Ein Autor darf sich nichts darauf einbilden, wenn jemand einen Roman von ihm zu lesen beginnt.

Denn vielleicht hat die Leserin nicht aus Bewunderung für den Autor zum Roman gegriffen, da sie noch nie etwas von ihm gelesen hat und bisher nichts anderes kennt als seinen Namen, den sie auf dem Buchdeckel achtlos überflogen hat. Der Name löst nichts in ihr aus, als bestünde er aus Wörtern einer fremden Sprache, und da Personennamen noch seltener lautmalerischer Art sind als Wörter, deutet er in keiner Weise den Charakter oder die Schreibkunst des Autors an. Bestenfalls gibt der Nachname einen kleinen Einblick in die Familienchronik, während der Vorname etwas über den Einfallsreichtum und die Stilsicherheit der Eltern verrät.

Womöglich ist es dem Autor durchaus willkommen, wenn sich das Interesse weg von seiner Person und hin auf sein Werk richtet. Doch auch das Werk selbst, der Roman also, spielt bei der Entscheidung, sich auf die Lektüre einzulassen, eine enttäuschend geringe Rolle. Noch kennt die Leserin ja kaum mehr als den Titel, der ebenso nichtssagend oder trügerisch wie der Name des Autors sein kann. Der Text aber, der unbestritten wichtigste Teil eines Buchs, hat sich ihr noch nicht offenbart. Noch verbirgt er sich in der vollkommenen Dunkelheit zwischen den Seiten.

Es liegt also in der Natur der Sache – und das ist für einen Schriftsteller eine tragische Erkenntnis –, dass der Text selbst niemanden zum Lesen des Textes bewegt. Wer in einen Roman eintaucht, fand den Anstoß dafür außerhalb des Romans, ja leider werden Romane allzu oft unabsichtlich, gar widerwillig gelesen oder wenigstens zu lesen begonnen.

Manchmal bekommt man ein Buch geschenkt, sodass man es wehrlos entgegennehmen muss. Ein paar leicht dahinfliegende Wochen drückt man sich vor dem Lesen, bis man sich aus Pflichtbewusstsein gegenüber der Person, die einem das Buch eingebrockt hat, lustlos durch die ersten Zeilen kämpft. Eine Weile hält man durch, aber während das Buch einen zu entführen anschickt, überlegt man, was man noch einkaufen sollte, wohin man bald verreisen könnte, welches Buch man als Nächstes lesen möchte, bis einem das Gewissen den Abbruch der Lektüre erlaubt, und was man gelesen hat, genügt, um vom Gönner beim nächsten Gespräch nicht entlarvt zu werden.

Manchmal fällt einem ein Buch ganz zufällig in die Hände. Jemand hat es auf einer Parkbank vergessen, im Bus oder im Wartezimmer, wo man nun ebenfalls sitzt. Reflexartig greift man danach, um sich zu vergewissern, dass sich darin nicht ein Geldschein befindet oder ein anzüglicher Liebesbrief, der als Lesezeichen verwendet worden ist. Beides trifft in der Regel nicht zu. Trotzig beginnt man im Buch zu lesen, in der kleinen Hoffnung, ganz schicksalhaft in dessen Besitz gelangt zu sein, so wie man sich manchmal einzureden versucht, eine flüchtige Begegnung mit einem Menschen habe eine tiefere Bedeutung, für sich, für beide, für den Lauf der Geschichte.

Manchmal wird man im Gymnasium zur Lektüre eines Buches verdonnert, weil nach wie vor die Meinung herrscht, das gründliche Studium von vor langer Zeit erfundenen Geschichten sei dem modernen Menschen unerlässlich. Notgedrungen wird man in das Leben eines Protagonisten hineingerissen, obwohl man doch selber gerade ein pralles Leben führt. Man soll sich mit dem Kummer eines unglücklich Verliebten herumquälen, wo man doch schon selber in einer ähnlich verfahrenen Lage steckt. Auf Wikipedia erfährt man, dass sich der Verliebte am Ende umbringt.

Es gibt aber auch Leute, die manchmal aus freiem Willen ein Buch kaufen. Meistens ein Buch, das sie noch nicht gelesen haben, gelegentlich gar ein Buch eines Autors, von dem sie noch nichts gelesen haben: Weil der Umschlag schön gestaltet ist. Weil der Klappentext gut geschrieben ist. Weil Freunde oder die Presse es gelobt haben. Vielleicht aber kaufen diese Unerschrockenen das Buch gerade deshalb, weil sie den Text noch nicht kennen und nichts über ihn wissen, kaufen es, weil der Autor ihnen fremd ist und noch alle Möglichkeiten in sich trägt. Sie lieben das Abenteuer und wagen den Sprung ins Ungewisse, die Reise in ein unbekanntes Land, das Blind Date, doch die Ursache dieser Kühnheit ist nicht das Buch, sondern ihre eigene Neugier, ihre Hoffnung, ihre Sehnsucht.

Ein Autor darf sich wirklich nichts darauf einbilden, wenn jemand einen Roman von ihm zu lesen beginnt.

Zum Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, ist mein Buch weit davon entfernt, in Buchhandlungen zu liegen, Gymnasiasten zu piesacken, verschenkt oder auf Parkbänken vergessen zu werden. Im Moment bin ich ein so unbekannter Autor, wie man es nur sein kann, das heißt, außer mir weiß noch niemand, dass ich ein Autor bin.

