Claus-Steffen Mahnkopf

Philosophie des Orgasmus

Suhrkamp

Inhalt

Vom Blitz getroffen ...

Der Orgasmus im Leben

Das Staunen

Evolutionäre Logik

Die Sinnlichkeit des Orgasmus

Orgasmusindustrie

Die Kunst des Mittagsschlafs

Das Mysterium des anderen Geschlechts

Zur Zukunft

Der Orgasmus in der Kunst

Der musikalische Höhepunkt

Die Poetik des Orgasmus

Orgasmus im Film

Philosophie des Orgasmus

Die Leerstelle

Affirmation der Affirmation

Kategorien

Stufen zum höchsten Augenblick

Das selige Leben

Literatur

Vom Blitz getroffen ...

»Un éclair ... puis la nuit! – Fugitive beautédont le regard m’a fait soudainement renaître«

Charles Baudelaire

Jeder kennt ihn. – Fast.

Jede kennt ihn. – Leider nicht wirklich.

Und die ihn nicht kennen, wollen ihn kennenlernen. Wer ihn kennt, möchte ihn wiederholen. Wer ihn nicht kennt, ahnt vielleicht, dass sie oder er etwas verpasst hat.

Um ihn hat sich eine ganze Industrie, ein ausschweifender Diskurs gebildet. Er ist präsent in Film und Fernsehen, in Zeitungen und Journalen, auf dem Buchmarkt und auf Internetplattformen. Seine biologische Funktion ist längst einer großen kulturellen Praxis gewichen.

Die Rede ist vom sexuellen Höhepunkt.

Er ist so gegenwärtig in unserer Lebenswelt, in unserem Denken, Fühlen, Träumen, in unseren Sehnsüchten und Wünschen, dass es einen verwundert, warum die Philosophie, die doch so ziemlich alles zwischen Himmel und Erde reflektiert, gerade um ihn einen Bogen macht. Ist es die Scham, welche die Denkerinnen und Denker zurückhält? Ist es die fehlende Fachsprache, welche die Zahl seriöser Texte so klein hält? Ist es der Respekt vor der Intimität in unserer immer öffentlicheren Öffentlichkeit? Der mediale Diskurs freilich kennt diese Scham nicht; dort wird zu viel über ihn geredet, berichtet, geschrieben und gesendet. Hier scheint es, als habe er eine Bedeutung, die ihm quantitativ und qualitativ gar nicht zukommt.

Doch jene vornehme Zurückhaltung muss nicht das letzte Wort behalten. Sexualität und darin vor allem ihre Klimax sind ein Allzu-Menschliches. Sie verdienen es, philosophisch betrachtet zu werden. Philosophisch heißt, den Phänomenen über ihre wissenschaftliche Erklärung hinaus auf den Grund zu gehen; dass mithin Alltagsbeobachtungen und ästhetische Erfahrungen nötig sind, um den sexuellen Höhepunkt in seiner ganzen Tragweite zu verstehen. Freilich wäre eine Philosophie im akademischen Sinne diesem Gegenstand völlig unangemessen. Sie wäre – horribile dictu – gänzlich unerotisch. Philosophien müssen in ihrem Stil sich an die Themen anschmiegen, von ihnen den Duktus der Darstellung gleichsam empfehlen lassen. Und so wird dieses Buch erst im dritten Teil philosophisch. Es geht um eine Interpretation des sexuellen Höhepunkts unter zwei Aspekten: dem des guten Lebens und dem seines Sinns in einer allgemeinen Theorie der Welt.

Über ihn kann nur schreiben, wer ihn kennt, aus eigener Erfahrung. Das ist womöglich einer der Gründe, warum die Philosophen so still sind. Sie müssten über eine eigene Erfahrung sprechen. Wer beispielsweise niemals eine mystische Erfahrung gemacht hat, kann über die unio mystica nicht wirklich sprechen. Obzwar der sexuelle Höhepunkt eine höchst subjektive Sache ist, sind Untersuchungen mit einer objektiven Einstellung durchaus möglich. Es mangelt nicht an wissenschaftlicher Forschung, vor allem nicht seit den spektakulären Arbeiten von William Masters und Virginia Johnson aus den 1950er und 1960er Jahren. So wurde neuerdings ein kopulierendes Paar in den Kernspintomographen geschoben, um ein dreidimensionales Bild der Penetration zu erhalten. Was gemacht werden kann, wird auch gemacht. Aber reicht das, um dem Wesen des Orgasmus auf den Grund zu gehen?

