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GUY HOCQUENGHEM (1946–1988) war früh in kommunistischen und trotzkistischen Gruppen aktiv. Als Student beteiligte er sich an den Protesten im Mai 1968 und wurde 1971 Mitglied des neu gegründeten Front homosexuel d’action révolutionnaire (FHAR). Der Vertraute von Gilles Deleuze, Michel Foucault und René Schérer veröffentlichte mehr als zwanzig Werke, bis er 1988 an Aids starb.

LUKAS BETZLER, geboren 1989, promoviert gegenwärtig über die Literaturtheorie der älteren Kritischen Theorie an der Universität Lüneburg. HAUKE BRANDING, geboren 1988, forscht und veröffentlicht zu Klassentheorien, zur Geschichte der Schwulenbewegung und der Queer Theory.

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Zuerst erschienen 1972 unter dem Titel Le désir homosexuel bei Editions Universitaires Paris; neu herausgegeben 2000 bei Librairie Artheme Fayard. Auf deutsch zuerst erschienen 1974 unter dem Titel Das homosexuelle Verlangen bei Hanser.

© Librairie Artheme Fayard, 2000.

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Erste Auflage September 2019

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Jean-Pierre REY /

Fond Photographique

Jean-Pierre REY

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

ePub ISBN 978-3-96054-209-4

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Guy Hocquenghem, 1972

Inhalt

Einleitung

I. Die anti-homosexuelle Paranoia

Das Widernatürliche und das Gesetz: Die Natur und der Code Pénal • Der Mythos des sittlichen Fortschritts • Die Zunahme der anti-homosexuellen Paranoia • Homosexualität und Kriminalität • Homosexualität und Krankheit • ›Latente‹ Homosexualität gegen ›offene‹ Homosexualität

II. Schändliche, Perverse, Verrückte

Perverser Polymorphismus, Bisexualität, unmenschliches Geschlecht • Der Hass auf die Frau • Die Ödipalisierung der Homosexualität • Die Kastration, der Narzissmus • Ödipus und der Homosexuelle • Der homosexuelle Präsident • Der Teufelskreis der Heilung • Scham und Homosexualität

III. Familie, Kapitalismus, Anus

Der signifikante Phallus und der sublimierte Anus • Homosexualität und Anus • Homosexualität und Identitätsverlust • Konkurrenzgesellschaft und Herrschaft des Phallus • Ödipale Reproduktion und Homosexualität • Die homosexuelle Gruppalisierung

IV. Homosexuelle ›Objektwahl‹ und homosexuelles ›Verhalten‹

Die ›Objektwahl‹ • ›Drittes Geschlecht‹ und Feminin-Maskulin • Masochismus und Homosexualität • Die Cruisingmaschine

V. Der homosexuelle Kampf

Die Revolution des Begehrens • Wieso die Homosexualität? • Die Falle des Perversen • Gegen das pyramidale Prinzip

Schluss

Lukas Betzler und Hauke Branding

Guy Hocquenghems radikale Theorie des Begehrens – Nachwort zur Neuherausgabe

Die Leben des Guy Hocquenghem • Rezeption und Vergessen • Kritik der Linken, Kritik der Psychoanalyse • Queer Theory avant la lettre • Anziehungskraft und Aktualität • Die Suche nach dem revolutionären Subjekt • Negative Irritationen • Was zu bewahren ist – eine radikal-queere Gesellschaftskritik • Editorische Epilegomena

Literaturverzeichnis

Personenregister

Für Gérard Grandmontagne, der sich am 25. September 1972 im Gefängnis von Fresnes das Leben genommen hat.

Einleitung

Nicht das homosexuelle Begehren ist problematisch, sondern die Angst vor der Homosexualität; es gilt zu erklären, warum das bloße Wort bereits Fluchtbewegungen und Hassgefühle auslöst. Fragen wir uns also, wie man in der heterosexuellen Welt über die ›Homosexualität‹ zu reden und zu phantasieren pflegt. Die große Mehrheit der ›Homosexuellen‹ ist sich nicht einmal ihrer Existenz bewusst. Von Kindheit an wird das homosexuelle Begehren durch eine Reihe von Mechanismen in Familie und Erziehung gesellschaftlich eliminiert. Die Fähigkeit zu vergessen, die jene gesellschaftlichen Mechanismen angesichts des homosexuellen Triebes hervorbringen, ist groß genug, um jeden sagen zu lassen: Für mich existiert dieses Problem gar nicht.

Wir nehmen hier das zum Ausgangspunkt, was man gemeinhin ›männliche Homosexualität‹ nennt. Nicht dass die Unterscheidung der Geschlechter selbstverständlich wäre: Sie soll hier letztlich selbst in Frage gestellt werden. Doch die Organisation des Begehrens, der wir unterliegen, beruht auf der Herrschaft des Mannes, und so bezeichnet man mit dem Terminus ›Homosexualität‹ vor allem die ödipal-imaginäre Konstruktion der männlichen Homosexualität. Es wäre sinnlos, die weibliche Homosexualität erneut in jenen Begriffen zu behandeln, in denen die männliche Ideologie es für gewöhnlich tut.

