Schon möglich«, sagt Ben mit seinem Oberchecker-Gesicht. »Und du, wohnst du hier?«

Die beiden Jungs starren sich an, als wollten sie mit einem Blick alles in Erfahrung bringen. Und dann von einer Sekunde auf die andere fangen sie an zu grinsen.

»Ich bin Ben.« Mein Bruder zeigt auf unsere neue Haustür. »Wir sind heute eingezogen.«

»Ich bin Tarek«, sagt der Junge und schließt auf. »Kommt ihr mit rein?« Er streift seine Schuhe auf der Fußmatte ab. »Schuhe bleiben bei uns draußen.«

Ben dreht sich zu mir. »Kleine Schwester, vielleicht hat dein Daumendrücken doch geholfen«, sagt er und verschwindet auf Socken in die Wohnung.

Vielleicht?, denke ich. Mein großer Bruder hat gerade den Hauptgewinn gezogen. Ein Junge in seinem Alter direkt bei uns gegenüber in der Mitteletage! Da höre ich, wie Ben drinnen sagt: »Emma hat unsere Eier zertrümmert, und jetzt muss ich versuchen, etwas fürs Abendessen zu organisieren.«

»Wir haben bestimmt was im Kühlschrank«, sagt Tarek.

Die Jungs lachen.

»Hey, so war das gar nicht!«, rufe ich hinter ihnen her. Aber mit der Ölpfütze in der Hand und dem Doppelknoten in den Schnürsenkeln kann ich nicht so schnell hinterher.

»Denkt sich dein Bruder auch immer solche Geschichten aus?«, höre ich plötzlich eine Stimme. Ich schaue von meinen Schuhen auf. Da steht ein Mädchen in der Tür. Sie sieht aus wie Tarek. Nur eben als Mädchen. Sie hat den schönsten Zopf, den ich je gesehen habe, und ganz große, dunkle Augen.

»Hey, ich bin Aylin«, sagt sie. »Tareks Zwillingsschwester.«

»Ich bin Emma«, sage ich und schaue von dem Mädchen auf meine Daumen. Ich wusste gar nicht, dass ich solche Glücksdaumen habe!

 

Keine fünf Minuten später trage ich eine hübsche, kleine Schale mit drei Eiern. »Die Eier schenk ich dir«, hat Selda, Tareks und Aylins Mama, gesagt und dass sie sich riesig freut, dass endlich eine Familie mit Kindern in die Nummer 11 gezogen ist. Da hab ich gleich gewusst, dass Aylins Mutter Kinder mag, und hab sie eingeladen, uns bald zu besuchen. »Ist ja nicht weit«, hab ich gesagt.

»Überhaupt nicht weit«, hat Aylins Mutter gesagt und gelacht.

Ich wär wirklich gern noch länger geblieben, nur sind drei Eier nicht genug, um Pfannkuchen für ein hungriges Rudel zu backen. Aylin hat vorgeschlagen, dass wir es schnell ein Stockwerk höher versuchen. Ben meinte nämlich, dass er sich unbedingt noch Tareks PS4 ansehen muss. Das fand ich gar nicht schlimm. Denn ich bin ja mit Aylin die Treppe hoch.

»Wie alt bist du eigentlich?«, frage ich.

»Achteinhalb«, sagt Aylin.

»Ich auch!«

»Und auf welche Schule gehst du?«, fragt Aylin.

Ich überlege, denn der Name unserer neuen Schule ist monsterlang. »Ähm … auf die Paula-Mondschein-Bäckerei-Schule?«

»Ich bin auch auf der Paula!«, ruft Aylin und hüpft die letzte Stufe hoch. »Dann können wir morgen zusammen gehen«, sagt sie.

Ich hüpfe zwar nicht, wegen der Eier. Aber es fühlt sich so an, als würde ich die Stufen hinaufschweben, so leicht bin ich.

Aylins schöner Zopf tanzt auf ihrem Rücken, und ich kann schon den nächsten Treppenabsatz sehen, als ich ein leises Gemurmel höre. Oben steht jemand. Es ist eine kleine, alte Frau in Strickjacke. »Darling, die Zugluft wird dir nicht guttun«, sagt die alte Frau zu der riesigen Pflanze, die dort vor der Fensternische steht.

»Das ist Frau Becker«, flüstert Aylin mir zu.

Oh, wieder eine neue Nachbarin, denke ich.

»Du weißt selbst, dass es Zeit ist, mit reinzukommen«, fährt die alte Dame fort.

»Warum redet sie mit der Pflanze?«, frage ich Aylin.

Aber Aylin scheint das gar nicht sonderbar zu finden. Denn sie geht die letzten Stufen hinauf. »Guten Abend, Frau Becker! Geht es Ihnen heute gut?«

Frau Becker dreht sich um, und als sie Aylin sieht, lächelt sie. »Hallo, Scheherezade. Du weißt doch, mir geht es immer gut. Ich habe nur eine kleine Diskussion mit Darling.«

Ich verstehe kein Wort.

