image

Ursula Wiegele

Was Augen hat
und Ohren

Roman

image

Die Arbeit an diesem Roman wurde gefördert
durch ein Projektstipendium für Literatur des BKA
und einen Literaturförderpreis der Stadt Graz
.

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1266-5
eISBN 978-3-7013-6266-0

© 2019 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Umschlaggestaltung: Media Design: Rizner.at

Foto: „Cuchi“ von Mariano Fuga, www.marianofuga.it

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

1.

Die Hitze ist Herrin über Stadt und Land, schreibt Bogdan in seinen Bericht für den zweiten August, die Spinnen hängen gleichgültig in ihren Netzen und sogar die Hunde vergessen zu bellen.

Er war kurz nach Mittag gekommen. Endlich Schatten unter dem Tor in die Stadt, aber der Schatten roch nach Urin. An den Mauer- und Pflastersteinen Spuren vertrockneter Rinnsale, schnell weiter, hinein in das Labyrinth aus Häusern und Gassen. Da und dort ein parkendes Auto, kein Mensch zu sehen. Der Weg zum Hotel war einfach, überall Hinweise, Schilder, Pfeile.

An der Rezeption hinter der weiß und ocker bemalten Theke stand ein Mann, der nicht sprach, der nur nickte und deutete, Bogdan folgte ihm über die Treppe ins zweite Stockwerk, da war das Zimmer.

Bis wann es für ihn reserviert sei, fragte Bogdan, denn am letzten Tag hier würde wieder eine Nachricht kommen mit dem Namen des nächsten Ortes, seiner nächsten Station. So war es vereinbart.

Der Hotelmitarbeiter hob seine linke Hand und spreizte zwei Finger weg. Ein scheinbar stummer Rezeptionist, notierte Bogdan in seinem Bericht, aber Mimik und Gestik funktionieren. In den Berichten keine Fragen zu stellen, das hatte er sich vorgenommen, und alles als Schauspiel aufzufassen, das Reisen von Ort zu Ort, das Erfüllen der Aufträge, die in Form von Nachrichten auf seinem Handy erschienen.

Wer seine Berichte las, das wusste er nicht, niemand reagierte darauf, niemand beschwerte sich über die nur kurzen Notizen.

Nachdem Bogdan alles inspiziert hatte im Zimmer, Bett, Schrank, Bad und Toilette, zog er sich aus und stieg in die Dusche.

Ob die Kameraleute im selben Hotel wohnten, fragte er sich unter dem herabprasselnden Wasser, ob sie ihn an der Rezeption schon gefilmt hatten und ob auch in seinem Zimmer alles aufgenommen wurde, er könnte ja einige Szenen liefern, die bildwirksam wären, einen Kopfstand mit nacktem Körper, ins Waschbecken pinkeln, das große Frotteehandtuch wie eine Toga um Bauch und Schulter legen und dabei ein paar Verse von Ovid rezitieren. Das würde seinem Auftraggeber sicher gefallen, Traian Voicu betonte ja gerne die Verwandtschaft des rumänisches Volkes mit jenem der alten Römer, und am Eingang zu seiner Villa stand eine lebensgroße Skulptur auf einem Sockel: Die kapitolinische Wölfin mit dem Brüderpaar, alles aus Messing und mit rötlicher Patina. Bogdan stellte sich Traian vor mit einer Zitze im Mund und römischer Muttermilch auf den Lippen.

Das Geräusch einer Fliege, die sich in den Tod zappelte. Oben an der Zimmerdecke, irgendwo zwischen den Holzbalken und Ziegeln, da musste ein Spinnennetz sein, kurze Pausen, gleich darauf wieder der Kampf. Der letzte Stillstand war zugleich auch das Ende.

Bogdan wälzte sich im Bett herum. Er versuchte, mit allen möglichen Positionen die Müdigkeit einzufangen, aber sie entwischte ihm immer wieder. Und dann verlor sich sein Blick in den Wanddekorationen, zwischen den Blütenranken, den Granatäpfeln, Venusmuscheln, Schwanenhälsen und Baldachinen, mittendrin ein nacktes weibliches Wesen.

Nach Tagen der Hitze endlich Gewitter. Wolken zogen auf und deckten bald den ganzen Himmel ab. Blitze jagten zur Erde. In der Luft ein Krachen und Grölen. Da und dort ein paar Tropfen. Aber der Himmel hielt zurück, wonach die angesengten Felder schrien. Zwei Stunden lang spielten die Wolken Verheißung, doch der Regen blieb aus.

Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Jemand hatte auf dem Tisch in seinem Zimmer eine Platte abgestellt. Dünne Spalten von Wassermelonen in der Form eines Sternes. In der Mitte ein Fächer aus Käsescheiben. Links und rechts ein Häufchen schwarzer Oliven.

Erst nach Mitternacht verlässt Bogdan das Hotel. Das Pflaster der Gassen strahlt nur noch wenig Wärme ab. Es ist völlig still, sogar der dumpfe Nachklang eines Katzensprungs wäre hörbar gewesen. Hinaus aus der sechseckigen Planstadt mitten im Schwemmland des Po. Die fast runde Mondscheibe rastet auf einer rötlich schimmernden Wolkenbank und beleuchtet den Weg zwischen den trockenen Feldern, Bogdans Füße tragen ihn weiter und weiter, erst bei einer Gruppe von Pappeln dreht er sich um. Die Mauern der Stadt sind kaum mehr erkennbar, Bogdan geht die Breitseite eines abgeernteten Ackers entlang, in der Wiese daneben nimmt er wieder Kurs auf den Ort. Was ihn am nächsten Tag erwarten würde, möchte er gern wissen, der stumme Rezeptionist hatte ihm das Kostüm für seinen Auftritt bereits ins Zimmer gebracht, eine weiße Hose, ein altmodisches helles Sakko und ein rotes Tuch, das er sich um den Hals binden sollte. Jedes rote Halstuch erinnert Bogdan an das Pionierhalstuch seiner Jugend und an die Technik des Knotenbindens. Was Traian Voicu vorhat? Träumt der wie viele andere von der guten Zeit unter Ceaușescu, dem Titanen der Karpaten? Mit dem linken Fuß tritt Bogdan auf etwas Weiches, seine Zehen stoßen gegen einen Körper, der sich durch den Auftritt dreht. Federn. Ein Flügel legt sich über seinen Fuß und Bogdan blickt in den Gesichtsschleier eines großen Vogels. Gegen Abend hatte er ein paar Schüsse vernommen, fällt ihm jetzt ein, aber von irgendwelchen Speisen mit Eulenvögeln hat er noch nie etwas gehört. Auf die Polenta hier kommen gerupfte Stare, Finken und Rotkehlchen, tote Uhus kennt Bogdan nur ausgestopft, als Dekoration von Räumen.

Hat der Wind oder die Erdrotation die Wolkenbank weggetragen? Der Mond muss sich jetzt wieder aus eigener Kraft am Himmel halten.

Bericht für den 2. August, Nachtrag:

Auf den Feldern

getrockneter Lehm

wie Borke.

Vogel hockt

im Ginsterbusch

pickt

granatrote Kerne

aus der rissigen Erde.

Über dem Asphalt ein Flimmern. Dann plötzlich Schallwellen, Panzer fahren ein, Fetzen aus alten Kinofilmen in der schwimmenden Luft. Bogdan wischt sich mit der Hand über die Augenlider, weg mit den Trugbildern. In Zweierreihen biegt eine Kolonne von Harley-Davidsons auf die Piazza. Es dröhnt im Kopf und im Magen. In geordneten Reihen kommen die Maschinen zum Stehen. Die Fahrer nehmen die Helme ab und öffnen die Lederjacken.

Bogdan sitzt auf den Stufen zum Eingang des Palazzo Ducale, mit seinem hellen Gewand im Stil der 30er-Jahre, das rote Tuch um den Hals, und beobachtet das Schauspiel.

In wenigen Minuten ist es Zeit für seine Aktion. 12.30, stand in der Nachricht auf seinem Handy. Was genau er zu tun und zu sagen hat, das erfuhr er beim Frühstück, der stumme Rezeptionist brachte ihm ein Kuvert mit einem bedruckten Zettel darin.

Bogdan schaut herum, ob er irgendwo Kameraleute entdecken könnte, aber die verborgenen Kameras werden offensichtlich von verborgenen Personen bedient.

Angst, dass jemand die Polizei ruft. Und die Polizei die Rettung. Dass er als psychisch Gestörter eingeliefert wird. Vor fünfundzwanzig Jahren hat er einen Tag in der psychiatrischen Anstalt von Borșa verbracht, 260 Kilometer nordwestlich von Bukarest, Schnuppertag hat es der Offizier der Securitate damals genannt, entweder arbeitest du mit oder du landest dort.

Die Turmglocke der Kirche Santa Maria Assunta schlägt die Stunde entzwei, Bogdan steht auf und stürzt auf eine Gruppe von Motorradfahrern zu.

Ein Attentat auf den Duce, ein Attentat auf den Duce, wir müssen es verhindern, schreit er und gestikuliert wild mit den Armen, der Duce kommt in zwei Stunden hierher.

Wer soll kommen?, fragt einer der Männer.

Der Duce, wiederholt Bogdan.

Berlusconi ist doch nicht mehr am Ruder, lacht ein anderer, gehen wir mittagessen.

Die Gruppe setzt sich in Bewegung.

Bogdan ist irritiert. War das genug? Ist es gelungen? Niemand sagt so etwas wie In Ordnung oder Noch einmal, niemand kommentiert seine Aktion. Kein Regisseur weit und breit, kein Kameramann, porco dio, flucht Bogdan, und dann auch noch porca miseria. Verflucht seien die versteckten Objektive.

Sicherheitshalber geht Bogdan auf ein paar andere Motorradfahrer zu, die noch um eine Maschine herumstehen. Er wiederholt seine Sätze, mit noch größerer Erregung im Kehlkopf, nur die Flüche lässt er sein.

Du bist doch ein Roter, lacht ein Älterer, was kümmert einen Kommunisten das Leben des Duce?, und er zeigt auf Bogdans Halstuch.

Ein Verrückter, sagen die anderen und grinsen, gehen wir mittagessen.

Bald steht Bogdan allein auf der Piazza, er knotet das Halstuch auf und steckt es in die Hosentasche. Mittagessen, ich gehe jetzt auch mittagessen, aber in die andere Richtung.

Im Restaurant sieht er sich dennoch um: Nein, nirgends eine schwarze Ledermontur. Er setzt sich, bestellt Pilzsuppe, Kaldaunen mit Minze, in Asche gebratene Artischocken, Fleischkroketten in Kohlblättern, Wasser und Rotwein. Und dann noch drei Tageszeitungen und Kaffee. Ohne dass er es gewünscht hatte, bringt ihm der Kellner später noch Melonenscheiben. Essen Sie, sagt er, die sind von uns.

Im Restaurant beginnt es zu dröhnen, die Teller vibrieren. Mit lautem Geknatter verlassen die Harley-Davidson-Fahrer wieder den Ort.

Bogdan zahlt. Dann verlässt er das teure Lokal. Er streift durch die Gassen, das Sakko über die Schulter geworfen. Die Schatten sind kurz. Die Stadt ausgestorben. Auch ohne Plan ist es hier kein Problem, zu den Sehenswürdigkeiten zu finden.

Am späten Nachmittag, als die Hitze nachlässt, fährt Bogdan mit dem Gästerad des Hotels durch das Stadttor hinaus aus dem Ort und Richtung Südwesten. Rechts und links der Landstraße sind tiefe Bewässerungsrinnen, an deren Hängen wachsen Zinnkraut und Schilf. Bogdan radelt an Mais- und Kartoffeläckern vorbei und an abgeernteten Weizenfeldern mit großen Ballen aus Stroh, immer weiter, bis zum großen Fluss. Von der Uferpromenade die steile Böschung hinunter, Bogdans Füße finden Halt auf angeschwemmten Steinen, mitten im Fluss paddelt ein Kanufahrer gegen die Strömung. Bogdan holt das Halstuch aus der Hosentasche, er hält es an einem Zipfel fest und taucht es in den Fluss, erst jetzt bemerkt er das weiße Muster im roten Stoff. Das Wasser nimmt das Tuch, Bogdan lässt den Zipfel los, ein roter Blutschleier zieht stromabwärts davon.

Phaeton, denkt Bogdan, ist in den Po gestürzt, auf einem Fresko in der Stadt sah er ihn fallen, mit Pferd und Wagen.

Erst in der Dunkelheit fährt er zurück. Das Rad hat kein Licht. Der Mond hilft aus.

Zurück in Sabbioneta sieht Bogdan alte Männer auf Plastikstühlen vor den Häusern sitzen. An einem Tisch vor einer Bar erkennt er den stummen Rezeptionisten in einer Runde beim Wein. Der redet und lacht, er scheint der Wortführer der Gruppe zu sein. Bogdan bleibt hinter der Säule der Arkaden stehen und lauscht, aber er versteht nur einzelne Wörter aus den zum Teil zahnlosen Mündern der Alten.

Die Hoteltür ist offen. Am Empfang sitzt niemand. Bogdan bleibt an der Theke stehen. Er nimmt die Tischglocke und läutet. Keine Reaktion. Sein Blick fällt auf das Mosaik am Steinboden, ein Kreisrund aus Ornamenten und in der Mitte ein Kelch, auf dem zwei weiße Vögel sitzen. Ein großes Insekt läuft durch den Raum. Es zieht die Beine auf seiner linken Seite nach, fällt auf den Rücken, es zappelt, kommt wieder hoch, macht Kreise, doch dann dreht es sich nur mehr um die eigene Achse. Stille. Bogdan geht näher und entdeckt es auf Mosaiksteinchen, von denen es sich farblich kaum abhebt. Da setzt die Kakerlake wieder an zu laufen und verschwindet unter der Kommode neben dem Eingang.

Bogdan betrachtet das alte Grammophon. Ein Museumsstück. Der glänzende Trichter steht wie ein Blütenkelch in den Raum, das dunkelbraune Kästchen ist zerfressen. An der Oberfläche die Ausfluglöcher der Holzparasiten. Viele Orte für Minikameras, denkt Bogdan und holt sich selbst seinen Schlüssel vom Brett. Ein kleiner Leinenpolster als Anhänger, darauf gemalt die Nummer des Zimmers.

Im Bett kehrt er in Gedanken noch einmal zurück ans Ufer des Flusses.

Hitzekorn. Schattendorn. Eidechse kriecht durch wandernden Sand,

tippt er als Bericht für den dritten August.

Eine halbe Stunde vor Abfahrt steht Bogdan schon am Straßenrand, an der Stelle, wo der Bus nach Mantua halten soll. Der Kellner in der Bar gegenüber hat es behauptet. Aber da ist kein Zeichen für einen Halt. Was, wenn gar kein Bus käme? Und was, wenn einer käme und nicht stehen bleiben, einfach an ihm vorbeifahren würde?

Bogdan wechselt noch einmal die Seite. Gegenüber gibt es zumindest einen Fahrplan für die andere Richtung, nach Parma. Und einen Touchscreen, der nicht funktioniert. Bogdan berührt die Pfeile, einzweidreimal, unter seinen Fingern keine Bewegung am Bildschirm, nicht einmal ein Flimmern.

Wieder zurück. Bogdan geht auf und ab. Die angebliche Busstation ist die Einfahrt zu einer aufgelassenen Tankstelle. Die Autos rasen vorbei, immer wieder sieht Bogdan aus der Ferne einen großen Wagen kommen, aber dann ist es doch nur wieder ein Laster.

Gegenüber die hohe Stadtmauer von Sabbioneta, sonst ist kaum mehr etwas zu sehen vom Ort, wie ein Scherenschnitt darüber die Kirchtürme, Zedern, die in den Himmel wachsen, das Obergeschoß einiger Palazzi, ein Kran.

Jeder weitere Wartende wäre ein Stück Gewissheit, aber da ist niemand. Das Ende des Zweifels kommt endlich in Form einer kleinen, stämmigen Frau. Lila T-Shirt, schwarze Leggins. Wo Haut zu sehen ist, an den Armen, am Hals, im Gesicht und an den Füßen, die in grellgrünen Crocs stecken, da ist sie zerstochen und aufgekratzt, und als die Frau zu sprechen beginnt, bemerkt Bogdan, dass die Schneidezähne im Unterkiefer fehlen. Eines ihrer Augen hat ein geschlossenes Lid.

Ja, ich fahre nach Mantua, sagt die Frau. Und wohin fährst du?

Nach Rimini.

Ans Meer, lacht die Frau, meine Heimatstadt liegt auch am Meer, in Salerno.

Und was hat Sie in den Norden gebracht?, fragt Bogdan.

Die Liebe. Deshalb bin ich hier. Und du, bist du allein unterwegs? Hast du einen Schatz?

Bogdan überlegt, was er sagen könnte, aber die Frau dreht den Kopf von ihm weg und murmelt etwas vor sich hin, sie beachtet Bogdan nicht mehr, im Profil sieht er nur mehr das geschlossene Auge. Das Lid zuckt.

Gestern habe ich fast einen Schatz getroffen, denkt Bogdan, in der ehemaligen Synagoge von Sabbioneta. Die blonde Frau an der Kasse entpuppte sich als Kunsthistorikerin. Bogdan erzählte ihr seine ganze berufliche Biografie, dreißig Jahre im Schnelldurchlauf, von seinem ersten Auftritt in Arad bis hin zu jenem vor dem Palazzo Ducale in Sabbioneta. Und so erfuhr er im Nachhinein einiges über den Film, auf den sich die Szene bezog. Die Frau konnte das geplante Attentat auf den Duce und den roten Schal verorten, ja, das sei einem Film von Bernardo Bertolucci entnommen, einem ganz frühen, die „Strategie der Spinne“ wurde zum Teil hier gedreht in Sabbioneta. Aber wenn das ein Filmzitat sein soll, dann ein sehr schlampiges, sagte sie, während sie mit einem Stadtplan fächelte.

Und dann erzählte sie Bogdan von ihrem Studium in Bologna, von ihrem Lehrer Umberto Eco, den sie verehrte wie keinen anderen Denker, und dass der ihr beim Rigorosum über ein Blackout hinweggeholfen habe, dieser väterliche, dieser humane Mensch, und dass sie vor einem Jahr ihren Job in Parma verloren habe, erst dann zwickte sie ein Loch in Bogdans Eintrittskarte. Als ihre Mittagspause begann, war Bogdan immer noch da, er hatte sich ihre Begleitung zum jüdischen Friedhof organisiert. Nicht leicht zu finden, hatte sie gesagt, der liegt außerhalb der Stadtmauern, mitten in den Maisfeldern, hinter dem Areal einer aufgelassenen Fabrik.

Und Bogdan: Begleite mich dorthin.

Dass ihre Zustimmung aber nicht mehr war als ein Angebot zu einer historischen Führung, das bemerkte er schon beim Ziegelbau mit den zerbrochenen Fensterscheiben, noch bevor sie in die Maisfelder abbogen.

Unter dem wolkenscheckigen Himmel fährt ein Bus durch das Schwemmland des Po. Felder, Wiesen, Hochspannungsmasten. Und Reihen von Pappeln. Die gelben Vorhänge an den Busfenstern wehen im Fahrtwind. Bogdan denkt an die Schwestern von Phaeton. Als der in den Fluss stürzte, erstarrten sie zu Pappeln. Aus Gram. Das hat die Blonde gestern gesagt, beim Abschied vor dem Hotel.

Der Bus singt. Die Tage in Sabbioneta waren ein interessanter Beginn, denkt Bogdan, und wenn es so weitergeht, dann wird es ein schöner August. Obwohl er lieber selbst Regie führen würde, selbst seine Reiseziele bestimmen. Doch die Fäden zieht Traian Voicu im fernen Rumänien.

2.

Beim ersten Treffen sah Bogdan den Oligarchen Traian Voicu zuerst einmal nur von hinten. Ein Chauffeur hatte ihn in Temeschwar abgeholt und zu einer abgelegenen Residenz am Land geführt, mit hohen Mauern, Überwachungskameras und Toren, die sich erst nach einiger Zeit öffneten, und danach kamen zwei stiernackige Männer mit aufgeblähten Muskeln und führten ihn den Kiesweg entlang zu einem Rundbau mit Glasfront. Darin saß zwischen weißen Säulen der Auftraggeber, dessen Namen er noch nicht kannte, verkehrt herum in einem Sessel. Ein Mann, der Launen habe und Bewerber ungewöhnlichen Tests aussetze, soviel hatte Bogdan von der Agentur erfahren.