Es gibt Ausdrucksformen des Begehrens, die wir alle schon verspürt haben, von denen wir jedoch in unserem Alltagsleben niemals sprechen. Darum können wir uns auch nicht damit begnügen, unsere Vorstellungen über unser eigenes Begehren heranzuziehen. Ein phantastischer gesellschaftlicher Mechanismus tilgt unaufhörlich die Spuren, die unser verdrängtes Begehren immer wieder hinterlässt. Um zu begreifen, welche Macht dieser Mechanismus besitzt, muss man sich bloß vor Augen halten, was mit einer so universell verbreiteten Erfahrung wie der Masturbation geschieht: Alle haben sich selbstbefriedigt, doch niemand spricht jemals darüber, nicht einmal in seinen engsten Beziehungen.

Homosexuelles Begehren: Dieser Begriff ist nicht selbstverständlich. Es gibt keine Unterscheidung des Begehrens in Homosexualität und Heterosexualität. In strengem Sinne gibt es nicht mehr homosexuelles Begehren, als es heterosexuelles Begehren gibt. Das Begehren tritt in vielfältiger Form hervor, deren einzelne Bestandteile a posteriori trennbar sind, entsprechend den Behandlungen, denen wir es unterziehen. Wie das heterosexuelle Begehren ist auch das homosexuelle Begehren eine willkürliche Unterteilung (découpage) innerhalb eines ununterbrochenen und vieldeutigen (polyvoque) Stromes. Die Charakterisierung des Begehrens als ausschließlich homosexuell ist in ihrer derzeitigen Form ein Trugbild des Imaginären (leurre de l’imaginaire). Da jedoch das Spiel der Bilder in der Homosexualität am deutlichsten zum Vorschein kommt, kann man die Arbeit der Dekonstruktion dieser Bilder hier, an ihrem empfindlichsten Punkt, beginnen. Wenn sich im Bild der Homosexualität auf komplexe Weise Begehren und Furcht miteinander verbinden, wenn die Beschwörung des homosexuellen Phantasmas obszöner und zugleich erregender als alles andere ist, wenn man als Homosexueller nirgendwo auftauchen kann, ohne dass die Familien sich aufregen und ihre Kinder beiseite nehmen, ohne dass sich eine Mischung aus Schrecken und Begehren breitmacht, so eben darum, weil für uns Angehörige westlicher Gesellschaften des 20. Jahrhunderts eine enge Beziehung zwischen Begehren und Homosexualität besteht. Homosexualität bringt etwas vom Begehren zum Ausdruck, das sonst verborgen bleibt – und dieses ›etwas‹ ist keineswegs bloß der mit einer Person gleichen Geschlechts vollzogene Geschlechtsakt.

Die Homosexualität sucht die ›normale Welt‹ heim. Dieser Feststellung konnte sich nicht einmal ein Alfred Adler entziehen: »Wie ein Gespenst, ein Schreckpopanz, erhebt sich die Frage der Homosexualität in der Gesellschaft. Aller Verdammnis zum Trotz scheint die Zahl der Perversen in Zunahme begriffen zu sein […]. Die härtesten Strafen, die mildeste Beurteilung, versöhnliche Haltung, Verschweigung zuletzt, – alle Versuche bleiben ohne Einfluß auf die Verbreitung dieser Anomalie.«1 – so beginnt seine Schrift Das Problem der Homosexualität. In ihrem unaufhörlichen Kampf gegen die Homosexualität stellt die Gesellschaft stets von Neuem fest, dass ihre Verurteilung eben jene Plage, die loszuwerden sie beabsichtigt, selbst reproduziert.

Und dies nicht ohne Grund: Die kapitalistische Gesellschaft erzeugt den Homosexuellen, wie sie den Proletarier produziert, wodurch sie ständig ihre eigenen Schranken hervorbringt. Die Homosexualität ist ein Erzeugnis der normalen Welt; wir verstehen diesen Satz jedoch selbstredend nicht im Sinne eines gewissen Liberalismus, der zur Entschuldigung der Homosexuellen erklärt, dass die Gesellschaft schuldig sei – eine pseudo-progressive Haltung, die für den Homosexuellen noch gnadenloser ist als die offene Repression. Niemand wird jemals die Vieldeutigkeit (polyvocité) des Begehrens beseitigen. Was aber erzeugt wird, ist jene psychopolizeiliche Kategorie der Homosexualität, jene abstrakte Unterteilung des Begehrens, die auch noch über den zu bestimmen erlaubt, der sich ihr entzieht, jene gesetzliche Erfassung dessen, was jenseits des Gesetzes ist. Die Kategorie – und sogar das Wort selbst – sind eine relativ neue Erfindung. Der wachsende Imperialismus einer Gesellschaft, die auch dem nicht Klassifizierbaren einen gesellschaftlichen Status zuweisen will, hat diese Partikularisierung des Ungleichgewichts geschaffen: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Gottesleugner, diejenigen, die nicht sprechen konnten, und die ›Sodomiten‹ in ein und dasselbe Gefängnis geworfen. So wie das Aufkommen der Psychiatrie und des Irrenhauses bezeugt, welche Fähigkeit die Gesellschaft bei der Erfindung spezifischer Mittel zur Klassifizierung des nicht Klassifizierbaren entwickelt2, so erschafft das moderne Denken eine neue Krankheit: die Homosexualität. Laut Havelock Ellis soll das Wort ›homosexuell‹ 1869 von einem deutschen Arzt erfunden worden sein.3 Das pseudowissenschaftliche Denken der Psychiatrie hat, indem es zum Zwecke besserer Beherrschung Unterteilungen vornahm, die barbarische Intoleranz in zivilisierte Intoleranz verwandelt.

