CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

DAS OVALE PORTRÄT

- 13 SHADOWS, Band 30 -

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Robert Bloch: LIZZIE BORDEN MIT DEM BEILE (Lizzie Borden Took An Axe) 

Patricia Highsmith: DER SCHNECKENZÜCHTER (The Snail Watcher) 

Harry Harrison: DIE WAHRE GESCHICHTE FRANKENSTEINS  

(At Last, The True Story Of Frankenstein) 

William C. Morrow: GEBURT EINES MONSTERS (The Monster-Maker) 

Fredric Brown: DER NAPOLEON-KOMPLEX (Come And Go Mad) 

Edgar Allan Poe: DAS OVALE PORTRÄT (The Oval Portrait) 

Nathaniel Hawthorne: DR. HEIDEGGERS EXPERIMENT (Dr. Heidegger's Experiment) 

Henry Slesar: WESSEN KRANKHEIT? (Whosits Disease?) 

Harold Lawlor: MAYAYAS KLEINE GRÜNE MÄNNER (Mayayas Little Green Men) 

 

Das Buch

 

Der große Maler saugt seinem schönen Modell das Leben förmlich aus, bis er es endgültig auf die Leinwand gebannt hat...

 

Der langsamen Schnecke einzige Verteidigung ist die Vermehrung – und Sex kann eine tödliche Waffe sein, wie der allzu sorglose Hobbyforscher erfahren muss...

 

Der Sohn des Barons Frankenstein verteidigt vor einem Reporter den Ruf des genialen Vaters und besorgt bei dieser Gelegenheit Ersatzteile für dessen beste Schöpfung...

 

Ein verrückter Wissenschaftler beschert einem Selbstmörder ein bizarres Nachleben, das dieser weder erwartet hatte noch begrüßt...

 

Die Anthologie DAS OVALE PORTRÄT, herausgegeben von Christian Dörge, enthält neun ausgewählte Erzählungen von Edgar Allan Poe, Robert Bloch, Patricia Highsmith, Harry Harrison u. a. und erscheint als dreißigster Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  Robert Bloch: LIZZIE BORDEN MIT DEM BEILE

  (Lizzie Borden Took An Axe)

 

 

»Lizzie Borden mit dem Beile

Gab der Mutter vierzig Keile.

Als sie sah, was sie getan,

Kam auch noch der Vater dran.«

 

Man sagt, der Horror kommt um Mitternacht und wird aus dem Wispern der Träume geboren, aber zu mir kam der Horror am helllichten Mittag, angekündigt nur durch das prosaische Klingeln eines Telefons.

Ich hatte den ganzen Morgen im Büro gesessen und auf die staubige Straße gestarrt, die zu den Hügeln führte. Sie wand sich und hüpfte vor meinen schmerzenden Augen, weil die grelle Sonne meinem Sehvermögen Streiche spielte. Aber meine Augen waren nicht das einzige, was mich im Stich ließ. Die Hitze und die bedrückende Ruhe schienen auch irgendwie mein Gehirn zum Schmelzen zu bringen. Ich war unruhig und reizbar und wurde von einer schrecklichen Vorahnung gequält.

Das schrille Klingeln des Telefons brachte meine ganzen Ängste in grellster Form zum Ausdruck.

Meine Handflächen hinterließen ein Schweißmuster auf dem Hörer. Es war, als wenn ich ein heißes Bleigewicht an mein Ohr drücken würde. Aber die Stimme, die ich hörte, klang kalt. Eiskalt, als wäre sie vor Angst gefroren; die Worte erstarrten schon, während sie gesprochen wurden.

»Jim! Komm und hilf mir!«

Das war alles. Ehe ich antworten konnte, klickte es. Der Hörer schepperte auf den Schreibtisch, als ich aufstand und zur Tür rannte.

Natürlich war es Anita gewesen.

