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Karl Plepelits

Mit der Zeitmaschine in die Römerzeit

Eine abenteuerliche Reise durch das Römische Reich





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Erster Tag

14. September 1994

1

 

„He, da geht’s ja zu wie beim Franzl Schubert – ich meine, in einem seiner Lieder, wo es heißt: Lachen und Weinen zu jeglicher Stunde. Und das ist angeblich neuerdings typisch für dich. Sagt deine Schwester. Und so viel reifer sollst du geworden sein.“

Ein verschworenes Häuflein von sechs jungen Freunden hat sich wie immer nach den großen Ferien des Jahres 1994 versammelt und tauscht die Erlebnisse der vergangenen zwei Monate aus. Fünf von ihnen, nämlich Stefan, Markus, Peter, Paul und Alexander, besuchen das Klagenfurter Akademische Gymnasium und haben soeben die höheren Weihen der Abschlussklasse empfangen, sprich: den ersten Unterrichtstag hinter sich. Nur Wolfgang, von seinen Freunden meist liebevoll Amadeus genannt, besucht die Klagenfurter Handelsakademie.

Der Ort ihrer Versammlung ist ein niedriger Bergrücken nahe dem durch seine Ausgrabungen berühmten Magdalensberg, nur wenige Kilometer nordöstlich von Klagenfurt, und zwar eine kleine Mulde, die Markus ausgesucht hat. Er findet sie erst nach längerer Suche, und nun passiert Unerwartetes: Er wird knallrot, beginnt zu kichern und bricht in einen sagenhaften Lachkrampf aus, falls es sich nicht um einen Weinkrampf handelt. Lässt sich nicht immer genau unterscheiden.

Und da tut Paul den bereits erwähnten Ausspruch: „He, da geht’s ja zu wie beim Franzl Schubert – ich meine, in einem seiner Lieder, wo es heißt: Lachen und Weinen zu jeglicher Stunde. Und das ist angeblich neuerdings typisch für dich. Sagt deine Schwester. Und so viel reifer sollst du geworden sein.“

Und Peter: „Ja, aber der Stefan auch.“

Und Amadeus: „Da müssen die zwei aber Aufregendes erlebt haben.“

Und Stefan, ebenfalls errötend: „Haben wir.“

Und Markus, inzwischen ruhiger geworden: „Ja, Stefan und ich, wir haben eine gemeinsame Ferienreise gemacht. Ihr wisst sicher noch, dass wir in früheren Ferien miteinander Sprachreisen nach England gemacht haben, um unsere Englischkenntnisse aufzumöbeln. Daraufhin fanden wir, dass wir so was eigentlich auch für Latein bitter nötig hätten. Nur, was tut man in so einem Fall?“

Und Amadeus, der selbst schon lange nicht mehr Latein lernt: „Zu den alten Römern fahren.“

Und Markus: „Du hast es erraten.“

Und nun bleibt den anderen zunächst die Spucke weg. Danach fallen sie über Markus und Stefan her, erst nur mit Worten, schließlich aber sogar mit den Fäusten – wohlgemerkt, nicht allzu heftig. Aber groß ist die Empörung, dass sie ihre jährliche Ferienbesprechung zu Jux und Tollerei missbrauchen.

Sobald sich der kleine Tumult gelegt hat, beginnt Markus mit eindringlicher Stimme: „Hört zu. Die letzten Sommerferien verbrachten wir, wie gesagt, in England. Dort fand Stefan in einer Buchhandlung ein Buch, das zuerst ihn und dann auch mich total faszinierte: The Time Machine. Darin wird von einer aufregenden Erfindung aus der Zeit um 1900 berichtet: Ein englischer Physiker entdeckte damals, dass die Zeit in Wirklichkeit nur eine vierte Dimension des Raumes ist und es daher möglich sein müsste, in ihr Reisen zu unternehmen, ebenso wie es möglich ist, sich in den übrigen drei Dimensionen fortzubewegen. Tatsächlich konstruierte dieser Physiker eine solche Maschine, die für Reisen in der Zeit geeignet war und mit der er selber in die ferne Zukunft reiste.

Das brachte uns auf die Idee, selber eine Zeitmaschine zu bauen und nicht in die ferne Zukunft, sondern in die Vergangenheit zu fahren. Jawohl, Amadeus, zu den alten Römern.

Nun aber sind mit einer Zeitreise, wie mit jeder Reise, Gefahren verbunden. Auf einige davon machte uns zum Glück das erwähnte Buch aufmerksam. So ist es beispielsweise keineswegs sicher, dass der Zeitreisende am Ziel seiner Reise dieselben topographischen Verhältnisse antrifft. Im Gegenteil, man weiß ja, dass sich das Bodenniveau seit der Römerzeit normalerweise gehoben hat. In einem solchen Fall wäre also ein unsanfter Absturz die Folge. Oder, noch schlimmer, der Zeitreisende würde inmitten einer Mauer stecken. Aber auch wenn nichts dergleichen passieren sollte, so lauern doch noch weitere Gefahren, zum Beispiel die, welcher der englische Zeitreisende zum Opfer gefallen ist: Seine Zeitmaschine ist ihm in seiner Abwesenheit versteckt worden. Schließlich kann und will man sie doch nicht überallhin mitnehmen. Er hat sie übrigens wieder gefunden, und zwar unbeschädigt. Aber was wäre gewesen, wenn er sie, sagen wir, stark beschädigt oder gar nicht mehr gefunden hätte? Auch erwähnt der Bericht die Unannehmlichkeit, dass die rasante Aufeinanderfolge von Tag und Nacht während einer Zeitreise für die Augen extrem schmerzhaft ist.

Für alle diese Gefahren und Unannehmlichkeiten haben wir eine gemeinsame Abhilfe gefunden: eine Höhle. Wir haben ja gelernt, dass die Formen, die man in Höhlen vorfindet, weit über 100.000 Jahre lang unverändert geblieben sein können, dass infolge der ewigen Dunkelheit, der kaum wechselnden Temperaturen und des fast totalen Fehlens von Leben in den Höhlen die Zeit stillzustehen scheint. Schauhöhlen, in denen Tag für Tag Massen von Besuchern durchgeschleust werden, wären für unser Unternehmen natürlich nicht geeignet gewesen, ganz abgesehen von der zusätzlichen Schwierigkeit, dass am Eingang Eintritt gezahlt werden muss, und so weiter. Aber gewöhnliche Höhlen ... Na, und da haben wir eben zum Glück ganz in der Nähe eine für unsere Zwecke geradezu ideale Höhle entdeckt. Ihr kennt doch sicher alle den Lamprechtskogel dort drüben.“

Markus zeigt in östliche Richtung.

„Stefan wusste, dass es in ihm eine ziemlich große Höhle gibt. Sie weist aber keine Besonderheiten auf, sodass sie kaum bekannt ist. Dazu kommt, dass es die Menschen der Umgebung von alters her aus abergläubischer Scheu vermieden haben, sie zu betreten. Sie glauben nämlich, dass übernatürliche weibliche Wesen in ihr leben. Aber das Beste kommt erst. In einer Art Seitennische entdeckten wir auf dem Boden die Überreste eines offensichtlich sehr alten menschlichen Skeletts und gleich daneben an einer besonders glatten Stelle der Felswand, ungefähr anderthalb Meter über dem Boden, eine lateinische Inschrift, die uns in ihrer Art sofort an die römischen Inschriften erinnerte, die uns aus dem Parkmuseum in Klagenfurt bekannt waren. Damit besaßen wir also einen schlagenden Beweis, dass sich die örtlichen Verhältnisse zumindest seit der Römerzeit nicht verändert hatten.

Diese Seitennische in der Höhle im Lamprechtskogel haben wir als die Stätte unserer geplanten Zeitreise ausersehen. Das war zu Beginn des letzten Schuljahres. Und sobald wir uns darauf geeinigt hatten, machten wir uns mit Feuereifer ans Werk. Dabei mussten wir natürlich noch zusätzlich darauf achten, dass unser Vorhaben geheim bleibt, und vor allem, dass unsere Eltern nichts merken.

Im Juni war alles fertig, und nun wurde es Zeit für die organisatorischen Vorbereitungen. Für unsere Familien mussten wir uns eine plausible Erklärung unserer Abwesenheit ausdenken. Wir gaben vor, durch Italien und Südfrankreich radeln und bei Bedarf Gelegenheitsjobs annehmen zu wollen. Gottseidank fielen sie darauf herein, und danke, lieber Paul, und danke, lieber Peter, dass ihr unsere im Voraus besorgten und beschriebenen Postkarten aus Florenz und Nizza, ohne Fragen zu stellen, übernommen und am richtigen Ort aufgegeben habt.

Dann brauchten wir nur noch eine Römertoga. Wir hatten nämlich keine Lust, so wie der englische Zeitreisende in der Tracht unserer Zeit auf die Zeitreise zu gehen und uns dann wie Wundertiere groß bestaunen zu lassen.“

 

 

2


„8. Juli. Letzter Schultag. Zum Schein hatten wir am Vorabend unsere Rucksäcke und Fahrradgepäcktaschen gepackt, brachten nach der Zeugnisverteilung unsere zum Glück halbwegs positiven Zeugnisse nach Haus und radelten gemeinsam zum Lamprechtskogel. An dem im Wald versteckten Höhleneingang angekommen, machten wir sozusagen letzte Rast ‘in der Gegenwart’ und nutzten diese Gelegenheit auch gleich dazu, uns umzuziehen: Wir ersetzten unser sämtliches Gewand durch die eine Toga und unsere Schuhe und Socken durch Sandalen. Dann hängten wir uns die Taschenlampen an einer eigens dafür angebrachten Schnur um den Hals, stopften alles, auch unsere Uhren, in die Rucksäcke, packten unsere Räder und trugen sie in die Höhle und hinunter zur Seitennische, wo unsere Maschine auf uns wartete.

Wir saßen auf, Stefan vorn, ich hinten. Das war längst ausgemacht. Der Computer war längst programmiert auf exakt 2000 Jahre minus. Stefan löschte seine Taschenlampe und legte sie auf den Boden. Während ich ihm mit meiner leuchtete, drückte er zuerst auf die Energietaste und dann auf die Starttaste. Darauf löschte ich meine Taschenlampe und warf sie auf den Boden.

Totale Finsternis. Totale Stille. Ein unbeschreibliches Gefühl, etwa wie auf einer Rutschbahn, oder besser so, wie wenn man auf einem Schlitten über eine gut ausgefahrene, leicht eisige Schlittenbahn zu Tal rast, aber bei sehr guter Schneelage, das heißt, ohne das Poltern, das sich einstellt, wenn man über Steine saust, die aus dem Schnee ragen. Es war überhaupt nicht unangenehm, im Gegenteil. Ich glaube, euphorisch nennt man einen solchen Zustand, wie eben bei einer herrlichen Schlittenfahrt.

Aber dann war diese Euphorie auf einmal wieder vorbei, und da wusste ich: Die Reise ist zu Ende, und dachte etwas enttäuscht: Was, schon aus? Genau wie bei einer Schlittenfahrt: Um den Schlitten zu ihrem Ausgangspunkt hinaufzuziehen, braucht man Stunden, und die Abfahrt selber dauert dann vielleicht eine halbe, Dreiviertelstunde, aber den Schlittenfahrern kommt es am Ende vor, als hätte sie höchstens fünf Minuten gedauert.

Also: Endstation! Wir waren am Ziel. Und wie sah das Ziel aus? Nun, das war eben die Frage. Es war natürlich nach wie vor stockfinster. Aber uns machte das nichts aus; wir kannten ja unsere Höhle wie die eigene Westentasche – das heißt, falls sich in der Zwischenzeit nichts Gravierendes verändert hatte. Unsere allererste Aktion war demnach, die Seitennische sorgfältig abzutasten. Und? Ja, also unsere Fahrräder waren verschwunden, unsere Rucksäcke waren verschwunden, vom Skelett keine Spur. Aber ansonsten schien alles unverändert. Ich wandte mich wieder unserer Maschine zu. Ich befingerte sie sorgfältig, ertastete die Batterie und hängte sie ab.

Danach: Aufstieg zum Ausgang der Höhle. Dort angelangt, standen wir geblendet im Freien und atmeten tief die frische, warme Sommerluft ein – römische Sommerluft? Hatte sich etwas verändert? Nun, das Gras schien tatsächlich kürzer zu sein als zuletzt, aber abgesehen davon waren keine Veränderungen festzustellen. Oder doch? Waren das dieselben Bäume wie zuletzt? Und das Gebimmel der Kuhglocken – war es dasselbe wie zuletzt? Waren wir nun im Jahre 1994 oder im Jahre 6 vor Christus? Wir wussten nicht, was wir glauben sollten, taten aber sehr sicher und redeten miteinander geradeso, als ob wir das alles schon Dutzende Male erlebt hätten.

‘Willkommen im Königreich Noricum!’, deklamierte Stefan feierlich. ‘Willkommen im imperium Romanum! Jetzt ist es ja schon einige Jahre her, dass Noricum von den Römern auf friedlichem Weg annektiert worden ist und der römische Kaiser Augustus sich zum Nachfolger des letzten norischen Königs erklärt hat.’

Wir wussten, dass wir in ein friedliches Land, in eine friedliche Zeit gekommen waren. Wir wussten auch, wohin wir gehen würden, nämlich in die nahegelegene Hauptstadt des Königreiches Noricum da oben.“

Markus zeigt auf die Gipfelkuppe des nahen Magdalensberges.

„Ihr erinnert euch garantiert an die vielen Werkstätten, die dort von den Ausgräbern aufgedeckt worden sind. Dort wollten wir uns eben um irgendeinen Job umschauen. Eines der Probleme bei unserer Art von Ferien besteht ja darin, dass wir nicht einfach zur nächsten Bank gehen können, um unsere Schillinge in Denare, Sesterzen und Asse umzuwechseln.

Wir hatten beschlossen, uns als zwei germanische Jünglinge auszugeben, die unterwegs nach Rom seien, um die lateinische Sprache und die römische Kultur kennen zu lernen. Wir hatten uns sogar schon germanische Namen ausgedacht, und zwar die einzigen antiken germanischen Namen, von denen wir je gehört hatten, nämlich Ariovist für Stefan und Armin für mich.

Während wir unschlüssig herumstanden und römische Sommerluft einzuatmen hofften, hörten wir’s unverhofft donnern und erschraken wir nicht schlecht über einen solchen Empfang. Also rafften wir uns auf und sausten den Berghang hinunter, so schnell es eben diese verdammten Sandalen erlaubten. Und dann kamen wir auf dem Talboden an und traten aus dem Hochwald heraus und blieben wie angewurzelt stehen. Da, wo sich heute das Dörfchen Waisenberg befindet, stand jetzt nur ein einzelnes Gehöft. Und auch sonst schien uns die Landschaft in zahlreichen Einzelheiten verändert.

Aber was uns besonders stutzig machte, das war die veränderte Jahreszeit. Zwar war es sommerlich warm, keine Frage. Aber an der Vegetation erkannten wir, dass wir mitten im Frühjahr gelandet waren. Hatte unser Computer versagt? Wir hatten ihn doch auf exakt 2000 Jahre minus programmiert. Wir hatten demnach erwartet, am 8. Juli des Jahres 6 vor Christus anzukommen.

Ein ohrenbetäubender Donnerschlag riss uns aus unseren Überlegungen und veranlasste uns, zurückzublicken. Über dem Lamprechtskogel kamen drohend schwarze Gewitterwolken hervor. Was tun? Neue und zunehmend heftige Donnerschläge. Die schwarzen Wolken kamen rasch näher. Da hörten wir aufgeregte Stimmen, und als wir in die Richtung schauten, wo diese herkamen, sahen wir vor dem erwähnten Gehöft mehrere Menschen uns zuwinken und zurufen. Da nahmen wir die Beine unter die Arme und rannten, was das Zeug hielt – und nicht zu früh; denn wir hatten kaum das rettende Obdach erreicht, da brach das Unwetter auch schon los, und der Himmel öffnete seine sämtlichen Schleusen.

Aber o Schreck! Befanden wir uns überhaupt in der Römerzeit? Die Leute schauten ja gar nicht aus wie Römer. Sie hatten lange Kleider in poppigen Farben an, und die Männer trugen enge Hosen. Und dagegen wir mit unserer weißen Toga! Was für ein Kontrast!

Mit tiefen Bücklingen und freundlichen Reden hießen sie uns eintreten, offenbar in ihre gute Stube, aber wir verstanden nicht ein Wort davon und dachten, wozu haben wir jetzt fünf Jahre Latein gelernt, und überhaupt, wie soll das mit uns weitergehen, wenn wir uns gar nicht verständigen können? Und ich erinnerte mich an meinen ersten Englandaufenthalt, und wie ich damals ebenfalls fast nichts verstanden hatte. Aber immerhin: Fast nichts, und die Sprache hatte ich durchaus als Englisch erkannt. Hier dagegen ...

Doch an diesem Punkt wurden meine Überlegungen durch ein noch überraschenderes Ereignis jäh unterbrochen. Denn kaum waren wir in die gute Stube eingetreten und hatten uns auf Geheiß eines würdevollen Opas auf eilig abgestaubte und unter unseren Allerwertesten gerückte Stühle gesetzt, da ließen sich alle wie auf Kommando mit einem lauten Plumps vor uns auf den Bauch fallen, sodass wir Mühe hatten, uns das Lachen zu verbeißen, und schienen uns wie zwei Götter anzubeten.

Da wurde uns klar, wie wir auf sie gewirkt haben müssen – durch unsere Aufmachung, durch den Zeitpunkt unseres Erscheinens genau bei Ausbruch eines Gewitters und durch unser Auftauchen am Fuß des Lamprechtskogels unterhalb der Höhle: wie Götter eben. Vermutlich glaubten also auch sie, dass die Höhle von irgendwelchen übernatürlichen Wesen bewohnt sei. Dieser Gedanke erfüllte uns, ehrlich gesagt, mit einer gewissen Genugtuung. Schließlich hatten wir ja unsere Zeitmaschine in ihr zurückgelassen, und es war uns natürlich weit lieber, sie durch den Aberglauben der Umwohnenden geschützt zu wissen, als damit rechnen zu müssen, dass sich irgendwelche Besucher der Höhle an ihr zu schaffen machen könnten.

Aber alles recht und schön. Nur, was macht man konkret in einer solchen Situation? Stefan glaubte einen Ausweg zu finden, indem er eine Donnerpause ausnutzte, um sein schönstes Latein hervorzukramen und kurz und bündig zu verkünden: ‘Germani sumus’, also: ‘Wir sind Germanen’. Und diesen Satz wiederholte er mehrmals. Da verstummten die immer noch vor uns auf dem Bauch liegenden Beter, und derselbe Opa, der uns vorhin eingeladen hatte, auf den Stühlen Platz zu nehmen, flüsterte mit einem in seiner Nähe liegenden Bürschchen, und dieses gab im selben Flüsterton eine Antwort, in der ich das Wort Germani ausmachen konnte. Daraufhin redete er uns an, und die ganze Versammlung begann uns jetzt noch inbrünstiger anzubeten.

Jetzt waren wir natürlich total durcheinander. Viel später erst ist uns ein Licht aufgegangen, wieso Stefans Rettungsversuch derart grandios danebengegangen war. Das lateinische Wort germani hat ja noch eine ganz andere Bedeutung, nämlich ‘Brüder’. Aus der Reaktion der Leutchen zogen wir daher nachträglich den Schluss, dass sie überzeugt waren, dass ein göttliches Brüderpaar, eventuell vergleichbar mit den griechischen Dioskuren, in der Höhle lebt und wie diese den Menschen bei Not und Gefahr, zum Beispiel während eines schweren Gewitters, beisteht.

Nach Stefan meinte ich an der Reihe zu sein, irgendwas auf Lateinisch zu sagen, und beteuerte, wir seien Menschen, keine Götter. Wieder dasselbe Gemurmel zwischen dem Opa und dem Bürschchen wie vorhin, wieder eine Ansprache des Opas, und wieder inbrünstige Gebete. Sie glaubten mir also nicht, dachten vielleicht, ich wolle sie auf die Probe stellen oder so was Ähnliches. Eins aber war mir inzwischen klar geworden: Die sprachen gar nicht Latein, und abgesehen von dem Bürschchen, das ihnen als Dolmetsch diente, verstanden sie es offenbar nicht einmal.

Glücklicherweise zog das Gewitter bald ab. Da sprangen die Leutchen plötzlich wie auf Kommando auf, riefen irgendwas im Chor, das Bürschchen rief auf Lateinisch so was wie ‘Wir danken euch’, und dann passierte was Urkomisches: Sie legten alle die Finger an ihren Mund und schickten jedem von uns ein Küsschen. Wir ahnten damals nicht, dass wir diese Art der Verehrung von Göttern noch oft genug erleben sollten.

Nun brach große Hektik aus. Zwei Burschen, jeder mit einer riesigen Tonschüssel voll dampfend heißem Wasser, pflanzten sich vor uns auf, zogen uns die Sandalen aus und wuschen uns die Füße. Nach ihnen kamen zwei junge Frauen mit langen blonden Zöpfen, jede mit einer kleineren Schüssel voll dampfend heißem Wasser, und wuschen uns die Hände. Dann wurde uns ein tolles Abendessen serviert, wobei vor allem die Portionen toll waren – aber kein Besteck! Wo blieb das Besteck? Wo bleibt das Besteck?, versuchten wir in der Zeichensprache zu sagen. Aber die Leutchen schienen von Göttern gar nichts anderes zu erwarten und hätten sich vermutlich sehr gewundert, wenn wir uns wie hungrige Wölfe aufs Essen gestürzt hätten. Sie deuteten uns freundlich lächelnd, wir mögen nur zugreifen – mit den Fingern.

Nach längerem Zögern griffen wir eben mit den Fingern zu, und es schmeckte gar nicht übel. Allerdings war’s so reichlich, dass wir beim besten Willen nicht alles aufessen konnten. Aber auch darauf schienen die guten Leute nur gewartet zu haben. Denn kaum hatten wir erschöpft die Schüsseln von uns geschoben, als sie sich der Reihe nach über diese hermachten und mit feierlicher Miene alles, was wir übriggelassen hatten, verzehrten. Hätten wir das geahnt, wir hätten ihnen mit Freuden noch viel mehr übrig gelassen.

Inzwischen wuschen uns die zwei jungen Frauen von vorhin erneut die Hände, und der Opa deutete er uns, wir mögen aufstehen, und veranstaltete für uns eine Privatführung durch das Wohnhaus, die Ställe und die Werkstätten. Wahrscheinlich erhoffte er sich davon unseren göttlichen Segen. Wir konnten klarerweise nicht mehr tun als pausenlos „hold lächeln“, aber er scheint sich sowieso nicht mehr erwartet zu haben und machte einen höchst zufriedenen Eindruck.

Schließlich verabschiedete er sich von uns mit einer tiefen Verbeugung und übergab uns denselben zwei jungen Frauen, die uns die Hände gewaschen hatten. Sie führten uns in ein mit Frühlingsblumen und blühenden Zweigen geschmücktes Zimmer, in dem ein massives Bett, mit makellos weißen Leintüchern und Überzügen bedeckt, stand. Auf zwei Hockern grüßten uns die uns bereits bekannten Waschschüsseln, wieder mit dampfend heißem Wasser gefüllt. Lächelnd zogen sie jedem von uns die Toga und die Sandalen aus und schrubbten uns gründlich ab. Und wir – na, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie peinlich das uns war! Ebenso gründlich trockneten sie uns ab und steckten uns, nackt, wie wir waren, ins Bett unter die eine Bettdecke. Schließlich sagten sie was zu uns, verbeugten sich tief, packten die Waschsachen und zwitscherten ab.

Ja, und nun?

‘Na, und jetzt?’, maulte ich. ‘Glauben die vielleicht, Götter müssen nicht aufs Klo?’

Stefan pflichtete mir bei, hatte aber dann eine Idee: Er sprang aus dem Bett, ging auf die Knie und tastete mit der Hand den Fußboden unter dem Bett ab; es war nämlich inzwischen schon fast finster geworden. Und was fand er dort? Einen Nachttopf.

Also gut, nun konnte der gemütliche Teil des Abends beginnen. Ich warf die Frage auf, welche Sprache die Leute wohl gesprochen haben könnten. Stefan, Geistesgröße wie immer, antwortete: ‘Keltisch, was sonst? Die Noriker sind ja Kelten, und nachdem Noricum erst seit einigen Jahren zum Römischen Reich gehört, ist es doch ganz klar, dass die Landbevölkerung noch kein Latein versteht.’

‘Na, hoffentlich versteht die Stadtbevölkerung auf dem Magdalensberg Latein, sonst sind wir aufgeschmissen und müssen schauen, dass wir uns irgendwie nach Italien durchschlagen. Schließlich wollten wir ja lateinische Sprachferien machen und keine keltischen.’

‘Das werden wir morgen ja sehen. Übrigens muss der eine Knabe sein Latein ja auch von irgendwo herhaben.’

Aber viel mehr plauderten wir nicht mehr. Denn bald setzte sich das Traummännlein auf unsere Augen, oder bei den Römern heißt es natürlich: nahm uns Gott Morpheus in seine Arme. Und jetzt soll Freund Stefan weitererzählen, ja?“



3


Und Stefan: „Also gut. Nächster Morgen. Wir geruhten, uns wieder den Menschen zu zeigen, wurden erneut mit übergroßer Ehrfurcht begrüßt und mit einem Frühstück bewirtet. Dann erteilten wir allen unseren Segen, will heißen, dankten allen und verließen die gastliche Stätte und deren brave Bewohner, die wahrscheinlich nicht schlecht staunten, als sie uns nicht wieder auf den Lamprechtskogel in unsere Höhle hinaufstapfen, sondern in die entgegengesetzte Richtung davonwandern sahen.

Ganz eigenartig war uns zu Mute, wie wir da nun durch die uns so wohl bekannte und doch irgendwie veränderte Landschaft wanderten, den Rücken von der Morgensonne angenehm gewärmt. Der Weg, den wir eingeschlagen hatten, verlief zum größten Teil genau in der Linie des Fahrweges, den wir schon so oft mit dem Fahrrad befahren hatten. Es fehlte eigentlich nur der Asphaltbelag. Links und rechts von uns erstreckten sich abwechselnd wohl bebaute Äcker und Weideflächen, auf denen wohl genährte Rinder grasten und uns neugierig anstarrten. Und da hatten wir sie nun direkt vor unseren Augen: die Kuhglocken, deren Gebimmel uns gestern so verwirrt hatte. Übrigens starrten uns die Menschen nicht weniger neugierig an. Sie winkten uns freundlich, manche riefen uns irgendwas zu, vermutlich auf Keltisch. Hie und da kamen wir an schmucken Bauernhäusern vorbei. Sie waren ebenso aus Holz wie das unserer „Anbeter“ und wirkten überhaupt nicht römisch.

In einer knappen Stunde erreichten wir die Gurk, und jetzt wurde es kritisch, denn sie mussten wir überqueren. Doch nach einer weiteren Stunde sahen wir in der Ferne vor uns eine Brücke, eine richtige römische Bogenbrücke aus massiven Steinquadern. Am anderen Ufer erhob sich direkt neben der Straße ein merkwürdiger, niedriger Turm, der unter dem Dach von einem hölzernen Balkon umgeben war; und auf dem konnten wir einen Mann erkennen, der nun schon eher wie ein Römer aussah. Er hielt nach irgendwas Ausschau, kümmerte sich aber nicht um uns.

Als wir die Brücke erreichten, sahen wir, dass eine gut gebaute Straße über sie führte, noch dazu begleitet von einem Gehsteig auf jeder Seite. Aber halt! War das überhaupt eine Römerstraße? Unter einer Römerstraße hatten wir uns, ehrlich gesagt, was anderes vorgestellt. Sie war nämlich nicht gepflastert, wie sich’s für eine Römerstraße gehört, sondern hatte einen richtigen Betonbelag. Zwar war das nicht so einer feiner Beton wie heutzutage, sondern ein relativ grober, wie wenn man Schotter mit Zement verbindet, aber Beton war’s, das stand fest. Während wir noch zweifelten, ob wir auch wirklich im richtigen Zeitalter gelandet waren, kam uns mit Karacho ein von zwei Pferden gezogener Wagen entgegen, der dem Wagen auf dem euch wohl bekannten römischen Relief an der Kirche von Maria Saal so ähnlich sah, dass unsere Zweifel einigermaßen zum Schweigen gebracht wurden. Und ein kleines Stückchen weiter stießen wir dann auf ein nun absolut eindeutiges, unwiderlegliches Indiz für die Römerzeit, nämlich einen dieser typischen Meilensteine: eine übermannshohe Säule mit einer Inschrift aus großen, rot leuchtenden Buchstaben. Ganz zuoberst erkannten wir, wenn auch abgekürzt, die Namen CAESAR AVGVSTVS – was uns nicht wunderte, denn wir befanden uns ja – hoffentlich – in der Zeit des Kaisers Augustus. Allerdings beunruhigten uns dann doch ein wenig die Namen TIBERIVS und CLAVDIVS unmittelbar davor. Wir konnten uns nicht erinnern, den Namen von Augustus jemals so gehört zu haben, und die Kaiser Tiberius und Claudius konnten damit wohl nicht gemeint sein. Oder doch?

Aber weit interessanter war für uns im Augenblick die unterste Zeile. Da stand nämlich zu lesen: A·VIR·M·P·VII, und nach einigem Überlegen kamen wir zur Überzeugung, dass das heißen müsse: a Viruno milia passuum VII (‘von Virunum 7 Meilen’). Und damit glaubten wir dreierlei zu wissen: Erstens, dass die Stadt auf dem Magdalensberg ebenso Virunum hieß wie die später gegründete Stadt, an deren Rand wir hier momentan sitzen oder liegen und von der es sicher bezeugt ist, zweitens, dass die Straße direkt zu ihr hinaufführte, und drittens, dass wir noch sieben Meilen zu marschieren hatten.

Wie es sich herausstellte, hatten wir in Wirklichkeit sogar weniger zu marschieren. Denn plötzlich hielt neben uns ein schöner Wagen, und ein eleganter Herr, auf den ersten Blick als Römer kenntlich, lud uns mit freundlichem Lächeln, ebenso freundlichen Worten, die wir auch sofort als lateinisch erkannten, und höflicher Gebärde zum Einsteigen ein. Na, das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Mit unserem schönsten ‘gratias’ nahmen wir auf einer Sitzbank dem netten Herrn und einem zweiten, jüngeren Mann gegenüber Platz. Die Sitzbank war weich gepolstert und ebenso wie die Wände mit gestickten Decken bedeckt. Also, für Götter wurden wir hier offensichtlich nicht gehalten, aber irgendwie verwundert kam uns der nette Herr doch vor, und er musterte uns mit lustigen und zugleich erstaunten Augen. Dann sprach er uns wieder mit größter Freundlichkeit an, und was er sagte, war ohne jeden Zweifel lateinisch. Nur, es ging uns wie beim ersten Mal in England: Wir verstanden fast nichts. Wir versuchten gerade zu sagen, er möge bitte langsam sprechen, da redete er den Mann neben ihm an, und darauf sagte der zu uns etwas, was sicher nicht lateinisch war, sondern so ähnlich klang wie die Sprache unserer „Anbeter“ von gestern Abend, also keltisch gewesen sein muss. Als wir daraufhin nur den Kopf schüttelten, versuchte es wieder der nette Herr selber mit noch einer anderen Sprache, und die erkannten wir eindeutig als Griechisch, das wir beide ja schon seit der fünften Klasse lernen. Aber leider, wieder viel zu schnell gesprochen.

Da gab er seine Bemühungen auf, wandte sich wieder seinem Begleiter zu und redete mit ihm lateinisch. Und je länger, umso mehr glaubten wir hie und da ein Wort zu verstehen. Beispielsweise fiel mehrere Male der Name Claudia, aber den zu verstehen war natürlich keine große Kunst. Dann wurde der Ältere sozusagen offiziell und begann zu diktieren, und der Jüngere schrieb auf Wachstafeln mit. Übrigens muss er mitstenographiert haben, denn der andere sprach dabei kaum langsamer als bisher.

Plötzlich machte der Wagen eine scharfe Wendung nach rechts, und als wir durch die Tür hinausschauten, sahen wir, dass er von der Straße abgezweigt war und eben durch ein Tor rollte. Einige Augenblicke später hielt der Wagen, und es hieß aussteigen.

Hier schaute es ja aus wie auf einer Baustelle. Der Rohbau schien schon fertig zu sein und sah aus wie die Ruine einer großen römischen Villa. Offensichtlich sollte er eine solche werden. Daneben standen mehrere ältere Gebäude, viel kleiner und einfacher, aber trotzdem aus ordentlichem, massivem Mauerwerk bestehend, nicht zu vergleichen mit den Holzhäusern, wie wir sie bisher gesehen hatten. Die Mauern des Villenrohbaues, die abwechselnd aus Ziegeln und Steinen bestanden, wurden gerade an der Außenseite mit regelmäßig zugehauenen Steinplatten verkleidet, die die Arbeiter von einem großen Wagen mit offener Ladefläche holten. Sie hatten richtige Minikleidchen in bunten Farben an und schwitzten nicht schlecht. Und – oho, jetzt sah ich’s erst – unter ihnen stand ein auffallend hübsches Mädchen mit langen blonden Zöpfen. Sie hielt mit beiden Händen eine aufgerollte Buchrolle und las daraus den Mannsbildern vor.

Während ich ihr noch fasziniert zuschaute, blickte sie auf, schaute sich um, begann übers ganze Gesicht zu strahlen und rannte im nächsten Moment wie ein junges Reh auf unseren netten Herrn zu, ohne die Buchrolle aus den Händen zu legen. Und dabei übersah sie irgendein achtlos auf den Boden geworfenes Werkzeug und stolperte darüber und wäre sicher schwer gestürzt, hätte ich sie nicht aufgefangen. Da schenkte sie mir, sobald sie sich vom ersten Schrecken erholt hatte, das süßeste Lächeln, das ich je erlebt hatte, und mit der bezauberndsten Stimme, die ich je gehört hatte, sagte sie etwas zu mir. Aber ach, herrje, ich verstand schon wieder nichts. Darauf sagte der nette Herr etwas zu ihr, vermutlich in dem Sinn, dass ich keine der bekannten Sprachen spreche. Sie schenkte mir noch einmal einen hinreißenden Blick, wandte sich dann zu ihm und begrüßte ihn mit einem Küsschen auf die Wange. Er redete sie an als mea Claudia, ‘meine Claudia’. Das also ist die während der Fahrt so oft erwähnte Claudia. Sie wird doch nicht ... Dabei könnte er ihr Vater sein.

Wir wurden ausnehmend freundlich mit einer zünftigen Jause bewirtet und setzten danach unsere Wanderung fort. Bald kamen wir wieder an einem Meilenstein vorbei und lasen: ‘Von Virunum 2 Meilen.’ Der Verkehr wurde zusehends dichter, und wir kamen nun immer häufiger an seltsamen denkmalähnlichen Bauwerken vorbei, die sich bei genauerer Betrachtung als Grabmäler herausstellten.

Und jetzt kommt’s: Nach einer Engstelle, in der wieder so ein Straßenturm wie bei der Brücke über die Gurk stand, weitet sich das Tal, und uns weiteten sich die Augen: Vor uns lag eine richtige, große Stadt. Na klar, werdet ihr jetzt sagen, das wissen wir ja alle und wird euch doch kein Geheimnis gewesen sein, dass hier am Fuß dieser Anhöhe, auf der wir’s uns jetzt gemütlich gemacht haben, eine Römerstadt gestanden ist, nämlich Virunum. Und ich sag euch jetzt: Denkt doch einmal nach! Haben wir nicht gelernt, dass Virunum unter Kaiser Claudius auf vorher nicht besiedeltem Boden gegründet worden ist? Und wann hat Kaiser Claudius regiert? Na?“

„41 bis 54 nach Christus“, so Peter.

„Sehr richtig. Und wir befanden uns im Jahre ...?“

„1994 minus 2000 ist gleich 6 vor Christus“, so Amadeus.

„Na eben. Kapiert ihr jetzt, weshalb wir total aus dem Häuschen waren? Aber dann sagten wir uns, was soll’s, vielleicht haben wir da was Falsches gelernt. Jedenfalls stand fest: Direkt vor unseren Augen lag eine richtige Römerstadt. Das war nun schon ein erhebender Anblick. Natürlich verglichen wir sie sofort automatisch mit Klagenfurt und überhaupt mit den Städten der Gegenwart. Und wenn ihr uns jetzt fragt, was wir damals bei der Betrachtung aus der Ferne als auffallendsten Unterschied empfanden, so muss ich sagen: Das Fehlen der Kirchtürme und eventuell auch der rauchenden Fabrikschlote. Ja, und dabei fiel uns ein, dass eigentlich auch Smog und Dunstglocke unbekannte Begriffe sein müssten.

Inzwischen war der Verkehr bei weitem dichter geworden, aber den Hauptanteil an ihm schienen nicht die mehr oder weniger schnittigen, von Pferden oder Ochsen gezogenen Wagen auszumachen, sondern die Reiter auf Eseln, Maultieren und Pferden und natürlich die vielen, die sich wie wir per pedes apostolorum fortbewegten. Das alles ging, wie ihr euch leicht ausmalen könnt, keineswegs leise vor sich. Und trotzdem kam’s uns märchenhaft ruhig vor, denn es fehlte der ohrenbetäubende Krach des motorisierten Verkehrs von heute.

Als wir näher kamen und schon den letzten Meilenstein mit dem Vermerk ‘Von Virunum 1 Meile’ passiert hatten, fiel uns auf, dass ein Unterschied gegenüber den Städten der Gegenwart, den wir eigentlich erwartet hatten, gar nicht bestand: Es gab keine Stadtmauer.

Und nun schwenkte die Straße nach rechts ein, und unvermittelt fanden wir uns in Virunum wieder. Wieso das so plötzlich vor sich ging? Weil ohne jeden Übergang das dicht verbaute Gebiet begann. Und weil wir uns am Beginn einer schnurgeraden Straße sahen und buchstäblich durch die ganze Stadt hindurchschauen konnten. Als wir weitergingen, kamen wir zu einer Kreuzung, und die Querstraße war ebenfalls schnurgerade, und das galt, wie sich herausstellte, auch für alle anderen Querstraßen und überhaupt für sämtliche Straßen, und es war wie in New York – abgesehen davon, dass die Häuser natürlich keine Wolkenkratzer waren. Die Straßen selber waren überraschend breit, wir schätzten: 15 Meter, wobei der größte Teil dieser Breite von Gehsteigen eingenommen wurde, sodass für die Fahrbahn – immer noch mit demselben Betonbelag wie bisher – höchstens 5 Meter übrigblieben. Im Übrigen waren die Gehsteige irrsinnig belebt mit farbenfroh gekleideten Menschen, und die Luft war voll von ihrem Stimmengewirr, und irgendwie kam es uns vor, als würden sie uns alle neugierig mustern.

Da rief auf einmal Markus aus: ‘Schau, schau, da haben ja auch die Sprayer zugeschlagen’, und zeigte auf die Hausmauern links und die Hausmauern rechts. Tatsächlich: Die Hausmauern waren voll mit Bildern und Inschriften, aber natürlich nicht gesprayt, sondern fein säuberlich gemalt. Hier zum Beispiel, wo wir momentan standen – und ihr erinnert euch, wir waren noch nicht weitergekommen als bis zur ersten Kreuzung –, da war auf einer Hausmauer bildlich dargestellt, wie Steinblöcke zugehauen werden und wie Inschriften eingemeißelt und die eingemeißelten Buchstaben mit roter Farbe ausgemalt werden, alles sehr bunt und absolut realistisch. Darüber stand in großen roten Lettern gemalt: LAPIDARIVS, das musste also ‘Steinmetz’ oder so was Ähnliches bedeuten, denn lapis, lapidis heißt bekanntlich ‘Stein’. Und über LAPIDARIVS stand ein Name: M·CVRIVS·SYRVS, also Marcus Curius Syrus. Während ich gerade lachend zu Markus sagte, da heiße einer genauso wie er, ging daneben ein großes Tor auf, und ein mit Steinquadern vollbeladenes Maultierfuhrwerk verließ einen großen Hof, der offensichtlich zur Werkstätte eines Steinmetzen gehörte.

Von da an reihte sich ein Geschäft an das andere, wobei oftmals die Kundschaft gar nicht hineingehen musste, sondern außen unter einem breiten Vordach oder Balkon stehen konnte, und die Theke war ein Teil der Hausmauer. Da gab’s eine Bäckerei, aus der es appetitlich nach frischem Brot duftete, es gab Imbissstuben, wo aus Behältern, die in die Theke eingelassen waren, für durstige Seelen Getränke geschöpft wurden. Ha, das wär was für uns! Wir hatten nämlich wieder einen fürchterlichen Durst, nur eben leider kein Geld. Aber siehe da, an der nächsten Kreuzung stand ein öffentlicher Brunnen, und da stillten offenbar Habenichtse wie wir ihren Durst.

Natürlich kann ich jetzt nicht alle Sehenswürdigkeiten aufzählen, an denen wir vorbeikamen. Aber eine möchte ich doch nicht unerwähnt lassen. Aus einem Haus drangen merkwürdige Geräusche und noch merkwürdigere Gerüche. Neben der Eingangstür hing ein auffallender länglicher Topf mit breiter Öffnung. Während wir uns noch überlegten, was das alles zu bedeuten habe, trat ein Mann an den Topf heran, hob seine ungefähr knielange Tunica und – wir trauten unseren Augen nicht – pinkelte in den Topf hinein. Und die anderen? Was sagten die dazu? Regten sie sich auf? Nein, überhaupt nicht. Die beachteten ihn nicht einmal. Offenbar empfanden das alle als die selbstverständlichste Sache der Welt.

Wir hätten es ihm übrigens nur zu gern nachgemacht, trauten uns aber nicht. Zum Glück kamen wir einen Häuserblock weiter an einer Tür vorbei, über der in großen roten Lettern geschrieben stand: LATRINAE. Da erinnerte ich mich, dass es dieses Wort ja auch im Deutschen gibt. Während wir noch zögerten, ermunterte uns ein freundlicher Passant, der gerade hineinging, ihm zu folgen. Natürlich kostete die Benützung Geld, aber als wir dem Kassier deuteten, wir hätten keins und müssten sowieso nur „klein“, da lachte er und ließ uns ohne Bezahlung hinein.

Da gab es nun zwei Eingänge, einen für Männer und einen für Frauen, und als wir die für uns bestimmte Tür öffneten, glaubten wir, wir träumten: Vor uns ein Raum, dessen Wände reich mit Mosaikgemälden geschmückt waren. An drei Wänden waren Holzbänke angebracht, und jede Holzbank hatte oben vier Löcher, die sich nach vorne und an der Vorderseite zu einer Art U-Form erweiterten. Und auf einigen von diesen Löchern saßen Männer, die Tuniken aufgeschürzt, die neben der Tätigkeit, wegen der sie eigentlich hergekommen waren, zugleich in ein lebhaftes Gespräch vertieft waren. Wie die uns nun hereinkommen sahen, begrüßten sie uns mit großem Hallo und redeten alle gleichzeitig auf uns ein. Wir grinsten schüchtern zurück und suchten uns rasch freie Löcher, wo wir möglichst weit von den anderen entfernt waren. Erst als wir uns über so ein Loch setzten, merkten wir, dass vor unseren Füßen in einer Rinne Wasser floß und dass daneben Stöckchen lagen, an denen Schwämme befestigt waren, und dass wir über einem Graben saßen, in dem, um mit Goethe zu sprechen, das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll.

Als wir zur nächsten Kreuzung kamen, sahen wir links und rechts vor uns zwei besonders große, prächtige Gebäude, die ganz anders ausschauten als die Häuser, an denen wir bis dahin vorbeigekommen waren. Das rechts vor uns besaß drei große offene Tore, durch die zahlreiche Leute ein- und ausgingen, und unsere Neugier trieb uns dazu, zum nächstgelegenen Tor zu gehen und hineinzuschauen. Da fiel unser Blick in eine interessante Halle, die auf der anderen Seite durch eine Reihe von Pfeilern abgeschlossen war. Dahinter erstreckte sich eine Säulenreihe, und hinter dieser war ein offener Platz zu erkennen.

Wir betraten die Halle und sahen, dass sie in der Querrichtung erstaunlich lang war. Im Übrigen schien sie noch gar nicht fertig zu sein, denn entlang der Wand, durch die wir hereingekommen waren, standen Gerüste, und es herrschte ein Betrieb wie auf einer Baustelle. Und als wir die Pfeilerreihe durchquert hatten und auf die Säulenreihe zugingen, sahen wir, dass vor uns ein riesiger rechteckiger Platz lag, zu dem zwei niedrige Stufen hinunterführten und der auf drei Seiten von doppelten Säulenreihen, das heißt, von jeweils zwei Säulenreihen übereinander, umgeben war. Auf der uns gegenüberliegenden vierten Seite aber stand auf einem erhöhten, seinerseits von Säulen umgebenen Platz, zu dem Stufen führten, ein Tempel, und an dem wurde ebenfalls noch gebaut.

Wir befanden uns zweifellos auf dem Forum. Es war sehr schön mit großen Steinplatten gepflastert, zahlreiche Statuen standen herum, und zwischen diesen waren massenhaft Verkaufsstände. Und genau in der Mitte des Platzes stand ein großer Brunnen mit einem hohen Obelisken in der Mitte, aus dessen Spitze Wasserkaskaden über alle seine vier Seiten herunterrauschten.

Und ein Menschengewimmel, sag ich euch! Auf den zwei Stufen, die das Forum umgaben, saßen oder standen Leute in Gruppen beieinander, und als wir uns einer von diesen Gruppen vorsichtig näherten, erkannten wir, dass sie mit Würfeln und großen Holzfiguren spielten, und dann sahen wir, dass in die Stufen Linien eingeritzt waren, und das waren eben die Spiele.

Was gab’s noch? Ach ja: Straßenmusikanten. Ja, hier hörten wir zum ersten Mal römische Musik. Sehr seltsam, sag ich euch. Sehr seltsam und gewöhnungsbedürftig, und mit Worten nicht zu beschreiben, aber hochinteressant.“