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Karl Plepelits

Meine marokkanische Penelope

Eine erotische Erzählung





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1

Man stelle sich folgende Szenerie vor:

Im Innenhof einer einfachen Herberge sitzen zwölf Wanderer – nein, nicht die zwölf Apostel, sondern zwölf Menschen ohne Heiligenschein – und geben sich marokkanischen Gaumenfreuden hin.

Obwohl, man könnte wirklich fast auf die Idee kommen, es handle sich hier um die zwölf Apostel. Den Vorsitz führt nämlich ein Typ, den man, rein vom Aussehen her, in der Tat für Jesus höchstpersönlich halten könnte, wenn auch für einen alt gewordenen Jesus mit würdevollem, faltenreichem Antlitz. Schließlich hat er seine Wiederkunft selbst vorhergesagt. Und da ist es klar, dass er inzwischen um einiges gealtert ist.

Übrigens nennt sich der Typ sogar wirklich Jesus, aber natürlich, wie hier in Marokko nicht anders zu erwarten, in der arabischen Form des Namens: Isa. (Ein beliebter männlicher Vorname unter den Muslimen.) Na ja, der Typ ist ganz einfach der einheimische Fremdenführer. Alt, aber unheimlich rüstig.

Besagte einfache Herberge befindet sich in einem namenlosen Dorf inmitten des Hohen Atlas, des höchsten Gebirges von ganz Nordafrika. Und die zwölf Wanderer sind ganz bestimmt nicht die zwölf Apostel, mit oder ohne Heiligenschein.

Warum ich das so genau weiß? Erstens, weil einer der zwölf ich selber bin, und zwar in meiner Funktion als Reiseleiter. Und weil mir völlig klar ist, dass mich mein eklatanter Mangel an Frömmigkeit und christlicher Moral für eine Berufung als Apostel ziemlich ungeeignet macht. Und zweitens: Unter den zwölf Wanderern befinden sich drei sportliche Damen reiferen Alters.

(Zwar ist das nicht unbedingt ein Gegenargument. Denn die Religionsgelehrten sprechen neuerdings auch von weiblichen Aposteln oder Apostolinnen. Eine von ihnen ist zum Beispiel die heilige Maria Magdalena. Eine andere die heilige Thekla.)

Hier sitzen wir also gemütlich und widmen uns hingebungsvoll dem Letzten Abendmahl. Das klingt jetzt zwar schon wieder verdächtig nach Evangelium. Aber es ist tatsächlich das letzte und, nebenbei bemerkt, höchst wohlverdiente Abendessen unseres Trekking-Abenteuers. Wir sind alle nicht nur halb verhungert, sondern auch vom Wandern total fertig. Aber hier können wir wenigstens zusätzlich den betäubenden Duft blühender Sträucher, eines Lavendelbusches, eines Orangenbaums genießen. Und die Zeit – ja, die Zeit haben wir nach den vielen Tagen in der Wüste und im Hohen Atlas fast vergessen. Nein, nicht ganz. Es ist der 8. Mai im Jahre 2008. Behauptet jedenfalls Jesus, pardon, Isa. Und der muss es wissen.

Es wird dunkel. Da bekommen auch die Ohren unverhofft Ergötzliches geboten: das Dröhnen von Trommeln, das Pfeifen von Flöten, die Klänge von Berbergeigen, den Gesang von Männern, das Getriller von Frauen.

„Ah, ein Dorffest mit Musik und Tanz“, doziert Isa.

„Jö“, ruft eine der drei Damen in unserer Runde wie elektrisiert aus, und ihr Gesicht wirkt wie von einem inneren Feuer erhitzt. „Dürfen wir da zuschauen?“

„Selbstverständlich, Frau Längle.“

Sobald alle dazu bereit sind, brechen wir gemeinsam auf und gehen den Klängen nach. Wenige Minuten später öffnet sich vor uns ein Platz, hell erleuchtet durch ein offenes Feuer, vor dem weiß gekleidete und weiß beturbante Männer tanzen. Singend und mit den Füßen stampfend, bewegen sie sich rhythmisch vor und zurück. Dahinter stehen die Musikanten, hocken die trillernden Frauen, und im Hintergrund stehen Zuschauer, Männlein und Weiblein säuberlich getrennt. Die Männer begrüßen uns mit einladenden Gesten und lachenden Gesichtern. Die Frauen begrüßen uns nicht. Sie halten den Kopf gesenkt, vermeiden jeden Blickkontakt. Nein, zwei unter ihnen, eine ältere und eine jüngere, können ihre Neugier offensichtlich nicht bezähmen. Ohne jede Scheu blicken sie uns entgegen. Im Gegensatz zum Rest der Frauen tragen sie auch nicht die malerische Tracht der Berberinnen vom Hohen Atlas, sondern nur ein Kopftuch, und sind im Übrigen ganz europäisch gekleidet wie viele Frauen in Marokkos Städten.

