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Gerhard Schweppenhäuser

Theodor W. Adorno zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1996 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelfoto: Archiv für Kunst und Geschichte

E-Book-Ausgabe Januar 2019

ISBN 978-3-96060-092-3

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-671-2

7., ergänzte Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1. Der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen

2. Kritik

3. Selbstkritik der Vernunft

Bestimmte Negation

Doppelcharakter der Aufklärung

4. Die Rettung des Hoffnungslosen

Philosophie vom Standpunkt der Erlösung

Vorrang des Objekts

5. Die total vergesellschaftete Gesellschaft

Begriff der Gesellschaft

Liquidation des Individuums

Kritische Theorie der Moral

6. Das Ziel der emanzipierten Gesellschaft

7. Die ohnmächtige Utopie des Schönen

Zerstörung und Rettung der Kunst

Das Verstummen der Musik

Übergang von Kunst in Erkenntnis

8. Das Mißlingen der Kultur

Die radikal schäbige und schuldige Kultur

Adornos Debatte mit Benjamin über Massenkunst

Aufklärung als Massenbetrug

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorwort

Im vorliegenden Buch wird versucht, einige der Hauptmotive der kritischen Theorie Adornos in knapper und doch verständlicher Gestalt darzustellen. Die Darstellung geht von Grundbegriffen seiner Philosophie aus und zeigt deren Weiterführung in der Soziologie sowie in der Kunst- und Kulturtheorie. Die wichtigsten Bezugspunkte stammen aus den Minima Moralia und der Negativen Dialektik, neben Adornos Beitrag zur Dialektik der Aufklärung und der Philosophie der neuen Musik seine systematisch wichtigsten Werke. Von dort werden die wesentlichen Motive entwickelt, die Adornos komplexes Gedankengebäude strukturieren. Die Darstellung konzentriert sich daher auf eine Reihe zentraler philosophischer Konzepte und deutet Perspektiven von Adornos Durcharbeitung dieser Konzepte auf verschiedenen Themengebieten wie der Musik- und Literaturästhetik an.

Das ideengeschichtliche Gewebe, in das Adornos Denken eingelassen ist – er hat die Ideen- und Begriffsgeschichte mit ideologiekritischer Kraft und immanenter Lebendigkeit aktualisiert wie kaum ein anderer Denker im 20. Jahrhundert – wird zwar nur in Andeutungen expliziert, ist aber als Subtext präsent. Die vielfältigen geistesgeschichtlichen Konstellationen, in die Adornos Denkweg eingelassen ist, konnten hier nur selektiv berücksichtigt werden. Er ging vom Neukantianismus aus und verlief über die Abarbeitung an der Husserlschen Phänomenologie – unter dem prägenden Eindruck der philosophischen Avantgardisten Lukács, Bloch und Benjamin – hin zu Freud und Kierkegaard. Er führte Adorno zu Hegel, Marx und Nietzsche, kulminierte später in der Kritik an Heidegger und ließ ihn schließlich immer wieder die Nähe Kants suchen. All das wird hier nicht im Einzelnen rekapituliert; es läßt sich aber hoffentlich, wo nötig, aus den Resultaten erschließen.

Der Grund für diese Gewichtung liegt darin, daß das vorliegende Buch eine philosophische Einführung in Adornos systemkritisches, aber keineswegs unsystematisches Denken geben möchte; es wäre in diesem Rahmen nicht möglich, seinen theoretischen Kosmos im Ganzen darzustellen.

Für die siebte Auflage ist der Text durchgesehen und an einigen Stellen aktualisiert worden. Im Anhang wurden die Hinweise zur weiterführenden Literatur auf den neuesten Stand gebracht.

1. Der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen

Im kalifornischen Exil lernte Adorno 1943 den von ihm hochverehrten Schriftsteller Thomas Mann als Nachbarn in Hollywood kennen. Der weltberühmte Nobelpreisträger, der schon auf die Siebzig zuging, weihte den unbekannten, gerade vierzigjährigen Musikphilosophen in sein aktuelles work in progress ein: Thomas Mann war dabei, den Roman über die Dialektik der deutschen Kultur zu schreiben. Im Doktor Faustus steht eine Kultur zur Debatte, die nicht von ungefähr in jene archaische Brutalität umschlägt, die mit den modernsten technologischen Instrumenten und Verwaltungsmaßnahmen exekutiert wird, sondern aufgrund ihrer eigenen strukturellen Ambivalenz. Adorno wurde in Hollywood zum musiktheoretischen Mitautor von Manns Roman. Davon erzählt der »Zauberer« Thomas Mann in seinem Entstehungsbericht zum Doktor Faustus, der auch eine kurze biographische Vorstellung seines neuen Bekannten enthält.