Damit kennzeichnete sie das, was am Rande steht, doch indem sie das tat, rückte sie es ins Zentrum. Lehrreich ist hier das erstaunliche Unternehmen Alfred Kinseys: Er setzte lediglich die Einschließungsbemühungen der modernen Psychiatrie fort, indem er ihnen die materiellen, soziologischen und statistischen Grundlagen verschaffte: In einer Welt, die von Zahlen lebt, hat er gezeigt, dass man die Homosexuellen auf einen Anteil von vier oder fünf Prozent eingrenzen kann. Und es waren nicht diese wenigen Millionen, die den Entrüstungssturm bei der Veröffentlichung des Kinsey-Reports ausgelöst haben, sondern die folgende Entdeckung, die wissenschaftliche Einfalt nicht zu verheimlichen wusste: »Da nur 50 Prozent der Bevölkerung als Erwachsene ausschließlich heterosexuell sind und nur 4 Prozent der Bevölkerung während ihres gesamten Lebens ausschließlich homosexuell sind, scheint es, daß sich fast die Hälfte der Bevölkerung als Erwachsene (46 Prozent) sowohl heterosexuell als auch homosexuell betätigt oder auf Personen beiderlei Geschlechts reagiert.«4

Es geht also nicht mehr bloß um die kleine ›Tunte‹, die jeder kennt, sondern um jede zweite Person – um Ihren Nachbarn oder, warum nicht, um Ihren Sohn. Und der naive Kinsey schreibt: »Die Welt läßt sich nicht in schwarze und weiße Schafe aufteilen; denn nicht alle Dinge sind schwarz oder weiß. Es ist ein Grundsatz der Taxonomie, daß die Natur selten getrennte Kategorien aufweist. Nur der menschliche Geist führt Kategorien ein und versucht, die Tatsachen in bestimmte Fächer einzuordnen. Die lebende Welt ist in allen ihren Aspekten eine Kontinuität.«5 Immer genauere Unterscheidungen will man treffen und trifft dabei auf das Ununterscheidbare. Waren tatsächlich so viele Fragebögen und Befragungen nötig, um am Ende herauszufinden, dass jeder mehr oder weniger homosexuell ist? Freilich, man wird die Rechte der quantitativen Normalität mit der berühmten Kinsey-Skala wiederherstellen, jener Skala, die die Individuen nach dem Grad ihrer homosexuellen Praxis durchnummeriert und dabei den Prozentsatz auf das Niveau der in jedem Menschen vorhandenen Quantität homosexuellen Begehrens hinabdrückt.

So ist die normale Sexualität von allen Seiten umstellt, und in unaufhörlicher Bewegung wird sie von ihren Rändern her unterspült. Alle Bemühungen um Isolierung, Erklärung, Eindämmung des pestkranken Päderasten6 enden damit, dass sie ihn in den Mittelpunkt der Wachträume rücken. Hierin ist Jean-Paul Sartre recht zu geben, wie immer man auch sonst sein psychologisches Portrait Jean Genets kritisieren mag: Warum lässt die Gesellschaft immer nur die Psychiater zu Wort kommen, niemals aber die Homosexuellen – es sei denn in der traurigen Litanei der klinischen ›Fälle‹? »Für uns ist allerdings wichtig, daß man uns bloß nicht die Stimme des Schuldigen selbst hören läßt, diese sinnliche und erregende Stimme, die junge Leute verführt, diese atemlose Stimme, die während der Lust murmelt, diese vulgäre Stimme, die eine Liebesnacht wiedergibt. Der Päderast muß ein Objekt bleiben, Blume, Insekt, Bewohner des antiken Sodom oder des fernen Uranus, ein Automat, der im Rampenlicht herumhopst; alles, was man will, nur nicht mein Nächster, nur nicht mein Bild, nur nicht ich selbst. Denn man muß schon wählen: wenn jeder Mensch der ganze Mensch ist, muß dieser Abweichler entweder nur ein Kieselstein oder ich sein.«7 Aus der Unterscheidung erwächst die Sicherheit, doch aus eben diesem Wort pédéraste erwächst etwas merkwürdig Verführerisches: pédérasque, wie das Ungeheuer Tarasque, oder pédérastre, wie Zoroastre (Zarathustra). Dergleichen gängige Fehler, gefunden in Leserbriefen an Zeitungen, sagen genug über das aus, was geschieht, wenn man dieses Wort ausspricht. Nebenbei sei auf den außerordentlich reichen Wortschatz zur Bezeichnung des männlichen Homosexuellen hingewiesen: Tante (tante), Tunte (tantouze), Schwuchtel (pédé) (egal ob als Maskulinum oder Femininum) usw. – alles sieht so aus, als mühte sich die Sprache ab, das Unsagbare einzugrenzen und zu benennen.