Anitas Stimme ließ mich zu meinem Wagen rennen. Ich raste die in der Hitze flirrende Straße entlang zu dem alten Haus tief in den Hügeln.

Da draußen war etwas passiert. Früher oder später hatte ja etwas passieren müssen. Das hatte ich gewusst, und jetzt verfluchte ich mich, weil ich nicht hartnäckig genug gewesen war; Anita und ich, wir beide hätten uns schon Vor Wochen absetzen sollen. Ich hätte den Mut aufbringen müssen, sie aus dieser Atmosphäre des Unheils zu reißen; und ich hätte es sicher auch getan, hätte ich nur daran glauben können. Es hatte aber alles so unwahrscheinlich ausgesehen; schlimmer noch: unwirklich.

Es gibt keine Spukhäuser an einsamen Berghängen. Und doch lebte Anita in einem.

Es gibt auch keine hageren fanatischen alten Männer, die über schwarzen Büchern brüten: keine Medizinmänner und Zauberer, deren abergläubische Nachbarn einen Bogen um sie machen. Und doch war Anitas Onkel, Gideon Godfrey, ein solcher Mann.

Heutzutage kann man junge Mädchen nicht mehr gefangen halten. Man kann ihnen nicht verbieten, das Haus zu verlassen, zu lieben und den Mann ihrer Wähl zu heiraten. Und doch hielt Anitas Onkel sie hinter Schloss und Riegel, und wir durften einfach nicht heiraten.

Ja, alles war ein Drama. Wenn ich nachdachte, fand ich die Geschichte lächerlich, aber war ich dann bei Anita, war mir gar nicht mehr zum Lachen zumute.

Wenn ich hörte, wie Anita über ihren Onkel sprach, glaubte ich ihr fast. Nicht dass er übernatürliche Kräfte besaß, das sicher nicht. Aber dass er schlau und unausgesetzt versuchte, sie in den Wahnsinn zu treiben.

So etwas versteht man, weil es böse, aber doch irgendwie greifbar ist.

Gideon Godfrey war Anitas gesetzlicher Vormund. Er verwaltete für sie ein kleines Erbe und hielt sie in dieser alten, verfallenden Hütte fest, wo sie ganz seiner Gnade ausgeliefert war. Verständlich, dass er da auf die Idee kam, mit wilden Geschichten ihre Phantasie anzuheizen.

Anita erzählte es mir; auch von den versperrten Räumen im Oberstock, wo der alte Mann über stockfleckigen Büchern, die er dort versteckt hielt, saß und irgendwas vor sich hinmurmelte. Sie erzählte mir auch von den Kämpfen mit Farmern und dass er sich in aller Offenheit brüstete, er würde deren Vieh verhexen und Mehltau auf ihre Kornfelder herabwünschen. Und sie erzählte mir auch von ihren Träumen. Nachts kam etwas Schwarzes in ihr Zimmer; etwas Schwarzes, Unfertiges; ein schleichender Nebel, der aber ein greifbares Wesen zu sein schien. Dieses Etwas hatte Züge, wenn nicht gar ein Gesicht, eine Stimme, vielleicht eine Kehle. Und es wisperte. Es flüsterte und war zärtlich. Sie versuchte die tintendunklen Strähnen abzuwehren, die ihr über das Gesicht und den Körper strichen. Sie kämpfte um den Schrei, der Traum und Schlaf gleichermaßen zerstören konnte.

Und einen Namen für das schwarze Ding hatte Anita auch.

Sie nannte es Inkubus.

Alte Schriften, die von Hexen handeln, erwähnen den Inkubus, den dunklen Dämon, der nachts zu den Frauen kommt. Der schwarze Gesandte des Satans und Verführers. Der lustvolle Schatten.

Den Inkubus kannte ich aus Legenden, Anita erlebte ihn aber als Wirklichkeit.