Theodor Ludwig Wiesengrund-Adorno wurde am 11. September 1903 in Frankfurt geboren. Thomas Mann schreibt: »Sein Vater war deutscher Jude« – nämlich Oscar Wiesengrund, ein zum Protestantismus konvertierter Frankfurter Weingroßhändler –, »seine Mutter, selbst Sängerin, ist die Tochter eines französischen Offiziers korsischer – ursprünglich genuesischer – Abstammung und einer deutschen Sängerin« (ihr Name war Maria, geb. Calvelli-Adorno della Piana). »Adorno, wie er sich mit dem Mädchennamen seiner Mutter nennt, ist ein Mensch von ähnlicher, spröder, tragisch-kluger und exklusiver Geistesform [wie] Walter Benjamin, der, von den Nazis zu Tode gehetzt, das […] Buch über das ›Deutsche Trauerspiel‹, eigentlich eine Philosophie und Geschichte der Allegorie hinterließ.« »Aufgewachsen in einer ganz und gar von theoretischen (auch politischen) und künstlerischen, vor allem musikalischen Interessen beherrschten Atmosphäre«1, entfaltete Adorno schon als junger Mann eine beeindruckende geistige Wirkung im liberalen Frankfurt. Seine glückliche Kindheit und Jugend wurde, wenn überhaupt, nur durch das Ressentiment getrübt, das ihm, dem privilegierten Hochbegabten, bornierte Mitschüler entgegengebracht haben mögen. Später, in den Minima Moralia, hat er diese »bösen Kameraden« als »Sendboten« des Faschismus beschrieben.2 Derartige Erfahrungen wurden zur Grundlage seiner Idiosynkrasie gegen »konformistische Identität«, die er seit den vierziger Jahren mit innovativen sozialwissenschaftlichen Methoden untersuchte.3

Philosophisch geschult wurde Adorno durch den älteren Freund Siegfried Kracauer, den bedeutenden Feuilletonisten der Frankfurter Zeitung: »Über Jahre hindurch las er mit mir, regelmäßig Samstag nachmittags, die Kritik der reinen Vernunft. Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, daß ich dieser Lektüre mehr verdanke als meinen akademischen Lehrern.« (GS 11, 388)

Als Student war Adorno bereits ein einflußreicher Musikkritiker im Geiste der radikalen Moderne. Er trat früh für Schönberg ein. Eigene Kompositionen von ihm wurden in Frankfurt aufgeführt. Mit 21 Jahren schloß er sein Studium der Philosophie, Musikwissenschaft, Psychologie und Soziologie mit der Promotion in Philosophie bei Hans Cornelius ab. Cornelius war auch der akademische Lehrer und Förderer von Max Horkheimer, dem späteren Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Begründer der Kritischen Theorie der Gesellschaft. 1925 ging Adorno für ein Jahr nach Wien. »Dieser merkwürdige Kopf hat die berufliche Entscheidung zwischen Philosophie und Musik sein Leben lang abgelehnt«, lesen wir bei Thomas Mann. »Zu gewiß war es ihm, daß er in beiden divergenten Bereichen eigentlich das Gleiche verfolge. Seine dialektische Gedankenrichtung und gesellschaftlich-geschichtsphilosophische Tendenz verschränkt sich […] mit der musikalischen Passion. Die Studien, welche dieser dienten, Komposition und Klavier, betrieb er […] bei Alban Berg und Eduard Steuermann in Wien. 1928 bis 1931 war er als Redakteur des Wiener ›Anbruchs‹ im Sinne der radikalen modernen Musik tätig.«4 Zurück in Frankfurt, intensivierte er den Kontakt zum Institut für Sozialforschung, mit dessen Direktor Horkheimer ihn seit der Universitätszeit gemeinsame theoretische Interessen verbanden.

»Als ich Dich«, berichtete Adorno später in einem Offenen Brief an Max Horkheimer zu dessen siebzigsten Geburtstag, »im psychologischen Seminar von Adhémar Gelb zuerst sah, erschienst Du, der acht Jahre Ältere, mir kaum als Student; eher wie ein junger Herr aus wohlhabendem Haus, der der Wissenschaft ein gewisses distanziertes Interesse zollt. Du warst unversehrt von jener beruflichen Deformation des Akademikers, der gar zu leicht die Beschäftigung mit gelehrten Dingen mit der Realität verwechselt. Nur war, was Du sagtest, so gescheit, scharfsinnig und vor allem: unabhängig, daß ich Dich rasch genug als der Sphäre überlegen fühlte, aus der Du Dich unmerklich draußen hieltest.« (GS 20.1, 156)