Ich weiß es seit gestern. Meine Schriftstellerexistenz beruht daher auf wenig mehr als meinem Entschluss, einen Roman zu schreiben, sowie einer vagen Idee dafür, die sich indes aus der Mission ableitet, die ich mir mit dem Schreiben aufgetragen habe.

Mein Name ist Daniel Bühlmann, Ende dreißig, ledig, Angestellter im Büro einer maroden Druckerei. Den ganzen Tag über begrüße ich unermüdlich Kunden, nehme Anrufe entgegen, beantworte E-Mails, verwandle Interesse zu Aufträgen. So zumindest stellt sich der Direktor meine Arbeit vor. Oder er weiß es im Stillen längst, dass er sich meine Arbeit nicht so vorzustellen hat, und klammert sich vor dem nahen Ruhestand eisern an die Illusion eines florierenden Betriebs. Allerdings dürfte diese Illusion nicht so mächtig sein, um gegen die Jahresbilanzen anzukommen. Der Altersdurchschnitt unserer Kundschaft steigt nämlich jedes Jahr um ungefähr ein Jahr an, entsprechend wird sie laufend kleiner. Mein Alltag sieht also eher so aus, dass ich nach dem Verfassen einer Nachricht und dem überraschenden Besuch eines Kunden selten auch noch von einem Anruf überrumpelt werde. Und dass sich jahrelang gesicherte Aufträge in vorgespieltes Interesse verflüchtigen.

Die Freiräume, die sich so in meinem Arbeitsalltag ergeben, fülle ich dienstbeflissen mit Weiterbildungen (ich erweitere mittels Musikmagazinen meinen kulturellen Horizont), Stressmanagement (ich lege Wert auf genügend Schlaf) oder der Qualitätsprüfung unserer Produkte (»365 knifflige Kreuzworträtsel«). Und gestern eben habe ich mit einer Arbeit angefangen, die uns dereinst sogar einen neuen Kunden an Land ziehen könnte, mit dem Schreiben eines Romans.

Doch bereits plagen mich – wie es sich für einen richtigen Schriftsteller hoffentlich gehört – die ersten Zweifel. Die berufliche Korrespondenz, die Lektüre des Rolling-Stone-Magazins oder das tägliche Kreuzworträtsel haben meine Sprachfertigkeiten bestimmt geschärft, aber wenn man sich plötzlich allein in einem leeren Buch befindet, ist das doch etwas anderes. Da fühlt man sich ganz hilflos, man droht, in der Freiheit zu ertrinken. Wenn ich mit der eigentlichen Geschichte erst einmal angefangen habe, werde ich natürlich versuchen, meine Verlegenheit zu verschleiern. Jetzt aber, unter dem Schutz des Vorworts, in dessen Stil ich dieses erste Kapitel anlege, fühle ich mich der Kunst noch nicht verpflichtet und spreche meine Fragen offen aus: Gibt es beim Roman­schreiben gewisse Regeln, die ich nicht brechen darf? Wie lang muss der Text werden, damit ich ihn Roman nennen kann? Müsste ich bereits wissen, wie der Roman verläuft und endet?

Nun, eines steht fest, wenn du das Buch mit dem Titel »Die Leserin« eben in den Händen hältst: Ich habe es geschafft. Ich habe es beendet, gedruckt, vielleicht ist es sogar verlegt worden, und aus weiteren rätselhaften Gründen, über die ich einleitend ein wenig nachgedacht habe, hast du mit dem Lesen dieses Buchs begonnen und liest es immer noch, jedenfalls hast du es noch nicht wieder auf die Parkbank gelegt oder zurück ins Bücherregal geschoben, du bist immer noch bei mir, und wenn ich mir gerade vorstelle, dass du mein Buch irgendwo liest, im Zug, auf dem Liegestuhl oder in der Badewanne, durchströmt mich ein Gefühl von Glück.

Alles, was ich bis jetzt von dir weiß, ist, dass du Bücher liest und nicht zu jener Sorte von Leserinnen und Lesern gehörst, die Bücher nach drei Seiten gewissenlos abbrechen. Ich vermute hinter deiner Lesebrille also eine offene und disziplinierte Person, jemanden mit einem Herz für die kleinen Leute auch, sonst hättest du dich gar nicht auf mein Buch eingelassen und dich stattdessen für einen bewährten Schriftsteller entschieden. Vielen Dank also vorab für dein Wohlwollen, und ich möchte dich bitten, mir meine intellektuellen und handwerklichen Mängel, die sich gewiss bereits angedeutet haben, weiterhin nachzusehen. Möglicherweise werde ich mich im Verlauf des Romans steigern, aber ich will es nicht verhehlen, ich bin kein Literat, wollte nie ein Literat werden, und ohne Absicht, die Literaten zu beleidigen: Ich strebe mit dem Schreiben nach Höherem.

Entschuldige bitte auch, wenn ich manchmal etwas überheblich werde. Aber warum sollte sich ein bescheidener Mensch beim Schreiben um jene Bescheidenheit bemühen, die ihn im wahren Leben hemmt? Schreibt er nicht gerade aus dem Wunsch heraus, ein anderer zu werden?

Obwohl er noch einen langen Weg vor sich hat, träumt er davon, einen Roman zu erschaffen, einen bewegenden, unvergesslichen, großen Roman. Vor lauter Träumen vergisst er fast, dass er ihn noch schreiben muss, doch er braucht den Traum vom fertigen Buch, den Glauben daran, dass seine Worte nicht reine Buchstabenfolgen bleiben, denen nie jemand Sinn verleiht, denn ein ungelesenes Buch ist in gewisser Weise auch ein ungeschriebenes.