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Die junge Gräfin
– Staffel 1–

E-Book 1-10

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-692-0

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Sensation auf der Geburtstagsgala

Mit ihrem Sieg hatte keiner gerechnet!

Roman von Dornberg, Michaela

Zufrieden verstaute Alexandra von Waldenburg die letzten Tüten in ihrem Jeep. So, das war geschafft, die letzten Einkäufe für den sechzigsten Geburtstag ihres Vaters waren erledigt.

Jetzt konnte sie ganz entspannt auf die Ankunft der Gäste, vor allem ihrer Geschwister, warten. Auf die freute sie sich schon sehr, ganz besonders auf ihre drei kleinen Nichten, die Leben ins Haus bringen würden.

Sie überlegte sich gerade, in dem gegenüberliegenden kleinen Café einen Cappuccino zu trinken, als hinter ihr eine Stimme entzückt rief: »Mensch, Alex, das ist ja super, mit dir hätte ich nun wirklich nicht gerechnet, sondern dich um diese Zeit irgendwo bei euch im Betrieb vermutet. Trinken wir was zusammen?«

Alexandra drehte sich um, und da wurde sie auch schon stürmisch umarmt von ihrer besten Freundin Liliane Koch.

»Hallo, Lil, warum sitzt du nicht in deinem Büro, sondern spazierst durch die Stadt?«

Liliane Koch lachte.

»Vielleicht, weil ich geahnt habe, dich hier zu treffen? Nein, mal ganz im Ernst, ich war bei einem sehr schwierigen Kunden, der zum Glück endlich mit unseren Entwürfen einverstanden ist. Mein Gott, war das eine schwierige Geburt … Also, einen Kaffee hätte ich jetzt verdient oder einen doppelten Espresso? Also, was ist? Trinken wir was? Du bist auch eingeladen.«

Alexandra hakte sich bei ihrer Freundin unter.

»Werd nicht gleich leichtsinnig, nur weil du mal wieder einen Auftrag an Land gezogen hast. Ich lade dich ein, weil ich nämlich auch schon den Gedanken hatte, einen Kaffee oder so was zu trinken.«

»Das ist wunderbar«, lachte Liliane, »und selbstverständlich nehme ich die Einladung an.«

Die beiden jungen Frauen betraten das kleine, ein wenig altmodisch, aber durchaus gemütlich eingerichtete Café, das um diese Zeit noch nicht so gut besucht war.

Das würde sich allerdings am Nachmittag ändern, wenn die Zeit der Tortenschlachten begann.

Jetzt saßen an drei Tischen einzelne Herren, ganz wichtig in Akten und Aufzeichnungen vertieft. Ein älterer Mann hatte sich hinter einer Tageszeitung vergraben, und eine Gruppe alter Damen saß beim Frühstück zusammen. Um diese Zeit konnte man wohl eher Brunch sagen. Gewiss hatte eine von ihnen Geburtstag, denn sie prosteten sich gerade sehr vergnügt mit Sekt zu.

Alexandra und Liliane fanden einen kleinen Tisch direkt an einem der Fenster. Sie hätten sich überallhin setzen können, denn sie waren nicht hergekommen, um draußen auf dem Platz das Geschehen zu beobachten oder um gesehen zu werden, sondern um sich zu unterhalten.

Sie waren enge Freundinnen seit Kindergartentagen und hatten sich immer etwas zu sagen.

Alexandra war froh, dass Lil wieder nach Keimburg zurückgekommen war. Sie hatte einige Jahre in New York gelebt, war dort verheiratet gewesen, doch die Ehe war in die Brüche gegangen. Warum, darüber hatten die Freundinnen niemals gesprochen. Vielleicht war es das Heimweh gewesen.

Was auch immer, sie waren wieder beisammen, und das würde hoffentlich auch ewig so bleiben.

Alexandra konnte sich nichts anderes vorstellen, als auf ewig auf Waldenburg zu leben, in der Nähe von der beschaulichen kleinen Stadt Keimburg. Aber das war wohl nur ein Traum, der irgendwann zu Ende sein würde.

Wenn man so wollte, waren ihre Tage, besser gesagt Jahre, auf Waldenburg gezählt.

Noch hatte ihr Vater die Zügel fest in der Hand, aber eines Tages würden das Gut, der angeschlossene Betrieb, an ihren Bruder Ingo übergehen, und dann war sie gezwungen, sich einen anderen Lebensmittelpunkt zu suchen, ein Gedanke, der sie mit Schaudern erfüllte.

Mit Ingo würde ein anderer Wind auf Waldenburg wehen, ein Wind, der sie davonwehen würde.

Alexandra zuckte zusammen, als Liliane sie am Arm schüttelte.

»He, wo bist du mit deinen Gedanken?«, wollte sie wissen. »Die Bedienung steht seit Ewigkeiten hier um zu erfahren, was du trinken willst.«

»Entschuldigung, ich nehme … Ach, bringen Sie mir bitte einen Cappuccino.«

Als die Bedienung gegangen war, erkundigte Liliane sich: »Was ist los? Wo warst du gerade? Bei einem Prinzen, der auf einem weißen Pferd angeritten kommt und dich auf sein Schloss entführt?«

»Schön wäre es«, seufzte Alexandra, »dann müsste ich mir um meine Zukunft wenigstens keine Gedanken machen. Leider gibt es Prinzen nur im Märchen.«

»Wieso Gedanken um die Zukunft? Gibt es etwas, was ich noch nicht weiß?«

Alexandra schüttelte den Kopf.

»Nein, ich glaube, ich bin im Augenblick bloß ein wenig sentimental, weil Papa sechzig wird. Das ist zwar noch kein Alter, aber irgendwann wird er sich zurückziehen, und Ingo wird der neue Herr von Waldenburg, und ich … Ich muss dann wohl einen Abflug machen, und ehrlich, Lil, das bricht mir beinahe das Herz, weil es für mich nichts Schöneres gibt als Waldenburg. Verflixt, warum bin ich kein Junge geworden, nicht einmal die Erstgeborene bin ich, sondern der Nachzügler.«

Die Getränke wurden serviert, und nachdem die Bedienung gegangen war und Liliane den ersten Schluck ihres übersüßten doppelten Espressos getrunken hatte, sagte sie:

»Wenn dein Vater schlau wäre, würde er dir alles überlassen und Ingo auszahlen, genauso wie seinerzeit Sabrina. Du liebst das Gut, kennst dich mit allem aus. Ingo hat doch von nichts eine Ahnung, allenfalls davon, wie man ein feudales Leben führen kann, ohne dafür viel tun zu müssen. Er ist für mich der typische Mann, der in seinem Lebenslauf als Beruf Erbe angeben kann. Was hat Ingo denn schon geschafft? Er hat ein biss­chen herumstudiert, alles angefangen, nichts beendet. Nicht einmal das mit seiner Ehe hat geklappt, die war nach zwei Jahren geschieden, dabei war Marion doch wirklich eine patente Frau.«

Alexandra nickte.

»Ja, ich fand sie auch sehr nett, schade, dass wir so gar nichts mehr von ihr hören. Sie ist einfach verschwunden, daran zu denken macht mich heute noch traurig, denn Marion und ich verstanden uns wirklich sehr gut.«

»Wahrscheinlich hat dein sauberer Bruder sie so verletzt, dass sie mit den gesamten von Waldenburgs nichts mehr zu tun haben will.«

»Du kannst Ingo nicht leiden, stimmt’s?«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Liliane, »er sieht gut aus, kann charmant und nett sein. Mich stört nur, mit welcher Verantwortungslosigkeit er durchs Leben spaziert und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, so ganz nach dem Motto – ach, mein Vater und die kleine Schwester, die werden es schon richten. Die sorgen dafür, dass sich das Vermögen der Waldenburgs weiter vermehrt, damit ich es hinterher ausgeben kann.«

Alexandra seufzte.

»Stimmt schon, dass Ingo ein wenig leichtsinnig ist. Papa spricht nicht darüber, aber es grämt ihn schon sehr, dass Ingo so gar kein Interesse an allem zeigt. Ich mein, er weiß doch, dass er der nächste Herr von Waldenburg wird. Da muss er, auch wenn hinreichend Personal vorhanden ist, wenigstens etwas Ahnung haben.«

»Deswegen sage ich ja auch, dass dein Vater besser daran täte, dir alles zu überlassen, dann könnte er beruhigt davon ausgehen, dass du alles für die nächste Generation bewahren würdest. Ingo würde ich glatt zutrauen, dass er irgendwann alles verscherbelt.«

An so etwas wollte Alexandra nicht denken, wenngleich sie sich ein solches Szenario auch schon vor Augen geführt hatte.

»Lass uns über was anderes reden, Lil«, bat sie. »Auf jeden Fall bin ich froh, dass du auch zu Papas Geburtstag kommen wirst.«

»Und ich bin froh, dass er mich eingeladen hat. Kommen auch nette alleinstehende Männer? Wäre schon schön, mal wieder jemanden kennenzulernen, sich zu verlieben. Ich bin jetzt wieder so weit, aber die Chancen, in Keimburg jemanden zu finden, stehen nicht so gut. Ich glaub, da hat man eher die Chance, von einem Terroristen erschossen zu werden, als einen adäquaten Partner zu finden. Hoffentlich werden wir zwei keine alten Jungfern.«

»Na ja, du hast ja wenigstens schon mal eine Ehe hinter dir und weißt, wie das ist.«

Liliane wurde ernst.

»Alex, eine gescheiterte Ehe ist eine Erfahrung, die man sich wirklich ersparen kann.«

Alexandra ärgerte sich, dass sie davon angefangen hatte.

Auch wenn Liliane so tat, als sei es vorbei, hatte man an ihrer Reaktion erkennen können, dass es noch lange nicht so war.

»Ich freue mich so sehr auf die Kleinen«, wechselte Alexandra das Thema. »Schade, dass sie so weit weg wohnen, man bekommt nur so wenig von ihnen mit, sieht sie nicht heranwachsen. Wenn ich es schon so sehr bedaure, wie muss es da in meinen Eltern wohl aussehen? Es kommt im Jahr nicht so oft vor, dass sie ihre Großelternrolle ausleben können.«

»Drei kleine Mädchen können auch ganz schön anstrengend sein«, wandte Liliane ein.

»Ja, das stimmt, und bald werden Sabrina und Elmar wieder ein Kind haben …«

»Willst du damit sagen, dass deine Schwester schon wieder schwanger ist?«

Alexandra nickte.

»Mein Gott, die Mädchen sind doch noch so klein. Legen die beiden es unbedingt darauf an, einen Sohn zu bekommen?«

Alexandra zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung, aber vorstellbar ist es schon. Wollen denn nicht alle Männer einen Sohn haben, um Fußballspielen, das Spielen mit der elektrischen Eisenbahn wieder aufleben zu lassen?«

»Na ja, wenn das seine Motivation ist, wünsche ich viel Glück, dass es diesmal mit dem Stammhalter klappt. Es kann aber auch ganz gehörig ins Auge gehen, und Mädchen Nummer vier erblickt das Licht der Welt.«

»Ach, weißt du, Lil, mir wäre das so was von egal, für mich wäre allein entscheidend, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen.«

Liliane rührte in ihrem Espresso herum, es war der dritte, und wenn sie sich einen vierten bestellen würde, dann würde Alexandra einschreiten. »Und wenn es krank wäre?«, wollte sie wissen.

»Dann wäre es doch auch mein Kind, und ich würde ihm alle Liebe schenken wie einem gesunden, vielleicht sogar noch mehr Liebe.«

»Ja, ja, meine Freundin Alex mit dem großen, guten Herzen.«

»Wieso, du würdest ein krankes Kind doch auch lieben, oder, Lil?«

»Ja, ja, das schon, aber ich würde, im Gegensatz zu dir, ganz schön mit dem Schicksal hadern.«

Alexandra blickte auf die altmodische Wanduhr, die genau in ihrem Blickfeld hing.

»Mein Gott, da haben wir uns aber ganz schön verplaudert. Ich muss aufbrechen, meine Eltern werden sich ganz gewiss schon wundern, wo ich bleibe.«

Sie winkte die Bedienung herbei, bezahlte, dann verließen die Freundinnen das Café.

»Wir sehen uns«, sagte Alexan­dra, »spätestens zu Papas Geburtstag.«

»Klar, und vorher telefonieren wir auf jeden Fall. Wie ich uns kenne, schon spätestens heute Abend.«

Dem hatte Alexandra nichts hinzuzufügen, weil es ganz einfach stimmte.

Liliane und sie waren halt Busenfreundinnen …

*

Gut Waldenburg war ein prachtvoller Besitz, der sich außerhalb des Ortes, eingebettet in Felder und Wälder befand und mit seinem weitläufigen, großzügigen Herrenhaus, den anschließenden Stallungen und den zahlreichen Nebengebäuden wie ein kleiner Ort für sich wirkte, wie eine Insel inmitten einer wunderbaren Natur.

Alexandra fuhr über den Hof zu der großen Remise, in der alle Fahrzeuge untergestellt waren.

Dieses Glücksgefühl, nach Hause zu kommen, würde wohl niemals aufhören. Für sie war Waldenburg der allerschönste Platz der Welt, ein Paradies, das zu verlassen ihr das Herz brechen würde. Sie wusste, dass sie dieses Gefühl von Heimat, Glück, Geborgenheit, Frieden niemals anderswo finden konnte. Hier waren ihre Wurzeln, hier war sie geboren worden, hatte eine unbeschwerte Kindheit verbracht, und wundervolle Jugend, und hierhin war sie nach Beendigung ihres Studiums mit wehenden Fahnen zurückgekehrt.

Warum ließ Ingo sich so selten blicken?

Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er froh war, wieder weg zu können. Ob etwas Wahres daran war, was Lil vorhin gesagt hatte? Dass er irgendwann alles verkaufen würde?

Nein!

Sie wollte diesen Gedanken überhaupt nicht weiter ausspinnen, weil er geradezu gruselig war.

Als sie über den Hof zum Herrenhaus ging, kam Max, der Stallbursche, ihr hinterhergelaufen.

»Frau von Waldenburg, der Schimmel lahmt. Wollen Sie sich das mal ansehen, oder soll ich den Tierarzt anrufen?«

»Ich komme …«, sie brach ihren Satz ab, als sie die Tüten bemerkte, mit denen sie bepackt war. Max war ein umsichtiger Mensch, der wusste was zu tun war, und wenn er der Meinung war, ein Besuch des Tierarztes sei wichtig, dann konnte sie sich darauf verlassen, dass es so war.

»Rufen Sie den Tierarzt an, Max. Ich geh jetzt erst mal ins Haus.«

Sie nickte dem Mann zu, dann lief sie weiter und hatte sehr schnell das Haus erreicht. Es war in L-Form erbaut und wirkte durch den weißen Anstrich und das dunkelbraune Holz der Tür und der Fensterrahmen sehr edel. Die üppigen Hortensienbüsche davor gaben ihm ein südliches Flair.

Alexandra liebte das Anwesen so, wie es war, wie sie es ihr Leben lang kannte. Wie es früher einmal ausgesehen hatte, davon sprachen nur noch Bilder, auf denen zu erkennen war, dass Waldenburg ein beeindruckendes Schloss mit Türm­chen und Zinnen gewesen war, ehe es nach einem schrecklichen Brand beinahe bis auf die Grundmauern abgebrannt war.

Man hatte es an derselben Stelle wieder aufgebaut, allerdings nicht in seiner ursprünglichen Form, sondern so, wie es jetzt war.

Das war eine sehr weise Entscheidung gewesen, denn für die nachfolgenden Generationen war es auf jeden Fall sehr viel komfortabler in einem Schloss zu wohnen, das mittlerweile mit modernster Technik versehen war. Etwas, was in dem früheren Bau mit der Unzahl von Zimmern, mit den langen, zugigen Gängen und den vielen Treppen niemals möglich gewesen wäre.

Alexandra stieß die schwere Eichentür auf und stellte in der Diele erst einmal all ihre Tüten ab. Dann ging sie in die Halle, von der Türen abgingen in die Wirtschaftsräume, die Bibliothek, Wohn- und Speisezimmer, in den kleinen Teesalon, das Terrassenzimmer und die Arbeitsräume ihres Vaters.

Die breite, geschwungene Treppe führte hinauf in die Schlaf- und Badezimmer.

Sie beeilte sich, in das Speisezimmer zu kommen, wo ihre Mutter bereits an dem langen Tisch saß und ihre Tochter ein wenig missbilligend ansah.

Elisabeth von Waldenburg war klein, zierlich und sehr elegant. Ihr Aussehen täuschte darüber hinweg, dass sie sehr energievoll war und sich nicht scheute, überall mit anzupacken, wenn es nötig war. Sie hatte mehr als einem Fohlen mit auf die Welt geholfen, und früher, als noch Landwirtschaft betrieben worden war, war sie bei jedem Ernteeinsatz dabeigewesen.

»Tut mir leid, Mama, dass ich so spät dran bin«, sagte Alexandra und küsste ihre Mutter auf die Stirn. »Ich habe Lil getroffen und mich mit ihr verplaudert.«

Elisabeth lächelte.

»Ja, ja, du und deine Freundin Lil. Ich frage mich wirklich, was ihr euch so viel zu erzählen habt.«

»Ach, Mama, unabhängig davon, dass Lil und ich keine Geheimnisse voreinander haben, sind wir Frauen, und die haben immer ein Gesprächsthema.«

Sie setzte sich.

»Wo ist Papa?«, wollte sie wissen. »Kommt der heute nicht zum Essen?«

Ein Schatten huschte über Elisabeths Gesicht.

»Es geht ihm nicht so gut … Er ist ein wenig müde und hat sich hingelegt, um fit zu sein, wenn Sabrina, Elmar und die Kinder kommen.«

Alexandra bekam einen besorgten Gesichtsausdruck, denn es war ihr in den vergangenen Wochen mehrfach aufgefallen, dass ihr Vater schwächelte. Und das passte irgendwie nicht, nicht zu dem aktiven, kraftvollen Benno von Waldenburg.

»Mama, ist Papa krank?«

In dem Moment wurde die Suppe aufgetragen, und Elisabeth antwortete erst, als das Mädchen wieder draußen war.

»Er ist halt nicht mehr der Jüngs­te«, bemerkte sie und griff nach ihrem Löffel.

Mit dieser Antwort gab Alexan­dra sich nicht zufrieden.

»Mama, Papa wird sechzig, das ist heutzutage kein Alter, wenn man bedenkt, dass die Zahl der Hundertjährigen zunimmt.«

»Ich weiß nicht, ob es ein erstrebenswertes Ziel ist, hundert Jahre alt zu werden.«

Sie wich schon wieder aus, dachte Alexandra und begann sich Sorgen zu machen.

»Bis dahin hat Papa noch vierzig Jahre Zeit, also bitte sag mir, was mit Papa los ist. Wenn du es mir nicht sagst, dann werde ich ihn selbst fragen.«

Elisabeth legte ihren Löffel beiseite.

»Alexandra, das wirst du nicht tun.« Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt. »Du weißt, wie dein Vater ist, er mag nicht über Krankheiten reden, schon gar nicht, wenn es ihn selbst betrifft. Aber sei beruhigt, krank ist er nicht. Er fühlt sich nur ein bisschen schwach, und das ist eigentlich angesichts des Arbeitspensums, das er sich täglich auferlegt, kein Wunder. Er hat mir versprochen, in Zukunft kürzerzutreten, hoffentlich hält er sich daran.«

Erleichtert atmete Alexandra auf. »Nun, dass er das tun wird, dafür wirst du schon sorgen, Ma­ma. Die Suppe ist übrigens ganz ausgezeichnet. Ich glaube, mit der neuen Köchin hast du einen guten Griff getan.«

»Ja, vom Kochen versteht sie was. Hoffentlich bleibt sie uns lange erhalten.«

»Warum denn nicht?«

»Weil sie noch jung genug ist, um in ihrem Leben andere Perspektiven zu sehen, als auf einem Gut die Köchin zu spielen.«

»Mama, es gibt auch Menschen, die das Leben auf dem Lande lieben, für die es nichts Schöneres gibt, als morgens mit dem Gezwitscher der Vögel aufzuwachen, die Stille des Abends und der Nacht zu genießen.«

Elisabeth von Waldenburg warf ihrer Tochter einen liebevollen Blick zu.

»Mein Liebes, du darfst nicht immer von dir auf andere schließen. Deine Vernarrtheit in Waldenburg ist beinahe schon nicht normal, aber diese Heimatliebe, diese Verbundenheit zur Tradition, hast du eindeutig von deinem Vater geerbt, nicht nur das, ich finde, du bist ganz seine Tochter, und jetzt, wo du älter wirst, erkenne ich in dir immer mehr den jungen Benno.«

»Nur dass ich kein Mann bin«, antwortete Alexandra mit leiser Bitterkeit in der Stimme, und am liebsten hätte sie hinzugefügt: und dass ich nicht die Erstgeborene bin.

Aber das sprach ihre Mutter indirekt aus.

»Es ist wirklich schade, dass von alldem Ingo leider so gar nichts hat. Es bekümmert Papa sehr, dass sein Sohn sich für Waldenburg nicht interessiert.«

Das Hausmädchen unterbrach sie.

Die Teller wurden abgeräumt, der nächste Gang serviert.

Es gab ein köstliches Geschnetzeltes mit Rösti, dazu einen kleinen Salat mit einem fantastischem Dressing.

Zunächst gaben die beiden Damen sich dem Essen hin, doch dann wandte Alexandra ein: »Papa sollte mit Ingo mal ein ernstes Wörtchen reden, ihn daran erinnern, dass es an der Zeit ist, Pflichten zu übernehmen.«

Elisabeth seufzte.

»Ach, Kind, du glaubst ja überhaupt nicht, wie oft Papa das versucht hat, wie oft ich mich bemüht habe, ihm ins Gewissen zu reden. Irgendwo ist Ingo ein ganz großer Kindskopf.«

Normalerweise widersprach Ale­xandra ihrer Mutter nicht, aber jetzt musste sie es einfach tun. Sie wusste, wie sehr sie an Ingo hing, vermutlich war es so, dass Mütter zu ihren Söhnen eine engere Beziehung hatten als zu ihren Töchtern. Das war auch ganz in Ordnung so. Das, was ihre Mutter ihr an Liebe gab, reichte ihr durchaus. Sie hatte ja auch noch ihren Papa, zu dem sie eine ganz besondere Bindung hatte. Sie waren halt aus einem Holz geschnitzt.

»Mama, rede es dir nicht schön. Ingo ist dreißig, er hat eine Ehe hinter sich. In dem Alter sollte man eigentlich wissen, wo es längsgeht.«

»Du hast recht, mein Kind«, gab Elisabeth sofort zu. »Nur, Heimatliebe, Verantwortungsbewusstsein und all das kann man in einen Menschen nicht hineinprügeln.«

Alexandra antwortete nicht sofort. Sie konnte es zwar nicht wirklich nachvollziehen, aber ein biss­chen konnte sie ihre Mutter verstehen, die so gern wollte, dass ihr geliebter Sohn wenigstens ansatzweise das bringen würde, was man von einem Waldenburg erwartete. Den Kopf in den Sand zu stecken half niemandem weiter, auch nicht, dass die Zukunft es schon bringen würde.

»Mama, und wie soll das werden, wenn Ingo das hier alles übernimmt? Waldenburg ist keine Pommes-Bude, die man so ganz nebenbei führt, gewissermaßen mit links. Es ist ein Wirtschaftsunternehmen mit einer großen Anzahl von Angestellten. Wir haben einen Namen zu verlieren.«

Unbemerkt hatte sich die Tür geöffnet, und Benno von Waldenburg war hereingekommen.

»Und ob wir das haben«, bestätigte er. »Die Waldenburgs sitzen seit Generationen hier auf diesem Gut … Darf ich fragen, worum es bei eurem Gespräch geht?«

Alexandra atmete insgeheim erleichtert auf, zum Glück hatte ihr Vater offenbar nicht viel, nur die letzten Worte mitbekommen.

»Ach, wir reden nur so allgemein«, bemerkte Elisabeth, »schön, dass du doch noch zum Essen kommst, mein Lieber.«

Er lächelte seine Frau an, dann warf er seiner jüngsten Tochter einen liebevollen Blick zu.

»Ich konnte nicht schlafen, bin wohl doch noch nicht in dem Alter, in dem man ein Nickerchen so um die Mittagszeit genießt … Was gibt es denn Schönes zu essen?«

Er setzte sich und blickte auf die Teller der Frauen.

»Hm, sieht lecker aus«, sagte er.

»Papa, es sieht nicht nur so aus, es schmeckt auch total lecker«, entgegnete Alexandra.

Sie schaute ihren Vater an, und das Herz wurde ihr weit. Wie sehr sie ihren Vater liebte! Er sah nicht nur toll aus, er hatte einen unglaublichen Charakter, und für sie gab es nichts Schöneres, als ihm nachzueifern.

Benno von Waldenburg war hochgewachsen, beinahe hager, mit vollem grauem Haar und einem klaren, bezwingenden Blick.

Alexandra liebte beide, ihren Vater und ihre Mutter, aber wenn sie ehrlich war, ihren Papa ein biss­chen mehr. Vielleicht war es ja wirklich so, dass es die Söhne eher zu den Müttern zog, die Töchter zu den Vätern. Das las man immer wieder. Ihre Schwester Sabrina bildete da allerdings eine Ausnahme, die war nämlich ein ausgesprochenes Mama-Kind.

Aber das spielte doch auch keine Rolle, sich darüber den Kopf zu zerbrechen war müßig, und zum Glück wurden auch keine Noten verteilt.

Elisabeth und Benno von Waldenburg waren wunderbare Eltern, die ihre Kinder über alles liebten und selbst, auch nach einer so langen Ehe, sehr respektvoll, zärtlich und liebevoll miteinander umgingen. Man konnte sich die beiden wirklich zum Vorbild nehmen, in jeder Hinsicht. Für das, was man sich selbst vom Leben, einem Partner, erhoffte, war deswegen die Messlatte sehr hoch angelegt. Zumindest war das bei ihr der Fall. Was Ingo wollte, war ihr nicht so recht klar. Er hatte seine Freundinnen häufig gewechselt, und sie pass­ten alle in ein Beuteschema – Modeltypen mit langen dunklen Haaren, traumhaften Figuren … Marion, seine Kurzzeitehefrau, war da eine Ausnahme gewesen. Hatte deswegen die Ehe nicht lange gehalten?

Und Sabrina. Hatte sie Elmar von Greven aus Liebe geheiratet, oder war es für sie auch verlockend gewesen, in eine alte Familie einzuheiraten? Alexandra hatte keine Ahnung, und sie wollte sich damit auch nicht länger beschäftigen. Das würde doch nichts bringen, sondern ausgehen wie das Hornberger Schießen.

»Papa, Max muss den Tierarzt kommen lassen, Bonito lahmt«, wechselte sie deswegen rasch das Thema.

»Was? Schon wieder? Er muss künftighin zu den Pferden auf der hinteren Koppel. Seit die Tiere draußen sind, ist andauernd was mit ihm. Für ihn müssen wir den Tierarzt öfters kommen lassen als für die anderen Tiere zusammen.«

»Aber er ist ein so herrliches Tier«, bemerkte Alexandra.

»Ja, ja, das stimmt schon, aber dennoch bin ich nach wie vor der Meinung, dass wir ihn verkaufen sollten. Er ist ein gutes Dressurpferd, hat ausgezeichnete Papiere. Für ihn würde sich nicht nur ein Interessent finden.«

»Ihn wegzugeben würde Sabrina das Herz brechen, Papa«, wandte Alexandra ein.

Benno von Waldenburg faltete seine Serviette auseinander.

»Mein liebes Kind, ich wollte Sabrina das Pferd schenken. Sie hat mein Angebot nicht angenommen. Sie kann nicht erwarten, dass wir Bonito für sie hier halten, nur damit sie bei ihren Besuchen ein biss­chen auf ihm herumreiten kann und er ansonsten auf der Weide herumgaloppiert. Unabhängig von den Kosten wird das dem Pferd nicht gerecht … Jetzt ist sie wieder schwanger, das heißt, es wird erneut eine Weile dauern, ehe sie sich wieder auf das Pferd setzt. Nein, tut mir leid, entweder sie nehmen Bonito mit nach Greven …«

Elisabeth mischte sich ein.

»Lieber, du weißt, dass das nicht der Fall sein wird. Sabrina würde es ja vielleicht wollen, aber Elmar, der ist ein kühler Rechner.«

»Mein Herz, er ist mehr als das. Er ist geizig, umso mehr muss er doch verstehen, dass es unzumutbar ist, uns auf den Kosten sitzen zu lassen … Ich werde noch mal mit den beiden reden, ihnen erneut mein Angebot unterbreiten, wenn sie wieder Nein sagen, dann wird Bonito verkauft. So einfach ist das.«

Alexandra starrte ihren Vater an, sie konnte es nicht glauben.

»Papa, das würdest du wirklich tun?«

Er nickte.

»Ja, und das sehr schnell. Es wird sich ohnehin einiges auf Waldenburg ändern, und das wird dem einen oder anderen nicht gefallen.«

»Benno, was hast du vor?«

Er griff über den Tisch, tätschelte den Arm seiner Frau.

»Einiges, mein Herz, aber glaub mir, es wird zum Guten sein. Sechzig zu werden ist kein Drama, das erschreckt mich nicht. Aber es ist eine Zahl, die einem gebietet, innezuhalten, sein Leben zu überdenken, das, was war, das, was man noch erwartet. Der größte Teil der Wegstrecke liegt hinter mir, aber ich hoffe doch sehr, dass ich«, er lächelte seine Frau an, »dass wir … noch eine schöne Zeit vor uns haben.«

Alexandra spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

Bedeutete das, dass ihr Vater sich ins Privatleben zurückziehen wollte? Dass über kurz oder lang Ingo das Zepter übernehmen würde?

Sie gönnte es ihm, aber so schnell hatte sie damit nicht gerechnet.

»Papa, bedeutet das …, ich meine, willst du …«, sie stammelte herum und war froh, dass ihr Vater sie kurzerhand unterbrach.

»Genug davon, ich werde meinen Geburtstag zum Anlass nehmen über die geplanten Veränderungen zu reden, und bis dahin sollten wir dieses Thema besser ausklammern … Das Essen ist wirklich ausgesprochen köstlich. Elisabeth, die neue Köchin ist spitzenklasse, du hattest wieder einmal das richtige Näschen. Hoffentlich bleibt Klara uns lange erhalten.«

Nach diesen Worten schob er sich eine Gabel des köstlichen Geschnetzelten in den Mund.

Alexandra allerdings war der Appetit vergangen. Sie hatte keine Neuigkeiten erfahren, sondern immer gewusst, dass Ingo eines Tages der Herr von Waldenburg sein würde. Aber es zu wissen und vor die vollendete Tatsache gestellt zu werden, waren zwei Paar Schuhe.

Sie würde sich sehr schnell nach etwas anderem umsehen müssen, denn unter Ingo zu arbeiten, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie hatte Ingo wirklich gern, aber er als ihr Chef? Nein, das ging nicht. Er würde es vermutlich auch nicht wollen.

Papa hat mit keiner einzigen Silbe erwähnt, dass es so kommen würde, sagte eine andere Stimme in ihr, er hatte nur von Veränderungen gesprochen. Doch diese Stimme war zu schwach, sie konnte über die andere, die ihr sagte, dass sehr bald alles vorbei sein würde, nicht ankommen …

*

Alexandra wollte gerade in die Stallungen gehen, um nach Bonito zu sehen, als ein Taxi vorfuhr.

Neugierig und auch ein wenig irritiert blieb Alexandra stehen.

Heute erwartete man nur die engste Familie, also Sabrina nebst Mann und Kindern und Ingo, der vermutlich seine derzeitige Lebensabschnittsgefährtin, so nannte man das ja heute wohl, mitbringen würde.

Niemand von denen würde mit einem Taxi kommen, die kamen mit ihren schicken Autos angereist. Die Grevens mit einer Familienkutsche aus dem oberen Preissegment und Ingo mit einem heißen Sportwagen der Spitzenklasse. Er wechselte seine Autos häufiger als manche Leute ihre Bettwäsche. Nun, das war ein wenig übertrieben, aber normal war es nicht, was ihr lieber Bruder da veranstaltete.

Es dauerte ewig, ehe jemand aus dem Taxi ausstieg, und dann war es der Fahrer, der aus dem Kofferraum zwei Reisetaschen und einen zusammengeklappten Kindersportwagen herausholte.

Das wurde ja immer spannender. Jemand mit Kind kam zu ihnen?

Hoffentlich hatte sich da niemand vertan.

Schon wollte sie auf das Taxi zugehen, um das klarzustellen, als endlich die Beifahrertür geöffnet wurde und eine Frau ausstieg.

Alexandra hielt inne, sie riss die Augen auf, schnappte nach Luft.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Es war Marion, ihre Exschwägerin, keine Frage.

Aber wieso?

Sie konnte diesen Gedanken nicht zu Ende bringen, denn Marion machte die Fondtür auf, war eine Weile mit etwas beschäftigt, dann hielt sie ein kleines Mädchen auf dem Arm, das fröhlich in ihrem Gesicht herumpatschte.

Der Taxifahrer, der den Kinderwagen hergerichtet hatte, half ihr, den Kindersitz aus dem Auto zu holen.

Erst jetzt bemerkte Marion die Frau, die einfach nur so dastand und sie anstarrte.

Leichte Verlegenheit machte sich bei ihr breit, sie zuckte verunsichert die Achseln.

Der Taxifahrer verabschiedete sich, stieg ein, fuhr davon.

Die Kleine quietschte: »Mama, Mama, Mama.«

Auch ohne das hätte Alexandra nicht daran gezweifelt, dass es sich dabei um Marions kleine Tochter handelte, was ihre Verwirrtheit und Sprachlosigkeit noch verstärkte, war die Tatsache, dass die Kleine eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Elisabeth hatte, ihrer Mutter. Da sie erst kürzlich eines ihrer Kinderbilder in der Hand gehabt hatte, konnte sie das gut beurteilen.

Marion und ein Kind …

Marion, die wie vom Erdboden verschluckt gewesen war, stand auf einmal vor ihr und sah unbeschreiblich gut aus. Sie war schlanker geworden und trug ihre Haare jetzt sehr kurz, was ihr ausgesprochen gut stand.

Alexandra war die Erste, die sich wieder fing, mit wenigen Schritten war sie bei Marion und umarmte sie und das kleine Mädchen, das jetzt interessiert zu ihr blickte.

»Marion, mein Gott, welche Überraschung … Ich kann es noch immer nicht fassen, dich zu sehen. Wie … wieso …«

»Dein Vater hat mich zu seinem Geburtstag eingeladen«, sagte Marion.

»Aber davon weiß ich nichts, niemand weiß etwas, er hat darüber kein Wort verloren … Aber wie auch immer, herzlich willkommen. Es ist schön, dich zu sehen. Ich habe alles Mögliche unternommen, dich irgendwo aufzuspüren. Das ist mir nicht gelungen, Papa hatte da offensichtlich mehr Glück.«

»Er hat es auch nicht geschafft, es war ein Detektiv, der mich ausfindig gemacht hat, und der hat natürlich auch herausgefunden, dass es meine süße Michelle gibt.«

Alexandra blickte die Kleine an.

»Michelle, ein wunderschöner Name … Marion …, nicht wahr, es ist Ingos Kind? Ich meine, sie sieht aus wie Mama, als die klein war.«

Marion nickte.

»Stimmt, sie gleicht Elisabeth sehr, und es ist auch richtig, dass Ingo der Vater ist.«

Alexandra schüttelte den Kopf.

»Er hat mit keiner Silbe erwähnt, dass es aus eurer Verbindung ein Kind gibt.«

»Er wusste es nicht, als er die Trennung vorschlug, um mit diesem Model auf und davon zu gehen, war die Schwangerschaft noch sehr frisch.«

»Du hättest es ihm sagen müssen, vielleicht …«

Marion winkte ab.

»Vielleicht wäre er dann bei mir geblieben? Nein, aus Mitleid hätte er nicht bleiben müssen, nicht, nachdem er mir vorher knallhart ins Gesicht gesagt hatte, dass es mit seinen Gefühlen für mich vorbei ist. Ich wollte mir noch etwas wert sein, und ich komme gut zurecht, auch ohne ihn.«

Jetzt hatte sie noch eine kleine Nichte, dachte Alexandra und warf der Kleinen einen verzückten Blick zu.

Wie süß sie aussah. Und welch wachen Blick sie hatte.

Ihre Ankunft war auch von Benno und Elisabeth bemerkt worden, vielleicht hatten sie das Taxi wegfahren sehen oder gehört.

Während aus Elisabeths Mund zunächst nur ein überraschtes: »Marion, du?« kam, eilte Benno auf Marion und das Kind zu.

Er nahm Marion kurzerhand in die Arme und sagte, nachdem er Marion, vor allem die Kleine, eine Weile stumm angesehen hatte: »Danke, Marion, dass du über deinen Schatten gesprungen und doch gekommen bist. Das werde ich dir nie vergessen.«

Dann nahm er, mit Tränen in den Augen, die kleine Michelle auf den Arm, was die sich erstaunlicherweise widerstandslos gefallen ließ.

»Komm zu deinem Opa, meine Kleine«, flüsterte er mit bewegt klingender Stimme.

Auch Alexandra konnte die Tränen der Rührung nicht zurückhalten.

Elisabeth war ebenfalls anzusehen, dass sie sichtlich bewegt war, aber auch noch immer verwundert.

Ihr war anzusehen, dass sie vorher nichts gewusst hatte, Benno alles wirklich im Alleingang arrangiert hatte.

Warum hatte er Marion aufspüren lassen? Wegen der Kleinen konnte es ja nicht sein, von der hatte er vorher auch nichts gewusst.

Aus Sentimentalität? Weil er an diesem bedeutsamen Geburtstag alle Familienmitglieder, auch die ehemaligen, um sich haben wollte? Und die kleine Michelle war die große Überraschung gewesen?

Endlich fasste Elisabeth sich, sie eilte auf Marion zu und sagte, und das kam von Herzen: »Schön, dass du da bist, meine Liebe.«

Alexandra bückte sich, hob die Reisetaschen auf, verfrachtete die in den Sportwagen, denn der wurde jetzt nicht gebraucht.

So wie ihr Vater sein neues Enkelkind im Arm hielt, sah es ganz so aus, als würde er es lange nicht mehr loslassen.

Marion legte den Kindersitz obendrauf, auch sie war bewegt, auch in ihren Augen schimmerten Tränen.

»Erst jetzt merke ich, wie sehr ich euch vermisst habe«, sagte sie. »Und sieh mal, wie verliebt Benno Michelle ansieht.«

Das war wirklich nicht zu übersehen.

»Glaub mir, Marion, Mama wird sehr schnell nachziehen, die muss sich erst mal von der Überraschung erholen. Im Gegensatz zu Papa waren wir zwei ja vollkommen ahnungslos, aber es ist schön, schön, dass es Michelle gibt und dass du wieder bei uns bist. Du wirst hoffentlich lange, lange auf Waldenburg bleiben, aber jetzt lass uns erst mal ins Haus gehen.«

Sie hakte sich bei Marion unter, und gemeinsam schoben sie den schwerbeladenen Sportwagen zum Haus, in dem Benno und Elisabeth bereits wieder verschwunden waren, zusammen mit der kleinen Michelle, die munter vor sich hinplapperte und der es ausnehmend gut zu gefallen schien, der absolute Mittelpunkt zu sein.

*

Sie erfuhren sehr schnell, warum Benno nichts gesagt hatte. Er war sich bis zum letzten Augenblick nicht sicher gewesen, ob Marion überhaupt kommen würde, denn das hatte sie eigentlich nicht vorgehabt.

Und gesucht hatte er nach ihr, weil es ihm nicht gefallen hatte, wie sang- und klanglos sie aus dem Leben der Waldenburgs verschwunden war. Er hatte sich immer gut mit ihr verstanden, und sein Geburtstag war ihm Anlass genug, das Verhältnis zu seiner ehemaligen Schwiegertochter zu klären, sich wenigstens ordentlich von ihr zu verabschieden, wenn sie schon mit den Waldenburgs nichts mehr zu tun haben wollte. Dass es Michelle gab, war für ihn eine freudige Überraschung gewesen. Ihm war anzusehen, wie glücklich es ihn machte, dass sie jetzt hier auf dem Gut waren. Opa und Enkelin waren ein Herz und eine Seele, aber auch Elisabeth war vollkommen vernarrt in die Kleine, vermutlich ganz besonders, weil es die Tochter ihres über alles geliebten Sohnes war, und dass die Kleine ihr so auffallend glich, machte sie stolz und glücklich.

Jetzt waren die Großeltern mit der Kleinen in die Stadt gefahren, um ordentlich Spielzeug und auch ein paar Kinderbücher einzukaufen. Es gab zwar einiges von Sabrinas Kindern, aber Michelle sollte etwas Eigenes haben.

Alexandra und Marion waren ausgeritten, nachdem sie die Pferde versorgt hatten, gingen sie zum Haus zurück.

»Wie schön es hier ist«, schwärmte Marion. »Ach, Alexandra, ich habe diesen Ausflug so sehr genossen. Es war fast so, als hätte es die Jahre der Trennung nicht gegeben. Es war wie früher, und ich bin auch so froh, dass zwischen uns nichts Trennendes ist, dass ihr so herzlich und liebevoll seid, als gehöre ich noch zur Familie.«

»Marion, du hast nie aufgehört dazuzugehören. Wir mochten dich sofort, und dass Ingo dich verlassen hat, hat keinen anderen Menschen aus dir gemacht.«

Marion seufzte.

»Ich hab schon einen ganz gehörigen Bammel davor, ihn wiederzusehen, denn natürlich wird er auch zum Geburtstag kommen. Ist er wieder verheiratet?«

»Nein, und ich glaube auch nicht, dass er etwas Festes hat. Er bringt immer neue Freundinnen mit.«

»Alle sehr schlank, langbeinig, mit dunklen Augen und langen schwarzen Haaren.«

»Exakt«, bestätigte Alexandra.

»Weißt du, ich frage mich noch heute, warum er nicht eines von diesen langbeinigen Models geheiratet hat, sondern mich.«

»Ich sag dir, warum, meine Liebe. Weil mein Bruder einmal in seinem Leben einen lichten Moment hatte und begriffen hat, worauf es im Leben wirklich ankommt.«

»Lang angehalten hat es aber nicht, Alexandra.«

Sie hatten das Haus erreicht.

»Trinken wir noch einen Tee zusammen?«, wollte Alexandra wissen, und als Marion das bestätigte, gingen sie in die Küche.

Da war um diese Zeit niemand anzutreffen, aber das war auch nicht nötig, und einen Tee zuzubereiten war nun, weiß Gott, nichts, was einen überforderte.

Sie setzten sich an den großen, blankgescheuerten Holztisch, und als der Tee vor ihnen stand, erkundigte Alexandra sich ganz behutsam: »Du musst es mir nicht sagen, eigentlich ist es auch indiskret, aber liebst du …, liebst du Ingo noch?«

Marion überlegte einen Augenblick.

»Nein, das ist vorbei, dazu hat er mich zu sehr verletzt, hat er so viel kaputt gemacht.«

Das konnte Alexandra verstehen, aber es gab da etwas, was sie auf immer miteinander verbinden würde, ein gemeinsames Kind. Noch ahnte Ingo nichts davon, aber er würde doch bei diesem entzückenden Wesen ganz bestimmt seine Vaterrechte geltend machen.

»Er wird ganz schön überrascht sein, wenn er von Michelle erfährt«, bemerkte Alexandra vorsichtig.

Marion rührte ihren Tee um, sie hatte ihn noch einmal nachgesüßt.

»Er wird erleichtert sein, dass dieser Kelch an ihm vorübergegangen ist«, bemerkte sie lakonisch. »Oder kannst du dir deinen Bruder als Familienvater vorstellen? Der ist doch selbst noch ein Kind.«

Das hatte sie vor nicht allzu langer Zeit bereits von ihrer Mutter gehört, und wie bei ihr, regte sich jetzt auch bei Alexandra der Widerstand.

»Michelle ist sein Kind. Ingo mag ja Fehler ohne Ende haben, aber ein schlechter Mensch ist er nicht. Michelle hat aller Herzen gewonnen, warum also nicht auch das ihres Vaters?«

Marion trank bedächtig etwas von ihrem Tee, stellte langsam die Tasse ab.

»Klar, er wird entzückt von ihr sein, ihr übers Haar streicheln, mit ihr spielen, aber Verantwortung wird er nicht übernehmen, weil er nicht einmal weiß, wie man das Wort richtig schreibt.«

»Aber zahlen muss er«, sagte Alexandra.

Marion richtete sich kerzengerade auf.

»Nein«, kam es schneidend aus ihrem Mund, sodass Alexandra erschrocken zusammenzuckte. »Er hat bislang nichts bezahlt, und er wird es auch in Zukunft nicht. Ich habe bei der Scheidung auf alles verzichtet. Und so soll es bleiben.«

»Durch Michelle ist aber alles anders geworden.«

Wieder ein Kopfschütteln.

»Nein, auch nicht, und lass uns jetzt bitte davon aufhören. Dein Vater hat Michelle als sein Enkelkind anerkannt und sie mit den Mädchen deiner Schwester auf eine Stufe gestellt, und das ist in Ordnung. Benno ist wirklich ein großartiger Mann, wenn Ingo doch wenigstens ein bisschen von ihm hätte.«

Das wünschte Alexandra sich auch, aber sie sagte zu dieser Sache nichts mehr, es ging sie auch nichts an. »Und wie geht es dir, Marion? Wie kommst du zurecht? Warum bist du ausgerechnet nach Irland gegangen?«

»Weil ich dort Freunde und einen Job als Übersetzerin gefunden habe, der es mir möglich macht, von daheim aus zu arbeiten, und ich kann in einem kleinen Cottage in der Nähe von Dublin wohnen, das der Mutter meiner Freundin Mabel gehört.«

»Und … und … bitte halte mich nicht für neugierig, es interessiert mich wirklich. Kommst du zurecht? Gefällt es dir dort?«

»Ja, keine Sorge, ich kann zwar keine großen Sprünge machen, aber ich komme gut zurecht, und ich bin ja nicht in eine andere Welt eingetaucht. Ich kannte das alles von früher, sogar das kleine Cot­tage, das im Übrigen sehr gemütlich ist. Du kannst dich davon überzeugen, indem du mich einmal besuchen kommst, du bist hiermit herzlich eingeladen.«

»Ich nehme die Einladung dankend an«, versprach Alexandra, und das war nicht nur dahergesagt, sie würde Marion auf jeden Fall besuchen, zum einen, weil sie ihre Schwägerin wirklich gern hatte, zum anderen, weil sie schon immer mal nach Irland fahren wollte. Dieses Land stand auf ihrer Prioritätenliste ganz weit oben.

»Du kannst auch jemanden mitbringen, eine Freundin oder … Bist du inzwischen gebunden?«

Alexandra schüttelte den Kopf.