Ein Hauptgegenstand der Arbeit des Instituts war die Erforschung der Ursachen des Selbstauflösungsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft, der in Deutschland zum autoritären Staat führen sollte. Um zu begreifen, warum die beherrschten Menschen sich gegen ihr eigenes Interesse der Herrschaft unterwarfen und sich mit ihr identifizierten, verband Horkheimers Kritische Theorie Einsichten von Marx mit einer zur analytischen Sozialpsychologie weiterentwickelten Psychoanalyse und begann, die bis dahin in Deutschland kaum bekannte Methodik der empirischen Sozialforschung in ihre Untersuchungen zu integrieren. Philosophie hatte in Horkheimers Institut die Aufgabe, die auf diesen Sachverhalt gerichteten interdisziplinären, zu einem guten Teil empirischen, Forschungen systematisch zu einer materialistischen Theorie der ausgebliebenen gesellschaftlichen Umwälzung zusammenzubringen, um doch noch zu ihr beitragen zu können, soweit es eben möglich war. Neben Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Erich Fromm und anderen arbeitete Adorno in diesem Rahmen als Musiktheoretiker an einer interdisziplinär angelegten ideologiekritischen Theorie des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs.5 Er untersuchte den gesellschaftlichen Gehalt der Musik, um Aufschlüsse über den Doppelcharakter von Kunstwerken zu gewinnen, die er zugleich als autonome Gebilde und gesellschaftlich bestimmte Produkte begriff. Den gesellschaftlichen Gehalt der Musik förderte er nicht soziologistisch von außen, sondern durch die Analyse der ästhetischen Formgesetze der Werke selbst zutage. (Vgl. GS 14, 14ff.) Innermusikalische Analysen und musiksoziologische Untersuchungen der gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen von Verbreitung, Rezeption und Produktion von Musik wurden bei Adorno zusammengeführt. So konnte er aus seinem Spezialgebiet, der Musik, Einsichten in die gesellschaftliche Totalität gewinnen. Zugleich arbeitete er, angeregt von Ernst Bloch und Georg Lukács und in produktivem Austausch mit seinem Lehrer und Freund Walter Benjamin, in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard den gesellschaftlichen und den potentiell kritischen Gehalt von Philosophie heraus. (Vgl. GS 2)

»Ich sah Benjamin recht häufig, ich würde sagen: jede Woche mindestens einmal, wahrscheinlich häufiger, während der ganzen Zeit, in der er in Frankreich lebte«, schrieb Adorno später über die Zeit seit 1923, als er durch Kracauer mit Benjamin bekanntgemacht worden war. »Auch später regelmäßig und viel, nicht nur bei seinen Besuchen hier, sondern vor allem in Berlin. […] Ich war damals blutjung, er immerhin elf Jahre älter, und ich habe mich durchaus als den Nehmenden betrachtet. Ich weiß, daß ich mit einer ungeheuren Faszination ihm zugehört, ihn dann manchmal Näheres gefragt habe. Recht bald sah ich Sachen von ihm, die er mir gab, ehe sie veröffentlicht waren«. (GS 20.1, 173f.)

1931 habilitierte sich Adorno, so Thomas Mann weiter, »als Privatdozent an der Frankfurter Universität, wo er Philosophie lehrte, bis er von den Nazis verjagt wurde«6. Danach versuchte er zunächst, in Deutschland zu »überwintern«. Gleichzeitig bemühte er sich, in Oxford akademisch Fuß zu fassen. Bis 1937 kehrte Adorno von dort regelmäßig zu längeren Aufenthalten nach Frankfurt zurück. Nach anfänglichen Mißverständnissen und Verstimmungen konnte er 1938 als fester Mitarbeiter ins Institut für Sozialforschung integriert werden7 und zusammen mit seiner Frau, der promovierten Chemikerin Margarete Karplus, in die USA emigrieren. »Seit 1941 lebt er«, berichtet Thomas Mann, »fast nachbarlich nahe bei uns, in Los Angeles.«8 Dort erst änderte er seinen Namen in Theodor W. Adorno.

Die ständige Mitarbeit im engsten Kreis des Instituts, die in der Emigration begann, zunächst in New York, dann in Los Angeles, bestimmte Adornos weitere Tätigkeit, aber auch spezifische Erfahrungen des Lebens in den Vereinigten Staaten. Mit diesem konnte er sich zwar nie abfinden, aber er verdankte ihm auch etwas: »In Amerika wurde ich von kulturgläubiger Naivität befreit, erwarb die Fähigkeit, Kultur von außen zu sehen. Um das zu verdeutlichen: mir war, trotz aller Gesellschaftskritik und allem Bewußtsein von der Vormacht der Ökonomie, von Haus aus die absolute Relevanz des Geistes selbstverständlich. Daß diese Selbstverständlichkeit nicht schlechterdings galt, darüber wurde ich in Amerika belehrt, wo kein stillschweigender Respekt vor allem Geistigen herrscht, wie in Mittel- und Westeuropa weit über die sogenannte Bildungsschicht hinaus; die Abwesenheit dieses Respekts veranlaßt den Geist zu kritischer Selbstbesinnung.« (GS 10.2, 734) Und ebenso wichtig wurde für Adorno »die Erfahrung des Substantiellen demokratischer Formen: daß sie in Amerika ins Leben eingesickert sind, während sie zumindest in Deutschland nie mehr als formale Spielregeln waren und, wie ich fürchte, immer noch nicht mehr sind.« Er brachte diese gesellschaftliche Erfahrung auf einen Begriff, der, auf Marx und Engels zurückgehend, bereits vor der Emigration für ihn zentral war: den des realen Humanismus.