Anita wurde immer dünner und blasser. Ich wusste, dass daran kein Zauber schuld war, denn das Eingesperrtsein in ein düsteres muffiges Haus war wirksamer als alle Alchimie. Das, und die vom Sadismus diktierten Hinweise und Bemerkungen Gideon Godfreys, die sorgfältig kalkulierte bedrohende Atmosphäre, deren Folge Anitas Träume waren.

Leider war ich zu schwach gewesen. Für Godfreys Machenschaften gab es schließlich keinen wirklichen Beweis, und jeder Versuch, dies und jenes gegen ihn vorzubringen, konnte leicht dazu führen, dass man Anita auf ihren Geisteszustand hin untersuchte, nicht aber dem alten Mann misstraute.

Ich war jedoch der Überzeugung gewesen, dass Anita freiwillig mit mir von dort Weggehen würde, wenn ich ihr nur ein wenig Zeit ließ.

Aber jetzt war keine Zeit mehr.

Irgendetwas war geschehen.

Der Wagen wirbelte den Straßenstaub auf, als ich auf das alte Haus mit dem gesunkenen Strohdach zufuhr. Durch die Hitzeschwaden des Hochsommernachmittags erspähte ich den schadhaften Giebel über der langgestreckten Veranda.

Ich bog von der Zufahrt ab, fuhr an der Scheune und ein' paar Nebengebäuden vorbei und parkte hastig.

Keine Gestalt erschien an den offenen Fenstern, keine Stimme rief mir einen Gruß zu, als ich die Verandastufen hinaufrannte und vor der offenen Tür lauschte. Die Diele innen war dunkel. Ich klopfte nicht einmal, sondern lief hinein und ins Wohnzimmer.

Dort sah ich Anita stehen. Sie stand am anderen Ende, der Tür gegenüber. Ihr rotes Haar fiel unordentlich und zerzaust auf ihre Schultern. Ihr Gesicht war sehr blass, doch sie schien unverletzt zu sein. Ihre Augen leuchteten, ein wenig auf, als sie mich sah.

»Jim! Du bist da!«

Sie streckte die Arme nach mir aus, und ich stürzte auf sie zu, um sie zu umarmen.

Während des Laufens stolperte ich über etwas.

Ich schaute hinab.

Zu meinen Füßen lag die Leiche von Gideon Godfrey. Sein Kopf war gespalten und nur noch eine blutige Masse.

 

Anita schluchzte in meinen Armen, und ich streichelte ihre Schultern, versuchte dabei aber, nicht das rote grausige Etwas auf dem Boden anzusehen.

»Hilf mir!«, flüsterte sie immer wieder. »Hilf mir!«

»Selbstverständlich helfe ich dir!«, murmelte ich. »Aber was ist denn nun eigentlich geschehen?«

»Ich - weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?«

Etwas in meinem Ton ernüchterte sie. Sie richtete sich auf, zog sich von mir zurück und betupfte ihre Augen. Dabei sprudelte sie flüsternd ihre Geschichte heraus.

»Es war sehr heiß heute früh. Ich war in der Scheune. Ich war sehr müde und schlief auf dem Heuboden ein. Dann wachte ich ganz plötzlich auf und kehrte ins Haus zurück. Und fand - ihn - hier - auf dem Boden.«

»Hörtest du denn keinen Lärm? Sahst du keinen Menschen hier herum?«

»Keine Menschenseele war da.«

»Du siehst ja, wie er umgebracht wurde«, sagte ich. »Das konnte man nur mit einer Axt tun. Aber wo ist die Axt?« Sie wandte den Blick ab. »Die Axt? Ich weiß es nicht. Wenn jemand ihn damit umgebracht hat, müsste sie doch eigentlich neben der Leiche liegen.«

Ich drehte mich um und ging zur Tür.

»Jim, wohin willst du?«

»Die Polizei anrufen selbstverständlich«, erklärte ich ihr.