Wenn also immer wieder betont wird, dass es keinerlei Unterschied zwischen den Homosexuellen und den Heterosexuellen gebe, dass die einen wie die andern sich in Reiche und Arme, Männchen (mâles) und Weibchen (femelles), Gute und Böse aufteilten, dann gerade deswegen, weil zwischen den Homosexuellen und den Heterosexuellen eine Distanz besteht, weil alle Bemühungen um eine Eingliederung der Homosexualität in das normale Leben immer wieder enttäuscht werden, weil sich bei jeder Gelegenheit ein unüberbrückbarer Abgrund auftut. Die Homosexualität existiert nicht und existiert doch: Was die Gewissheit ihrer Existenz in Frage stellt, ist die Art und Weise, in der sie existiert.

1 Adler, Das Problem, S. 23.

2 Vgl. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft.

3 Vgl. Ellis, Sexual Inversion.

4 Kinsey, Das sexuelle Verhalten des Mannes, S. 605. Diese 1948 veröffentlichte und als Kinsey Report bekannt gewordene Studie stellte das männliche Sexualverhalten erstmals auf Grundlage groß angelegter statistischer Erhebungen dar (Anm. d. Hrsg.).

5 Ebd., S. 594.

6 Der Begriff pédéraste meint im Französischen im Allgemeinen einen männlichen Homosexuellen und impliziert, anders als die Bezeichnung ›Päderast‹ im Deutschen, nicht (notwendigerweise) ein auf männliche Jugendliche gerichtetes Sexualempfinden. Die im Französischen gängige abwertende Bezeichnung pédé für ›Schwuler‹ oder ›schwul‹ sowie der Verlan-Begriff race d’ep, nach dem ein Essayfilm von Hocquenghem und dem Filmemacher Lionel Soukaz betitelt ist, leiten sich aus diesem Wort ab (Anm. d. Hrsg.).

7 Sartre, Saint-Genet, S. 910.

I. Die anti-homosexuelle Paranoia

Die Herausbildung der Homosexualität als gesonderter Kategorie geht eng einher mit ihrer Unterdrückung. Es ist also kaum verwunderlich, wenn man entdeckt, dass die anti-homosexuelle Unterdrückung selbst ein gestörter Ausdruck des homosexuellen Begehrens ist. Die Haltung dessen, was man gemeinhin ›die Gesellschaft‹ nennt, ist aus dieser Perspektive gesehen paranoisch: Sie leidet unter einem Deutungswahn, der sie dazu bringt, überall Indizien für eine homosexuelle Verschwörung gegen ihr gutes Funktionieren finden zu müssen. Martin Hoffman, ein gewissenhafter und phantasieloser Soziologe, hat die Existenz einer solchen Paranoia selbst zugegeben.8 Ein Film wie Jagdszenen aus Niederbayern9 verdeutlicht sehr gut, wozu der paranoische Deutungswahn eines bayerischen Dorfes führen kann angesichts eines Mannes, auf den sich die homosexuelle Libido sämtlicher Dorfbewohner konzentriert: Die Jagd, mit der der Film endet, verstößt den Repräsentanten des Begehrens aus allen Bindungen an die Gemeinschaft. Der Auftritt eines erkennbaren oder eingestandenen Homosexuellen löst bei den Anwesenden sofort eine panische und irrationale Angst vor Vergewaltigung aus. Der Austausch zwischen einem ›Schwulen‹ und jemandem, der sich für normal hält, erwächst aus jener Spannung, die im ›Normalen‹ sofort die Frage aufkommen lässt: Begehrt er mich etwa? – als ob der Homosexuelle sein Objekt niemals auswählte, als ob ihm jedes Individuum männlichen Geschlechts recht wäre. Spontane Sexualisierung bestimmt jede Beziehung zu einem Homosexuellen.

Die Psychiatrie nimmt im Allgemeinen an, dass eine enge Verbindung zwischen Homosexualität und Paranoia besteht. Doch meistens gibt sie ihr die folgende Form: Der Homosexuelle leidet häufig unter einem Verfolgungswahn, er ›fühlt sich bedroht‹. Dies ist eines seiner wichtigsten klinischen Merkmale. Homosexualität fällt unter die Kompetenz des Arztes, und was der Homosexuelle sagt, ist nur in der Projektion auf den psychiatrischen Bildschirm von Interesse und von Wert. Denn eine Umkehrung der Perspektive schreibt den aus der Situation entstandenen paranoischen Diskurs dem Individuum zu. In anderen Worten: Fühlt sich der Homosexuelle bedroht, oder ist er es tatsächlich? Der gesellschaftliche Diskurs über Homosexualität, den der Homosexuelle verinnerlicht hat, ist das Ergebnis jener Paranoia, durch die ein vorherrschender Sexualitätsmodus – nämlich die reproduktive familiale Heterosexualität – seine Angst vor stets erneut hervortretenden Formen der eliminierten Sexualitätsmodi zum Ausdruck bringt. Die Diskurse der Ärzte, Richter, Journalisten, Erzieher sind Ausdruck des unaufhörlichen Bemühens, die homosexuelle Libido zu verdrängen.