»Drüben lernte ich ein Potential realer Humanität kennen, das im alten Europa so kaum vorfindlich ist. Die politische Form der Demokratie ist den Menschen unendlich viel näher. Dem amerikanischen Leben eignet, trotz der vielbeklagten Hast, ein Moment von Friedlichkeit, Gutartigkeit und Großzügigkeit, das von der aufgestauten Bosheit und dem aufgestauten Neid, wie er in den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland explodierte, aufs äußerste sich abhebt. […] Begegnet man etwa in soziologischen Studien in Deutschland immer wieder Aussagen von Probanden wie: Wir sind noch nicht reif zur Demokratie, dann wären in der angeblich so viel jüngeren Neuen Welt derlei Äußerungen von Herrschgier und zugleich Selbstverachtung schwer denkbar. Ich möchte damit nicht sagen, daß Amerika vor der Gefahr eines solchen Umkippens zu totalitären Herrschaftsformen gefeit sei.«

Den Beweis dafür hat Adorno in den Studien zum autoritären Charakter mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung angetreten. »Eine solche Gefahr liegt in der Tendenz der modernen Gesellschaft überhaupt. Aber wahrscheinlich ist die Resistenzkraft gegen faschistische Strömungen in Amerika doch größer als in irgendeinem europäischen Land, mit Ausnahme vielleicht von England.« (GS 10.2, 735)9

Mit der Kritik der Kulturindustrie in den USA, die eine Vorreiterrolle für den europäischen, inzwischen weltweiten Betrieb der Massenkultur einnahm (vgl. GS 3, 141ff.), und mit eben jenen bahnbrechenden Studien zum autoritären Charakter10, die 1950 in den USA erschienen, trug Adorno in der Emigration zur Einsicht der demokratischen Gesellschaft in ihre eigene Ambivalenz bei. Nach Adorno besteht der innere Widerspruch der Kultur darin, daß sie ihr Versprechen von Humanität auf der Basis einer inhumanen, repressiven Gesellschaftsformation gibt – und schließlich selbst dementiert, wenn sie sich, als Kulturindustrie, ganz den Regeln der Warenproduktion unterwirft. Und es ist eben nicht bloß ein biographisch bedingter Zufall, daß der autoritäre Charakter gerade im demokratischsten Land untersucht wird. Die Tendenz zur Selbstunterhöhlung der demokratischen Gesellschaft wurde durch die berühmt gewordene »F-Skala« der Studien zum autoritären Charakter erstmals einer empirischen sozialpsychologischen Analyse zugänglich: Sie zeigte, bei welcher Charakterdisposition Individuen »besonders empfänglich für antidemokratische Propaganda« (AC, 1) sind.

In den USA arbeitete Adorno also nicht nur an Thomas Manns musikästhetisch inspiriertem Doktor Faustus mit. Er schrieb den Versuch über Wagner (vgl. GS 13, 7ff.) und die Philosophie der neuen Musik (vgl. GS 12); es entstanden die Minima Moralia und die gemeinsam mit Horkheimer verfaßte Dialektik der Aufklärung. Ebenfalls gemeinsam mit Horkheimer kehrte Adorno 1949 nach Frankfurt zurück. Als man ihm später, Anfang der sechziger Jahre, die Frage stellte, warum er zurückgekehrt sei, verwies er auf die »Kontinuität seiner geistigen Existenz« und die dialektische Verwobenheit seines Denkens in die deutsche philosophische Tradition, »auf die Sprache, die ich als meine eigene schreiben kann, während ich Englisch in den langen Emigrationsjahren bestenfalls so schreiben lernte wie die anderen«, und auf sein Gefühl, hierzulande frei zu sein vom Druck des Marktes und der öffentlichen Meinung. Er hob hervor, daß er es für einen Rückfall hinter die Einsicht in die sozial-ökonomische Bedingtheit des Faschismus halte, wenn man ihn auf einen vermeintlichen deutschen Nationalcharakter zurückführen würde, weshalb die Konstruktion einer Kollektivschuld fragwürdig sei, eher selbst dem geistigen Klima zugehörig, »das den Faschismus hervorbrachte«. Seine kritische theoretische Arbeit habe er dort fortzusetzen gedacht, wo seine konkrete lebensgeschichtliche Erfahrung ihren Ort hat. »Sinn für Kontinuität und Treue zu den eigenen Ursprüngen, die darin gründet«, wollte er nicht verwechselt wissen »mit Hochmut und Verstocktheit bei dem, was man nun einmal ist. Solche Treue bedeutet, daß man lieber dort etwas zu ändern sucht, wo die eigene Erfahrung ihr Zentrum hat, als daß man eines anderen Milieus wegen sich aufgibt. Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte, am Ende aus dem Gefühl, daß, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen. Gefahr und Schwierigkeit meines Entschlusses habe ich nicht unterschätzt, aber bis heute ihn nicht bereut.« (GS 20.1, 394f.)

Adorno bekleidete seit 1949 eine außerplanmäßige Professur für Philosophie und Musiksoziologie an der Universität Frankfurt, die sieben Jahre später in ein Ordinariat umgewandelt wurde. Und er leitete zusammen mit Horkheimer das 1950 neugegründete Institut für Sozialforschung. Dort wurde in den fünfziger Jahren der kritischen Soziologie zum Durchbruch in der Bundesrepublik verholfen.11

In den sechziger Jahren wurde Adorno zu einem der wichtigsten kritischen Intellektuellen der jungen Bundesrepublik. Von 1963 bis 1968 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seine Essaysammlungen, die Prismen, Eingriffe oder Stichworte (GS 10), entfalteten ihre Wirkung weit über die akademische Sphäre hinaus. Er war im Rundfunk und in der Presse als pointiert formulierender Aufklärer präsent, der zum Beispiel vehement für die Liberalisierung des Sexualstrafrechts eintrat. (Vgl. GS 10.2, 533ff.)