Möglich ist es, das Phänomen an sich selbst zu beobachten und dann an einem Partner. Doch das ist alles andere als repräsentativ. Und anderen dabei zuzuschauen, ist auch keine Lösung, denn wer geht schon gerne auf Sexpartys oder in Swingerclubs, um Material für ein Buch zu sammeln? Der eigene Bekanntenkreis kommt dafür ebenfalls nicht in Frage. Bleiben noch die Filme. Aber diese sind gestellt, gleich ob pornografisch oder simuliert. Ohne eigene Erfahrung geht es also nicht – und auch nicht ohne ein Gespür für den Zeitgeist, nicht ohne politisches Interesse, wissenschaftliche Neugierde und nicht ohne ein philosophisches Staunen.

Aber wie über eine Philosophie des schönsten Augenblicks schreiben? Es fehlt schlicht der philosophische Diskurs, eine Intellektuellensprache hat sich nicht herausgebildet, auch nicht in der bewegten Zeit nach 1968, und der Beitrag der Poetik ist, wie wir sehen werden, bescheiden. Einer der bekanntesten Autoren deutscher Sprache, Peter Sloterdijk, sah sich genötigt, einen erotischen Briefroman zu verfassen, um sich zur Sache zu äußern; eine Philosophie des sexuellen Höhepunkts hat er nicht vorgelegt.

Wie spricht man über den schönsten Augenblick, die Begegnung der Geschlechter, die Erkundung des eigenen Körpers, über das Intimste und Privateste? Sachlich-nüchtern, wissenschaftlich, lehrbuchartig, zotig, verklemmt, humorvoll, augenzwinkernd, poetisch, intellektualisierend, umgangssprachlich, familiär, vulgär, in Andeutungen, derb und frontal oder verquast und verkopft?

Die Sprache, die den sexuellen Höhepunkt zur Anschauung bringt, muss mehreres leisten: geschmackvoll sein, aber doch direkt und klar in der Sache; nicht nur technisch, sondern auch poetisch. Die Darstellung sollte kritisch sein, aber nicht in Diskriminierung abrutschen. Hinzu kommt ein besonders prekärer Punkt: das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Hier kann man – Mann und Frau – eigentlich nur alles falsch machen.

Dieses Buch bezieht sein Wissen vor allem aus anderen Büchern. Ihnen ist viel eher zu trauen als anderen Medien. Denn seit den Pionieren Alfred Kinsey mit seinem berühmten zweibändigen Report sowie Masters und Johnson wird das öffentliche Gerede über Sexualität immer stärker überzeichnet von einer gezielten Vermarktung, die Wirtschaftsinteressen und nicht etwa einer Volksaufklärung folgt, und einer medialen Inszenierung, die sich zunehmend verselbständigt und sich damit von ihrem Aussagewert entkoppelt. Was tagein, tagaus in den Massenmedien über das Thema kolportiert wird, ist mehr als fragwürdig. Sex sells. Das öffentliche Bild von der Sexualität ist dadurch verzerrt. Die kommerziellen Interessen auf der einen Seite und die voyeuristischen der Leser und Leserinnen auf der anderen Seite dominieren. Es ist ein Pseudodiskurs entstanden, bei dem andauend irgendwelche Statistiken aufgerufen werden, wiewohl Statistiken doch grundsätzlich zweifelhaft sind. Nicht zuletzt deshalb, weil wir nicht wissen, ob die Befragten ehrlich antworten. Wer gäbe beispielsweise freiwillig zu, erotisch völlig desinteressiert oder gar pädophil zu sein? Oder wer wäre nicht versucht, bei bestimmten Fragen zu prahlen? Überdies kennen wir nicht die Fragekriterien, ganz abgesehen davon, dass die meisten Fragen ohnehin suggestiv sind. Außerdem werden die Befunde mit einer trügerischen Wertneutralität feilgeboten, wo doch kritische Distanz vonnöten wäre. Und was bedeuten denn die vermeintlichen Ergebnisse? Sprechen sie von einer gesunden oder gesundeten Sexualität, oder sind sie weiterhin Ausdruck einer neurotischen Gesellschaft und eines verzerrten Geschlechterverhältnisses? Inwieweit ist Macht im Spiel, wo beginnt denn wahre Freiheit?