Die Jüngere wendet ihren Blick rasch von uns ab und wieder dem Spektakel zu. Nicht so die Ältere. Wie von einem Zauberspruch gebannt, starrt sie zu uns her. Sind wir denn so viel interessanter als die Tänzer? Und dann durchzuckt mich plötzlich der absurde Gedanke, wir könnten uns schon einmal begegnet sein. Ihre Gesichtszüge rufen irgendeine ferne Erinnerung in mir wach.

Während ich mir darüber noch den Kopf zerbreche, wendet sie sich zur Jüngeren, scheint ihr etwas ins Ohr zu flüstern, blickt wieder zu uns her, löst sich aus der Menge, nähert sich zögernd, bleibt vor mir stehen, schlägt sich auf die Stirn. Und spricht mich in akzentfreiem Deutsch, genauer, unverfälschter Vorarlberger Mundart an.

„Peter? Ich glaub, ich spinn. Du bist doch der Peter aus Innschbruck, oder?“

Mein Atem stockt. Mir bleibt das Herz stehen. Ich glaube das Gleichgewicht zu verlieren. Denn nun erst, an der Stimme, erkenne ich sie.

„Veronika?“, stammle ich. Und noch einmal: „Veronika?“ Und dann: „Kannst du mir verzeihen?“

Und ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen, muss mich zurückhalten, um ihr nicht vor den Augen so vieler Marokkaner um den Hals zu fallen. Wir sind hier ja schließlich im Orient. Ich kann es kaum fassen: Vor mir steht, gleich einem vom Himmel herabgestiegenen Engel, die Veronika, meine Veronika. Und mich umstrahlt die Herrlichkeit Gottes.

Wie lange stehen wir uns so, an Zunge und Gliedern gelähmt, gegenüber? Mir scheint es wie eine kleine Ewigkeit. Wie von einer höheren Macht gelenkt, ergreife ich schließlich wortlos ihre Hand, führe sie aus dem Kreis der Zuschauer an eine Stelle, wo es dunkel ist. Und schon hängt sie schluchzend an meinem Hals. Da brechen auch mir die Tränen hervor, und ich schließe die nach so langer Zeit wiedergefundene Veronika in meine Arme, lasse meine Tränen auf ihre Schulter tropfen. Aber dann fällt mir ein: Wehe, wenn uns ein Einheimischer sieht!

„Hier können wir nicht bleiben“, stammle ich. „Wir müssen ...“

Und damit endet meine wohlgesetzte Rede. Was wir tun oder lassen müssen, weiß ich ja selber nicht. Wieder ergreife ich Veronikas Hand. Und so wandern wir in tiefem Schweigen davon und stehen bald unversehens vor meiner Herberge.

„Hier übernachten wir“, murmle ich. „Kommst ein bissl mit hinein? Dann können wir ...“

Und ohne ihre Antwort abzuwarten oder auch nur meinen Satz zu vollenden, entführe ich sie in die Abgeschiedenheit meines Zimmers, und sie lässt sich willig entführen. Hier erneuern wir die Tränen, erneuern die Umarmung, erneuern unsere alte, längst verloren geglaubte Liebe. Veronika ist eine neue Penelope, ich bin ein neuer Odysseus. Nach unendlich langer Trennung haben wir uns wiedergefunden und „vollziehen“ (um Homers eigene Worte zu gebrauchen) „gar freudig den Ritus der alten Liebe“. Und in der Tat, unsere Umarmung ist ein geradezu sakraler Akt. Er verwandelt uns in ein mystisches Wesen, und dieses ist nicht von dieser Welt. Mit feierlicher Andacht betritt mein Phallus Veronikas feuchtes, mir noch immer so vertrautes Heiligtum. Mit feierlicher Andacht dringt er bis zu dessen verborgenem Allerheiligsten vor. Unter ekstatischen Halleluja-Rufen lasse ich ihn dort sein heißes Trankopfer darbringen, unter ekstatischen Halleluja-Rufen beschwört Veronika unsere unvergängliche Liebe.

Doch sobald wir uns „an süßer Liebe“ und danach an gegenseitiger Betrachtung und Berührung gesättigt haben, gewinnt die Neugier die Oberhand über unsere Erschütterung. Und wie Odysseus und Penelope erfreuen wir uns an süßen Plaudereien.

Als Erste bricht Veronika das Schweigen und stellt mir die längst erwartete Frage: „Du? Liebster? Was führt dich in dieses gottverlassene Nest?“

Und erst, nachdem sie sich an meinem Bericht gesättigt hat, gelingt es mir, ihr dieselbe Frage zu stellen.

Veronikas Antwort könnte ich mir eigentlich denken. Aber ich kann es eben nicht. Mein Geist befindet sich in einem derartigen Aufruhr, dass mein Denkvermögen gefährlich reduziert ist.

Nun, ihre Antwort lautet: „Ich bin auf Besuch bei meinen Verwandten.“

Jetzt erst kommt mir die volle Erinnerung zurück an die Zeit, als wir ein Liebespaar waren, und danach an eine noch frühere Zeit, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.

 

2

Es ist ein Sonntag im Juli oder August des Jahres 1959. Der zwölfjährige Peter aus Innsbruck verbringt seine Sommerferien bei Onkel und Tante in einem namenlosen Vorarlberger Dorf.

Der Peter sitzt neben seinem Cousin am Rand einer Kirchenbank und wartet auf den Beginn des Gottesdienstes. Und schon ertönt das Glöckchen, um den Eintritt des hochwürdigen Herrn Pfarrers aus der Sakristei anzukündigen, da steht, wie aus dem Boden gewachsen, ein kleines Mädchen neben dem Peter und blickt ihn, gerötet und außer Atem, bittend an. Er macht sich dünn, rückt ein Stückchen näher an seinen Cousin. Mit bezauberndem Lächeln schlüpft die Kleine herein und flüstert ihm zu: „Du, danke. Aber weißt du, meine Mama ...“

Sie bricht ab, ihr Lächeln erstirbt, denn mehrere Köpfe vor uns drehen sich nach ihr um. Und deren Blicke sind alles andere als freundlich.

Dies war unsere allererste Begegnung.

Übrigens bezauberte nicht nur ihr Lächeln mein noch recht kindliches Gemüt. Bezaubernd fand ich auch ihr ernstes Gesicht, vielleicht weil ihre Haut auffallend dunkel war, und weil ihre Züge auf mich irgendwie exotisch wirkten. Und ich gestehe, dass sie meine Augen unwiderstehlich anzogen. Dafür fühlte ich mich zwar sogleich entsetzlich sündig. Denn als Zögling eines Tiroler Klostergymnasiums war ich bestens gedrillt und rasend fromm. Aber das half diesmal gar nichts. Mir fehlte einfach die rechte Andacht. Die Worte der Predigt gingen beim einen Ohr hinein und beim anderen Ohr hinaus. Aber gut, das war wohl nicht weiter schlimm. Worum es in einer Sonntagspredigt geht, wusste ich ohnedies: um Frömmigkeit, Keuschheit und Nächstenliebe. Doch dann wurde ich plötzlich hellhörig. Ein merkwürdiges, nie gehörtes Wort war an mein Ohr gedrungen: Marokkanerle.

Marokkanerle? Was soll das heißen? Augenblicklich war die rechte Andacht wieder da, und ich hörte den Herrn Pfarrer von der unauslöschlichen Schande sprechen, den eine Negerhure über das ganze Dorf gebracht habe.

Negerhure? Neger ist klar. Aber Hure? Völlig unbekannt. Noch nie gehört.

„Diese Negerhure lässt sich wenigstens nicht mehr in der Kirche blicken, nachdem ich ihr den Besuch untersagt habe“, hörte ich Hochwürden nun mit salbungsvoller Stimme predigen. „Hingegen muss ich zu meinem Befremden sehen, dass das Marokkanerle noch immer die Heiligkeit dieses Ortes beschmutzt.“

Und im Weiteren trug er den Kindern auf, mit diesem Bastard (Was heißt nun das schon wieder?) nicht zu spielen oder auch nur zu sprechen.

Wieder wandten sich die vor uns um und durchbohrten die Kleine neben mir mit ihren Blicken. Ihr rollten unterdessen dicke Tränen über die Wangen. Da ging mir ein Licht auf: Sie ist offensichtlich jenes Marokkanerle, das die Heiligkeit des Ortes beschmutzt. Nur weil sie eine dunkle Hautfarbe hat und vielleicht ein bisschen exotisch aussieht? Was kann denn sie dafür?

Alles in mir empörte sich gegen diese Ungerechtigkeit, und ungeachtet meiner Frömmigkeit konnte ich mich nicht zurückhalten. Außer mir vor heiligem Zorn, rief ich zur Kanzel hinauf: „Bitte, was kann denn die Kleine dafür? Wo bleibt denn da die christliche Nächstenliebe?“

Im nächsten Moment erschrak ich über meine eigene Dreistigkeit und hätte mich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen, zumal nun ich mir böse Blicke zuzog. Hingegen strahlte mich die Kleine mit ihren von Tränen glänzenden Augen an. Und der Herr Pfarrer? Er setzte ungerührt seine Predigt fort, als wäre nichts geschehen.