Vordringlich war für Adorno der Kampf gegen das Vergessen, das unter dem Titel »Vergangenheitsbewältigung« die letzten Hindernisse aus dem Weg räumen sollte, die in der »formierten Gesellschaft« (Ludwig Erhard) der Restauration und dem Wirtschaftswunder im Wege standen. »Adorno hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren seines Lebens sein Augenmerk auf das Fortleben des Nationalsozialismus gelegt«, schreibt Detlev Claussen. »Aus dem Bewußtsein der Gegenwart von Auschwitz wurde das Bewußtsein notwendigen Erinnerns. Ohne der Aktualität nachzujagen, ermöglichte er es vielen Menschen, mit seinen intellektuellen Anstrengungen Erfahrungen zu machen.«12 Das zeigte Wirkung. Mitte der sechziger Jahre machte sich die inzwischen so genannte Frankfurter Schule als Mentorin der Protestbewegung bemerkbar. Die Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, die Aktionen der »Kommune 1«, die Ermordung Benno Ohnesorgs, das Attentat auf Rudi Dutschke beeinflußten in den folgenden Jahren das politische Klima der Republik. Bald stellte sich heraus, daß es zwischen Adorno und der Protestbewegung zwar Übereinstimmungen in der Kritik der bestehenden Gesellschaft gab, aber Differenzen über die Mittel, mit denen ihre Veränderung zu bewerkstelligen sei. Adorno solidarisierte sich öffentlich mit den Intentionen des studentischen Protests, der ja nicht nur auf eine Reform der Universitäten zielte, sondern die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einleitete. Er sah die aktuelle Notwendigkeit einer außerparlamentarischen Opposition, unterstützte den Widerstand gegen die Notstandsgesetze und erklärte die studentische Blockade der Auslieferung von Zeitungen aus dem Axel-Springer-Verlag für legitim. Aber anders als etwa Herbert Marcuse lehnte er alle Formen von Aktionismus und Gewaltanwendung ab, weil er meinte, daß diese sich zu Unrecht als revolutionäre Taten ausgeben würden. In Adorno weckten sie Erinnerungen an das antidemokratische Potential im Vorfaschismus. »Der entscheidende Differenzpunkt ist wohl der«, sagte er, als er sich nicht lange vor seinem Tod in einem Zeitungsinterview über die Möglichkeiten radikaldemokratischer Politik in der Bundesrepublik äußerte, »daß unter den gesellschaftlichen und technischen Bedingungen der Gegenwart verändernde Praxis überhaupt vorstellbar ist nur als gewaltlos und durchaus im Rahmen des Grundgesetzes.« (GS 20.1, 399)

Adornos philosophische Arbeit konzentrierte sich in diesen letzten Jahren auf die Ausarbeitung seines Spätwerks, der Negativen Dialektik (1966) und der Ästhetischen Theorie, die 1970 unabgeschlossen aus dem Nachlaß herausgegeben wurde. Viele nahmen es ihm übel, daß er sich nicht politisch vereinnahmen ließ. Die Störungen seiner Lehrtätigkeit durch rebellierende Studenten haben Adorno irritiert und verunsichert. 1969 rief er die Frankfurter Polizei zur Hilfe, als Studenten das Institut für Sozialforschung besetzten. Dazu kam eine Kampagne, die gegen seine Edition der Schriften Walter Benjamins angezettelt worden war. Zu Unrecht hatte man ihm vorgeworfen, er habe in der Emigrationszeit Benjamins Abhängigkeit vom Institut ausgenutzt und später seine Schriften verfälscht. Im Juli 1969 wurde seinem Doktoranden Hans-Jürgen Krahl nach der Institutsbesetzung wegen Landfriedensbruch in Frankfurt der Prozeß gemacht. Nachdem Adorno vor Gericht ausgesagt hatte, verließ er Frankfurt, um mit seiner Frau Ferien in der Schweiz zu machen. Dort starb er am 6. August 1969 an einem Herzinfarkt.

2. Kritik

Im Juni 1969 veröffentlichte Adorno in der Zeit einen Artikel, in dem er über Begriff und Aufgabe der Kritik in der politischen Öffentlichkeit und in der Philosophie reflektierte. Adorno verhält sich darin in doppelter Hinsicht kritisch: Er setzt sich sowohl mit der Unterdrückung von Kritik als auch mit ihrer Funktionalisierung auseinander. Beides ist für ihn falsch. »Mir will es scheinen«, schreibt er, »als ob der Geist öffentlicher Kritik, seitdem er von politischen Gruppen monopolisiert und dadurch öffentlich kompromittiert wurde, empfindliche Rückschläge erlitten hätte; hoffentlich täusche ich mich.« (GS 10.2, 792) In diesen Wendungen spürt man Adornos Mißmut darüber, daß der Kritischen Theorie in den Auseinandersetzungen der Studentenrevolte immer wieder vorgeworfen wurde, sie würde sich aus dem politischen Kampf heraushalten. Adorno sieht darin eine Variante der kritikfeindlichen deutschen Tradition, die dem Kritiker stets den Paß der Positivität abverlangt. »Der kollektive Zwang zu einer Positivität, welche unmittelbare Umsetzung in Praxis erlaubt«, so Adorno mit Blick auf den Praxiskult der Achtundsechziger, »hat mittlerweile gerade die erfaßt, die sich in schroffstem Gegensatz zur Gesellschaft meinen. Nicht zuletzt dadurch ordnet ihr Aktionismus dem herrschenden gesellschaftlichen Trend so sehr sich ein.« (GS 10.2, 793)

