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Theologische Wissenschaft
Sammelwerk für Studium und Beruf

Herausgegeben von:

Traugott Jähnichen
Adolf Martin Ritter
Udo Rüterswörden
Ulrich Schwab
Loren T. Stuckenbruck

Band 8.2

Hans-Martin Kirn
Adolf Martin Ritter

Geschichte des Christentums IV,2

Pietismus und Aufklärung

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2019

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-033678-0

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-033679-7

epub: ISBN 978-3-17-033680-3

mobi: ISBN 978-3-17-033681-0

 

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Inhalt

A  Pietismus

Hans-Martin Kirn

Begriff und Bedeutung

Zur Forschungsgeschichte

1  Strukturelemente

2  Philipp Jakob Spener und die Anfänge des lutherischen Pietismus

3  August Hermann Francke und der Hallische Pietismus

3.1  Keimzelle der Reformprojekte im Weltmaßstab: Die Glaucha’schen ­Anstalten

3.2  Hallischer Pietismus und absolutistischer Staat

3.3  Religiöse Praxis. Kommunikation

3.4  Weltmission, Juden- und Islammission, Judenpolitik

3.5  Ausstrahlung und Ausbreitung

4  Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine

4.1  Von der Gründung Herrnhuts zur weltweiten Brüderunität

4.2  Ämter und Institutionen. Religiöse Praxis

4.3  Zinzendorfs Kreuzestheologie

4.4  Weltmission, Judenmission

4.5  Ausbreitung in England und Nordamerika. Heimische Entwicklungen

4.6  Globale Kommunikations- und Erinnerungskultur

4.7  Exkurs: Zinzendorfs Ehen

5  Württembergischer Pietismus

5.1  Ausbreitung. Kirchliche Reformen

5.2  Radikaler Pietismus

5.3  Bedingte Toleranz: Das sog. Pietisten-Reskript von 1743

5.4  Kirchlicher Pietismus: Positionen

5.5  Pietistischer Patriotismus

6  Reformierter Pietismus

6.1  Grundlegende Impulse: Theodor Undereyck und seine Schüler

6.2  Klärungsprozesse

6.3  Radikaler Pietismus

6.4  Positionen

7  Der radikale Pietismus und die Separation

7.1  Charismatisch-enthusiastische Aufbrüche

7.2  Philadelphismus

7.3  Der radikale Pietismus am Rande der Konfessionskirchen

7.4  Separatistische Pietisten im Wittgensteiner Land und in der Wetterau

7.5  Radikalpietistisch-täuferisches Christentum

7.6  Inspirationsgemeinden

7.7  Radikaler Glaubensindividualismus: Johann Konrad Dippel

7.8  Späte Blüte der philadelphischen Bewegung: Berleburg

7.9  Radikalpietisten in Nordamerika: Johannes Kelpius und Georg Conrad Beissel

8  Übergänge: Spätaufklärerischer Pietismus und der frühe ­Schleiermacher

B  Aufklärung

Hans-Martin Kirn

Begriff und Bedeutung

Zur Forschungsgeschichte

1  Die Aufklärung als europäische Bildungs- und Reformbewegung

2  Trägerschichten, Kommunikationsmedien, Organisationsformen

3  Die Aufklärungsbewegung in den Ländern Europas

3.1  Westeuropa: Niederlande, England, Schottland und Irland, Frankreich

3.2  Mitteleuropa: Altes Reich, Schweizerische Eidgenossenschaft

3.3  Nordeuropa: Dänemark, Norwegen, Finnland, Schweden

3.4  Südeuropa: Italien, Spanien, Portugal, Kolonien

3.5  Osteuropa

4  Philosophische Aufklärung in Europa – Positionen

4.1  Wegbereiter

4.2  Bibelkritik und radikale Aufklärung: Baruch de Spinoza

4.3  Das »vernünftige Christentum« der englischen Aufklärung: John Locke und der Deismus

4.4  Kirchen- und christentumskritische Aufklärung in Frankreich

4.5  Deutsche Aufklärungsphilosophie: Gottfried Wilhelm Leibniz, ­Christian Thomasius und Christian Wolff

4.6  Kritische Philosophie als Höhe- und Wendepunkt der Aufklärung: ­Immanuel Kant

5  Die Aufklärung als Bildungs- und Reformbewegung im ­Protestantismus

5.1  Theologische Aufklärung

5.2  Kirchliche Aufklärung

5.3  Staatliche Aufklärung

5.4  Aufklärung in Pädagogik, Literatur und Kunst

5.5  Gestalten der »Gegenaufklärung«: kirchlich-theologischer und staatlicher Traditionalismus

5.6  Grundprobleme religiös-kultureller Pluralität: Antikatholizismus, Judenemanzipation, Frauenrechte, Wahrnehmung des außereuropäischen »Fremden«

6  Die Aufklärung als Bildungs- und Reformbewegung im ­Katholizismus

6.1  Theologische Aufklärung

6.2  Kirchliche Aufklärung

6.3  Staatliche Aufklärung

7  Die Aufklärung (Haskala) als Bildungs- und Reformbewegung im Judentum

7.1  Die Haskala als kultureller Vergesellschaftungsprozess

7.2  Die Haskala als Bildungs- und Reformbewegung im Zeichen des ­»vernünftigen« Judentums

8  Die fundamentale Politisierung der Aufklärung: Amerikanische und Französische Revolution

8.1  Amerika und die »Morgenröte der Demokratie«

8.2  Das Zeitalter der Französischen Revolution

C  Orthodoxe Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert

Adolf Martin Ritter

Einführendes

1  Die byzantinisch-orthodoxen Kirchen

1.1  Konstantinopel und die anderen östlichen Patriarchate

1.2  Die Balkan-Orthodoxie unter der Türkenherrschaft am Beispiel ­Bulgariens und Rumäniens

1.3  Die orthodoxe Kirche in Russland

1.4  Die Georgisch-Orthodoxe Kirche

2  Die von Byzanz getrennten Nationalkirchen

2.1  Die »Heilige Apostolische Katholische Assyrische Kirche des Ostens«

2.2  Die »Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochia und dem ganzen ­Orient«

2.3  Die armenische Nationalkirche

2.4  Die koptische Kirche

2.5  Die äthiopische Kirche

2.6  Die Thomaschristen in Indien

3  Die mit Rom unierten Ostkirchen

3.1  Die Unionen von Brest (1595/1596) und von Užhorod (1646)

3.2  Die Union in Siebenbürgen

3.3  Die Union der Maroniten

3.4  Die unierten Thomaschristen

Abbildungsverzeichnis

Ortsregister

Personenregister

Sachregister

A  Pietismus

Hans-Martin Kirn

Literatur

Zum weiteren Kontext siehe auch Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018.