Interessanter Gesprächspartner, dachte Bogdan, er wollte die Prüfung bestehen. Er wisse über ihn Bescheid, hörte Bogdan aus der Richtung des Sessels, vom Sprecher sah er nur den fast kahlen Hinterkopf über der Lehne, den Hals und Teile von Schultern und Armen. Kurz dachte Bogdan, da sitze eine Attrappe und die Stimme werde nur zugespielt.

Dass Bogdans Engagement am Deutschen Nationaltheater Temeschwar in zwei Monaten ende, sei ihm bekannt, sagte der verkehrt herum Sitzende. Und dass er ihn einmal spielen gesehen habe, in einer Komödie, allein an den Namen des Stücks könne er sich nicht mehr erinnern.

Haben Sie Interesse, bei mir einzusteigen, ich meine bei meinem Privatsender, fragte die Stimme und Bogdan versuchte aus der Physiognomie des Hinterkopfes etwas abzulesen, umsonst.

Ja, er sei interessiert, sagte Bogdan, und dann drehte sich der Mann mit dem Sessel und Bogdan konnte sein Gesicht sehen, nein, zuerst sah er nur die zwei tiefen Furchen auf seiner Stirn, die Richtung Nasenwurzel liefen, und darin funkelte Schweiß.

Sie könnten die Hauptrolle in einem Film bekommen, sagte der Mann, der sich als Traian Voicu vorstellte, und er sah Bogdan dabei über den oberen Brillenrand an. Aber nicht sofort, vorher hätte ich noch andere Aufgaben. Sie waren lange im Ausland, was haben Sie da gemacht?

Ich war Berufsnomade in Österreich und Italien, in vielen Rollen, Lagerarbeiter, Antiquitätenhändler, Claqueur, Vorarbeiter in einer Fabrik für Spritzgusserzeugnisse, Koch, Inhaber eines Restaurants für Slow Food, Kulturarbeiter, Darsteller in einer Commedia dell’Arte-Truppe, Stadtführer ohne Lizenz, was mir noch fehlt, ist Steuereintreiber und Hilfstotengräber.

Dass Traian Voicu seinem Mund nicht zu lachen erlaubte, sah Bogdan an dessen Augen.

Okay, sagte der Oligarch, deine italienische Zunge ist für mich interessant. Fernsehen mag ich nicht, wenn ich Zeit habe, schaue ich mir alte Filme an, Filme von Fellini, Bertolucci, Pasolini, Zeffirelli, Antonioni, großes italienisches Kino, und jetzt kam ein wenig Glanz in seine Augen.

Zwei Wochen später ein Anruf der Agentur, der Vertrag sei gekommen. Bogdan las sich durch die juristischen Sätze, viele der seltsam gewundenen Formulierungen verstand er nicht, aber er unterschrieb trotzdem sofort.

Der erste Auftrag sei die Moderation einer Talk-Show auf Traian Voicus Sender, dreimal die Woche am Nachmittag, meldete die Agentur zehn Tage später.

Ich stürze von der Bühne des Nationaltheaters auf eine TV-Studiobühne, dachte Bogdan, er kannte solche Shows fast nur vom Hörensagen, seine fünf Lebensjahrzehnte hatte er ohne Fernseher verbracht, allein die Tage rund um Weihnachten 1989 war er, schon im Exil, vor dem Bildschirm gesessen. Libertate Libertate, ein Hubschrauber auf dem Dach vom Palast des Volkes und zwei Leichen im Hof der Kaserne von Targoviște.

Schnell ein TV-Gerät kaufen und eine Satellitenschüssel. Und dann spazierten die Moderatoren auf seinem Wohnzimmertisch hin und her, Bogdan zappte sich durch alle Kanäle, studierte rumänische, deutsche, italienische und amerikanische Moderatoren, einmal war er auch im österreichischen Fernsehen gelandet.

Alles Theater, dachte Bogdan, und jaja, ich steige nun ein ins Showbusiness, das ist eine neue Bühne für mich und eine neue Rolle.

Die Studiobühne war mit Honig glasiert, so viel Geld hatte Bogdan noch nie verdient, endlich konnte er Alimente nach Österreich schicken und nach Deutschland, wo sein Samen aufgegangen war.