Der Aktionismus der Studentenbewegung ist heute Geschichte, aber andere Formen des Aktionismus sind nach wie vor präsent. »Wer Kritik übt, ohne die Macht zu haben, seine Meinung durchzusetzen, und ohne sich selbst der öffentlichen Hierarchie einzugliedern, der soll schweigen« (GS 10.2, 789) – so beschreibt Adorno das antiindividualistische, machtverliebte Vorurteil, das im politischen Raum nach wie vor geläufig ist. Nach wie vor hört man dieses Argument, mit dem (Gesellschafts-)Kritiker mundtot gemacht werden sollen: Wer Kritik übt, müsse auch sagen können, wie man es besser machen soll. Mit diesem Vorwurf, im Gewand der scheinheiligen Frage, wo denn das Positive bleibe, mußte sich, wie Adorno bemerkt, ja schon Erich Kästner herumschlagen.

Aber gilt das heute wirklich noch? Steht Kritik nicht vielmehr hoch im Kurs? Jeder möchte doch kritisch sein. »Kritisches Denken« ist zur Einstellungsvoraussetzung bei jedem besseren Job geworden. Der »kritische Verbraucher« ist ein hohes Ideal in der Sphäre des Konsums; ein Talkshow-Moderator, der keine kritischen Fragen stellt, überzeugt niemanden, und »Kritikfähigkeit« gilt als Bürgertugend. Doch dieser Schein trügt, denn Kritik, die wirklich an die Wurzeln geht, hat ein negatives »Image« – heute wie in den siebziger Jahren, als in der Bundesrepublik der »Radikalenerlaß« sein Unwesen trieb. Nach wie vor dient der Affekt gegen angeblich bloß zersetzende Kritik oft dazu, diejenigen mundtot zu machen, die gesellschaftliche Mißstände erkennbar machen, ohne gleich ein Rezept zur Veränderung mitzuliefern. Daß Kritik negativ ist, liegt aber in der Sache. Wer etwas oder jemanden kritisiert, der verhält sich negierend. Insofern läßt sich in der Tat sagen, daß Kritik ein destruktives Moment hat. Die Alltagssprache spielt dagegen die »konstruktive Kritik« aus, die nicht zerstören, sondern der Verbesserung dienen solle. Professionelle Kritiker bestehen aber aus gutem Grund darauf, daß man Kritik nicht nur dann gelten lassen darf, wenn sie sich durch konstruktive Vorschläge beliebt (und berechenbar!) macht. Wer Kritik überhaupt nur akzeptieren will, wenn sie von jemandem vorgetragen wird, der das Kritisierte selbst besser zuwege bringt oder behauptet, zumindest zu wissen, wie man es machen müsse, der folgt einer Immunisierungsstrategie. Produzent und Kritiker sind im Zuge der entfalteten Arbeitsteilung in der modernen bürgerlichen Gesellschaft auseinandergetreten. Man muß kein Schuster sein, damit man beurteilen kann, ob einem ein Schuh paßt, schrieb Hegel. Andererseits kann das aber auch zu einer komplementären Immunisierungsstrategie werden. Kritik kann in Gefahr geraten, es sich zu leicht zu machen, wenn sie ihre normativen Voraussetzungen aus den Augen verliert. Davor muß sie geschützt werden. Ein Blick auf die Funktion der Kritik in der Theorietradition, der Adorno verpflichtet ist, kann dazu beitragen.

Kritik ist ein wesentlicher Aspekt von Denken überhaupt. Wenn wir vernünftig reflektieren, das heißt, wenn wir systematisch und zusammenhängend denken, dann verhalten wir uns auch schon kritisch. Kritisieren heißt unterscheiden und mit Gründen entscheiden. »Kritik« und »Krise« hängen nicht nur der Wortgeschichte nach miteinander zusammen.13 Kritik kristallisiert sich in krisenhaften Situationen heraus: als Negation des Bestehenden. Der objektive Zweck der Negation aber ist das Bessere, also etwas Positives, das es herzustellen gilt – ganz gleich, ob und wie konturiert es sich schon benennen läßt. Seit der Aufklärung ist darüber nachgedacht worden, wie die negative und die positive Seite der Kritik (oder: ihre destruktive und ihre konstruktive Seite) miteinander vermittelt sind. Die Denker der Aufklärung haben die Voraussetzung der Lösung in dem Wissen gesehen, daß Kritik ja kein isoliertes Geschäft ist, sondern immer schon ein Teil der Philosophie. Zwar gibt es Literatur- und Kunstkritiker einerseits und Philosophen andererseits, aber Methode und Zielsetzung von Kritik ist etwas eigentlich Philosophisches. Ernst Cassirer hat deshalb von der »Personalunion zwischen Philosophie und literarisch-ästhetischer Kritik« bei allen führenden Geistern der Epoche gesprochen: »bei keinem von ihnen ist sie ein bloßer Zufall, sondern immer und überall liegt eine tiefe und innerlich-notwendige sachliche Union der Probleme selbst zugrunde«. Die »Gemeinschaft« von Philosophie und Kritik begriff die Aufklärung demzufolge als eine »ursprüngliche und substantielle Bedeutung«. Sie »glaubt nicht nur, daß Philosophie und Kritik in ihren mittelbaren Wirkungen zusammenhängen und zusammenstimmen, sondern sie behauptet für beide und sie sucht für beide eine Einheit des Wesens14