Veronika Albrecht-Birkner, »Reformation des Lebens« und »Pietismus« – ein historiographischer Problemaufriss, in: PuN 41 (2015), 126–153. – Martin Brecht u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Göttingen 1993–2004 (Bd. 1, 2 und 4). – Wolfgang Breul, Marcus Meier, Lothar Vogel (Hg.), Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung, 2. Aufl. (AGP 55), Göttingen 2011. – Wolfgang Breul, Jan C. Schnurr (Hg.), Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung (AGP 59), Göttingen 2013. – Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts (VMPIG 129), Göttingen 1997. – Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert (Bürgertum NF 2), Göttingen 2005. – Ulrike Gleixner, Erika Hebeisen (Hg.), Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus (Perspektiven in der neueren und neuesten Geschichte 1), Korb 2007. – Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850 (s. Literatur in Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 20), Bd. 2, Kap. 6. – Per Ingesman (Hg.), Religion as an Agent of Change. Crusades – Reformation – Pietism (BSCH 72), Leiden 2016. – Martin Jung, Pietismus, Frankfurt/M. 2015. – Carter Lindberg (Hg.), The Pietist Theologians. An Introduction to Theology in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Malden/MA 2005. – Chi-Won Kang, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts (TVG 466), Gießen 2001. – Hans-Georg Kemper, Hans Schneider, Goethe und der Pietismus (Hallesche Forschungen 6), Halle 2001. – Thomas K. Kuhn, Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung (BHTh 122), Tübingen 2003. – Hartmut Lehmann, Heinz Schilling, Hans-Jürgen Schrader (Hg.), Jansenismus, Quietismus, Pietismus (AGP 42), Göttingen 2002. – Hartmut Lehmann, Die Geschichte der Erforschung des Pietismus als Aufgabe, in: PuN 32 (2006), 17–36. – Ders., Transformationen der Religion in der Neuzeit (s. Literatur in Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 20). – Frederik A. van Lieburg (Hg.), Confessionalism and Pietism. Religious Reform in Early Modern Europe (VIEG Beih. 67), Mainz 2006. – Frederik A. van Lieburg, Daniel Lindmark (Hg.), Pietism, Revivalism and Modernity, 1650–1850, Newcastle 2008. – Frederik A. van Lieburg, Piety or Pietism? A Comparison of Early Modern Danish and Dutch Examples of Interconfessional Religiosity, in: Per Ingesman (Hg.), Religion as an Agent of Change. Crusades – Reformation – Pietism (BSCH 72), Leiden 2016, 189–210. – MacCulloch, Die Reformation (s. Literatur in Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 20), ch. 20. – Dietrich Meyer, Geist-reiche Lieder – der Pietismus als breite Singbewegung, in: Peter Bubmann, Konrad Klek (Hg.), Davon ich sing und sagen will (s. Literatur in Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 125), 119–134. – Wolfgang Miersemann, Gudrun Busch (Hg.), Pietismus und Liedkultur (Hallesche Forschungen 9), Halle 2002. – Irina Modrow, Frauen im Pietismus. Das Beispiel der Benigna von Solms-Laubach, Hedwig Sophie von Sayn-Wittgenstein-Berleburg und Erdmuthe von Reuß-Ebersdorf als Vertreterinnen des frommen Adels im frühen 18. Jahrhundert, in: Michael Weinzierl (Hg.), Individualisierung, Rationalisierung, Säkularisierung. Neue Wege der Religionsgeschichte (WBGN 22), Wien 1997, 186–199. – Irmtraut Sahmland, Hans-Jürgen Schrader (Hg.), Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache (AGP 61), Göttingen 2016. – Peter Schicketanz, Der Pietismus von 1675 bis 1800 (KGE 3,1), Leipzig 2001. – Pia Schmid (Hg.), Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen (Hallesche Forschungen 40), Halle 2015. – Douglas H. Shantz, Peter C. Erb, An Introduction to German Pietism. Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe, Baltimore 2013. – Douglas H. Shantz (Hg.), A Companion to German Pietism, 1660–1800 (BCCT 55), Leiden 2014. – Christian Soboth, Udo Sträter (Hg.), »Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget«. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus (Hallesche Forschungen 33.1–2), Halle 2012. – Christian Soboth, Thomas Müller-Bahlke (Hg.), Reformation und Generalreformation. Luther und der Pietismus (Hallesche Forschungen 32), Halle 2012. – Markus Steinmayr, Menschenwissen. Zur Poetik des religiösen Menschen im 17. und 18. Jahrhundert (Communicatio 35), Tübingen 2006. – Johannes Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 2005. – Johannes Wallmann, Gesammelte Aufsätze, 3 Bde., Tübingen 1995–2010.

Neuere Ausgaben von Quellentexten bieten: Kleine Texte des Pietismus (KTP), Leipzig 1999–2008, die Edition Pietismustexte (EPT), Leipzig 2010ff., und Veronika Albrecht-Birkner, Wolfgang Breul u. a. (Hg.), Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts, Leipzig 2017.

Begriff und Bedeutung

Pietismus als Programm und Epoche

In der gegenwärtigen Forschung wird der Begriff des Pietismus meist in einem engeren und einem weiteren Sinne für religiöse Erneuerungsbewegungen im Raum des frühneuzeitlichen Protestantismus gebraucht, die sich programmatisch für eine Subjektivierung und Verinnerlichung des Glaubens (Buße und Bekehrung als innere [geistliche] Erfahrung), Sammlung der Gläubigen (Konventikel) und eine intensivierte Spiritualisierung des Alltags (Lebensheiligung) einsetzten. Zwischen Erneuerungsbewegungen und von spezifischen Frömmigkeitsstilen getragenen Erneuerungsbestrebungen wird dabei oft nicht hinreichend unterschieden. Im engeren klassischen Sinn bezeichnet der Begriff die bedeutendste religiöse Reformbewegung des kontinentaleuropäischen Protestantismus, wie sie im späteren 17. Jahrhundert in der lutherischen und in der reformierten Kirche entstand und in Fortbildung und Abkehr von der altprotestantischen Orthodoxie breite gesellschaftliche Wirkung entfaltete. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet sie gegenüber der Aufklärungsbewegung in die Defensive. Zeitgleich mit dem kirchlichen Pietismus entstand der sog. radikale Pietismus mit heterodoxen und separatistischen Zügen, der als eine Ausdrucksform des charismatisch-mystischen Christentums im weiteren Sinne betrachtet werden kann.

Die Bezeichnung »Pietisten« (lat. pietas, Frömmigkeit) kam vor 1680 im gegnerischen Umfeld des von Philipp Jakob Spener begründeten lutherischen Pietismus im abwertend-spöttischen Sinne von »Frömmlern« auf. Mit den ersten großen Auseinandersetzungen um die Bewegung (Leipziger Unruhen 1689/1690) verbreitete sich die Bezeichnung und verwandte Wortbildungen (Pietisterey, Pietismus) deutschlandweit, bis sie schließlich, wenngleich mit allerlei Bedenken, zur Selbstbezeichnung wurde (vgl. das bekannte Sonett des pietistischen Leipziger Poesie-Professors Joachim Feller aus dem Jahr 1689, wo es zum inzwischen »weltbekannten« Namen eines Pietisten hieß: »Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert, und nach demselben auch ein heilges Leben führt«).

Die Geschichte des Pietismus im engeren Sinne lässt sich in drei Abschnitte gliedern: eine Frühphase der Anfänge und Ausbreitung von den ersten Erbauungsversammlungen (Konventikeln) 1670 bis etwa 1690, der Hauptphase zwischen etwa 1690 und 1740, gekennzeichnet von den langdauernden pietistischen Streitigkeiten, dem Aufstieg Halles zu einem Zentrum des Pietismus und der vermehrten Durchsetzung der Bewegung gegenüber Orthodoxie und Aufklärung sowie der Ausbreitung des radikalen Pietismus, und einer Spätphase zwischen etwa 1740 und 1780, als die Aufklärung zur bestimmenden geistigen Kraft wurde, auch der radikale Pietismus an Kraft verlor und mit der Gründung der Deutschen Christentumsgesellschaft 1780 der Grundstein für die kommenden Erweckungsbewegungen gelegt wurde.

Pietismus als Strukturanalogie

In einem weiteren frömmigkeitstypologischen Sinne der intensivierten Subjektivierung des Glaubens und seiner Praxis umfasst der Begriff des Pietismus zunächst den für die Genese des Pietismus im engeren Sinn zentralen Arndtianismus in seinen unterschiedlichen Strömungen sowie den vielschichtigen mystischen Spiritualismus des 17. Jahrhunderts mit unter anderem Schwenckfeldern und Böhme-Anhängern (Böhmisten). Sodann können dem Pietismus im weiteren Sinne der englische Puritanismus und die puritanisch inspirierten niederländischen Frömmigkeitsbestrebungen des 17. Jahrhunderts wie die »Nadere Reformatie« zugerechnet werden. Sie alle sind Teil der Pluralisierung des Protestantismus in der Frühen Neuzeit. Weiter ausgreifend finden sich strukturelle Analogien im römisch-katholischen Jansenismus und Quietismus sowie im jüdischen Chassidismus (vgl. hierzu Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Konfessionelles Zeitalter, Stuttgart 2018, 303-309; 327-333).

Ähnlich wie die Aufklärungsbewegung, doch unterschiedlich motiviert und strukturiert, brachte der Pietismus im engeren Sinne, auf den wir uns im Folgenden konzentrieren, die Entdogmatisierung und Entkonfessionalisierung der herrschenden Kirchentümer und die Herausbildung des neuzeitlichen, in der Subjektivität verorteten Verständnisses von Religion und Religiosität entscheidend voran. Beide teilten in ihren kirchlichen Formen das Grundanliegen einer Weiterführung der in ihrer Sicht im konfessionellen System unvollendet gebliebenen Reformation, einmal – kurz gesagt – im Sinne der Subjektivierung, einmal im Sinne der Rationalisierung des Glaubens und seiner Praxis. Beide widersprachen radikaleren Kräften, welche von einem hoffnungslosen Scheitern der Reformation ausgingen und sich für konfessionsunabhängige Neugestaltungen des Christlichen oder für religionskritische Alternativen einsetzten.

Die Anzeichen einer Interessengemeinschaft zwischen Pietismus und früher Aufklärung erwiesen sich als trügerisch. Viele Pietisten kritisierten die Aufklärungsbewegung zunehmend wegen ihrer historischen Bibelkritik und ihrem angeblich offenbarungskritischen Vernunftgebrauch, wie umgekehrt auf Seiten der Aufklärungsbewegung der theologische Konservatismus, verbunden mit einer asketischen und stark gefühlsorientierten Spiritualität, als nicht zeitgemäß und wenig kompatibel mit einem »vernünftigen Christentum« empfunden wurde. Die strikt antiaufklärerische Haltung in weiten Teilen des kirchlichen Pietismus wurde an die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhundert weitergegeben, wo sich neue Allianzen mit dem (lutherischen) Konfessionalismus ergaben.