»Nein, das darfst du nicht! Verstehst du denn nicht? Wenn du sie jetzt rufst, dann glauben sie, ich hätte es getan.«

Ich konnte dazu nur nicken. »Ja, das stimmt. Es ist eine ziemliche dünne Geschichte, nicht wahr, Anita? Wenn wir nur die Waffe hätten oder Fingerabdrücke, Fußspuren, einen winzigen Hinweis wenigstens.«

Anita seufzte.

Ich nahm ihre Hand.

»Versuch dich zu erinnern«, drängte ich sie. »Weißt du ganz bestimmt, dass du draußen in der Scheune warst, als es geschah? .Kannst du dich nicht an etwas mehr erinnern?«

»Nein, Liebling. Es ist alles so verworren. Ja, irgendwie verworren. Ich schlief und hatte einen dieser Träume. Das schwarze Ding kam...«

Mich schauderte. Ich wusste, wie diese Mitteilung auf mich wirkte, und konnte mir daher genau die Reaktion der Polizei vorstellen. Selbst ich war überzeugt, dass sie wahnsinnig war. Aber dann gewann ein anderer Gedanke die Oberhand. Irgendwie hatte ich das Gefühl, diesen Moment schon einmal erlebt zu haben. Eine Pseudo-Erinnerung? Oder hatte ich je darüber gehört oder gelesen?

Gelesen? Jawohl, gelesen hatte ich es!

»Versuch dich genau zu erinnern!« drängte ich abermals. »Fällt dir denn nicht ein, wie alles begann? Weißt du nicht, weshalb du überhaupt in die Scheune gegangen bist?«

»Ja, ich glaube, ich kann mich erinnern. Ich ging hinaus, um ein paar Angelhaken zu holen.«

»Angelhaken? In der Scheune?«                                     

Etwas hatte geklickt. Ich starrte sie mit Augen an, die ungefähr ebenso glasig sein mussten wie die der Leiche auf dem Boden.

»Hör mir zu!«, sagte ich. »Du bist nicht Anita Loomis. Du bist - Lizzie Borden!«

Sie schwieg. Der Name schien ihr gar nichts zu sagen. Aber mir fiel alles wieder ein, die alte, uralte Geschichte, das Geheimnis, das noch niemand gelüftet hatte.

Ich führte sie zum Sofa und setzte mich zu ihr. Sie schaute mich nicht an, ich schaute sie nicht an. Wir beide schauten das Wesen auf dem Boden nicht an. Die Hitze flirrte um uns herum, als ich ihr flüsternd die Geschichte von Lizzie Borden erzählte.

Es war Anfang August des Jahres 1892. Fall River, Massachusetts, stöhnte unter einer Hitzewelle. Die Sonne knallte herab auf das Haus des angesehenen Bürgers von Fall River, den ehrenwerten Andrew Jackson Borden. Der alte Mann wohnte hier mit seiner zweiten Frau, Mrs. Abby Borden. Sie war die Stiefmutter der beiden Töchter Emma und Lizzie Borden. Die Magd, Bridget Maggie Sullivan, vervollständigte den Haushalt. Ein Hausgast, John V. Morse, machte gerade anderswo einen Besuch, und auch Emma, die ältere der beiden Borden-Mädchen, war abwesend.

Am 2. August waren nur die Magd und Lizzie Borden zu Hause, als Mr. und Mrs. Borden krank wurden. Lizzie erzählte ihrer Freundin Marion Russell, dass sie glaube, die Milch sei vergiftet worden.

Aber es war zu heiß, als dass man sich darüber Gedanken machte; es war zu heiß, überhaupt zu denken. Außerdem nahm man Lizzie auch nicht ganz ernst. Sie war zweiunddreißig, eckig, wenig ansprechend, und in Fall River waren die ihr entgegengebrachten Gefühle recht gemischt. Man wusste, dass sie kultiviert und fein war; sie hatte Europa bereist; sie ging fleißig in die Kirche, unterrichtete eine Klasse in der Sonntagsschule und stand in dem Ruf, in Wohltätigkeitsorganisationen und dergleichen gute Arbeit zu leisten. Aber einige Leute hielten sie für recht temperamentvoll, sogar für exzentrisch. Und sie hatte Ansichten.