Der berühmte ›Verfolgungswahn‹ ist in Wahrheit tatsächlich eine paranoische Verfolgungssucht. Sehr lehrreich ist hier die Umkehrung, die dem Freudianismus widerfahren ist. Freud hat erklärt, dass die Paranoia im Allgemeinen auf eine Verdrängung der homosexuellen Libidoanteile zurückgeht. Die Furcht vor der eigenen Homosexualität verleitet den Mann zu der paranoischen Angst, dass sie in seiner Umgebung auftauchen könnte. In diesem Sinne hat Freud den Fall Schreber analysiert: »Wir würden sagen, der paranoische Charakter liegt darin, daß zur Abwehr einer homosexuellen Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn von solcher Art reagiert wird. Um so bedeutungsvoller ist es, wenn wir durch die Erfahrung gemahnt werden, gerade der homosexuellen Wunschphantasie eine innigere, vielleicht eine konstante Beziehung zur Krankheitsform zuzusprechen.«10 Und etwas weiter unten: »[…] wir sahen mit Überraschung, wie deutlich in all diesen Fällen die Abwehr des homosexuellen Wunsches im Mittelpunkte des Krankheitskonfliktes zu erkennen war, wie sie alle an der Bewältigung ihrer unbewußt verstärkten Homosexualität gescheitert waren.«11 Aus dem unvermeidlichen Versagen des Versuches, die homosexuellen Anteile verschwinden zu lassen, entsteht die Paranoia. Diese Hypothese erschien Freud selbst skandalös genug, um sich gegenüber der ganzen Gesellschaft für sie zu entschuldigen: »Ist es nicht eine unverantwortliche Leichtfertigkeit, Indiskretion und Verleumdung, einen ethisch so hochstehenden Mann wie den Senatspräsidenten a.D. Schreber der Homosexualität zu bezichtigen?«12 Freud weiß genau, welches Geheimnis er hier gelüftet hat: »Ich mache vor einer Flut von Anwürfen und Einwendungen einen Augenblick halt. Wer die heutige Psychiatrie kennt, darf sich auf Arges gefaßt machen.«13 Und wenn man nun den ödipalen Rahmen verlässt, in welchen Freud seine Erfindung sofort eingeschlossen hat, so erkennt man deutlich, dass die wesentliche Entdeckung Freuds nicht das Verhältnis Schrebers zu seinem Vater ist, sondern der Umstand, dass ein Mann mit einer so klar zugewiesenen gesellschaftlichen Position wie ein Richter homosexuell sein kann, es aber nicht sein dürfte. Man stelle sich einen Prozess vor, in welchem der Richter Schreber über einen gewöhnlichen Fall von Verführung Minderjähriger oder von Erregung öffentlichen Ärgernisses zu entscheiden hätte. Der Fall Schreber markiert die äußerste Grenze dessen, was sich eine Gesellschaft erlauben kann; es ist wohl beispiellos, wie hier eine hochgestellte Persönlichkeit dermaßen offen ihre homosexuellen Phantasmen hinausgeschrien hat (man bedenke, dass Schreber seine Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken14 zu Lebzeiten veröffentlichen ließ), ohne dafür in einem Irrenhaus zu landen: Schließlich hat man dem Präsidenten Schreber gestattet, sich weiterhin seines Besitzes und seiner Ämter zu erfreuen.15 Schreber offenbart die Kraft einer Gesellschaft, die es sich in Ausnahmefällen leisten kann, die psychische Realität ihrer führenden Persönlichkeiten klar zu erkennen. Schreber war ein bewusster Paranoiker, da er selbst den Inhalt seiner Phantasmen mit höchster Klarheit geäußert hat.