So scheinen das Sicherste immer noch die Bücher zu sein. Deren Entstehung – die Niederschrift, die Drucklegung und die Verbreitung – nimmt Zeit in Anspruch und bewahrt sie so vor Übereiltheit. Und die Künste in ihrer jahrtausendealten Weisheit. Dort ist zu suchen. Freilich stets mit Vorsicht. Denn auch Bücher sind nicht unproblematisch. Eines über enthemmte Deutsche listet allerlei Praktiken jenseits des Gewohnten auf. Diese mögen fraglos stimmen, aber sind sie typisch für unsere Gesellschaft, ja für Deutsche?

Einstweilen hilft der gesunde Menschenverstand, somit Skepsis. Man halte Augen und Ohren offen, lese, was zu lesen lohnt, spreche, mit wem es sich anbietet, vertraue aber der eigenen Intuition, sprich dem eigenen Misstrauen, und behalte dabei stets eine prinzipielle Distanz.

Um ein einigermaßen sicheres Bild über die Sexualität auf unserem Planeten heute zu zeichnen, müssten Abermillionen qualitativer Gespräche geführt werden. Davon abgesehen, dass sie in zahlreichen Ländern politisch unerwünscht wären, dauerte die Auswertung so lange, dass am Ende nichts mehr stimmte. Bei diesem Dilemma hilft die Philosophie, da sie zwar auf Erfahrung aufbaut, aber nicht ganz in ihr aufgeht. Sie übersteigt sie, indem sie die empirische Welt deutet, ihren Sinn – oder Unsinn – hinterfragt und die Art und Weise, wie sie zu denken sei, erst bestimmt. Es ist die Philosophie, die, einmal zu Klarheit gelangt, uns die Methoden bereitstellt, um die richtigen Fragen bei solchen Gesprächen zu stellen.

Dass dieses Buch das Augenmerk auf die Heterosexualität legt, ist in keiner Weise mit einer Herabwürdigung der Homosexualität oder anderer Formen der Geschlechtlichkeit verbunden. Die Zahl möglicher sexueller Identitäten nimmt Jahr für Jahr zu: lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, intersexuell, »queer« – sie stehen quer zur Normativität der Heterosexualität, wobei zu fragen ist, ob diese wirklich normativ sei. Es ist nicht leicht, hier den Überblick zu behalten. Die meisten Überlegungen zu meinem Thema lassen sich auf diese Formen übertragen, die, das wissen wir heute, natürliche sind, sich auch im Tierreich finden und einen beträchtlichen Anteil der Menschen betreffen. Ziel dieses Buches ist das Verständnis des sexuellen Höhepunkts beim Menschen im Allgemeinen, über den Unterschied des weiblichen und des männlichen Orgasmus hinaus. Freilich ist die Differenz zwischen Frau und Mann im Folgenden ein großes Thema, es betrifft ja Milliarden und ist nicht irrelevant für den Fortbestand der Menschheit. Das Wort »man« steht im Weiteren für Menschen allgemein, »mann« für die männliche, »frau« für die weibliche Perspektive.

Der Orgasmus im Leben

Das Staunen

Das Staunen gehört seit der Erfindung der Philosophie im Griechentum zu den vornehmsten Tugenden der lebendigen Existenz. Wer staunt, betrachtet die Dinge als nicht selbstverständlich. Er oder sie ist verwundert, beginnt zu fragen, aber auch sich der Sachen zu erfreuen, diese werden interessant, schlagen einen in den Bann. Was ist es? Was ist es genau? Woher kommt es? Wie funktioniert es? Ist es wirklich? Was steckt dahinter?