Man nahm also zwar die Krankheit der alten Bordens zur Kenntnis, schrieb sie aber ganz natürlichen Ursachen zu. Man konnte an nichts anderes denken als an die alles beherrschende Hitze und an das bevorstehende Picknick der Polizei von Fall River, das jedes Jahr am 4. August stattfand.

Am 4. August hatte die Hitze noch nicht ein bisschen nachgelassen, aber um elf Uhr war das Picknick in vollem Gang. Um diese Zeit verließ Andrew Jackson Borden sein Stadtbüro und kam nach Hause, um sich auf dem Wohnzimmersofa ein wenig auszuruhen. In der glühenden Hitze schlief er ziemlich unruhig.

Wenig später kam Lizzie Borden von der Scheune herein ins Haus und fand ihren Vater nicht mehr schlafend vor.

Mr. Borden lag auf dem Sofa. Der Kopf war ihm so eingeschlagen worden, dass sein Gesicht kaum noch zu erkennen war.

Lizzie Borden rief nach der Magd, die in ihrem Zimmer ruhte. Sie befahl Maggie Sullivan, sofort zu Dr. Bowen zu laufen und ihn zu holen. Er wohnte in der Nachbarschaft, doch er war nicht zu Hause.

Eine andere Nachbarin, eine Mrs. Churchill, kam zufällig vorbei. Lizzie Borden begrüßte sie an der Tür.

»Jemand hat Vater umgebracht«, waren Lizzies Worte.

»Und wo ist Ihre Mutter?«, fragte Mrs. Churchill.

Lizzie Borden zögerte. In dieser Hitze konnte man ja nicht denken.

»Sie ist ausgegangen«, sagte sie schließlich. »Jemand hat sie gebeten, zu kommen und zu helfen, wegen eines Krankheitsfalles.«

Mrs. Churchill zögerte nicht. Sie marschierte sofort los und holte Hilfe. Bald hatten sie etliche Nachbarn und Freunde versammelt. Polizei und Ärzte wurden ebenfalls erwartet. Und es war Mrs. Churchill, die trotz der allgemeinen Verwirrung direkt nach oben in das Gästezimmer ging.

Dort lag. Mrs. Borden mit eingeschlagenem Kopf.

Als Dr. Dolan, der Coroner, kam, war die Vernehmung schon in vollem Gang. Der Polizeichef und einige seiner Männer hatten festgestellt, dass nichts geraubt worden war. Sie begannen Lizzie zu vernehmen.

Lizzie Borden sagte, sie sei in der Scheune gewesen, habe Birnen gegessen und Angelhaken gesucht. Es sei fürchterlich heiß gewesen, und deshalb sei sie eingeschlafen und dann von einem unterdrückten Stöhnen aufgewacht. Sie sei ins Haus gegangen, um nachzusehen. Und da habe sie dann ihres Vaters Leiche mit dem zerschmetterten Schädel gefunden. Und das sei alles.

Man erinnerte sich an ihre Giftgeschichte, die plötzlich eine gewisse Bedeutung gewann. Ein Drogist erklärte, eine Frau sei tatsächlich vor einigen Tagen in seinen Laden gekommen und habe versucht, etwas Blausäure zu bekommen, mit der sie die Motten in ihrem Pelzmantel vernichten wollte. Er hatte ihre Bitte abgelehnt und ihr mitgeteilt, sie brauche dafür ein ärztliches Rezept.

Die Frau wurde identifiziert. Es war Lizzie Borden.

Daraufhin nahm man Lizzies Geschichte, dass ihre Mutter aus dem Haus gerufen worden sei, unter die Lupe. Niemand wusste etwas davon.

Man war inzwischen übrigens recht fleißig gewesen. Im Keller entdeckte man ein Beil mit abgebrochenem Griff. Es schien erst vor ganz kurzer Zeit abgewaschen worden zu sein und war dann mit Asche zugedeckt worden. Wasser und Asche, um Flecken zu verbergen.

Der Schock, die Hitze und die Überraschung spielten eine sehr subtile Rolle. Die Polizei zog sich wenig später zurück, ohne formell etwas zu unternehmen. Sie vertagte die ganze Sache bis zur öffentlichen Leichenschau. Schließlich war Andrew Jackson Borden ein wohlhabender Bürger gewesen und seine Tochter eine bekannte und respektable Frau, und keiner wollte vorschnell etwas unternehmen.

Einige Tage vergingen in kochender Hitze. Man flüsterte hinter vorgehaltenen schwitzenden Händen. Drei Tage nach dem Verbrechen kam Lizzies Freundin Marion Russel vorbei und entdeckte, dass Lizzie ein Kleid verbrannte.

»Das war ganz voll Farbe«, erklärte Lizzie Borden.

Marion Russel erinnerte sich an dieses Kleid. Lizzie Borden hatte es am Tag des Mordes getragen.

Die unvermeidliche Leichenschau wurde abgehalten.

und das Ergebnis war auch unumgänglich. Lizzie Borden wurde verhaftet und wegen der beiden Morde angeklagt.

Nun kam die Presse in die Geschichte. Die Kirchenmitglieder nahmen Partei für Lizzie Borden. Die alten Transusen hielten viel von ihr. In den sechs Monaten, die dem Gerichtsverfahren vorausgingen, wurde das Verbrechen international berühmt.

Aber man konnte nichts Neues entdecken.

Der Prozess dauerte dreizehn Tage. Die erschreckende Geschichte wurde ausführlich erzählt, aber eine sensationelle Entwicklung fehlte.

Warum sollte eine gebildete alte Jungfer aus New England plötzlich ihren Vater und ihre Stiefmutter mit einem Beil töten, dann unverfroren die Leichen entdecken und die Polizei rufen

Die Anklagevertretung konnte darauf keine zufriedenstellende Antwort geben. Am 20. Juni 1893 wurde Lizzie Borden von einer Jury nach einstündiger Beratung freigesprochen.

Sie kehrte in ihr Haus zurück und lebte dort noch viele, sehr viele Jahre lang in äußerster Zurückgezogenheit. Das Stigma war von ihr genommen, aber das Geheimnis nahm sie mit ins Grab.

Nur die kleinen Mädchen hielten die Erinnerung an sie wach, wenn sie beim Seilhüpfen ernsthaft sagen:

»Lizzie Borden mit dem Beile

Gab der Mutter vierzig Keile

Als sie sah. was sie getan.

Kam auch noch der Vater dran.«

 

Diese Geschichte erzählte ich Anita, und man kann sie in jeder Mordchronik nachlesen.

Sie hörte mir kommentarlos zu. aber ich bemerkte, wie sie ein paarmal scharf die Luft einsog, als ich ein paar ganz bezeichnende Parallelen erwähnte. Der heiße Tag. Die Scheune. Die Angelhaken. Ein plötzlicher Schlaf, ein ebenso plötzliches Erwachen. Die Rückkehr zum Haus. Die Entdeckung der Leiche. Nahm eine Axt...

Sie wartete, bis ich geendet hatte.

»Jim, warum erzählst du mir das?«, fragte sie. »Willst du damit andeuten, dass ich - meinen Onkel - mit einer Axt...«

»Ich deute gar nichts an«, antwortete ich. »Mir fiel nur die Ähnlichkeit dieses Falles mit dem Fall der Lizzie Borden auf.«

»Was glaubst du, was passiert ist, Jim? Ich meine im Fall Lizzie Borden.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich langsam. »Ich dachte nur darüber nach, ob du vielleicht eine Theorie hast.«

Ihre opalfarbenen Augen glitzerten.

»Könnte es nicht vielleicht genauso gewesen sein?«, flüsterte sie. »Du weißt doch, was ich dir über meine Träume erzählt habe. Und von dem Inkubus. Angenommen, Lizzie Borden hatte auch diese Träume. Und angenommen, ein Wesen entschlüpfte ihrem schlafenden Gehirn, ein Wesen, das eine Axt ergriff und mordete.«

Sie spürte meinen Protest, überging ihn aber.

»Onkel Gideon wusste von solchen Dingen. Wie der Geist einen im Schlaf überfällt. Konnte ein solches Wesen, während sie schlief, ihre Eltern umbringen? Könnte ein solches Wesen nicht auch in dieses Haus hier geschlichen sein, während ich schlief, und Onkel Gideon getötet haben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Du kennst die Antwort, die ich dir geben muss«, sagte ich. »Und du kannst dir auch vorstellen, was die Polizei dazu sagen würde. Unsere einzige Chance ist, die Mordwaffe zu finden, ehe wir sie verständigen.«

Wir gingen zusammen zur Diele und schritten dann

Hand in Hand durch die Backöfen, zu denen die unmenschliche Hitze die Räume des alten Hauses gemacht hatte. Staub lag überall, und das Haus sah trostlos und verlassen aus. Nur die Küche ließ auf eine kürzliche Benützung schließen. Anita sagte, dort hätten sie am Morgen gefrühstückt.

Nirgends war ein Beil oder eine Axt zu finden.

Ich suchte sogar im Keller. Ich war fast sicher gewesen, was ich dort finden würde, und Anita weigerte sich nicht, mit mir hinunterzugehen.

Aber der Keller enthielt kein einziges scharfes Instrument.

Wir gingen die Treppe hinauf in den Oberstock. Das vordere Schlafzimmer nahmen wir uns zuerst vor, dann Anitas kleines Zimmer, und zuletzt standen wir vor der Tür von Gideon Godfreys Raum.

»Da ist ja zugesperrt!« stellte ich fest. »Komisch!«

»Nein«, sagte Anita. »Er hat ihn immer zugesperrt. Der Schlüssel muss unten sein - bei ihm.«

»Ich hole ihn«, schlug ich vor und tat es auch.

Als ich mit dem rostigen Schlüssel zurückkehrte, stand Anita zitternd im Gang.

»Ich gehe nicht mit dir hinein«, keuchte sie. »Ich war nie in diesem Zimmer. Ich habe Angst. Er sperrte sich immer dort ein, und spät in der Nacht hörte ich dann Geräusche. Er betete, aber nicht zu Gott.«

»Dann wartest du eben hier«, sagte ich.

Ich sperrte die Tür auf, öffnete sie und trat über die Schwelle.

Gideon Godfrey war vielleicht selbst ein Irrer. Vielleicht war er aber auch ein schlauer Intrigant, der seine Nichte an der Nase hatte herumführen wollen. Wie auch immer - er glaubte jedenfalls an Zauberei, Aus der Ausstattung des Zimmers ging das eindeutig hervor. Ich sah die Bücher, die grob gezogenen Kreidekreise auf dem Boden; buchstäblich Dutzende, hastig verwischt und endlos wiederholt; an eine der Wände waren merkwürdige geometrische Figuren mit blauer Kreide gezeichnet, und Wachstropfen von Kerzen bedeckten die Wände und den Boden gleichermaßen. Die schwere, stickige Luft roch schwach nach Weihrauch.

Ich entdeckte auch ein scharfes Instrument im Zimmer - ein langes, silbernes Messer, das auf einem kleinen Beistelltisch neben einer Zinnschüssel lag. Das Messer schien rostig zu sein, und der Rost war rot. Aber es war nicht die Mordwaffe, das stand fest.

Ich hielt Ausschau nach einer Axt, doch die war nicht da.