Die Entdeckung des engen Zusammenhanges zwischen Homosexualität und Paranoia teilt sich Freud mit Ferenczi. In einem Artikel aus dem Jahre 1911 (Über die Rolle der Homosexualität in der Pathogenese der Paranoia) stellt Ferenczi fest, dass der Antrieb der Paranoia in der Verwandlung des Liebesgefühls zur Empfindung seines Gegenteils liegt – aus Interesse wird Verfolgung. Und er präzisiert: »Es stellte sich nämlich heraus, daß der paranoische Mechanismus nicht zur Abwehr aller möglichen Libidobesetzungen in Gang gesetzt wird, sondern nach den bisherigen Beobachtungen nur gegen die homosexuelle Objektwahl gerichtet ist.«16 Ferenczi kommt zu der Schlussfolgerung, »daß die Homosexualität in der Pathogenese der Paranoia nicht eine zufällige, sondern die bedeutsamste Rolle spielt und daß die Paranoia vielleicht überhaupt nichts anderes ist als entstellte Homosexualität«.17 Die Paranoia kommt nur angesichts der Homosexualität zum Ausdruck: Eine derartige Behauptung stellt den Status der Heterosexualität als der einzigen normalen Sexualbeziehung in Frage. Der dritte Fall, den Ferenczi in seinem Artikel untersucht, ist der eines Stadtsyndikus (also wiederum einer offiziellen Persönlichkeit der Gesellschaft, freilich auf niedrigerer Ebene und ohne die Fähigkeit zur klaren Erkenntnis der eigenen Phantasmen): Dieser Mann denunzierte in Briefen, dass ein Offizier, der ihm gegenüber wohnte, »sich am Fenster teils im Hemd, teils mit nacktem Oberkörper rasiert«.18 Als Gegenstand des Skandals erwähnte er immer wieder die Unterhosen jenes Offiziers. Wen erinnert Ferenczis Beschreibung nicht an jenen Mechanismus, mit dem die Justiz vorzugehen pflegt, wenn sie eine Sittenaffäre zu untersuchen hat? »Schon daß er mir eine Menge Zeitungsausschnitte, Aktenkopien, Flugschriften, die er alle selbst verfaßt hatte, in so musterhafter Ordnung, nummeriert, sortiert, überreichte, war mir verdächtig. Ein Blick in die Schriften überzeugte mich, daß er ein Paranoiker der Verfolgung sei.«19 Der Kranke besaß zudem noch eine eigene Zeitung, in der er seine Denunziationen vervielfältigte. Und dennoch ist der ehrenwerte Ferenczi seinem Verdacht gegenüber der anti-homosexuellen Justizmaschine, deren Vorgehensweise der Kranke ja nur im Kleinen nachgeahmt hatte, niemals weiter nachgegangen. Dabei erklärte er, der Wahn sei herzuleiten aus der »Projizierung seines [des Kranken] eigenen homosexuellen Gefallens mit negativem Vorzeichen auf jene Personen. Seine aus dem Ich ausgestoßene Begierde kehrt als Wahrnehmung der Verfolgungstendenz seitens der Objekte seines unbewußten Gefallens ins Bewußtsein wieder. Er sucht so lange, bis er sich überzeugt hat, daß man ihn haßt. Nun kann er in Form des Hasses seine eigene Homosexualität ausleben und zugleich vor sich selbst verstecken.«20 In seinem erbitterten Kampf gegen die Ausschweifungen der Militärbehörden unterstellt ihnen der Kranke, ihn als »eine alte Frau« zu betrachten, »die gar nichts anderes zu tun habe, als Objekte ihrer Neugierde zu entdecken«.21 Auch Schreber hielt sich für eine Frau, wenngleich auch nicht unbedingt für eine alte, deren Attraktivität bereits geschwunden ist. Seine Paranoia nährte sich nicht von unwirksamen Denunziationen, da er als Gerichtspräsident über alle notwendigen Mittel verfügte, sich eine Begehrens- und Unterdrückungsmaschine zu konstruieren.

Freud und Ferenczi betonen immer wieder: »Die ungenügend verdrängte Homosexualität kann später unter Umständen wieder manifest werden, […] besonders bei der Paranoia, […] [die] eigentlich als eine entstellte Manifestation der Neigung zum eigenen Geschlecht aufzufassen ist.«22 Auf dem ›ungenügend‹ Verdrängten entscheidet sich das Schicksal der Psychiatrie und der Gesellschaft. Es entscheidet sich sogar so trefflich, dass die einzige Verwendung der homosexuellen Libido-Komponente gemeinhin im gesellschaftlichen Leben liegt – und zwar in sublimierter Form: »[N]ur ein kleinerer Teil dieser Komponente wird auch in das Kulturleben des Erwachsenen in sublimierter Form hinübergerettet und spielt in der sozialen Hilfsbereitschaft, in Freundschaftsbünden, im Vereinsleben usw. eine nicht zu unterschätzende Rolle.«23 Auch für Freud ist der Umstand, dass Schrebers Homosexualität in paranoischer Form auftritt, gewissermaßen aus einem fehlerhaften Funktionieren der gesellschaftlichen Verdrängungsmaschine (machine sociale refoulante) herzuleiten:

»[Diese Personen] sind der Gefahr ausgesetzt, daß eine Hochflut von Libido, die keinen anderen Ablauf findet, ihre sozialen Triebe der Sexualisierung unterzieht und somit ihre in der Entwicklung gewonnenen Sublimierungen rückgängig macht.«24 Demnach kann die homosexuelle Libido also nur dann genutzt werden, wenn sie für den Gesellschaftskörper sublimiert worden ist. »Nach der Erreichung der heterosexuellen Objektwahl werden die homosexuellen Strebungen nicht etwa aufgehoben oder eingestellt, sondern bloß vom Sexualziel abgedrängt und neuen Verwendungen zugeführt. Sie […] stellen so den Beitrag der Erotik zur Freundschaft, Kameradschaft, zum Gemeinsinn und zur allgemeinen Menschenliebe dar.«25 Die Analyse des Falles Schreber stellt die Paranoiker als Personen dar, die »sich einer solchen Sexualisierung ihrer sozialen Triebbesetzungen zu erwehren suchen«.26 Denselben Gedanken hat Freud im Jahre 1922 nochmals aufgegriffen, als er seinen Artikel Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität mit den Worten beschloss: »In der psychoanalytischen Betrachtung sind wir gewöhnt, die sozialen Gefühle als Sublimierungen homosexueller Objekteinstellungen aufzufassen.«27 Folglich ist es die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die sich auf paranoische Weise gegen die Sexualisierung ihrer Besetzungen (z.B. eines homosexuellen Gerichtspräsidenten) wehrt und mit aller verfügbaren Kraft gegen die homosexuelle Entsublimierung kämpft. Unverblümt bringt das André Morali-Daninos in seinem populärwissenschaftlichen Werk Sociologie des relations sexuelles zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Würde die Homosexualität, sei es auch nur in der Theorie, einen Schein von Anerkennung finden, würde man ihr erlauben, und sei es auch nur zum Teil, aus dem Rahmen der Pathologie auszubrechen, so käme man schnell zur Abschaffung des heterosexuellen Paares und der Familie, also der Grundlage der westlichen Gesellschaft, in der wir leben.«28

Die Homosexualität hat im Rahmen der Nosologie, der Pathologie, des neurotischen Mechanismus, der Pathogenese usw. zu verbleiben. Es gibt kein sprachliches Gebilde, das schreckenerregend genug ist, um sie in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen – was die wenigen hier angeführten Titel zur Genüge beweisen. Wie nachdrücklich Freud in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie auch betonte, dass die Neurose als Kehrseite der Perversion zu begreifen sei, die gesamte Psychiatrie antwortet pausenlos: Homosexuelle sind Neurotiker und Paranoiker. Wilhelm Stekel dreht in Onanie und Homosexualität das Vorzeichen dieser Verbindung bereits um. Und 1965 veröffentlicht die Revue française de psychanalyse die Beiträge einer Konferenz über Homosexualität, auf der William H. Gillespie die Behauptung Herbert Rosenfelds über die Beziehungen zwischen Homosexualität und Paranoia aufgreift, wonach »die Homosexualität einer der häufigsten Abwehrmechanismen gegen paranoide Angst ist«.29

Und etwas weiter im gleichen Text: »Desgleichen insistiert Thorner auf der Verfolgungsangst als ätiologischem Faktor der männlichen Homosexualität: Der Patient externalisiert seine inneren Verfolger und projiziert seine Angst auf sie in der Rolle des Sexualpartners.«30 So gelangt man schließlich durch unverschämteste Umkehrung des Freud’schen Modells an einen Punkt, wo plötzlich die Paranoia zur Ursache der Homosexualität wird. 1966 veröffentlicht dann Dr. Marcel Eck sein Buch Sodome, das die Medikalisierung und Psychiatrisierung der Homosexualität wieder aufnimmt.31 Wie tief die Freud’sche Entdeckung auch in die Psychiatrie eingedrungen sein mag, man hat doch den Eindruck, dass man sich, je weiter man fortschreitet, immer weiter von dem entfernt, was Freud ans Licht gebracht hatte. Ein neuer Schreber würde heute noch heftigeren Aufruhr auslösen als zu Zeiten Freuds. Die Gesellschaft und ihr medizinischer Ausdruck leiden unter Verfolgungswahn. Die Homosexualität, die sie verdrängen oder sublimieren, tritt aus allen Poren des Gesellschaftskörpers wieder hervor. Sie wühlen mit umso größerer Gewalt im Privatleben der Individuen herum, je genauer sie wissen, dass das, was dort geschieht, sie verrät und durch die Maschen der Gerichte schlüpft. Sie vervielfachen die Zwangsmaßnahmen einer Unterdrückung, die sich als so ineffizient erweist, dass sie sich an das von ihr verfolgte Begehren gefesselt fühlt.

Das Widernatürliche und das Gesetz: Die Natur und der Code Pénal

Das Gericht ist ein hochgradig homosexueller libidinöser Ort: Man betrachte die Beschreibung des Prozesses von Notre-Dame-des-Fleurs in Genets Roman. Zwischen dem Justiz- und Polizeisystem und der Homosexualität besteht eine invertierte Libido-Beziehung, wie wir bereits bezüglich Schrebers und des von Ferenczi analysierten Falles bemerkt haben. Die Psychiatrie vertritt mit Vorliebe die Auffassung, dass der Homosexuelle direkt auf seine Verurteilung zusteuert, sie will darin das Kennzeichen für seinen Masochismus entdecken. Wir sehen deutlich, wie eine derartige Haltung von einer Libido-Beziehung zeugt, indem sie sie der psychologischen Person des Homosexuellen auflastet.