Bogdan schritt über das klebrige Parkett und an seinen Füßen glänzte es, ja, das gehört zur Maske, hatte er gesagt und den beiden Visagistinnen die Pflege seiner staubigen Schuhe überlassen. Welche Paste die wundersame Verwandlung bewirkte, das erfuhr er nie, aber eine der beiden schob ihren Rock hoch und öffnete mit großen Gesten die Verschlüsse der Strapshalter, zog einen ihrer Nylonstrümpfe aus, während sie Bogdan fixierte, und rieb damit seine Schuhe ab. Die andere wollte seine markanten Brauen zurechtzupfen, nein, lass das, sagte Bogdan, diese Enthaarungsmode geht mir auf die Nerven, meine Brauen passen zu meinem Brusthaar, er öffnete das Hemd und die Visagistinnen verzogen ihre Gesichter. Jaja, sagte Bogdan, ihr Jungen ekelt euch auch vor eurem eigenen Schamhaar.

Sternenglitter, Eröffnungsfanfaren, im Laufschritt betrat Bogdan die Studiobühne, Applaus, dicht an dicht saß das Publikum, der Saal war immer voll, zumindest die mit Scheinwerfern erhellten vorderen Reihen, Bogdan bemerkte Gesichter im Publikum, die wiederkamen, montagsmittwochsfreitags, und er dachte an bestellte Claqueure, wie damals bei den großen Auftritten von Nicolae und Elena, die ganze Nation applaudierte und einige darunter applaudierten besonders laut.

Fünfundsechzig Kilo. Applaus. Die Frau im rotgrünen Sportanzug steigt von der Waage und verbeugt sich neben dem Tisch mit roten und grünen Nahrungsmitteln. Paprika, Tomaten, Zucchini, Äpfel in Großaufnahmen, dann schwenkt die Kamera wieder hin zu der strahlenden Frau.

Violeta, ruft Bogdan, begrüßen wir nun Violeta. Applaus. Violeta, erzähl uns deine Geschichte.

Früher, sagt Violeta, nachdem sie auf dem Gelben Sofa Platz genommen hat, früher fühlte ich mich dick und hässlich.

Nachdenkliche Gesichter im Publikum. Nahaufnahmen von beleibten Frauen in den ersten Reihen.

Aber mit der Rot-grün-Diät habe ich es geschafft.

Applaus für unsere Violeta, sagt Bogdan, er trägt eine rote Hose und ein grünes T-Shirt und geht über die rot-grüne Studiobühne zu einer Tür, hinter der er verschwindet. Die Studiobühne dreht sich und das Publikum sitzt vor einer neuen Kulisse, in die Bogdan eintritt, ein weißer Raum. Auf einem Untersuchungsbett posiert eine junge Frau im Bikini. Rechts und links davon zwei Männer in weißen Mänteln.

Doktor Bindea und Doktor Ciobanu, sagt Bogdan, von der Schönheitsklinik in Bukarest.

Applaus.

Daciana, 27, Mutter von zwei Kindern, präsentiert ihren Körper. Sie fährt mit dem Zeigefinger den Bauch entlang, hier saßen früher die Fettpölsterchen, sagt sie, Daciana strahlt, ganz Rumänien sieht nun ihren makellosen Körper, sie lässt die Beine auseinander fallen, knetet ihre Oberschenkel, ja, auch hier saßen welche.

Daciana, ruft Bogdan, Applaus für Daciana.

Daciana steht auf, verbeugt sich wie ein Starlett, die Brüste fallen weit nach vorne.

Und jetzt bitte ich Sie, meine Herren, uns die operativen Methoden der Fettabsaugung näher zu erklären. Doktor Bindea spricht über die Vibrations- und die Wasserstrahltechnik und Doktor Ciobanu übernimmt die Ultraschall- und Lasertechnik, Doktor Bindea, ich übergebe nun Ihnen das Wort.

Die Ärzte referieren über Betäubungsspritzen, Mikrokanülen und Kompressionsmieder, aber sie sagen auch, dass sie sich als Künstler sehen, wenn sie eine neue Körpersilhouette modellieren. Harmonische Konturen, ideale Proportionen, wie bei römischen Plastiken.

Applaus für unsere Herren Doktoren.