Obwohl der kirchliche Pietismus den Anspruch erhob, seine Konzeption von Erfahrung und Verinnerlichung des Glaubens im Rahmen der Lehrorthodoxie zu entfalten, rückten das gläubige Subjekt und seine Selbstwahrnehmung mehr als bislang in den Vordergrund. Dies bot Anlass zu theologischer Kritik von Seiten der strengen Orthodoxie. In deren Augen stand zu befürchten, dass der pietistische Erfahrungsbegriff in letzter Konsequenz dazu führte, die Konstitution der Glaubensinhalte der Erfahrung selbst zuzuschreiben und damit den bibel- und bekenntnisorientierten Offenbarungsbegriff aufzuheben. Faktisch fand im kirchlichen Pietismus die der Orthodoxie in ihrer ganzen Breite selbst innewohnende Dynamik verstärkter Subjektivierung zu einer neuen Ausdrucksform.

Der Pietismus hat auf vielfältige direkte und indirekte Weise gesamtgesellschaftlich gewirkt. Dies gilt für das Bildungswesen, die Pädagogik und die Literatur mit ihren jeweiligen anthropologischen Neuakzentuierungen und Verschiebungen. So erhielten im Bereich der Literatur beispielsweise (Auto-)Biographik und Bildungsroman nennenswerte Anregungen aus dem Raum des Pietismus. Die Wendung zur religiösen Innerlichkeit, zum Erweckungserlebnis und zur Selbstbeobachtung des gläubigen Ich und seiner Gefühlswelt bereiteten der eigenständigen psychologischen Wahrnehmung auch ohne oder gegen direkte religiöse bzw. kirchliche Bindungen den Weg. Die religiöse Sensibilisierung wirkte zudem auf anderen Gebieten weiter, etwa auf dem der Wahrnehmung der Natur und ihrer Ästhetik. Dabei finden sich in der Aufklärungsbewegung früh analoge Suchbewegungen der Innerlichkeit, um die Welt der Gefühle und Empfindungen zu erhellen. Strömungen wie die sog. Empfindsamkeit müssen also nicht einseitig als pietistisch inspiriert gedeutet werden. Gleichwohl kann der Pietismus im Blick auf einige seiner Wirkungen im Bereich religiöser Subjektivierung und Individualisierung sowie der formalen wie charakterlichen Bildung als eine Form des Kulturprotestantismus »avant la lettre« betrachtet werden, ohne sich darauf beschränken zu lassen. Die folgende Darstellung bietet einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der einzelnen Gruppierungen und Richtungen. Auf eine gesonderte thematische Zusammenschau musste verzichtet werden.

Zur Forschungsgeschichte

Die Anfänge der neueren wissenschaftlichen Erforschung des Pietismus liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Allerdings reichen die Bemühungen um eine quellenorientierte, allen Parteien Gerechtigkeit widerfahren lassende Darstellung bis in frühaufklärerische Zeit zurück. Ein Beispiel hierfür sind die Berichte über die »pietistischen Streitigkeiten« in Johann Georg Walchs ›Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche‹ (5 Bde., 1733–1739, Neudr. 1972–1985, Bd. 1, Kap. 5). Auch andere, eher apologetisch, kontroverstheologisch oder polemisch angelegte Darstellungen blieben bei hohem Informationsgehalt von Bedeutung.

Dies gilt etwa für die frühe Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine des »Insiders« David Cranz aus dem Jahr 1771, den dritten Band der ›Kritischen Geschichte des Chiliasmus‹ von 1783 aus der Hand des Semler-Schülers Heinrich Corrodi und dem von Ludwig Timotheus Spittler begründeten und von Gottlieb Jakob Planck bis zum Ende des 18. Jahrhundert weitergeführten ›Grundriss der Geschichte der christlichen Kirche‹ (1782, 5. Aufl. 1812). Erbaulichen Zwecken dienten die Versuche historischer Vergewisserung bei den »Vätern«, wie sie im 19. Jahrhundert die Württemberger Albert Knapp und Christian Gottlob Barth in populären Darstellungen vorlegten. Einen Schritt weiter führte Ferdinand Christian Baurs Skizze in seinen ›Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung‹ (1852). Ihm zufolge brach sich die »Starrheit der alten Dogmatik« am Spener’schen Pietismus und machte Raum für ein freieres, von religiöser Innerlichkeit bestimmtes dogmatisches Bewusstsein. Schon Gottfried Arnolds originelle ›Unpartheiische Kirchen- und Ketzerhistorie‹ sicherte der »Spener’schen Epoche« ihre Bedeutung. Bereits 1839 hatte der Baur-Schüler Christian Märklin eine ›Darstellung und Kritik des modernen Pietismus‹ vorgelegt, in welcher er das Bündnis des »modernen« Pietismus insbesondere württembergischer Prägung mit der Orthodoxie kritisierte. Das Wesen und damit den bleibenden Wert des Pietismus fand er in der älteren, ursprünglichen Form des Spener’schen Pietismus, den er im Gegensatz zur Lehrorthodoxie als Ausdruck »lebendiger innerlicher Aneignung« des Christentums sah.

Zu den wegweisenden Werken der historischen Pietismusforschung seit Ende der 1840er Jahre zählen Max Goebels materialreiche dreibändige ›Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche‹ (1849–1860, unvollendet; Neudr. 1992) und Heinrich Schmids ›Geschichte des Pietismus‹ von 1863. Der Pietismus war hier ein im Wesentlichen von Spener ausgehendes lutherisches Phänomen.

Analoge Erscheinungen im reformierten Bereich bezeichnete Goebel als »Labadismus« . Für ihn und andere, etwa den Lutheraner Theodor Kliefoth, lagen die Wurzeln der Spener’schen Konventikel (collegia pietatis) und der diesen zugrunde liegende Kirchenbegriff im Reformiertentum. Auch Schmid nahm Spener nicht von der Tendenz aus, durch die einseitige Betonung der Frömmigkeit das lutherische Kirchenverständnis geschwächt und damit die Indifferenz gegenüber der Lehre und der Theologie als Wissenschaft gestärkt zu haben. Andere Akzente setzte Friedrich August Tholuck, der seine ›Geschichte des Rationalismus‹ (1865) mit einem Abschnitt zur »Geschichte des Pietismus und des ersten Stadiums der Aufklärung« beginnen ließ. Demnach folgte die »biblische Orthodoxie« des Pietismus der nach dem Dreißigjährigen Krieg dahinsterbenden kirchlichen Lehrorthodoxie nach. Mit Pietismus und theologischer Aufklärung traten zwei neue »Parteien des Fortschritts« auf. Der Separatismus wurde unter die mystizistischen »Ausartungen« des Pietismus subsumiert, denen – wie in »reinster Konsequenz« bei Johann Christian Edelmann zu sehen – eine enge Verwandtschaft zum Rationalismus und damit zur Aufklärung attestiert wurde.

Die für längere Zeit wichtigste Gesamtdarstellung legte Albrecht Ritschl mit seiner dreibändigen ›Geschichte des Pietismus‹ (1880–1886, Neudr. 1966) vor. Sein Pietismusbegriff weitete sich über den lutherischen hin zum reformierten Bereich der niederländischen pietistischen Frömmigkeitsbewegung (»Nadere Reformatie«) und zum Separatismus, so dass auch der radikale Pietismus integraler Teil der Bewegung wurde. Die kritische theologische Gesamtwürdigung des Pietismus gründete sich auf dessen Herleitung: Ritschl führte ihn auf die weltflüchtige mittelalterlich-bernhardinische Jesusfrömmigkeit zurück, die in den Protestantismus eingedrungen und durch die Rückbesinnung auf die Reformation zu bestreiten war. Der Pietismus konnte mithin nicht als genuin lutherisch akzeptiert werden.

Kurz zuvor hatte Heinrich Heppe mit seiner ›Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformi[e]rten Kirche, namentlich der Niederlande‹ von 1879 einen nennenswerten Beitrag zum Verständnis der »Nadere Reformatie« einschließlich des Labadismus geleistet und dabei den Pietismus bis auf den Puritaner William Perkins zurückgeführt.

Um die Jahrhundertwende und danach nahm die Kritik an Ritschls Negativzeichnung des Pietismus von allgemein- und kirchenhistorischer Seite zu. So stellten Carl Mirbt und Horst Stephan den Pietismus als Träger religiös-kirchlicher Erneuerung und kulturellen Fortschritts vor. Auch andere Disziplinen meldeten sich zu Wort. Max Weber und Ernst Troeltsch betonten die Kulturbedeutung des Pietismus und wiesen auf die Verwandtschaft mit dem Puritanismus, dem Methodismus und den aus dem Täufertum hervorgegangenen Gruppierungen hin. Für Troeltsch spielte der Pietismus als Kraft des Übergangs vom Alt- zum Neuprotestantismus eine Schlüsselrolle, repräsentierte er doch ein konsequent reformatorisches Bibelchristentum, das sich der (orthodoxen) Traditions- und Staatstheologie widersetzte und dem kritischen historischen Verständnis des Christentums in der Aufklärung vorarbeitete (Troeltsch, Leibniz und die Anfänge des Pietismus, 1900).

Andere zeitgenössische Kritiker Ritschls und der Ritschlschule mit weniger direktem Einfluss wie Franz Overbeck warfen dem »Pietistenhammer« Ritschl einen von dogmatischem Vorurteil bestimmten Umgang nicht nur mit dem Thema, sondern mit der ganzen Kirchengeschichte vor. Selbst bemaß sich für Overbeck der Wert des Pietismus darin, dass er der Welt die Aufklärung als Vermächtnis hinterließ. In der »Erzeugung der Aufklärung« sei sich der Pietismus »bis zur Selbstüberwindung« treu geblieben (Overbeck, Werke und Nachlass 5, 253).

Zu einer neuen, mit Ritschls Werk vergleichbaren Gesamtdarstellung kam es trotz aller Kritik nicht, doch erschienen weiterhin bemerkenswerte Einzelstudien.

So legte Paul Grünbergs dreibändige Studie zu Philipp Jakob Spener und seiner Rezeption, veröffentlicht zwischen 1896 und 1906, den Grund für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem »Vater« des lutherischen Pietismus. Wilhelm Goeters richtete mit seiner Arbeit ›Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krise 1670‹ (1911, Neudr. 1974) den Blick nochmals auf den breiteren Kontext des Pietismus über das deutsche Luthertum hinaus, betonte aber gegen Ritschl, dass erst bei Jean de Labadie und im separatistischen Labadismus im engeren Sinne von Pietismus gesprochen werden könne.

Von den 1920er bis zum Ende der 1950er Jahre bestimmten zahlreiche, zum Teil wegweisende Einzelstudien unterschiedlicher Disziplinen das Bild der noch weithin disparaten Forschung. Erstmals wurden sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen schwerpunktmäßig behandelt (vgl. L. Wacker, Die Sozial- und Wirtschaftsauffassungen im Pietismus, 1922; O. Uttendörfer, Alt-Herrnhut, 2 T., 1925–1926; Neudr. 1984). Voran kam vor allem die regionale Erforschung des Pietismus. Anthologien zur Frömmigkeitsgeschichte und Biographik setzten neue Akzente, so die ›Sammlung von Zeugnissen, Urkunden und Bekenntnissen‹ des deutschen Pietismus von Werner Mahrholz aus dem Jahr 1921, mit Texten von Johann Arndt über August Hermann Francke bis hin zu Johann Caspar Lavater. Von den wichtigeren Studien im deutschsprachigen Bereich seien genannt: Erich Seebergs Arbeit zur Historiographie und Mystik bei Gottfried Arnold (1923, Neudr. 1964), die ihre Weiterführung unter anderem in katholischer Perspektive durch Kurt Reinhardts ›Mystik und Pietismus‹ (1925) fand, Heinrich Leubes ›Reformideen‹ von 1924, die den lange attraktiven Begriff der »Reformorthodoxie« für die Vorläufer des Pietismus innerhalb der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts in die Debatte zum Verhältnis von Pietismus und Orthodoxie einführten, Karl Hermanns Biographie von Johann Albrecht Bengel (1937, 2. Aufl. 1987), Kurt Alands Spenerstudien (1943), Carl Hinrichs und Klaus Deppermanns Arbeiten zu den Beziehungen zwischen dem Hallischen bzw. Halleschen Pietismus – der Begriff des Hallischen Pietismus meint dabei den im weiteren Sinne von Halle ausgehenden, der Begriff des Halleschen Pietismus den im engeren Sinne in Halle realisierten Pietismus – und Brandenburg-Preußen, sowie August Langens ›Wortschatz des deutschen Pietismus‹ (1954, 2. Aufl. 1968). Letzterer machte die sprachlichen Vermittlungs- und Umformungsleistungen des Pietismus zwischen mittelalterlicher Mystik und der »Sprache der Seele« bei Friedrich Gottlieb Klopstock und der Empfindsamkeit sichtbar.

Für Emanuel Hirsch blieb der Pietismus als theologische wie kirchliche Reformbewegung im Kern eine lutherische, von Spener herkommende Erscheinung, deren Bedeutung in der Wegbereitung für die Aufklärung und der Überwindung der unfruchtbar gewordenen altprotestantischen Orthodoxie lag (Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 1949–1954, Bd. 2, Kap. 20–24). Das von Karl Barth bestimmte Bild des Pietismus war eher negativ: Pietismus und Aufklärung teilten demnach im Kern das Anliegen, Gott vom menschlichen Selbstbewusstsein her zu denken. Der radikale Pietismus verkörperte am deutlichsten diesen Grundzug der von Barth kritisierten neuzeitlichen Theologie seit Friedrich Schleiermacher.

Seit den 1960er Jahren nahm die Pietismusforschung einen merkbaren Aufschwung. In den 1990er Jahren erstarkte das Interesse am radikalen Pietismus, an der Gender-Problematik, an Fragen der Netzwerkbildung und der Kommunikation sowie an weniger prominenten Vertretern der Bewegung. Zunehmend international ausgerichtet und inter- wie transdisziplinär erweitert, veränderten sich Perspektiven und Themenstellungen in globaler Weite. Über die Grenzen der Kirchen- und Theologiegeschichte hinaus kam die Bedeutung des Pietismus im Bereich der Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte, der Politik-, Wirtschafts- und Medizingeschichte sowie der Kolonial- und Missionsgeschichte zur Geltung. Auch die noch stets schwierige Verhältnisbestimmung zwischen Pietismus und verwandten Bewegungen wie Puritanismus und Jansenismus wurde anhand rezeptionsgeschichtlicher Fragestellungen weiter bearbeitet sowie die Frage des Verhältnisses von Pietismus, Orthodoxie und Frühaufklärung neu erörtert.

Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hatte die Gründung der landeskirchlich gestützten »Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus« (Pietismuskommission) durch die führenden Pietismusforscher Kurt Aland, Martin Schmidt, Winfried Zeller und Erhard Peschke im Jahr 1964. In ihrem Auftrag erschienen bzw. erscheinen unter anderem die ›Arbeiten zur Geschichte des Pietismus‹ (AGP 1967ff.) und das Jahrbuch ›Pietismus und Neuzeit‹ (PuN 1974ff.).

Nach wie vor fehlt es an historisch-kritischen Ausgaben der Werke namhafter Pietisten. Ausnahmen bilden die Editionen der Briefe Philipp Jakob Speners (Johannes Wallmann), der Tagebücher Philipp Matthäus Hahns (Martin Brecht, Rudolf F. Paulus) und der Korrespondenzen Heinrich Melchior Mühlenbergs (Kurt Aland). Seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erschienen mehrere kompakte Gesamtdarstellungen zum Pietismus (Fred E. Stoeffler, 1965, Martin Schmidt, 1972, 2. Aufl. 1983, Erich Beyreuther, 1978). 1990 folgte Johannes Wallmanns Pietismus-Beitrag im Handbuch ›Die Kirche in ihrer Geschichte‹, 2005 erschien eine separate aktualisierte Darstellung. Stoeffler vertrat einen weiten, die erwecklichen Teile des Puritanismus und die »Nadere Reformatie« wie andere an der praxis pietatis orientierten Gruppen im nachreformatorischen Protestantismus einschließenden Pietismusbegriff. Das schon bei W. Goeters sichtbare Interesse an einer deutlichen Unterscheidung zwischen dem Pietismus im engeren und weiteren Sinn wurde in neuerer Zeit von Hans Schneider und, besonders profiliert, von Johannes Wallmann weitergetragen. Nach Wallmann ist der Pietismus im engeren und einzig präzisen Sinn zu definieren als die im deutschen Luthertum von Philipp Jakob Spener und im Reformiertentum von Theodor Undereyck ausgehende innerkirchliche Frömmigkeitsbewegung. Ihr trat mit Jean de Labadie eine radikale separatistische Bewegung an die Seite. Der weitere Pietismusbegriff bezieht sich dann auf unterschiedliche, der Vorgeschichte des Pietismus im engeren Sinne zugeschriebene »pietistische« Frömmigkeitsbewegungen der Frühen Neuzeit, möglicherweise über den Raum des Protestantismus hinaus, etwa im Blick auf den Quietismus.

Die neueste umfassende Gesamtdarstellung, die von Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler und Hartmut Lehmann herausgegebene ›Geschichte des Pietismus‹ (4 Bde., 1993–2004) folgt in der Konzeption dem von Fred E. Stoeffler vorgezeichneten Weg eines erweiterten Pietismusbegriffs, geht aber über die epochal eingegrenzte Behandlung des Pietismus als gesamteuropäischer protestantischer Frömmigkeitsbewegung der Frühen Neuzeit hinaus. Nicht nur der englische Puritanismus und die niederländischen pietistischen Frömmigkeitsbestrebungen, sondern auch die Weiterentwicklungen des älteren Pietismus in den Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegungen bis hin zum Evangelikalismus des 19. und 20. Jahrhunderts gehen mit in die teilweise unterschiedlich konzipierten Darstellungen ein. Nicht eigens verhandelt werden hier die neuere Geschichte der Freikirchen und der Pfingstbewegungen in Asien, Afrika und Amerika, und die immer wieder als verwandt wahrgenommenen, doch noch wenig komparativ näher untersuchten Bewegungen von Jansenismus, Quietismus und Chassidismus.

Für die künftige Forschung stellt sich die Aufgabe, die Grundunterscheidung von Pietismus im engeren und weiteren Sinne so zu konkretisieren, dass sowohl epochal-frühneuzeitliche wie frömmigkeitstypologische Deutungsansprüche befriedigt werden. Ein Ende der Arbeit an der Klärung der Begriffe und des historiographischen Umgangs mit dem Phänomen des Pietismus ist nicht in Sicht, doch die internationale Forschung tendiert deutlich zu einem weiten Pietismusbegriff. Mit der Spezialisierung der jeweiligen Fachgebiete nimmt die Multiperspektivität in der Pietismusforschung weiter zu. Neben den begrifflichen und konzeptuellen Grundfragen bleiben solche nach der Rolle von Pietismus und Aufklärung in einer Theoriebildung der Moderne bestehen.

1  Strukturelemente

Zu den Strukturelementen des Pietismus zählen die Sammlung der wahrhaft Gläubigen in Konventikeln vor Ort als Kerngruppe kirchlicher Reform wie im Spener’schen Pietismus oder in der Separation wie meist im radikalen Pietismus, sowie die Pflege von geistlichen Freundschaften und der Aufbau von länderübergreifenden Netzwerken mit intensiver Kommunikation durch Gespräche, Publikationen (Erbauungsschriften, erbauliche Zeitschriften), Korrespondenzen und Besuche, hinzu kommt ein reformerischer Aktivismus wie im kirchlichen Pietismus oder ein eher charismatisch-ekstatisches Christentum wie im radikalen Pietismus. Damit verbunden waren auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität chiliastische Hoffnungen. Der Reformaktivismus nahm im Hallischen Pietismus dank obrigkeitlicher Unterstützung feste institutionelle Formen mit weitreichendem gesellschaftlichem Einfluss an. Als beachtlich innovativ in der Entwicklung von neuen internen Gemeinschaftsformen erwiesen sich die Herrnhuter und verschiedene radikalpietistische Gruppierungen.

Der unter Gelehrten und Dichtern in humanistischer und barocker Tradition gepflegte Freundschaftskult wurde im Pietismus unter dem Vorzeichen der geistlichen Freundschaft egalisiert und in eine intensive Besuchs- und Korrespondenzkultur eingebettet. Standes- und Geschlechtergrenzen wurden dabei relativiert (Brüder und Schwestern »in Christus«, Martin Luthers Konzept des »allgemeinen Priestertums aller Gläubigen«). Dies schlug sich zum Beispiel in einem vermehrten Engagement von Laien in der Sterbebegleitung nieder. Nichtadelige Frauen hatten es mit dem Aufbau eigener Freundschafts- und Korrespondenznetze schwerer als Männer. Doch auch verheiratete bürgerliche Pietistinnen überschritten zuweilen die traditionellen Grenzziehungen in eigenen Formen der Freundschaftspflege.

Vor allem die Konventikelbildung und die Rezeption chiliastischer Motive unterschieden den Pietismus von der klassischen Orthodoxie und ihren Frömmigkeitsidealen. Anderes hatte orthodoxe Vorbilder im kirchlichen Arndtianismus, so die biblisch orientierte Frömmigkeitspraxis (praxis pietatis) zur Heiligung des Alltags und der »Reformation des Lebens«, die Kritik an der als »verweltlicht« kritisierten Traditionskirchlichkeit, die Individualisierung des Glaubens in der Pflege eines vertieften Sünden- und Erlösungsbewusstseins um Buße und Bekehrung bzw. Wiedergeburt sowie eine rigorose Handlungsethik.

Bei der frühen Ausbreitung der Bewegung und der Organisation der Konventikel kam Geistlichen und Angehörigen des gehobenen Bürgertums sowie unterstützungswilligen Obrigkeiten eine tragende Rolle zu. Mit ihrer Hilfe fasste der Pietismus in allen Bevölkerungsschichten Fuß. Eine eigene Rolle bei der Ausbreitung der Bewegung und insbesondere der Umsetzung von Reformen spielte der sog. Adelspietismus an verschiedenen Höfen. Er half bei der strategischen Besetzung kirchlicher Ämter. Diese war von der zeittypischen Protektion bestimmt. So waren in Württemberg und in Hessen-Darmstadt – beide Herrscherhäuser waren eng miteinander verwandt – einflussreiche Fürstenmütter tätig, welche die junge pietistische Bewegung in ihren Ländern unterstützten. Nicht wenige Pietisten kamen nur dank der Fürsprache von Fürstenfrauen und -müttern, die eng mit pietistischen Hofpredigern verbunden waren, zu ihren Professuren. Bei radikalpietistischen Gemeinschaftsbildungen spielten enthusiastische Prediger(innen) und Prophet(inn)en eine tragende Rolle, wie überhaupt die religiöse Selbständigkeit der Frau in diesen Kreisen weiter entwickelt wurde als im kirchlichen Pietismus.

Die Konventikelbildung wurde durch die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten im Alten Reich in aller Regel bekämpft, wenngleich unterschiedlich streng. Lutheraner, Reformierte und Katholiken sahen hier eine neue schwärmerische »Sekte« aufkommen, die keiner der reichsrechtlich tolerierten Konfessionen zugeordnet werden konnte. Mit sog. Pietisten-Edikten bzw. -Reskripten versuchten die weltlichen Obrigkeiten, der Bewegung Einhalt zu gebieten oder sie zumindest effektiv zu kontrollieren (→ KTGQ 4, Nr. 25). Kirchlicherseits bekamen die unterschriftliche Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnisschriften und die strikte Wahrung der kirchlichen Ordnungen neues Gewicht.

Eine 1736 von Erdmann Neumeister im Geist der Wittenberger Spätorthodoxie veröffentlichte Sammlung von in Europa und Amerika erlassenen einschlägigen Edikten und Verordnungen zeigt, wie grundsätzlich und kompromisslos dieser Kampf gegen den Pietismus noch eingefordert wurde, als die Bewegung längst Fuß gefasst hatte und ein generelles Verbot Illusion geworden war. Die obrigkeitlichen Maßnahmen gegen »Pietisten, Schwärmer und ander solch Ungeziefer« sollten den »pietistischen Satan« entlarven und die Anwendung des Ketzerrechts gegen die Bewegung rechtfertigen. Deutlich kam die Sorge vor dem Autoritätsverlust des universitär gebildeten Theologen gegenüber dem unstudierten Laien in Glaubensfragen zum Ausdruck. Aus den in den obrigkeitlichen Verordnungen behaupteten Irrlehren rekonstruierte Neumeister einen »Pietisten-Katechismus«, um den Widerspruch zur kirchlichen Lehre zu demonstrieren.

Dem kirchlichen Pietismus gelang nach und nach eine Integration der Konventikel. Im radikalen Pietismus mit seinen strengen Heiligkeitsidealen und oft massiv chiliastischen Endzeiterwartungen führten sie, hielt man an einer Gemeinschaftsbildung fest, in der Regel zur Separation von der Kirche, die als verweltlichte »Hure Babylon« galt. Andere radikale Pietisten und deren Sympathisanten, insbesondere solche in kirchlichen Ämtern, mieden bewusst die Separation, um in der Kirche für ihre Reformideale zu wirken.

Die pietistische »Sammlung der Gläubigen« führte zur Ausbildung einer spezifischen Gruppenkultur, die sich bewusst von der Umwelt (als »Welt«) abgrenzte und damit gegenkulturelle Züge annahm. Die endogame Heiratsstrategie – man suchte sich den Partner bevorzugt in den eigenen Kreisen – wie auch die vielfältig nach innen gerichteten Kommunikationsformen begünstigten die Abgrenzung bzw. die tendentielle Selbstabschließung mit ihren Vor- und Nachteilen. Von hohem pädagogischem Wert für Individuum und Gemeinschaft waren das Tagebuchschreiben und die (auto-)biographischen Aktivitäten, welche der Selbstvergewisserung sowie der Stabilisierung des Gruppenbewusstseins dienten. Sie stützten die Etablierung einer spezifisch pietistischen Memorialkultur. Diese diente der Erinnerung des Exemplarischen in der Glaubens- und Heilsgeschichte, nicht der Entfaltung autonomer Subjektivität.

Als religiöses Subjekt wurde die Frau hoch geschätzt, doch herkömmliche Geschlechterrollen blieben in aller Regel unhinterfragt. Der primäre Zuständigkeitsbereich der Frauen war der der Haushaltsführung und der Kindererziehung sowie der Kranken- und Wöchnerinnenpflege. Hinzu kam die geistliche Begleitung Bedürftiger. Doch auch unter patriarchalen Bedingungen lässt sich aufgrund des gewachsenen Bewusstseins spiritueller Gleichheit eine tendentielle Stärkung der Rolle der Frau beobachten. Gerade als »Gehülfinnen« ihrer Männer konnten Frauen die Bereiche eigenverantwortlichen Handelns ausbauen, etwa in der Mitarbeit im Publikationswesen. Ihre Rolle als selbständige Gesprächspartner ist nicht zu unterschätzen. Allenfalls im Herrnhutertum und im radikalen Pietismus kam es aufgrund der spirituellen Gleichheit der Geschlechter zu weitergehenden Rollenveränderungen, etwa in der Übernahme gemeindeleitender Funktionen.

In Alltag und Beruf herrschte eine strenge Ökonomisierung der Zeit, die nicht für »weltliche« Vergnügungen verschwendet werden durfte. Auch die Reich-Gottes-Arbeit forderte Disziplin und Fleiß. Entsprechend gestaltete man die Kindererziehung. Zur betont bibelorientierten Erziehung zählte das frühe Memorieren von Psalmen und biblischen Geschichten.

Im Blick auf Sexualität und Ehe gab es unterschiedliche Ansätze. Neben der traditionellen Hochschätzung der Ehe standen Idealisierungen der jungfräulichen Ehe (»keusche« Ehe ohne Geschlechtsgemeinschaft) und der Ehelosigkeit. Trotz mancher Tendenzen, die »fleischliche Lust« bevorzugt im Sexualakt zu sehen, kann nicht von einer generellen Leibfeindlichkeit des Pietismus ausgegangen werden.

Das große Interesse vieler Pietisten an Medizin und Naturwissenschaft war von den hermetisch-magischen Ansätzen des Paracelsismus mitbestimmt, nach welchen sich Gottes- und Welterkenntnis, Bibel- und Naturstudium nicht voneinander trennen ließen. Daran partizipierte auch die intensivierte Selbstbeobachtung als gleichsam geistliche Psychologie.