Es ist nicht von ungefähr, dass das französische Strafgesetzbuch seit dem Zweiten Weltkrieg (und nicht schon vorher!) für die Homosexualität die Bezeichnung ›Verbrechen wider die Natur‹ bereithält – und zwar nur für sie allein. Es handelt sich hier um eine Regression paranoischer Art: Bekanntlich beruht das individualisierte und rationalisierte Recht, das wir von der bürgerlichen Revolution und dem Empire geerbt haben, nicht mehr auf theologischen Begriffen wie dem der ›Natur‹. Wenn der Code Pénal hier bis zum Obskurantismus regrediert, so eben deswegen, weil es angesichts der Homosexualität der Gewissheit eines allgemeingültigen Garanten der heterosexuellen Normalität bedarf. »Akt wider die Natur mit einem Individuum des gleichen Geschlechts«: Kein Zweifel ist mehr erlaubt, der homosexuelle Akt als solcher ist widernatürlich. Es gibt natürliche Handlungen und solche, die es nicht sind. »Man muss immer darauf hinweisen, dass die Homosexualität eine Verirrung ist, genau wie alle anderen sexuellen Neigungen, […] die sich vom normalen Weg der in sich biologischen Sexualität entfernen«32, schrieb der Abbé Marc Oraison zu einer Zeit, als die Kirche noch nicht den Versuch eines Aggiornamento in Sachen Sexualität unternommen hatte (derselbe Abbé Oraison, der dann im Mai 1972 in Le Monde schreibt, dass Homosexualität auf ihre Weise die Liebe bezeugt).33

Man hätte nicht erwartet, dass die moderne Gesetzgebung eben jene Verdammungskategorien wieder aufgreift, die Paulus gegen die Homosexualität anwandte.34 Die Natur spielt hier die paranoische Rolle der obersten Aussonderungsinstanz: Der Terminus antiphysique, den die Polizei im 19. Jahrhundert zur Bezeichnung der Homosexuellen benutzte, findet hierin seinen Sinn: Er bezeichnet jemanden, der gegen die das Begehren und seine Unterdrückung sanktionierende Natur ist. Und wenn André Gide in Corydon den Versuch macht, durch Vergleiche mit anderen Spezies eine biologisch begründete Homosexualität zu konstruieren, geht auch er nur in jene unsinnige Falle, in der ihn die Notwendigkeit, die Formen des Begehrens in der Natur zu begründen, gefangen hält.

Der Mythos des sittlichen Fortschritts

Es gibt einen tief in der heutigen Gesellschaft verwurzelten Mythos: den eines Fortschritts im Sinne der bürgerlichen Ideologie, eines ununterbrochenen Vorwärtsschreitens hin zur Liberalisierung der Sitten und zur Achtung der Individuen. So hört man häufig jene beiden widersprüchlichen Gedanken in einem Satz: ›Das ist zwar widernatürlich, aber niemand hindert Sie daran.‹ Eine Gesellschaft, die beständig ihre Perfektibilität verkündet und betont, dass jede Art von Bruch oder Infragestellung überflüssig sei, braucht diesen Glauben.

Die populäre Ideologie zur Frage der Unterdrückung der Homosexualität lebt von drei Mythen, die das paranoische Verhalten der Justiz maskieren:

• ›Niemand hindert Sie daran‹: Man glaubt im Allgemeinen, dass es keinerlei rechtliche Unterdrückung der Homosexualität gäbe, dass das Privatleben eines jeden nur seine eigene Sache sei. Doch die rechtliche Unterdrückung existiert sehr wohl, sie ist sogar massiv. Die Zeitung Le Monde vom 18. April 1972 nennt die Zahlen, die das Pariser Polizeipräsidium für drei Monate des laufenden Jahres angegeben hat: »Was die Homosexuellen betrifft, so wurden 492 Verhaftungen im Bois de Boulogne und 18 im Bois de Vincennes vorgenommen. […] Die Kontrolle von 39 Schankstellen erlaubte die Verhaftung von 49 Transvestiten«.35 Niemand sollte ignorieren, dass die homosexuellen Nachtklubs in Paris zum Teil mehrmals wöchentlich mit wechselnden Vorwänden Polizeirazzien über sich ergehen lassen müssen. 1964 wurden 331 Personen wegen Akten wider die Natur verurteilt, 1966 waren es 424. Die Zahlen dürften für die folgenden Jahre wahrscheinlich noch steigen. Diese statistischen Angaben stammen aus dem Justizministerium, das sämtliche Verurteilungen wegen Homosexualität unter ein und derselben Rubrik aufführt.

• Zum anderen ist es tief in der populären Ideologie verankert, dass die Homosexualität, mithin auch ihre Unterdrückung, ein typisches Phänomen der herrschenden Klassen sei und mit der bürgerlichen Degeneration zusammenhänge. Doch aus der Statistik des Justizministeriums geht hervor, dass von den rund 1200 Verurteilten der drei Jahre 1964–1966 mehr als 300 Arbeiter (Hilfs- und Facharbeiter), 160 Handwerker und 80 kleine Büroangestellte waren. Selbstverständlich werden Arbeiter leichter verurteilt als leitende Angestellte oder Intellektuelle, doch ist nicht zu übersehen, dass die unterdrückten Klassen hinsichtlich der Homosexualität von einer realen, wachsenden und massiven Justizverfolgung betroffen sind.

Code Pénal