Ich kehrte zu Anita zurück.

»Gibt es denn nicht noch einen Raum?«, fragte ich.

»Vielleicht die Scheune«, schlug sie vor.

»Und im Wohnzimmer haben wir auch nicht richtig nachgesehen«, fügte ich hinzu.

»Bitte, bitte, zwing mich nicht dazu, dort noch einmal hineinzugehen!«, flehte Anita. »Nicht in das Zimmer, wo er liegt! Schau du dort nach, dann gehe ich in die Scheune.«

Unten an der Treppe trennten wir uns. Sie ging durch die Seitentür hinaus, ich kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Ich schaute hinter den Stühlen nach und unter dem Sofa, fand aber nichts. Es war sehr heiß und sehr ruhig. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen.

Hitze. Ruhe. Und das grinsende Etwas auf dem Boden.

Ich wandte mich ab, lehnte mich an den Kamin und starrte meine blutunterlaufenen Augen im Spiegel an.

Und mit plötzlich sah ich es hinter mir stehen. Es war wie eine schwarze Wolke. Aber eine Wolke war es nicht, sondern ein Gesicht. Ja, ein Gesicht, das mit einer schwarzen Maske aus wogendem Rauch bedeckt war; eine Maske, die hämisch grinste und näher kam. Sie kam durch die Hitze und die Stille, und ich konnte mich nicht bewegen. Ich starrte in den wirbelnden Rauch, der ein Gesicht umspielte.

Dann hörte ich etwas zischen und drehte mich um.

Hinter mir stand Anita.

Als ich ihre Handgelenke packte, schrie sie und fiel um. Ich konnte nur zu ihr hinabstarren, als die schwarze Wolke vor ihrem Gesicht verschwand, sich einfach in Luft auflöste.

Die Suche war vorüber. Ich hatte die Mordwaffe entdeckt. Sie hatte sie fest in der Hand - die blutbefleckte Axt.

 

Ich trug Anita zum Sofa. Sie bewegte sich nicht, und ich machte keinen Versuch, sie wieder zu sich zu bringen.

Ich ging in die Diele hinaus und nahm die Axt mit. Es hatte ja keinen Sinn, etwas dem Zufall zu überlassen. Noch traute ich Anita, nicht aber diesem Ding, diesem schwarzen, wirbelnden Nebel, der wie Rauch aussah und Besitz ergreifen konnte von einem lebendigen Gehirn, es mordlüstern machte.

Es war eine dämonische Besessenheit. Eine Legende, aufgezeichnet in alten Büchern, wie sie im Zimmer des toten Zauberers zu finden waren.

Ich ging quer über die Diele in das kleine Arbeitszimmer gegenüber. Dort war das Telefon. Ich wählte die Zentrale. Man verband mich mit dem Büro der Straßenpolizei. Ich weiß nicht, weshalb ich die dem Sheriff vorzog.

Während des ganzen Telefongespräches war ich halb betäubt. Ich stand da und hatte die Axt in der Hand und berichtete mit kurzen Worten den Mord.

Man stellte mir Fragen, aber ich ließ sie unbeantwortet.

»Kommen Sie heraus zum Haus von Godfrey!«, sagte ich. »Da hat es einen Mord gegeben.«

Was hätte ich sonst sagen können?

Und was konnten wir der Polizei erzählen, wenn sie in einer halben Stunde hier ankam?

Die Wahrheit würden sie sowieso nicht glauben. Wie sollten sie auch glauben, dass ein Dämon in einen menschlichen Körper eindringen und sich dieses Körpers bedienen konnte, um einen Mord zu begehen?

Aber ich glaubte es jetzt. Ich hatte selbst den hässlichen lauernden Ausdruck in Anitas Gesicht gesehen, als sie mich von hinten her anschlich, mit der Axt. Ich hatte den schwarzen Rauch gesehen, diese Verkörperung eines Dämons, der lüstern war nach einem blutigen Mord.