Daß Kritik im 18. Jahrhundert zu einem Schlüsselwort in der Philosophie und in der Ästhetik geworden ist, hängt mit einem gesellschaftlichen Strukturwandel zusammen. Die aufblühende bürgerliche Gesellschaft formierte sich in der Sphäre der Öffentlichkeit, in der sie den Ton angab. Die Lebensform der Stadt mit ihren Kaffeehäusern und den Salons, in denen ästhetische und politische Kritik kultiviert wurden, spielte dabei eine entscheidende Rolle.15

Das Bürgertum schafft sich in der Aufklärung seine ihm gemäße Form der Auseinandersetzung und stellt sich kritisch zur bestehenden Gesellschaftsform. In Deutschland war es vor allem Kant, der den kritischen Impuls der Aufklärung weitertrieb. Dem »Aufklärer Kant« stimmt Adorno vor allem darin zu, daß seine kritische Philosophie »die Gesellschaft aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit sehen wollte«, und darin, daß er »Autonomie, also Urteil nach eigener Einsicht im Gegensatz zur Heteronomie, zum Gehorsam gegen fremd Anbefohlenes lehrte« (GS 10.2, 786). »Bei Kant«, so Herbert Schnädelbach,

»ist der Selbstbezug der Vernunft nicht nur die Grundlage der Systematisierung der Verstandesleistungen, sondern auch die ihrer Kritik. Kritik des Verstandes, d.h. Bestimmung der Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, ist in Wahrheit Selbstkritik der Vernunft, wie sie der berühmte Doppelsinn des Titels ›Kritik der reinen Vernunft‹ anzeigt: Kritisierende und kritisierte Vernunft sind nicht verschieden. So ist […] bei Kant Kritikfähigkeit ein Wesensmerkmal der sich selbst begreifenden Vernunft […]. Selbstkritik der Vernunft als Gegenmittel gegen ihr eigenes Blind- und Dummwerden, gegen ihre Selbstzerstörung und Selbstaufhebung – dies ist wohl das wichtigste Erbe des Kantischen Vernunftkonzepts für die Gegenwart.«16

Gesellschaftlich folgenreich, und gerade das gehört auch zu Kants Erbe, ist sein Begriff der Kritik deshalb geworden, weil er ihn nicht auf wissenschaftliches Arbeiten beschränkt hat. Kritik ist für Kant die Aufgabe der Öffentlichkeit. In der sich allmählich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft kommt dieser Sphäre eine entscheidende Funktion zu: Sie hat den Lern- und Bildungsprozeß des gesellschaftlichen Kollektivs zu initiieren, der es zu einer selbstbewußten Instanz menschlicher Selbstbestimmung machen kann. »In den Institutionen der Kunstkritik, Literatur-, Theater- und Musikkritik einbegriffen, organisiert sich das Laienurteil des mündigen oder zur Mündigkeit sich verstehenden Publikums.«17 Gleiches gilt für die politische und philosophische Diskussion. Die bürgerlichen Schichten, so Jürgen Habermas, »bilden das Publikum, das aus jenen frühen Institutionen der Kaffeehäuser, der Salons, der Tischgesellschaften längst herausgewachsen ist und nun durch die Vermittlungsinstanz der Presse und deren professioneller Kritik zusammengehalten wird. Sie bilden die Öffentlichkeit eines literarischen Räsonnements, in dem sich die Subjektivität kleinfamilial-intimer Herkunft mit sich über sich selbst verständigt.«18

Aufklärung als »Projekt« verstanden, also als Zielvorstellung eines individuellen und gesellschaftlichen Ausganges »des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«19, erfordert die Freiheit, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«20. Diese Freiheit muß errungen und gesichert werden. Kritik ist dabei unverzichtbar. Darum, so Adorno, ist Kritik »aller Demokratie wesentlich. Nicht nur verlangt Demokratie Freiheit zur Kritik und bedarf kritischer Impulse. Sie wird durch Kritik geradezu definiert. Man mag das historisch einfach daran sich vergegenwärtigen, daß die Konzeption der Gewaltenteilung, auf der von Locke über Montesquieu und die amerikanische Verfassung bis heute alle Demokratie beruht, an Kritik ihren Lebensnerv hat.« (GS 10.2, 785)