Die alte Nachbarin dreht sich wieder zu der Pflanze um und streckt die Hand aus. »Darling, ich warte.«

»Wo ist Darling denn?«, fragt Aylin und schaut jetzt genauso interessiert in die grünen Blätter wie die alte Nachbarin. Ob das vielleicht ein geheimes Spiel von den beiden ist?, überlege ich.

»Ra-ra.«

Es raschelt, und ein grüner Papagei mit rotem Schnabel steckt den Kopf zwischen den Blättern hervor.

»Darling!«, ruft Frau Becker.

Ein Flügelschlag, und der Vogel sitzt auf Frau Beckers Hand.

»Das ist ja ein Papagei!«, rufe ich überrascht.

Aylin und Frau Becker drehen sich zu mir.

»Was dachtest du denn?« Frau Becker schaut mich an.

»Ich … ich …«

Frau Becker beginnt zu kichern. »Oh, köstlich! Du dachtest, ich rede mit der Zimmerlinde! Kindchen, Kindchen. Ich mag runzelig sein wie ein alter Winterapfel und vielleicht sogar schon ein bisschen tüddelig. Aber ich rede nicht mit Gemüse.«

»Zum Glück«, sage ich.

»Und streng genommen ist Darling ein Halsbandsittich. Aber du kannst ihn auch gern Papagei nennen.«

Ich streichle dem Halsbandsittich über die weichen Brustfedern.

»Wir sind gekommen, um zu fragen, ob Sie mir zwei oder drei Eier für unser Abendessen borgen können.«

»Ihre Eier sind nämlich alle zerbrochen«, erklärt Aylin die Lage.

»Eier?«, sagt Frau Becker. »Ob ich Eier dahabe, daran kann ich mich gerade nicht erinnern.«

Aylin schaut zu der anderen Wohnungstür rüber. »Macht nichts, Frau Becker. Dann klingeln wir bei Doris und Stella.«

»Die sind heute Abend ausgegangen«, sagt Frau Becker. »Am besten kommt ihr zwei Hübschen mit rein und schaut selbst im Kühlschrank nach.«

Und das haben Aylin und ich uns nicht zweimal sagen lassen.

Kapitel 3 Wir kommen zu spät zur Schule

Gleich am Montag nach unserem Einzug in die Nummer 11 beginnt wieder die Schule! Unsere neue Schule mit dem monsterlangen Namen. Ich bin schon ziemlich aufgeregt. Wenn ich nur wüsste, ob ich in Aylins und Tareks Klasse komme! Papa hat von der Schule einen Brief bekommen, in dem alles drinsteht. Aber der Brief hat sich so gut zwischen den Umzugskisten und Taschen versteckt, dass wir ihn einfach nicht finden. Also haben Aylin und ich das ganze Wochenende Daumen gedrückt, dass ich in ihre Klasse komme. Weil es ja etwas Besonderes ist, in eine neue Schule zu kommen, haben wir verabredet, dass wir uns beide richtig fein machen. Mit Zopf, Kleid und frisch angespitzten Buntstiften. Meine Buntstifte hab ich gleich am Sonntagnachmittag angespitzt. Aber unsere Kiste mit den Sommersachen stand ganz unten im Stapel. Da hab ich mir einfach mein schönes Weihnachtskleid aus der Winterkiste genommen. Das ist tannengrün und hat unten eine Glitzerkante. Zusammen mit meinen glänzenden Gummistiefeln und dem gelben Anorak sieht das spitzenmäßig aus, finde ich. Jetzt muss Papa mir nur noch den Zopf flechten, und dann können wir los.

»Papa, bist du fertig?«, frage ich.

»Gleich«, sagt Papa.

Denn Papa tut das, was er immer tut, wenn er glaubt, wir brauchen eine Extraportion Glück. Heute ist er früher aufgestanden, um für uns eine Umami-Stulle zu machen. Umami ist Japanisch, und eigentlich heißt es nur wohlschmeckend oder herzhaft. Für Papa bedeutet sein Lieblingswort aber viel mehr. »Umami heißt: Du bist nicht allein! Alles wird gut! Du brauchst nur die richtige Stärkung, und dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«

So eine Umami-Glücks-Stulle hat viele verschiedene Schichten.

»Weil das Glück jeden Tag neu zusammengemischt wird«, sagt Papa.

Es gibt eine süße und eine bittere Schicht, eine salzige, eine saure und eine herzhafte. Ich glaube, es gibt nicht viele Menschen, die aus Melone und Salat, Käse, Gewürzzwiebeln und Schinken eine so leckere Stulle zubereiten können.

Aber Papa hat eben nicht nur viele leckere Ideen, sondern auch das spezielle Fingerspitzengefühl. Deshalb muss Papa auch unbedingt sein Kochbuch fertig schreiben, das seit unserem Umzug irgendwo ganz tief vergraben in den Kartons schlummert.