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Blanca Imboden | heimelig – Warum Nelly aus dem Altersheim spazierte und nie mehr wiederkam | WÖRTERSEH

 
Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt und dankt herzlich dafür.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2019 Wörterseh, Lachen
2. Auflage 2019

Lektorat: Andrea Leuthold
Korrektorat: Brigitte Matern
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Motive Umschlag und Inhalt: © shutterstock.com
Layout, Satz: Beate Simson
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel

Print ISBN 978-3-03763-105-8
E-Book ISBN 978-3-03763-763-0

www.woerterseh.ch

 
»Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.«

Cicely Saunders (19182005), englische Ärztin, Mitbegründerin der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin

 

Was mir vorab wichtig zu sagen ist: Da Erlebnisse aus vielen Heimen in diesem Roman stecken, habe ich mein Altersheim heimelig sehr bewusst in keinem geografisch klar definierten Ort angesiedelt. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind also reiner Zufall.

Während meiner Recherchen habe ich zum einen erfahren, wie Sparprogramme, Personalnotstand und neue Auflagen im vernetzten Arbeitsalltag das Leben für die Pflegenden immer schwieriger machen. Zum anderen aber auch, dass es trotz allem immer wieder gelingt, den alten Menschen einen glücklichen und vor allem würdigen Lebensabend zu bescheren. Dafür möchte ich all jenen danken, die ihre Arbeit in Alters- und Pflegeheimen mit Herzblut und Hingabe verrichten.

 

Für Madeleine, meine Mutter

Rose
 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

1   Seniorensammelstelle

2   Heimatlos

3   Neu erwachte Lebensgeister

4   A wie Ascona

5   Risotto-Schmaus

6   Reise-Wunschkonzert

7   B wie Buochs

8   Eierkarton

9   Standschäden vermeiden

10   Spiegeleier für alle!

11   Kipkogei

12   Drogenfund im Altersheim

13   Trudi tobt

14   Aufgeklärt

15   C wie Chur

16   Gefährliches Gift

17   Der Flötenflüsterer

18   Schwiegermutter-Schrecken

19   Der Unvernünftige

20   Bunte Blumenpracht

21   D wie Daheim

22   Ida kommt

23   Heim-Kino

24   Sterben

25   E wie Engelberg

26   Sternenstaub und Glitzer

Danke

 

Über das Buch

Nelly ist mit ihren 77 Jahren eine fröhliche, selbstbewusste, gesunde und recht muntere Witwe. Trotzdem zieht sie ins Altersheim, weil ihre Tochter Trudi den dringenden Wunsch hat, ihr gemütliches Elternhaus durch einen modernen Neubau zu ersetzen. Trudi verspricht ihrer Mutter zwar eine coole Einliegerwohnung, aber da macht Nelly – auch ein wenig trotzig – nicht mit. Dann lieber grad ab ins heimelig.

Dort wird es ihr aber schon bald ganz unheimelig langweilig, und sie überlegt sich, dass sie – jetzt, wo sie so viel Zeit hat – eigentlich auf Reisen gehen könnte. Nicht weit, nur durch die Schweiz. Nicht lang. Nur immer für einen Tag. Die Idee dahinter: Sie will das Abc abreisen. Und so macht sie sich auf den Weg nach Ascona, nach Buochs, nach Chur und erlebt dabei einiges.

Sie macht neue Bekanntschaften, lernt die Drogenfahndung kennen, muss einen Panflötenspieler abwimmeln und bringt sogar das Leben ihrer Enkelin Kim durcheinander. Natürlich nicht mit Absicht. Mit Absicht zieht sie aber ihre Aktion »Spiegeleier für alle« durch, und die, die wird ein voller Erfolg.

Die Quintessenz aller gemachten Erfahrungen überrascht Nelly, denn sie begreift: Sie ist zwar alt, aber sooo alt dann doch wieder nicht. Und schließlich lässt sie die Erkenntnis zu: »Ich will eigentlich nur eins: raus! Und wieder leben, möglicherweise sogar wieder lieben.«

In Blanca Imbodens Altersheim-Roman wird gelacht und geliebt, gelebt und gestorben. Die Autorin beschreibt liebevoll das Zusammenleben von alten Menschen, hat genau beobachtet und recherchiert und erzählt neben viel Traurigem auch eine sehr fröhliche und durch und durch lebensbejahende Geschichte, die Mut macht, auch mal gegen den Strom zu schwimmen.

 

Über die Autorin

Blanca Imboden
© Stefan Kürzi

BLANCA IMBODEN, geb. 1962, war Sekretärin, Sängerin und Seilbähnlerin, bevor sie ihren Traumberuf Schriftstellerin leben konnte. Heute schreibt sie neben ihren Büchern immer wieder Zeitungskolumnen und reist für ihre Lesungen quer durch die ganze Deutschschweiz. Weil sie Berge und den Kontakt zu Menschen liebt, hat sie bei der Stanserhornbahn wieder ein kleines Pensum als Seilbähnlerin angenommen. Für Wörterseh schrieb sie zahlreiche Bestseller – der erfolgreichste: »Wandern ist doof«.