In der Aufklärung ist also deutlich geworden, daß die negative Seite der Kritik von ihrer positiven gar nicht zu trennen ist. Indem Kritik die Unwahrheit, das Falsche, den Schein zu destruieren versucht, soll sie die notwendige Vorarbeit zur Konstruktion des Wahren, Richtigen und Wesentlichen leisten. Das ist aber nie ein bloß theoretisches Problem. Die Kritik, sagt Marx, ist keine Leidenschaft des Kopfes, sondern sie ist der Kopf der Leidenschaft. Auf der einen Seite steht der leidenschaftliche Kampf gegen gesellschaftliche Verhältnisse, die wir nicht hinnehmen können, sondern verändern müssen. Und auf der anderen Seite steht die Reflexion, die fragt: Was ist das Wesen dieser Verhältnisse, was macht sie im Inneren aus, wodurch unterscheiden sie sich von menschenwürdigen Verhältnissen etc.? Ohne »Kopf« verpufft die Leidenschaft der Anstrengung, falsche und schlechte Verhältnisse zu bekämpfen. Zum Engagement des Herzens muß die Reflexion der Vernunft treten.

Damit ist der Begriff der Kritik benannt, den die kritische Theorie des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Bei Marx wird Philosophie zunächst in »die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden« umgewandelt, »rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten«21, und schließlich zur wissenschaftlichen »Kritik der politischen Ökonomie«. Als rücksichtsloser Kritiker aller bestehenden Zustände, sofern sie sich vor der Vernunft und den humanen Zielbestimmungen solidarischer menschlicher Praxis nicht rechtfertigen können, steht Marx ganz in der Tradition der Aufklärung. Doch indem er die Kritik auch noch auf deren Grundlagen selbst anwendet, tritt er aus der Überlieferung heraus und wird zum radikalen Ideologiekritiker. Er zeigt, daß die bürgerliche Öffentlichkeit und ihre politischen Institutionen auf ökonomischen Voraussetzungen beruhen, die den universalen emanzipatorischen Anspruch hintertreiben, mit dem aufklärerische Kritik antritt. Im Zentrum der bürgerlichen Gesellschaft steht der Verwertungsprozeß des Kapitals. Er basiert auf der Aneignung von Mehrwert, den diejenigen produzieren, die als Klasse der Lohnarbeiter Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft sind, zugleich aber auch aus ihr herausfallen, weil sie zwar freie Warenbesitzer sind, aber keine andere Ware besitzen als ihre Arbeitskraft, die sie zu Markte tragen müssen. Daher führt

»die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft vom obrigkeitlichen Reglement […] nicht etwa zur Neutralisierung von Macht im Verkehr der Privatleute untereinander; statt dessen bilden sich in den Formen bürgerlicher Vertragsfreiheit neue Gewaltverhältnisse, zumal zwischen Eigentümern und Lohnarbeitern. Diese Kritik zerstört alle Fiktionen, auf die sich die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit beruft. […] Die Öffentlichkeit, der Marx sich konfrontiert sieht, widerspricht ihrem eigenen Prinzip allgemeiner Zugänglichkeit – das Publikum kann nicht länger beanspruchen, mit der Nation, die bürgerliche Gesellschaft mit Gesellschaft überhaupt identisch zu sein.«22

An diese Marxschen Erkenntnisse schließt die kritische Theorie des 20. Jahrhunderts an. Horkheimer und dem Institut für Sozialforschung geht es in den dreißiger Jahren auch darum, einen Begriff von Ideologiekritik zu entwickeln, der an die aufklärerischen Ideen der Emanzipation, Autonomie und Mündigkeit anknüpft und gleichzeitig, wie gesagt, erklären kann, warum die Menschen aus scheinbar freien Stücken die neue alte Herrschaft anerkennen. Diese Überlegung schließt die Kritik der sowjetischen Verfälschung der Marxschen Theorie zur Legitimationsideologie autoritärer Herrschaft ein.23 Kritisches Denken in diesem Sinne zielt darauf ab, die Verflochtenheit von Vernunft und gesamtgesellschaftlichem Reproduktionsprozeß zu begreifen. Der methodische und der inhaltliche Aspekt der Kritik gehen hier wie bei Marx ineinander über. Kritischer Theorie geht es um die Veränderung des gesellschaftlichen Ganzen. Ihr normativer Maßstab ist dabei das »Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts«24. Auch hier ist Kritik selbstreflexiv. Ein Stück weit entnimmt sie nämlich ihren Maßstab der kritisierten Sache selbst. Es ist nach Adorno ein erster Ansatz der Kritik, daß »sie Wirklichkeiten mit den Normen konfrontiert, auf welche jene Wirklichkeiten sich berufen: die Normen zu befolgen, wäre schon das Bessere« (GS 10.2, 792f.). Gesellschaft wird also daran gemessen, wie weit sie ihrem objektiven Anspruch gerecht wird, die Sache aller zu sein, allen Individuen nach Kräften ein gutes Leben zu ermöglichen.

»Der Versuch, auf legitime Weise praktische Ziele denkend zu bestimmen«25, bringt, wie Horkheimer in seinem zentralen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie