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Karl Plepelits

Was Sie schon immer über Marokko wissen wollten





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

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Alles begann damit, dass mir Ute, meine Eheliebste, eines schönen Tages einen Reiseprospekt unter die Nase hielt, den uns mit der Post ins Haus geflattert war.

„Schau her, was es da Schönes gibt“, flötete sie und legte ihren Zeigefinger auf eine bestimmte Überschrift. „Was würdest du dazu sagen?“

Und ich las: „Trekkingtouren in Marokko – das ultimative Abenteuer.“ Und weiter unten: „Wandern im Atlas-Gebirge, Wandern entlang der Atlantikküste, Wandern in der Sahara. Sie glauben nicht, wie vielfältig die marokkanische Wüste ist.“ Und dazu ein paar bunte Bilder, die offenbar Appetit machen sollten. Und meiner Ute, wie deutlich zu erkennen war, bereits Appetit gemacht hatten.

„Oho, das klingt ja interessant“, murmelte ich.

„Ja, und besonders interessant finde ich das hier. Schau her: Wanderreisen mit Maultieren und Kamelen für Familien mit Kindern ab vier Jahren. Sag ehrlich, wär das nicht was für uns?“

„Du, ja. Du hast recht. Zu dieser Wanderreise für die ganze Familie rund um Silvester melden wir uns gleich an, ja? Und entfliehen gleichzeitig dem kalten und unfreundlichen Wetter bei uns.“

 

 

2

26. Dezember 1999.

Hurra, wir fliegen nach Marokko – Papi und Mami und dazu Eva und Mira, unsere zwei Kleinen. Und vier weitere Familien mit Kindern.

Wir landen in Marrakesch, werden von einem lustig kostümierten Marokkaner, der sich als Omar vorstellt, begrüßt und in einen Bus verladen. (Lustig kostümiert: Damit meine ich so einen merkwürdigen Kapuzenmantel, in dem er aussah wie ein mittelalterlicher Mönch. Er erinnerte mich jedenfalls an Sean Connery als der Franziskaner William von Baskerville im Film Der Name der Rose. Ich wusste noch nicht, dass dies die marokkanische Nationaltracht ist. Ihr Name ist Dschellaba.)

Das Ziel dieser Fahrt ist kein Hotel, sondern dieser riesige, aus zahlreichen Abbildungen weithin bekannte Platz mit dem sonderbaren Namen Place Dschmâa (Jemâa) el-Fna. Und das bedeutet laut Omar (unserem mittelalterlichen Mönch) wahrscheinlich Versammlung der Getöteten. Aber sicher sei das nicht. Hier werden wir schon erwartet. Nicht nur unsere Koffer, auch die kleineren Kinder, darunter unsere Jüngere, Klein-Mira, werden auf Schubkarren verladen und unter dem Jubel der Einheimischen durch die Gassen der Medina, der nun wirklich mittelalterlichen Altstadt, kutschiert, ein Service, den Eva, unsere Ältere, weit von sich weist: „Ich bin doch kein Baby mehr!“

Die Karawane hält vor einem unansehnlichen, fensterlosen Bau.

„Was? Hier sollen wir wohnen?“, maule ich. „Da wär mir ja ein Wüstenzelt noch lieber.“

Aber meine Enttäuschung wird gar schnell von ungläubigem Staunen abgelöst. Denn die Eingangstür gibt den Weg frei zu einem prachtvollen Innenhof inklusive Swimmingpool. Und damit öffnet sich eine Traumwelt aus Tausendundeiner Nacht. Alle sind fasziniert, allen voran die insgesamt sechs Kinder. Auch die Dachterrasse finden sie „megacool“. Hier bauen sich die Kleineren unter ihnen aus bunten Polstern und einer Decke einen Iglu und verstecken sich darin. Nur unsere Eva und ein etwa gleichaltriger Bub namens David fühlen sich zu erwachsen, um sich an solchen Spielchen zu beteiligen.