Als Blanca Imbodens Mutter – eigentlich zu früh – in ein Altersheim zog, erzählte sie der Tochter von ihren Erfahrungen und Erlebnissen und schrieb ihr E-Mails mit Anekdoten aus dem Heimleben, bis diese beschloss, einen Altersheimroman zu schreiben. Ihre Mutter nahm ihr allerdings das Versprechen ab, ihn erst nach ihrem Tod zu veröffentlichen. Die Autorin, die für die Recherche zu ihrem neusten Buch auch selber eine Woche in einem Altersheim verbrachte, lebt dort, wo sie geboren wurde, in Ibach SZ.

 

1     Seniorensammelstelle

»Habt ihrs gelesen? Sparen, sparen, sparen! Heute stand in der Zeitung, dass unser Altersheim im nächsten Jahr endlich schwarze Zahlen schreiben müsse, damit man es dann in eine Aktiengesellschaft überführen könne«, berichtet Tobias beim Mittagessen. Etwas Rahmspinat läuft ihm über das Kinn, so sehr empört er sich. »Euch ist schon klar, was das heißt: noch weniger Personal und noch schlechteres Essen. Und am Ende Privatisierung mit Gewinndruck. Mir kanns ja egal sein. Ich sterbe eh vorher. Hoffentlich.«

Ganz ehrlich: Tobias sieht wirklich so aus, als würde er es nicht mehr lange machen, doch den übelsten Diagnosen zum Trotz lebt er fröhlich weiter. Na ja, fröhlich trifft bei ihm nicht wirklich zu. Aber er lebt weiter.

»Und gleichzeitig wollen sie die Zimmerpreise erhöhen!« Tobias ist noch nicht fertig mit seiner Klage. »Diese Logik erschließt sich mir nicht. Und aus den kleinen Aufenthaltsräumen in den Stockwerken will man zusätzliche Zimmer machen. Es wird also gespart, wir leben auf einer Baustelle, und wir zahlen dafür mehr. Es lebe das Altersheim!«

Tobias hebt ironisch sein Wasserglas.

Jetzt mischt sich Marlies ein: »Man sagt nicht mehr Altersheim, sondern Seniorenresidenz.« Sie schiebt den Teller von sich und schimpft: »Dieses Schnitzel ist zu zäh für meine teuren dritten Zähne.«

Hmm. Ist das nicht der eigentliche Sinn von teuren dritten Zähnen? Dass man endlich wieder alles essen kann, was einem hier vorgesetzt wird? Sonst kann man sich doch diese Anschaffung sparen, sich alles püriert vorsetzen lassen, und irgendwann freuen sich dann die Erben.

»Pah – Seniorenresidenz – Blödsinn!« Tobias plustert sich verärgert auf. »Betagtenwohnsitz, Feierabendhaus, Seniorenwohnheim. Am Ende ist es ja dann doch ein Altersheim. Alles andere ist Marketinggeschwafel!«

»Stimmt«, gebe ich Tobias recht und nicke ihm zu, worauf Marlies mich strafend anschaut. Ich könnte sie mit ein paar wenigen weiteren Sätzen so weit bringen, dass sie sich ihre Herzmedikamente bringen lassen muss, aber ich schweige, lächle einfach in mich hinein. Meine Enkelin Kim hat nämlich noch ganz andere Bezeichnungen für meinen neuen Wohnsitz gefunden –

Seniorenzwischenlager.

Runzelsilo.

Mumienbunker.

Faltenlager.

Seniorensammelstelle.

Und – ja, das lässt sich alles noch steigern – Abkratzresidenz.

Zugegeben: Diese frechen Wortschöpfungen haben sogar meinen eigenen Sinn für Humor ein wenig strapaziert. Wo bleibt da der Respekt vor dem Alter? Ich musste zuerst einmal leer schlucken und durchatmen, bevor ich dann doch herzhaft gelacht habe. Marlies hingegen würde wohl vom Stuhl kippen, müsste sie sich das anhören. Sie hat nämlich keinen Humor, nicht nur wenig, nein, gar keinen. Dafür ein schwaches Herz. Und ihre Anfälle sind nicht schön anzuschauen. Die erspare ich mir lieber. Obwohl es mir manchmal einfach Spaß macht, sie ein wenig zu necken. Sie ist so unglaublich engstirnig und kleingeistig, und alle ihre Reaktionen sind exakt vorhersehbar. Auf jede könnte ich schon im Voraus mein Hab und Gut verwetten.

Paul, die Nummer vier unserer erzwungenen Tischgemeinschaft, schüttelt fast unmerklich den Kopf und lächelt. Er hat mich beobachtet. Wie immer. Er sieht alles, hört alles, weiß alles. Paul ist der einzige Mann hier, der mich überhaupt sieht, der mich als Frau wahrnimmt, einer, der sogar ein wenig mit mir flirtet, für den es sich noch lohnt, eine frische Bluse anzuziehen, wenn man sich die alte gerade vor dem Essen noch mit irgendwas ruiniert hat. Er selber kommt immer in Anzug und Krawatte in den Speisesaal. Immer. Anfangs fand ich das ziemlich lächerlich. Aber dann bewunderte ich doch, wie er den Spott der anderen an sich abprallen ließ und sich nicht einen Millimeter anpasste. Solche Leute braucht es hier. Unangepasste.

Die Direktorin tritt auf. Ja, genau: Sie tritt auf. Mit einem Glöckchen wird jeweils angekündigt, wenn sie unseren Speisesaal mit ihrer Anwesenheit beehrt, weil sie uns etwas mitteilen will. Frau Meier, meist Frau Rottenmeier genannt, hat in diesem Heim-Universum den Schwarzen Peter gezogen und liegt auf der Beliebtheitsskala direkt hinter dem lausigen Chefkoch.

Die Mittvierzigerin sieht eigentlich aus wie ein blondes Engelchen, und mitten unter uns alten Leuten wirkt sie, als sei sie ein junges Mädchen. Dies schadet natürlich ihrer Autorität. Sie versucht, ihren ersten Eindruck mit grauen, tristen Kostümen zu kompensieren, und bindet ihre Haare hinter dem Kopf so straff zusammen, dass ihr Lächeln oft etwas gequält wirkt. Gut, das hat vielleicht auch andere Gründe. Was weiß ich denn schon. Möglicherweise hat sie von Grund auf ein sauertöpfisches Wesen.

Heute wirkt sie allerdings ernsthaft verstimmt. Mal wieder.

»Wer war das?«, fragt sie scharf in die Runde und mustert ihre Bewohner – nein, man nennt uns nicht Insassen – mit stechendem Blick.

Das ist doch mal eine interessante Frage.

Wer war was?

Und wenn ja, wie viele?

Und warum?

»Das ist wirklich kein Spaß mehr. Ihr wisst, ich verstehe sehr viel Spaß.«

Ein Raunen geht durch den Saal. Von wegen!

»Doch, das wisst ihr. Aber jetzt hat schon wieder jemand überall im Haus unseren Namen verschandelt.«

Ach das!

Ach du meine Güte.

Ich muss gähnen. Nach dem Mittagessen pflege ich mich meist ein wenig hinzulegen. So was lernt man hier. Aber das Intermezzo der Rottenmeier kann jetzt wohl länger dauern.

Es ist nämlich so: Unser Altersheim heißt heimelig. Immer kleingeschrieben und kursiv. Die schräg gestellte Namensfindung ergab sich vor der Eröffnung des Hauses mit einem Wettbewerb. Ich konnte Kim damals nur schwer davon abhalten, eine ihrer schrägen – nicht kursiven – Ideen einzureichen. Jetzt heißt das Haus eben heimelig. Und seit ein paar Wochen macht sich nun jemand einen Spaß daraus, die Silbe »un« vor heimelig zu malen, wo und wann immer er kann.

»Das Wort unheimelig gibt es gar nicht«, ereifert sich die Direktorin nun. »Wo also bitte ist der Sinn bei diesen Sachbeschädigungen? Jawohl: Sachbeschädigungen!«

Ich gähne noch einmal. Diesmal etwas auffälliger. Das wirkt ansteckend. Einige gähnen mit, reißen dabei ihre Münder auf, bis ihnen fast das Gebiss rausfällt.

»Das waren sicher ein paar Kinder. Von uns Erwachsenen macht doch so was keiner«, sagt Tobias mit treuherzigem Blick.

Er meldet sich immer gern zu Wort, auch wenn er nichts zu sagen hat, ganz so, als müsse er sich und uns allen beweisen, dass er noch da ist und lebt. Jetzt sieht er übrigens so aus, als würde er bedauern, dass er nicht selber diese unheimelige Idee hatte.

Auch ich melde mich zu Wort: »Aber unheimelig, das ist schon ein Wort. Doch, doch. Ich glaube, das ist das Gegenteil von heimelig.« Ich lege meine Stirn in Falten, als würde mich diese Frage nun die nächsten sieben Wochen quälen.

Frau Meier wird nervös. Ihre Stimme wird eine Nuance höher, schriller. »Papperlapapp!«, bringt sie uns zum Schweigen. Sehr unhöflich, wie ich zur Kenntnis nehme. »Wir tun doch hier alles, wirklich alles dafür, dass Sie es gemütlich haben und heimelig. Das wissen Sie. Also bitte!«

Jaja.

Rhabarber, Rhabarber.

Großer Sturm im kleinen Wasserglas.

Es dauert volle zehn Minuten, bis Frau Meier all ihre Empörung und Entrüstung losgeworden ist. Auch einige Bewohner zeigen sich schockiert und schütteln den Kopf. Ich ärgere mich auch, aber eigentlich nur darüber, dass man mir kostbare Zeit raubt. Ich bin siebenundsiebzig Jahre alt. Da rinnt nicht mehr viel Sand durch meine Sanduhr. Ich habe nicht mehr so viel Zeit wie unsere junge Direktorin. Darum mag ich sie auch nicht mehr bei derartigen Ansprachen verschwenden. Natürlich ist es blöde, irgendwelche Namen zu verschandeln und Plakate zu beschmieren. Ich hasse sinnlose Sachbeschädigungen, und die sind ja immer häufiger und überall anzutreffen. Neulich hat einer aus meiner Lieblingsbank unter den schattigen Bäumen richtiggehend Kleinholz gemacht. Aber das hier? Wenn es wirklich einer von uns war, dann steckt vielleicht eine tiefe Unzufriedenheit dahinter, und die Aktion hilft dem Betroffenen, erspart ihm gar eine Altersdepression. Möglicherweise ist es aber einfach nur ein kindisches Vergnügen eines gelangweilten Bewohners. Ich weiß es nicht und will es auch nicht so genau wissen. Ich habe genug andere Interessen, genug andere Möglichkeiten, mich zu beschäftigen, zu zerstreuen, will mich nicht um diese Thematik kümmern. Das Altersheim ist definitiv nicht mein Universum, dafür bin ich noch zu jung, zu aktiv, zu gesund.

Eigentlich sollte ich nicht hier sein.

Das wird mir jeden Tag mehr bewusst.

Aber wo sonst könnte ich hin?

Ich habe kein anderes Zuhause mehr. Und wie sagte doch Rainer Maria Rilke so schön – wenn auch in anderem Zusammenhang?

Wer jetzt kein Haus hat, baut keines mehr …

Als wir dann endlich aufstehen können und ich mich auf meinen Mittagsschlaf freue, sehe ich meine Tochter Trudi durch das Hauptportal schreiten. Einen winzigen Moment lang regt sich in mir der Mutterstolz. Trudi ist schön und schlank, und eben, sie schreitet. Man sieht ihr an, dass sie glücklich und erfolgreich und reich ist. Dafür tut sie auch viel, besucht Yogakurse, geht regelmäßig zur Kosmetikerin, joggt fast täglich ihre Runde, trägt nur Designerkleider. »Erfolg hat drei Buchstaben: t – u – n!« Das ist ihr Lebensmotto. Ich gönne ihr, dass sie mit fünfzig immer noch daran glauben kann, das Leben selbst in der Hand zu haben. Sie wird bestimmt auch noch lernen müssen, dass es nicht so ist. Jedenfalls nicht immer. Und mit zunehmendem Alter immer weniger.

Je näher sie kommt, desto mehr verhärtet sich etwas in mir, schließt sich ein eiserner Vorhang um mein Mutterherz. Trudi hat mich enttäuscht. So richtig. Wie sie mich aus meinem Haus gedrängt hat, das kann ich ihr nur schwer verzeihen.

»Mama, gut dass du noch nicht schläfst!«, ruft sie erleichtert und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Aber ich möchte jetzt gern schlafen«, erkläre ich ungnädig.

»Ich wollte ja nur kurz nach dir sehen«, sagt sie, schon etwas beleidigt klingend. Dabei argwöhne ich, dass sie oft mit Absicht zu dieser Uhrzeit hier auftaucht, weil sie dann schnell wieder gehen kann.

»Wir können ja einmal ums Haus spazieren«, schlage ich versöhnlich vor.

Wir umrunden die Anlage zweimal. Und schon ist sie wieder weg und geht zurück ins Leben, während ich hier auf dem Abstellgleis zurückbleibe.

Meine Tochter hat mich nur kurz auf den neusten Stand gebracht: Ihr Mann Joshua ist jetzt in seinem in Zug stationierten Konzern noch mehr aufgestiegen, arbeitet noch mehr, verdient noch mehr. Mister Noch-mehr ist Engländer und nicht nur schön, sondern großartig. Bis heute habe ich nicht durchschaut, was er eigentlich genau arbeitet. Etwas mit Chemie und mit Computern. Etwas in Englisch. Und Trudi unterrichtet Englisch am Gymnasium. Neuerdings kann sie auch in Joshuas Konzern Privatlektionen in Englisch und in Deutsch geben, je nachdem, was gefragt ist. Und dabei verdient sie unglaublich viel Geld. Ich zeige mich begeistert, wie man das von einer Mutter erwartet.

Noch mehr Erfolg, noch mehr Geld, noch mehr Glück.

Friede, Freude, Eierkuchen.

Bin ich wirklich auch schon eine verbitterte Alte geworden, die sich nicht mehr mitfreuen kann, wenn die Jugend Erfolg hat? Hoffentlich nicht.

Das Heimleben verändert.

Es ist ein schleichender Prozess.

Das macht mir Angst.

 

2     Heimatlos

Ich war nicht immer heimatlos. Vor nicht allzu langer Zeit wohnte ich in einem schönen, großen Haus, umgeben von einem gepflegten Rasen, im Schatten stämmiger Birken. Flieder blühte an der Hausfassade. Lavendel entlang der Einfahrt. Ich hatte ein richtiges Zuhause. Aber nach Xavers Tod setzte mich meine Tochter arg unter Druck: »Das Haus ist zu groß für dich allein. Du brauchst unbedingt einen Neuanfang.«

Dabei wollte vor allem sie einen Neuanfang. Mit ihrem Ehemann Joshua und ihrer liebenswerten Tochter Kim. In meinem Haus.

Ja, ich habe um Xaver getrauert und oft geweint, was ja normal ist, wenn man über fünfzig Jahre verheiratet war und sich geliebt hat. Und schon hieß es wieder: »Siehst du: Das Haus tut dir nicht gut!« War ich mal müde, musste ich mir anhören: »Das Haus macht zu viel Arbeit. Du solltest dich schonen.« Als ich nicht schnell genug wieder fröhlich und gesellig sein konnte, wurde mir erklärt: »Dieses Haus erdrückt dich mit all seinen Erinnerungen.«

Dabei tat das Haus mir gut. Die Erinnerungen waren schließlich alles, was ich noch hatte. Ich badete darin, wenn mir die Realität zu kalt und unwirtlich vorkam. Was wären wir denn ohne unsere Erinnerungen? Die schönen Gedanken an vergangene Zeiten sind doch wie eine warme, kuschelige Höhle, in die man sich ab und zu verkriechen kann. Ich hatte in meinem Haus ja auch meist gute Zeiten verbracht. Und es beschäftigte mich, hielt mich auf Trab. Immer gab es etwas zu tun, im Haus und ums Haus herum.

Trudi und Joshua haben das schöne Haus abreißen und eine garagenähnliche Betonvilla auf das Grundstück bauen lassen. Ein angesehener Architekt übernahm für den Gräuel die Verantwortung. Wo früher mein Garten war, sind jetzt Parkplätze. Die Birken mussten einer Garage weichen. Sicher, Trudi und Joshua hatten mir angeboten, eine Einliegerwohnung für mich einzuplanen. Aber da hatte ich doch auch meinen Stolz. Aus meinem schönen Haus ausziehen und dann in ein fremdes wieder einziehen? Nein, da ging ich lieber freiwillig ins Altersheim.

Trudi und Joshua kauften mir das Haus ab und bezahlten mich fürstlich. Das konnten sie gut, nicht nur weil sie reich sind, sondern weil sie ja mein Geld am Ende wieder erben werden. Falls dann noch was übrig bleibt. Denn eines habe ich mir geschworen: Mit dem Sparen ist es jetzt vorbei. Ich lasse es mir gut gehen.

Und da bin ich jetzt. Mit viel Geld und wenig Heim.

Ich liege in dem Bett, das noch immer nicht richtig meins ist, und der Schlaf will nicht kommen. Dabei ist schlafen so eine Gnade: einfach alle Gedanken ausschalten, ja, sich selber ausschalten. Fast ein bisschen wie sterben. Nur halt anders, nicht so endgültig. Ich starre an die weiße Zimmerdecke, bis ich das Gefühl habe, sie falle auf mich nieder.

Dann, gerade als es mir ansatzweise gelingt, mich zu entspannen, klopft jemand energisch an meine Zimmertür, und bevor ich mir überlegen kann, ob ich überhaupt jemanden sehen möchte, steht die resolute Schwester Yvonne mitten im Zimmer. Im Schlepptau hat sie eine junge Frau, eigentlich eher noch ein Mädchen, das sich neugierig umschaut.

»Hallo, liebe Frau Niederberger, das ist Melanie Zurkirchen. Ihr seid ja verabredet«, erklärt Schwester Yvonne voller Überzeugung, schiebt das Mädchen vor mein Bett und ist schon wieder weg, bevor ich protestieren kann.

Melanie steht da, schaut sich neugierig um, und ich kann nichts dagegen tun. Ein schmales, blasses, ausgehungert wirkendes Mädchen mit einem Laptop unter dem Arm. Ein kleiner Windstoß würde genügen, um das Kind aus meinem Zimmer zu pusten. Aber da ist kein Wind. Nicht einmal ein laues Windchen.

»Guten Tag, Frau Niederberger«, bringt Melanie über die gepiercten Lippen, und ihre großen Augen mustern mich ungeniert. Ich bin wirklich tolerant und offen und alles. Aber wie kann man sich Ringe durch die Lippen stechen lassen? Und was sind das für Eltern, die so etwas zulassen?

Ich bin alt.

Ich muss das nicht mehr verstehen.

»Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich an einem anderen Tag vorbeikommen?«, schreit mich das Mädchen jetzt an.

Einen kleinen Moment lang komme ich in Versuchung, die Sterbende zu mimen, reiße mich dann aber zusammen.

»Mir geht es gut. Ich bin das blühende Leben. Sie haben mich nur bei meinem Mittagsschlaf gestört«, raunze ich unfreundlich. Immerhin ergänze ich nicht, dass sie meinetwegen gar nicht mehr wiederkommen müsste, an welchem Tag auch immer.

Melanie schreit weiter auf mich ein: »Aber wir sind verabredet. Haben Sie das vergessen? Sie wollten mir doch für meine Maturaarbeit einige Fragen beantworten. Ich mache eine Studie über das Leben im Altersheim.«

Während ich erkläre, dass mein Gehör noch funktioniert, jedenfalls noch funktioniert hat, bevor sie mich so angeschrien hat, zermartere ich mein Hirn. Ich strenge mich an. Aber da ist nicht der geringste Fetzen von Erinnerung an so eine Abmachung. Melanie Zurkirchen? Das Mädchen habe ich noch nie gesehen, seinen Namen noch nie gehört. Ich bin mir total sicher. Absolut.

Aber ich bin alt.

Was, wenn ich die Abmachung einfach nur vergessen habe?

»Na gut.«

Ich seufze tief und rapple mich hoch, ganz langsam. In meinem Alter hüpft man nicht mehr aus dem Bett wie ein Reh. Man sortiert zuerst vorsichtig seine Knochen, macht eine kurze Bestandsaufnahme, setzt sich dann erst vorsichtig in Bewegung, wenn man weiß, wo es heute zwickt oder schmerzt. Und irgendwo zwickt und schmerzt es fast immer, wenn man das eigene Verfallsdatum langsam erreicht hat.

Melanie und ich setzen uns an den kleinen Tisch, der noch aus meinem alten Haushalt stammt. Gewachste Eiche. Gewachste Erinnerungen.

Mit einer geschickten, fließenden Bewegung knotet das junge Mädchen ihre langen Haare hinter dem Kopf zusammen, klappt den Laptop auf und tippt geschäftig auf der Tastatur herum. Dabei knabbert es an seiner Unterlippe. Ich beobachte Melanie argwöhnisch wie ein exotisches Insekt.

Nein, ich kenne sie nicht.

Wenn sie jetzt nach meinem Bankkonto fragt, rufe ich die Polizei!

Ich bin zwar alt, aber nicht doof.

»Können wir anfangen?«, will Melanie jetzt wissen, und ihre großen Augen richten sich auf mich. Ich nicke nur.

»Sind Sie gern hier? Auf einer Skala von eins – was negativ ist – bis zehn – der Bestnote.«

»Eins«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. Wahrscheinlich habe ich das noch nie so ehrlich jemandem eingestanden. Melanies Augen werden noch größer.

»Was vermissen Sie am meisten?«

»Meinen Mann, mein Haus, meine Küche, mein früheres Leben, meine …«

»Nicht so schnell!«, interveniert das Mädchen. Dabei haut sie rasend schnell in die Tasten.

»Meinen Garten, die Birken, meine Sachen, die vielen Zimmer, die Ruhe, die Selbstbestimmung, meine Freundin Lisa …«

Na ja, ich plappere wie ein Wasserfall. Mir fallen da endlos Dinge ein, die ich vermisse.

»Halt! Stopp! Es tut mir leid, mehr Platz habe ich nicht in meinem Formular. Ich dachte nicht, dass jemand so viel vermissen könnte.« Das ist ihr jetzt sichtlich unangenehm. Unschlüssig kaut sie auf ihrer Unterlippe herum und spielt mit ihren Piercings.

»Schon gut«, winke ich ab. So wichtig ist mir diese Umfrage nun auch wieder nicht.

»Wie alt sind Sie?«

»Auf einer Skala von eins bis zehn?«, frage ich zurück, und das Mädchen schaut überrascht auf. Dann lacht sie und sagt anerkennend, ich hätte wohl Humor.

»Siebenundsiebzig«, antworte ich und ringe mich zu einem Lächeln durch.

»Sind Sie krank – auf einer Skala von eins bis zehn –, wobei zehn extrem krank ist?«

»Zwei«, antworte ich. »Ich bin nur alt, ansonsten gesund.«

Jetzt schaut Melanie mich an wie ein exotisches Insekt.

»Warum sind Sie dann hier? Freiwillig?«, fragt sie, und ich nehme an, das ist keine Frage aus ihrem Katalog.

»Lange Geschichte«, gebe ich zurück. Und eine traurige Geschichte, denke ich für mich.

Melanie schweigt einen Moment und sagt dann: »Sie sind bisher die gesündeste der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, und gleichzeitig die, die am wenigsten gern hier ist.« Sie scheint über etwas nachzudenken und meint dann: »Das ist spannend.«

Ach?

Gern geschehen.

Es ist mir eine Ehre, Melanies jugendlichem Leben etwas Spannung einzuhauchen.

»Fühlen Sie sich einsam, auf einer Skala von eins …«

»Jaja. Schon gut. Ich habe das System verstanden. Sieben.«

Ich nenne willkürlich irgendeine Zahl. Vielleicht wäre es in Tat und Wahrheit eine Zweiundzwanzig? Aber ich will ja nicht schon wieder Melanies selbst gebasteltes Formular sprengen. Und was heißt einsam? Natürlich habe ich hier Gesellschaft, manchmal mehr, als mir lieb ist. Natürlich bin ich nicht allein. Einsamkeit ist nicht der Mangel an Menschen, sondern das Fehlen des einen Menschen, dem man blind vertrauen kann, der einen wortlos versteht, dessen Nähe auch das Herz berührt. Es ist das Fehlen von Xaver. Das Fehlen von Lisa. Ob dieses junge Mädchen das auch nur ansatzweise verstehen könnte? Wusste ich in ihrem Alter, was Einsamkeit ist? Hätte es mich interessiert? Nein.

»An welchen Unterhaltungsangeboten nehmen Sie gern teil?«, lautet Melanies nächste Frage.

Ach Gott! Anfangs ging ich zum Singen, zum Spieltreff, zum Altersturnen. Ich habe in der Gruppe gebacken und gekocht. Nichts davon hat mir wirklich Spaß gemacht.

»Ich gehe zum Gottesdienst – manchmal. Ich besuche den Friseur und die Bibliothek – regelmäßig. Wenn der Therapiehund Chilly vorbeikommt, bin ich gern dabei. Und ich falte Putzlappen zusammen – leidenschaftlich.«

Jetzt fallen Melanie ihre riesigen Augen fast aus dem Kopf. Nur langsam und beinahe ein wenig widerwillig tippt sie meine Antworten ins Formular. Sie hat Bedenken.

»Ich frage mich, ob man den Gottesdienst als Unterhaltungsangebot betrachten kann. Und den Friseur.« Ihr Blick wirkt nun wie ein großes Fragezeichen.

»Aber das Putzlappen-Zusammenfalten, das irritiert Sie nicht?«, frage ich leicht eingeschnappt zurück. »Das hat nämlich mich sehr irritiert, als es erstmals auf dem Tagesprogramm stand. Darum bin ich hingegangen.«

Und – unglaublich, aber wahr – ich nehme immer an diesem Angebot teil, wenn es ausgeschrieben ist. Erschreckend, dass ich so etwas freiwillig tue und als Tagesbereicherung empfinde. So weit ist es mit mir gekommen. Wir sitzen jeweils alle an einem großen Tisch. Die Wäscherei liefert Berge von Putzlappen in den verschiedensten Farben, und wir sortieren und falten sie zusammen. Dazu hören wir Radio oder unterhalten uns. Das ist immerhin ansatzweise eine sinnvolle Beschäftigung. Und ich hatte die besten, persönlichsten Gespräche dabei. Als würde uns diese gemeinsame, monotone Tätigkeit verbinden und einander näherbringen. Das alles sage ich Melanie aber nicht. Sie will es wohl auch nicht wissen.

»Jetzt habe ich nur noch zwei Fragen«, verkündet sie und beruhigt mich prophylaktisch: »Ich habe große Felder für deren Beantwortung vorgesehen.«

»Na, da bin ich aber gespannt«, gebe ich zurück. »Mal sehen, ob ich die Felder mit meinen Antworten nicht doch sprengen kann.«

»Versuchen Sie es!«, fordert sie mich heraus und fragt dann: »Was würden Sie hier ändern, wenn Sie könnten? Was müsste geändert werden, damit Sie sich hier wohler fühlen könnten? Wie könnte man das Heimleben verbessern?«

Oh.

Ein Heim ist ein Heim. Es ist kein Zuhause, und es wird auch nie eines werden, wenn man auch noch so sehr versucht, sich das einzureden. Es ist eine Übergangsstation, meist eine Endstation, mit der man sich arrangiert, irgendwie. Manchmal denke ich, dass, wer hier einzieht, schon ein ganz klein wenig gestorben ist, weil er sehr viel aufgegeben hat. Und so fällt einem das letzte Sterben dann gar nicht mehr so schwer. Sind das böse Gedanken, falsche? Viele Bewohner sind krank und erleichtert, wenn man sie von den alltäglichen Arbeiten eines Haushalts befreit. Sie brauchen Hilfe und bekommen sie. Einige wenige finden hier sogar Anschluss, Gesellschaft, sind hier weniger allein als zuvor.

Aber klar, jetzt sind Vorschläge gefragt.

Kritisieren ist leicht.

Aber wie könnte man alles besser machen?

Ich atme tief durch, und dann bricht es aus mir heraus, so, dass Melanie beim Tippen ganz schön ins Schwitzen kommt, obwohl ich mir echt Mühe gebe, langsam zu sprechen.

»Zuerst einmal sollte die Politik über die Bücher gehen. Es kann einfach nicht sein, dass wir so wenig Personal im Pflegebereich ausbilden und es dann aus dem Ausland holen, wo es auch wieder fehlt. Irgendwann müssen wir uns dieser Problematik stellen, sonst bricht das ganze System zusammen. Hier sind alle ständig gestresst und überfordert. Natürlich auch, weil die finanziellen Mittel für mehr Personal fehlen. Und im Kleinen: Wir haben hier im heimelig keine gute Küche. Dabei bleiben uns Alten wirklich nicht mehr viele Freuden – die Mahlzeiten sollten eine sein. Unbedingt. Vielleicht ist der Küchenchef ja sogar gut, doch sein Budget zu klein. Ich weiß es nicht. Weiter ist das W-LAN-Netz, das uns Bewohnern zur Verfügung steht, eine Katastrophe. Und leider bin ich wohl die Einzige, die es überhaupt nutzt, daher kämpfe ich auch allein um ein besseres. Dann – das muss auch mal gesagt sein – diese kleinen Konzerte ständig: Die machen sich ja gut auf dem Veranstaltungskalender, aber bloß weil ich alt bin, freue ich mich nicht grundsätzlich über jeden Musikschüler, der hier öffentlich übt. Mein Gehör funktioniert nämlich noch einwandfrei, und selbst wenn ich schlecht hören würde, wäre mein Musikgehör immer noch intakt. Und wenn die Schüler der Sonderschule an Weihnachten hier Weihnachtslieder singen, dann ist das vielleicht etwas Besonderes – aber nur für die Sonderschüler. Übrigens liebt auch nicht jeder über sechzig automatisch Ländlermusik und Blaskapellen. Es gäbe doch Alternativen: Warum nicht mal eine Podiumsdiskussion über unser Heimleben oder das Alter an sich aufs Programm setzen? Eine Lesung? Einen Filmabend mit einem Film, der nicht schon fünfzig Jahre alt ist, und anschließend eine Diskussion darüber? Anfänglich war auch mal eine interne Heimzeitung geplant. Wurde wahrscheinlich weggespart. Die Idee gefiel mir …«

»… Okay! Okay! Sie haben es geschafft. Ich habe keinen Platz mehr.«

Gut, ich hätte noch eine Weile weitermachen können, aber es reicht ja wohl.

»Dann kommen wir jetzt zur letzten Frage.«

Aber ich soll ja an früher denken, Melanie wartet, ein bisschen ungeduldig, wie mir scheint, auf meine Antwort.

»Mit achtzehn war ich unerfahren, naiv, schüchtern, arm«, beginne ich also. »Meine Eltern hatten einen Bauernhof in Engelberg. Ich musste arbeiten und habe in Hotels Zimmer geputzt. Ich hatte wenig. Wir hatten wenig. War ich glücklich? Nicht besonders, aber ich habe mich das wohl auch nicht speziell gefragt. Gern hätte ich etwas mit Büchern gearbeitet, eventuell sogar studiert. Das stand aber nie zur Diskussion. Es war einfach, wie es war.«

Melanie klappt den Laptop zu.

»Danke!«, sagt sie und wirkt ein klein wenig erschöpft.

War ich anstrengend?

Meine Tochter Trudi behauptet oft, ich sei anstrengend.

Gerade als ich fragen will, wie denn diese Maturaarbeit eigentlich genau aussehen werde, klopft es wieder an meine Zimmertür, und Schwester Yvonne stürmt herein.

»Das war das falsche Zimmer! Sie waren mit Frau Marty von nebenan verabredet«, erklärt sie Melanie etwas atemlos. »Die arme Frau hat im ganzen Haus nach Ihnen gesucht.«

Dann schaut sie mich vorwurfsvoll an: »Warum haben Sie denn nichts gesagt, Frau Niederberger? Sie mussten doch wissen, dass Sie gar nicht verabredet waren, oder?«

Verständnislos zucke ich mit den Schultern.

Ich bin platt.

Mein Kopf ist also noch klar.

Melanie wollte gar nicht zu mir.

Ha!

Ich freue mich, auf einer Skala von eins bis zehn etwa bei der Neun. Und dass mein Mittagsschlaf ausfallen musste, trage ich mit Fassung.

Man ist ja in meinem Alter so leicht zu verunsichern. Kein Wunder haben Enkeltrickbetrüger und andere Kriminelle so ein leichtes Spiel mit Senioren.

Aber das wird mir eine Lehre sein.

Mein Kopf ist klar. Glasklar. Ich werde nie mehr daran zweifeln.

Ich verabschiede mich von Melanie, und als ich höre, wie sie im Zimmer nebenan auf Frau Marty einschreit und diese in derselben Lautstärke antwortet, lächle ich in mich hinein. Die ist nämlich wirklich schwerhörig, was unsere Nachbarschaft manchmal etwas belastet.

Ich schalte den Fernseher ein und falle bei einer Kochsendung schnell in einen leichten Schlummer. Kochsendungen wirken auf mich immer einschläfernd. Schade, dass sie meist nur tagsüber gezeigt werden.