Zur Kommunion ging die Kleine nicht. Und als ich nach dem Ite missa est nach ihr blickte, war sie fort. Sie muss lautlos hinausgehuscht sein, ehe sich der Volkszorn über ihrem Haupt entladen konnte. Spontan sprang ich auf und machte es ihr nach. Vor dem Kirchenportal angelangt, sah ich sie leichtfüßig und wieselflink in schon unerreichbarer Ferne davonsausen.

Ich selber wurde in der Folge für meine sündhafte Dreistigkeit entweder beschimpft oder gelobt, freute mich übers Lob und nahm die Beschimpfungen in Anbetracht des Schicksals der Kleinen auf die leichte Schulter. Weit wichtiger war es mir, über die Begriffe Marokkanerle, Negerhure und Bastard Aufklärung zu erhalten. Und diese lautete: Die Kleine ist ein Marokkanerle, weil ihr Vater Marokkaner ist, genauer, ein marokkanischer Soldat der französischen Besatzungsarmee, die von 1945 bis 1955 im Lande stand. Und die Marokkaner sind halt Afrikaner, nicht gerade schwarz, aber von dunklerer Hautfarbe als wir. Daher nennt man die Mütter der Marokkanerle mit leichter Übertreibung (und einer tüchtigen Portion Zynismus, würde ich heute sagen) Negerhuren. Und wieso Huren? Nun, weil sie mit den Vätern ihrer Kinder natürlich nicht verheiratet sein können. Und darum nennt man die Kinder selbst Bastarde. Damit war ich zwar einerseits aufgeklärt (so dachte ich zumindest). Andererseits hatten sich durch eben diese Informationen weitere Fragen aufgetan, die mir aber niemand beantworten konnte (oder wollte).

Einmal habe ich die Kleine noch gesehen. Ich kam zufällig dazu, wie sie von einer Horde johlender Gören verfolgt wurde. Und obwohl sie ebenso flink war wie nach der Messe, wurde sie von einer Größeren und noch Flinkeren eingeholt. Diese stellte ihr ein Bein, sie stürzte, die andere warf sich über sie und ging offensichtlich daran, sie zu malträtieren oder festzuhalten, bis der Rest der Horde nachgekommen wäre. Geschickt wie ein Kätzchen entzog sich die Kleine den Händen der Gewalttäterin, rappelte sich auf und verprügelte diese ihrerseits, aber nur kurz. Dann sprang sie auf den nächsten Baum zu und kletterte mit der Behändigkeit eines Äffchens, über die ich nur staunen konnte, hinauf.

Unterdessen waren die übrigen nachgekommen, begannen hinauf zu schreien wie Wölfe, die den Mond anheulen, und nahmen eine drohende Haltung ein. Doch schon im nächsten Moment ließ sie ein warmer Wasserstrahl von oben fluchend auseinanderstieben. Nun rührten sie sich zwar nicht mehr vom Fleck, begannen aber ihr Opfer zu verhöhnen als Marokkanerle, Negerle, Negerpuppe, Igelfresserin, und ich weiß nicht, als was noch, und verstummten erst, als sie mich erblickten.

Ich war inzwischen dieser Szene christlicher Nächstenliebe nähergekommen, bebte neuerlich vor heiligem Zorn und brüllte die Versammlung lieblicher Grazien an, dass es eine Freude war, ich meine, für mich selbst, nach vollbrachter Tat. Die sah nämlich so aus: Die lieblichen Grazien gingen keineswegs auf mich los, wie ich nämlich schon befürchtet hatte. Sie zeigten mir nur die Zunge und zogen schweigend ab. Aus der Baumkrone ertönte ein leises „Du, danke“. Aber die Kleine machte keine Anstalten, ihre Zuflucht in absehbarer Zeit zu verlassen.

Während ich, mich immer wieder umwendend, weiterging, erfüllte mich einerseits der Stolz eines Pfadfinders nach seiner täglichen guten Tat, zugleich aber tiefe Enttäuschung über das Menschengeschlecht im Allgemeinen und die Christenheit im Besonderen. Ich hatte ja damals in Religion noch aufgepasst. Und da hatte ich gelernt, dass nur die Christen gute Menschen sind und Nächstenliebe üben, und dass allein die Katholiken den Willen Gottes erfüllen. Ja, und dass die katholischen Priester eine höhere Form des Menschseins verkörpern als alle anderen Menschen. (Oder so ähnlich.) Sie sind ja geweiht.

Als ich im nächsten Sommer wieder in Vorarlberg war, fand sich keine Spur von der Kleinen. Und ich erfuhr, sie sei mit ihrer Mutter „in die Stadt“ gezogen.