 

27.Dezember 1999.

Der Bummel durch die Suks (Suqs, französische Schreibung: Souks, Souqs), wie hier die orientalischen Basare heißen, ist für die Kinder ein Abenteuer wie aus dem Märchen. Und die Kinder öffnen uns Erwachsenen die Herzen der kinderfreundlichen Marokkaner. Unser mittelalterlicher Mönch führt und dolmetscht. Es ist Vergnügen pur. Übrigens stellen wir fest, dass die meisten Männer hier ebenso „kostümiert“ sind wie er. Hinzu kommen die tiefschwarz und obendrein total verschleierten Frauengestalten. Gerade, dass ein schmaler Schlitz die Augen freihält. Dies ist ja mittlerweile auch bei uns in Europa kein seltener Anblick mehr.

 

28. Dezember 1999.

Ja, wen hat denn „unser Mönch“ heute Morgen bei sich? Einen blau beturbanten Jüngling, der uns mit blitzenden Zähnen entgegenlacht. Er stellt ihn vor als unseren Trekkingführer Mustafa. Die Kinder sind außer sich vor Aufregung. Denn sie wissen: Heute beginnt das Wüstenkarawanenabenteuer.

Nein, zunächst beginnt ein erneutes Schubkarrenkarawanenabenteuer. Und auf dem riesigen Platz mit dem komplizierten Namen erwartet uns keine Kamelkarawane, sondern eine Karawane aus hochbeladenen Jeeps und ein großer, drahtiger älterer Mann. Der „Mönch“ stellt ihn uns vor als unseren Koch Jusuf und wünscht uns gute Reise.

Die Aufregung steigt. Wir steigen ein. Die Jeepkarawane setzt sich in Bewegung. Sie durchquert die Stadt, einen Palmenhain, ausgedehnte Olivenhaine und bewegt sich auf eine spektakuläre, schneeweiße Gebirgskette zu. Den Hohen Atlas. Diesen heißt es also überwinden, ehe wir den Ozean aus Sand erreichen.

Die Straße beginnt zu steigen, zwängt sich in eine Schlucht, windet sich in Serpentinen in die Höhe, erreicht eine Passhöhe. Fotostopp. Herrlicher Blick auf das nahe gerückte Atlas-Gebirge. Eichenwälder anstelle der Olivenhaine. Die Straße fällt wieder ab, beginnt erneut zu steigen, sich in abenteuerlichen Serpentinen zu winden. An den steilen Hängen winzige Dörfer mit niedrigen, flach gedeckten, aus Bruchsteinen errichteten Häusern, darunter winzige Terrassenfelder. Erneuter Halt in einem etwas größeren Dorf, umgeben von mächtigen Nussbäumen. Unsere Verpflegung für die nächsten Tage wird eingekauft: Brot, Gemüse, Obst, Fleisch. Entlang der Straße schreiende Händler, die uns zum Kauf von Kristallen, Fossilien und den verschiedensten Halbedelsteinen drängen.

Wieder heißt es einsteigen. Die Straße schraubt sich weiter himmelwärts. Die Hänge werden kahl und immer kahler. Wir erreichen die Passhöhe, den Tischka-Pass (Tizi n’Tichka; das Wort Tischka bedeutet in der Sprache der Berber angeblich Alm), 2260 Meter hoch, der höchste Straßenpass Marokkos. Fotostopp. Wieder schreiende Mineralienhändler. Wunderbarer Blick auf nackte, graue Steilhänge, beiderseits überragt von Gipfeln in leuchtendem Weiß. Trotzdem große Enttäuschung: Eisiger, schneidender Wind.

Rasch wieder in die behagliche Wärme des Jeeps, und Weiterfahrt. Große Überraschung: Auf einmal eine völlig konträre Landschaft. Kaum noch Steilhänge. Dazwischen weite, ebene Flächen. Aber weiterhin kahl, der Boden, die Felsen auffallend rot, genauer, ockerfarben, ins Gelbliche changierend. Eine geradezu biblische Landschaft. Die Straße ist nun deutlich weniger steil und bald auch weniger kurvenreich. Auch die Dörfer sehen ganz anders aus als bisher, heben sich kaum von der umgebenden Landschaft ab.

Plötzlich biegen wir nach links in ein schmales Sträßchen ab und stehen nach einiger Zeit, am Rand eines kleinen Berberdorfes namens Teluet in noch immer 1870 Meter Seehöhe, vor einer riesigen Kasba (Qasba, Kasbah, Qasbah, arabisch für Burg oder Festung, Mehrzahl: Ksabi, Qsabi), einem ganzen Palastkomplex für tausend Personen, bis 1956 die Wohnburg von El Glaui, heute großteils verfallen. Einige Teile sind jedoch restauriert worden und beeindrucken uns durch ihren unglaublichen Prunk.

„Bitte, wer ist El Glaui?“, warf ich am Ende von Mustafas Führung ein.

„Kurze Antwort: ein unerbittlicher Despot. Er hatte sich mit den Kolonialherren, den Franzosen, verbündet und war dafür von ihnen zum Pascha von Marrakesch ernannt worden. Skrupellos, wie er war, wurde er zum reichsten Mann Marokkos, zum Großgrundbesitzer und damit zum Herrn über Tausende von Pächtern. Überall ließ er Kasbas errichten und bemannte sie mit seinen Stellvertretern, um die von ihm Unterworfenen ständig unter seiner Knute zu haben und aus ihnen unverschämt hohe Abgaben zu pressen. Er selbst lebte wie ein König aus Tausendundeiner Nacht. Bewundernd nannte man ihn im In- und Ausland Sultan des Südens und Löwe des Atlas. Ab etwa 1950 war er mächtiger als Sultan Mohammed V. in Rabat. Den Franzosen lieferte er 1953 den Vorwand, um diesen abzusetzen und zunächst nach Korsika und dann nach Madagaskar zu verbannen. Doch nur zwei Jahre später sahen sie sich gezwungen, ihn wieder heimkehren zu lassen und zu inthronisieren. Und damit war El Glauis Macht gebrochen.“

Und weiter geht die Fahrt, nun auf der alten Passstraße, durch eine traumhaft schöne wüstenhafte Landschaft, die im Übrigen schon lange nicht mehr wie ein Hochgebirge wirkt, obwohl es ständig bergab geht und wir uns noch immer weit über der Tausend-Meter-Marke befinden. Plötzlich biegt Mhamid, der Fahrer unseres Jeeps, inmitten eines Dorfes nach links ab, sodass wir bald das Atlas-Gebirge neuerlich vor unseren staunenden Augen haben, nur jetzt eben von der anderen Seite.

Und dann glauben wir zu träumen. Aber es ist kein Traum aus Tausendundeiner Nacht. Es ist ein Traum aus einer anderen Welt, zugleich ein Quintett von Farben: Das Himmelblau eines Flüsschens, wie bei uns in den Alpen inmitten des Hellgraus eines breiten Trockenbetts, umgeben vom Grün einer Flussoase, dahinter, vor der Kulisse des weiß schimmernden Atlas-Gebirges, in das allgegenwärtige Ocker getaucht, ein niedriger Berg, auf seinem Gipfelplateau eine verfallene Kasba, und darunter, an den steilen Abhang geschmiegt, die ineinander verschachtelten Mauern eines Ksar: Aït-Ben-Haddu, benannt nach dem hier ansässigen Berberstamm.

„Aït“, erklärt Mustafa, „bedeutet in der Sprache der Berber Die Söhne von und wird bei den Berbern dem Stammesnamen vorangestellt. Damit entspricht es dem arabischen Wort Beni oder Banu. So heißt eine Stadt am Nordfuß des Hohen Atlas offiziell Beni Mellal. Aber die Berber nennen sie Aït Mellal. Und Ben-Haddu bedeutet, auf arabisch, Sohn des Haddu. Das arabische Wort für Sohn, Ibn oder Bin oder Ben, wird traditionell als Namensbestandteil gebraucht. Dasselbe gilt für Bint Tochter.“

„Und bitte, was ist ein Ksar?“, ruft meine vorlaute Eva.

Geduldig antwortet Mustafa: „Ksar (Qsar), Mehrzahl Ksur (Qsur, Ksour), bedeutet Burg oder Festung. Bei uns versteht man darunter meistens ein Wehrdorf, das heißt, ein Dorf mit einer hohen Stadtmauer rundherum. Es besteht fast ausschließlich aus Stampflehm oder Lehmziegeln. Die Häuser der einfacheren Leute sind bis zu drei Stock hoch. Die reicheren, angeseheneren und wohl auch mächtigeren Familien wohnten früher mit ihren Sklaven in einer Kasba, also einem burgartigen Gebäude. Diese stehen entweder inmitten des Ksar oder, umgeben von einer eigenen zinnengekrönten Schutzmauer, davor an beherrschender Stelle. In der Schriftsprache, man kann auch sagen: im klassischen Arabisch, heißt das Wort nicht Ksar, sondern Kasr (Qasr), Mehrzahl Kusur (Qusur). Angeblich leitet sich Kasr vom gleichbedeutenden lateinischen Wort Castrum ab, während Kasba original arabisch ist. Das hat mir ein sehr netter Reisegast erzählt, mit dem ich einmal unterwegs war. Oft werden die Begriffe Ksar und Kasba auch bedeutungsgleich verwendet. Wir sind also hier auf der berühmten Straße der Kasbas. Man kann auch sagen: auf der Straße der tausend Kasbas“

„Wieso eigentlich diese ungewöhnliche Wehrhaftigkeit?“, fragt eine Mami.

„Oh, eine gute Frage. Erstens, um sich und sein Hab und Gut vor den Angriffen verfeindeter Stämme und den ständigen Überfällen der Nomaden zu schützen. Nomaden gibt es noch heute in der Sahara. Mittlerweile scheinen sie aber gelernt zu haben, dass Raub kein legales Mittel des Erwerbs ist. Und was die Feindschaft zwischen den einzelnen Stämmen betrifft, so gehört auch sie der Geschichte an, seit unser Land nach heroischem Widerstand gegen die Kolonialherren wieder ein souveräner Staat wurde. Dies geschah im Jahre 1956. Und zweitens, weil sich von einer solchen Kasba aus die übrige Bevölkerung im Ksar wunderbar beherrschen, sprich, unterdrücken und ausbeuten ließ.

Leider sind die meisten Bewohner von Aït-Ben-Haddu in dieses neue Dorf auf der anderen Flussseite übersiedelt, das wir gerade durchquert haben, sodass das Ksar, weil eben aus Stampflehm oder Lehmziegeln bestehend, heute von rapidem Verfall bedroht ist. Dabei hat Lehm in trockenen, heißen Regionen so wie hier enorme Vorteile gegenüber vielen anderen Baumaterialien, weil er Wärme exzellent speichert. Während des Tages heizt er sich in der Sonne auf und gibt die gespeicherte Wärme nachts langsam an die Umgebung ab. Dadurch bleibt ein aus Lehm errichtetes Gebäude tagsüber kühl und nachts warm. Nur muss es halt ständig gepflegt und ausgebessert werden. Sonst verfällt es rapide. Größter Feind ist natürlich Wasser.

Aït-Ben-Haddu gilt als einer der schönsten Orte Marokkos und hat schon oft als Drehort für Filme gedient. Es ist aber auch kein gewöhnliches Ksar. Denn es besteht aus sechs dicht ineinander verschachtelten Kasbas, und jede besteht aus einem engen Gewirr unzähliger Wohn- und Lagerräume, die ihrerseits durch ein Gewirr von Korridoren verbunden sind.“

So weit Mustafa.

Die Straße endet vor dem steilen Abstieg ins Flussbett. Von hier an müssen wir wandern. Wir müssen sogar balancieren, nämlich auf den Steinen, die aus dem Wasser ragen, ans andere Ufer. Keine Brücke. Kein Steg.

Mustafa: „Bei Hochwasser, also im Frühjahr, während der Schneeschmelze, oder nach heftigen Regengüssen, kommt niemand hinüber. Aber den Großteil des Jahres ist das Flussbett völlig ausgetrocknet.“

(Mittlerweile gibt es eine Fußgängerbrücke über den Fluss.)

Am Stadttor angekommen, entlässt uns Mustafa aus seiner Obhut. Also machen sich die meisten auf eigene Faust auf den Weg. Die versammelte Kinderschar hat, wie alsbald nicht zu überhören ist, in den leeren, schmalen Gassen dieser Geisterstadt ihren größten Spaß.

Nur wenige Kilometer nach Aït-Ben-Haddu kommt ein weiteres Dorf mit Kasba in Sicht. Es nennt sich Tabourahte (sprich: Taburacht). Die Kasba entpuppt sich als Hotel. Und darin dürfen wir heute übernachten.

 

29. Dezember 1999.

Und weiter geht’s in Richtung Süden, durch eine öde Kieswüste, durch herrliche Oasen. Schließlich verlassen wir die Teerstraße, uns nimmt eine Wüstenpiste auf. Die Karte zeigt mir, dass wir schon ganz nahe der algerischen Grenze sind. Schließlich taucht in dieser ruhevoll daliegenden Weite zum Entzücken der Kinder vor uns ein herrlicher Sandspielplatz auf, so hoch wie ein ganzer Berg.

Und dann: eine Fata Morgana. Kamele (genauer, Dromedare), Maultiere, Menschen täuscht sie uns vor. Nein, sie sind wirklich echt. Alle warten sie auf uns: sechs Kamele, sechs Maultiere, drei Männer. Letztere stürzen sich auf unser Gepäck, auf die festgezurrten Lebensmittel, Wasservorräte, Zelte und so weiter und verladen alles auf den Rücken der Kamele und Maultiere. Unterdessen werden wir mit der Kunst des Turbanbindens vertraut gemacht. Klar, ohne Turban kein Wandern oder Reiten unter der Wüstensonne. Nur gut, dass ich Tollpatsch meine Ute bei mir habe.

Wandern oder Reiten? Nun, ein Weilchen lassen sich die Kinder, vor Vergnügen kreischend, von den Maultieren tragen. Dann gewinnt die Freude an der eigenen Bewegung die Oberhand. Nach etwa anderthalb Stunden heißt es: Halt. Unser erster Lagerplatz ist erreicht. Der Koch ist schon da. Während wir den von ihm gezauberten klebrig-süßen marokkanischen Minztee schlürfen und die Kinder sich mit Sandspielen vergnügen, wächst vor unseren Augen eine kleine Zeltsiedlung in die Höhe: ein großes Gemeinschaftszelt, ein Küchenzelt, ein Toilettenzelt, die kleinen Wohnzelte. Zugleich bestaunen wir den hinter dem Horizont verschwindenden Sonnenball und den verblüffend rasch wie einen exotischen Cocktail von Kobaltblau zu Violett und Purpurfarben changierenden Himmel.

Danach lädt man uns ins Gemeinschaftszelt ein und lehrt uns das obligatorische Ritual beim Eintreten: Schuhe ausziehen, Hände waschen. Auf dem Boden liegt ein Teppich, der dient als Tisch. Rundum blau überzogene Schaumstoffmatten, auf denen wir es uns im Türkensitz (oder auch halb liegend wie die alten Römer) gemütlich machen. Kerzen werden entzündet. Wieder heißer Minztee, wie üblich in edler Silberkanne frischgebrüht, kunstvoll eingegossen aus armlanger Höhe. Das Ganze nennt sich marokkanische Teezeremonie. Vom Küchenzelt her duftet es verlockend. Und dann überrascht uns Jusuf mit dem Abendessen. Und? O ja, es schmeckt genauso, wie es duftet: Linsensuppe, Kuskus (französische Schreibung: Couscous), wunderschön auf Platten angerichtet, Salat aus Tomaten, Paprika, Gurken, Zwiebeln, und dazu frischgebackenes, knuspriges Fladenbrot. Alles duftet verführerisch nach orientalischem Kreuzkümmel und anderen Gewürzen. Als Dessert in Scheiben geschnittene, gewürzte Orangen. Und immer wieder Minztee.

Mustafa beginnt über sich zu erzählen: Er stammt aus einem Berberdorf im Hohen Atlas, hat an der Universität von Marrakesch englische Literatur studiert und beherrscht außer Arabisch und seinem Berberdialekt Englisch, Französisch, Deutsch perfekt und ein paar weitere Sprachen rudimentär. Er ist natürlich auch kein Jüngling mehr. Er ist 37 Jahre alt, wirkt aber bedeutend jünger.

Das Kuskus schmeckt übrigens sogar unserer heiklen Mira. Trotzdem kapituliert sie irgendwann. Sie kann die Menge nicht bewältigen. Hier erhebt sich die Frage: Wohin mit den Essensabfällen? Sehr einfach, ins Maul der Kamele und Maultiere.

Eva: „Ah, jetzt weiß ich endlich, warum die Maultiere Maultiere heißen.“ (Das ist zwar falsch geraten. Aber wen kümmert’s?)

Darum sitzen die Tiere auch gleich neben dem Zelt, und wir hören sie schmatzen, mümmeln, blubbern, rülpsen, furzen und hören ein köstliches Gluckern, wenn das frisch getränkte Kamel seinen Wasservorrat in seinem Inneren verteilt.

Und nach dem Abendessen gleich ins Bett, sprich, in den Schlafsack? Aber nein. Unsere Betreuer haben ein Lagerfeuer entzündet und singen und trommeln sich selber etwas vor, und wir dürfen uns dazu setzen und uns am Feuer wärmen, denn mittlerweile ist es erstaunlich kalt geworden. Wir dürfen zuhören und fühlen uns wie im Zauberland, und auch die Kinder schweigen mit faszinierten Mienen und großen, runden Äuglein, ehe diese allmählich zuzufallen beginnen.

Als besonderes Erlebnis erweist sich die nächtliche Wüstenwanderung zwecks Entleerung der Blase. Die so unwirkliche Stille, unterbrochen nur durch das Knirschen der eigenen Schritte, denn auch der Wind hat sich schlafen gelegt, die tiefe, manche würden sagen, beängstigende Finsternis, nur noch tiefer oder beängstigender durch die Millionen leuchtender Sterne, die der Nachthimmel in der Sahara gebiert – bei all dem übermannt mich ein Gefühl wie in einer altehrwürdigen Kathedrale, und ich glaube fast die mystische Sphärenharmonie zu hören, erhabener als ein Bachsches Orgelkonzert. Ich hätte nie gedacht, dass die Entleerung der Blase in so feierlicher Stimmung erfolgen kann.

 

30. Dezember 1999.

Wir öffnen das Zelt und schauen der aufgehenden Sonne entgegen. Rundum herrscht friedvolle Ruhe. Die Kamele teilen der Welt mit, dass auch sie wach sind und sich ein Frühstück verdient haben. Und was die Tiere nicht fressen? Nun, das wird verbrannt, alles Nichtbrennbare eingepackt und ihnen aufgeladen. Nichts bleibt zurück. Einzige Ausnahme: der Inhalt der Grube im Toilettenzelt. Dieser wird, abgesehen vom Sack mit dem gebrauchten Papier, zugeschüttet. Uns selbst wird ein köstliches Frühstück im Freien serviert. Als Unterlage dient ein über die Düne gelegter Teppich. Als Heizung dient die Sonne, denn die Temperatur liegt kaum über null Grad, wenn überhaupt. Die Kinder wärmen sich auf, indem sie die Düne hinaufschnaufen und heruntersausen, sich kreischend gegenseitig zu fangen suchen. Dafür können später einige von ihnen nicht mehr wandern und lassen sich auf den Rücken der Maultiere hieven. Zwei unserer Wanderfreunde (ja, wir beginnen uns allmählich anzufreunden) verkünden, dass sie die mystische Stille in der Nacht als eher beängstigend empfunden haben. Mustafa verspricht, sie werden sich noch an sie gewöhnen und sie dann als unbeschreiblich erholsam empfinden.

Auch das Mittagessen wird im Freien zelebriert, ebenso das Mittagsschläfchen danach, aber nicht etwa in der mittlerweile wütenden Sonne, sondern im Schatten einer einsamen Tamariske. Übrigens: Wozu braucht eigentlich der Koch den Teppich? Ah, er hängt ihn als Schutz gegen den mittlerweile zwar nicht gerade wütenden, aber doch ziemlich starken Wind auf.

Am Abend erzählt uns Mustafa am Lagerfeuer von Land und Leuten.

 

31. Dezember 1999.

Ein Schritt vor den nächsten. Immer wieder, ein Schritt vor den nächsten. Der Boden unter den Füßen ändert sich ständig, ist weich und rieselnd, schottrig und steinig, hartgebacken von Hitze und Wind. Der Horizont bleibt stundenlang derselbe, rundum nur Dünen, die Weggefährten und die Sonne, heute wie von dünnem Nebel diffus verschleiert. Das ist aber kein Nebel, sondern Sand, Staub, vom leise pfeifenden Wind hoch in die Luft geschleudert. Im Übrigen bleibt der Tagesablauf ziemlich gleich. Aber man wird täglich aufmerksamer, sorgfältiger, entdeckt immer wieder Neues, Unbekanntes, Erregendes: Luft ohne jeglichen Geruch. Tierspuren wie im Schnee. Käferchen. Wunderbare Fossilien. Man begreift den Wert von Wasser. Und wie wenig man braucht, um glücklich zu sein.

Am Abend will der Jahreswechsel gefeiert werden. Auch die Kinder dürfen bis Mitternacht, das heißt, bis elf Uhr aufbleiben. Wieder sitzen wir unter einem unfassbaren Sternenteppich rund um ein Lagerfeuer, und den Erwachsenen unter uns Ungläubigen wird zur Feier des Tages Wein eingeschenkt. Und wieder singen und trommeln unsere Betreuer sich und uns lange Balladen vor, und diesmal dürfen wir mittrommeln: Jusuf schleppt aus dem Küchenzelt Schüsseln, Servierplatten, leere Wasserkanister an und drückt zum Entzücken der Kleinen jedem und jeder ein Stück in die Hand. Schließlich springen unsere Betreuer auf und beginnen zu tanzen, faszinierende Schreittänze vorzuführen. Als Nächste springen die Kinder auf und beginnen begeistert mitzutanzen. Und dann erheben sich der Reihe nach auch wir Erwachsenen und versuchen die Schritte der Berber mehr oder weniger kunstgerecht nachzuahmen. Zuletzt belohnen wir die staunenden Einheimischen mit Tirolerland, du bist so schön und anderen Volksliedern aus den Alpen. Um elf Uhr wünschen wir einander Prosit Neujahr, lachen, küssen uns, sind glücklich. Und den geküssten Kindern fallen schon die Äuglein zu.

Warum um elf Uhr? Natürlich, weil Marokko weit westlich von Österreich liegt, genau südlich von Spanien und Portugal. Und deshalb mussten wir, ehe wir in Marrakesch landeten, unsere Uhren um eine Stunde zurückstellen. Übrigens wurde ich nicht müde, über einen scheinbaren Widersinn nachzugrübeln: Europa nennen wir doch Okzident, Abendland, Westen. Und trotzdem gilt Marokko als Teil des Orients, des Morgenlandes, des Ostens? Natürlich war mir schon klar, dass der Begriff Orient nicht nur in geographischem Sinn verwendet wird, sondern auch als Synonym für die arabisch-islamische Zivilisation. Und diese reicht in Afrika eben bis an die Küste des Atlantiks. Und umfasste im Mittelalter zusätzlich den größten Teil der Iberischen Halbinsel.

 

Letzter Tag mit den Kamelen und Maultieren. Schon nach dem Mittagessen müssen wir uns von ihnen und ihren Führern verabschieden, besteigen die Geländewagen, winken zurück. Die Zelte schlagen wir heute im Palmenhain einer Oase mit einem mir vertrauten Namen auf: Mhamid. Genau so heißt doch der Fahrer unseres Jeeps. Der Ort Mhamid liegt keine 25 Kilometer von der algerischen Grenze entfernt. Unsere Routine im Nomadendasein ist bereits perfekt. Mustafa und die Kinder sammeln Steine und spielen damit Mühle. Letzte Nacht im Zelt.

2. Januar 2000. Letzter Tag in Marokko.

Der Ort liegt malerisch zwischen hohen Dünen. Doch diese drohen ihn, scheint’s, zu überwandern, zu verschlingen. Tatsächlich lagern die Wüstenwinde immer wieder massenhaft Sand in der Stadt ab, und infolge der Ausbreitung der Wüste ist sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts akut von der Versandung bedroht.

So bezaubernd ist die Landschaft, dass ständig Fotostopps verlangt werden. Was mich persönlich aber am meisten beeindruckt, das sind die von Kopf bis Fuß schwarz gekleideten Frauen, die, jede mit einer Tonamphore auf der Schulter, grüppchenweise durch die Oasengärten dahinziehen. Einmal, am Rand der Stadt Zagora, lässt Mustafa selbst halten: vor der berühmten Straßentafel mit der Aufschrift Timbuktu 52 Tage auf Arabisch und Französisch (Tombouctou 52 jours). Dabei bringen heute keine Karawanen mehr Gold und Sklaven von Timbuktu an den Hof des Sultans.

Bald kommt vor uns das bizarre Saghro-Gebirge in Sicht und hinter diesem die weiße Bergkette des Hohen Atlas. Die müssen wir, genauer, müssen Mhamid und die übrigen Fahrer noch bewältigen. Kaum zu erwarten, dass wir Marrakesch noch bei Tageslicht erreichen werden. Und dabei sind wir mittlerweile wohl alle hungrig und rechtschaffen müde.

„Sind denn wirklich alle ohne Ausnahme so fromm?“, frage ich Mustafa, während wir dann weiterfahren. „Das wollte ich nämlich schon immer wissen.“

Aber im Ramadan verlagert sich das ganze Leben in die Nachtstunden, und alles, was tagsüber verboten ist, nämlich Essen, Trinken, Rauchen und auch die Liebe, wird in der Nacht doppelt und dreifach nachgeholt. Tatsache ist, dass in keinem Monat so viel konsumiert wird wie im Ramadan. Ich kann Ihnen verraten, das ist ein teurer Monat, bei weitem teurer als jeder andere.“

„Wissen Sie, Frau Bellutti, das liegt daran, dass im Arabischen das Rauchen mit demselben Wort bezeichnet wird wie das Trinken. Eine Zigarette wird bei uns also nicht geraucht, sondern getrunken.“

Das erklärt natürlich alles. Oder nicht?