Kinder staunen, da ihnen öfter etwas widerfährt, was sie noch nicht gesehen, gehört, erlebt und erfahren haben. Kinder, so könnte man meinen, sind die besten Philosophen, genauer: die besten Anwärter für Philosophie. Andererseits ist ihre kognitive Entwicklung noch nicht reif für abstrakte Gedanken und ihre vielfältigen Verästelungen. Erwachsene sind Philosophen, wenn sie es denn sind. Erwachsene aber verlernen allermeist das Staunen. Es überkommt sie nur, wenn sie auf Reisen in eine ganz andere Welt tauchen oder wenn ein Schock das Leben erschüttert. Das sollte aber nicht sein. Das Staunen gehört zu den Grundfesten unser aller Existenz.

In Platons Dialog Theaitetos heißt es: »Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.« Heute ist Philosophie gemeinhin eine Spezialdisziplin, ein Beruf, eine professionelle Qualifikation. Allein, sie ist genauso Allgemeingut, die Liebe zur Weisheit, die jede Frau und jeden Mann, aktiv wie passiv, berührt. René Descartes unterscheidet in seinen Leidenschaften der Seele sechs ursprüngliche Passionen: Verwunderung, Liebe, Hass, Verlangen, Freude und Traurigkeit. Alle anderen sind ihm zufolge Vermischungen oder Unterarten. Die Verwunderung ist davon die erste, denn ohne sie würden die anderen Passionen gar nicht anheben. Der erste Kontakt mit etwas, das wir überhaupt lieben oder hassen können, ist das Staunen. Die Verwunderung ist erfreulicherweise wertneutral, es gibt keinen Gegenpart wie bei Liebe und Hass oder bei Freude und Traurigkeit. Wer sich nicht wundert, bleibt einfältig. Der es tut, wird klüger. Das Staunen ist relativ unhitzig, aber doch kraftvoll auf die Neugierde und das Erkennenwollen bezogen.

Freilich hat das Staunen heute keine Konjunktur, es steht nicht im besten Ruf. Viele scheinen für eine positive Haltung nur noch ein Wort zu kennen – »cool«. Kühle, emotionale Distanz, ja Unbeteiligtheit zeichnet unsere Gesellschaft aus. Coolness ist ein Abwehrreflex gegenüber einer überkomplexen Welt, einer medialen Dauerpräsenz und eines hypermoralischen Diskurses über Korrektheit auf den unterschiedlichsten Gebieten. Philosophie hingegen nistet sich ein in Nischen, abseits des Getöses, und sucht dort Ruhe und Klarheit. Unterscheiden wir einige Typen des Staunens.

Erstens das elementare Staunen eines Kindes, das etwas zum ersten Mal sieht oder erlebt und dafür keine Worte, keine Begriffe findet. Es wird irritiert und beginnt nach den ersten Erklärungen der Eltern sich an die Sache zu gewöhnen. Die Verwunderung hört auf. Zweitens das Staunen beim Anblick des Übergroßen, des Erhabenen. Fliegt jemand beispielsweise frühmorgens bei klarem Wetter mit einer kleinen Propellermaschine von Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal, zum Mount Everest, kommt er an der Himalayalinie von Sieben- und Achttausendern entlang, an einigen heiligen Bergen, auf denen noch nie ein Mensch war. Ihr oder ihm fehlen die Worte.

Drittens das Nichtstaunen. Eigentlich müsste jeder verwundert sein, dass auf der Straße sich Gerätschaften namens Autos selbständig bewegen oder ein dünnes Ding wie ein iPhone uns ermöglicht, mit allem und jedem weltweit und in Echtzeit in Kontakt zu treten. Doch beide Dinge, und tausende weitere, sind uns selbstverständlich, und die Kinder wachsen mit ihnen gleichsam natürlich auf, so dass wir einen Sinn für dieses Außergewöhnliche erst gar nicht entwickeln. Wer darüber nachdenkt, staunt über dieses Nichtstaunen.

Viertens das Staunen gegenüber Akrobatik, im Sport ebenso wie im Zirkus oder bei Schnellratewettbewerben, bei Wunderkindern und anderen Phänomenen, die es eigentlich nicht geben dürfte. Fünftens das Staunen, das nicht vergeht. Liebhaber polyphoner Klaviermusik werden vom kanadischen Pianisten Glenn Gould niemals genug bekommen. Immer wieder von neuem, wenn die Plattennadel sich senkt, horchen sie ungläubig auf: »Das darf doch nicht wahr sein, so, wie er und nur er spielt.«

Das vornehmste Staunen ist indessen das Trotzdem. Obwohl wir alles über eine Sache zu wissen glauben, es immer und wieder erlebt haben, über Jahrzehnte, es demnach keinen Grund mehr für ein Staunen gibt, trotzdem noch zu staunen – das ist dessen höchste Form. Es endet nicht. Es verbraucht sich nicht. Und genau darüber beginnt man zu staunen. Das Staunen über das Nicht-Enden-Wollen des Staunens. Das Gegenteil von Coolness.

Genau hierhin gehört alles, was mit Liebe, Sexualität und erotischer Leiblichkeit zu tun hat. Dass Menschen einander lieben, begehren, attraktiv finden, miteinander verkehren – das ist so selbstverständlich, dass man sich immer wieder ins Bewusstsein rufen muss, wie wenig selbstverständlich genau dies ist. Fortpflanzung folgt aus dem Selbsterhaltungstrieb, der wiederum logisch aus dem Leben selbst folgt. Ist Leben einmal in der Welt, muss es sich verlängern und braucht dazu die entsprechenden Mittel. Aber Liebe, Gefühle, Emphase, Ekstase? Das ist nicht nötig und hat sich doch evolutionär herausgebildet.

Das trifft auch auf den sexuellen Höhepunkt zu. Nur wer, um es emphatisch zu formulieren, jedes Mal staunt, dass es ihn überhaupt gibt und wie er sich entfaltet, zeigt sich seiner würdig. Zum Orgasmus gehört nämlich das Überwältigtwerden, das Übersteigen einer rationalen Kontrolle, und das hat er mit den elementaren Formen des Staunens gemein. Wer nach dem Orgasmus hingegen in einem basalen Sinne befriedigt ist und froh darüber, ihn gleichsam hinter sich gebracht und die Erregung, die Anspannung abgebaut zu haben, und nun gleich zur Normalität zurückkehren will, frevelt in einem bestimmten Sinn am schönsten Augenblick.

Die Armseligkeit einer solchen Haltung hat der Filmemacher Quentin Tarantino in seinem Film Jackie Brown (1997) auf den Punkt gebracht. Dort hocken in einem Appartement ein Obergauner, ein Untergauner (Robert De Niro) und ein blondes Surfergirl. Nachdem der erstere die Wohnung verlassen hat, sagt dieses zum Untergauner ohne Regung und ohne ein ankündigendes Zeichen: »Willst Du ficken?«, worauf dieser, ohne zu zögern, zustimmt. Schnitt, Textbild: »Drei Minuten später«. Schnitt. Robert De Niro stöhnt von hinten auf die Frau den Orgasmus ein, er selbst angekleidet. Das Girl, mit entblößtem Hintern, geht ins Bad und meint: »Das war gut, das müssen wir wiederholen.« Was war das? Drei Minuten für Höschen-Runterziehen, Reißverschluss-Öffnen, Erektion, Penetration, Kopu-lation, Ejakulation. Keine Zeit für nichts, weder für Zärtlichkeiten noch für die Stimmung, weder für das Entkleiden noch das Vorspiel. Lustlos. Tarantino zeigt genau das. Diese Form von sexueller, überhaupt körperlicher und angeblich emotionaler Entspannung gleicht dem Harnlassen. Man(n) muss dringend und lässt es laufen. Danach ist man(n) erleichtert und hat eine Weile Ruhe. Der Untergauner hatte offenbar einen Höhepunkt, es ist zu hören, bei der Frau ist es unsicher. Aber was für ein Orgasmus war das? Während viele Männer davon träumen, so direkt von einer Frau eingeladen zu werden, kann der Untergauner einem geradezu leidtun. De Niro spielt auch niemanden Freudvollen. Sein Gesicht bleibt ein gequäl-tes.

Nein, jedes Mal muss der Orgasmus als so überwältigend und einmalig erlebt werden, als komme er zum ersten Mal. Stets von neuem staunt man, dass es ihn überhaupt gibt. Immer wieder ist man verblüfft über dieses Erlebnis. Wer ihn als ein Alltagsgeschehen nimmt, als wöchentliche oder tägliche Verrichtung wie Zähneputzen oder den Gang zum Briefkasten, kann nicht staunen. Und deswegen entgeht ihm auch der Orgasmus. Er findet zwar statt, aber in einem defizienten Modus.

Die Alltagssprache ist voll der sexuellen Anspielungen. Der Italiener flucht »che cazzo« und meint den Penis, oder »che palle« (eine Anspielung auf die Hoden). Deutsche schimpfen eher mit Fäkalausdrücken, Amerikaner mit dem Four-Letter-Wort »fuck«. Ein französisches Erotikwörterbuch bringt es auf 1300 Wörter und Redewendungen für den Koitus und je 500 für die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile. Der Orgasmus allerdings heißt Orgasmus. Der Duden nennt »Höhepunkt« und »Klimax«, doch damit lassen sich auch Filme und Musik beschreiben. Ernst Bornemanns Der obszöne Wortschatz der Deutschen – ein 700 Seiten starkes Buch – verzeichnet als Synonyme »Blitz, Granate, Grab in den Wellen, Tod in den Wellen«; nicht eben überzeugende Sprechweisen. Gebildete kennen die Poetisierung petite mort, »Kleiner Tod« – über diese subtile Dialektik wird später zu berichten sein. Wer den sexuellen Höhepunkt meint, dem bleibt nur ein Wort, und deswegen ist es so weit verbreitet. Extrem verwunderlich, bedenkt man, dass so viel Gewese darum gemacht wird.

Orgasmus ist altgriechischen Ursprungs; »orgasmos« heißt »heftige Erregung«, das entsprechende Verb »strotzen, glühen, heftig verlangen«. Ein Lexikon zu Beginn des 19. Jahrhunderts nennt ihn »das Aufwallen oder der heftige Reiz des Blutes und der Zeugungssäfte«, ein Konversationslexikon um 1900 »das Strotzen von Saft; dann heftige Kongestion nach wichtigen Teilen, Wallung, auch starker Trieb irgendwohin, Erregung, besonders sinnliche Erregung, also des Geschlechtstriebes«. Die letzte Edition des Brockhaus ist weniger schwülstig: »Höhepunkt der sexuellen Lust mit sich anschließendem Gefühl einer besonders angenehmen Entspannung (›Befriedigung‹)«. Hinter dieser so unscheinbaren Definition steht ein ganzes Bündel unterschiedlichster Aspekte: motorische, muskuläre, physiologische, hormonelle, psychische, geistige, symbolische, kommunikative, kognitive; für gewisse Menschen spirituelle, rituelle, religiöse. Für andere etwa, die sich der Keuschheit verpflichtet haben, bereitet er Gewissenskonflikte. Kreative lassen sich von ihm inspirieren.

Der Orgasmus kann, neben der Fortpflanzungsabsicht, in verschiedenen Funktionen erlebt und mit mehreren Bedeutungen belegt werden. Für die einen ist er einfach eine Erleichterung, gleichsam ein Abschütteln von Trieb und Drang, oder ein Herausschleudern von Ärger und sozialer Unbill; meist bei Männern. Andere sehen in ihm eine Grenzerfahrung, die Zugang zu metaphysischen Dimensionen gewährt. Oder als ein Kreativitätspool, der den Anschluss an die eigene Intuition ermöglicht, an das Nichts als dem Urgrund der Kreatürlichkeit und des Kreativen. Nicht selten ist er pure Lust, Spaß und dient der Gesundheit. Einige erreichen mit ihm Ekstase und damit den Eintritt in eine andere Welt. Und für nicht wenige ist er ein elementarer Beweis der eigenen Lebenskraft, eine Selbstbestätigung, und sei es nur, dass er zuweilen Freude darüber gewährt, dass man ihn überhaupt (oder überhaupt noch) erreicht. Orgasmusvirtuosen, heißt es, gelangen durch ihn zum Sein, dem Kosmos, ja Gott.

Die Wirkung ist – das kann verallgemeinert werden – überwältigend und wird grundsätzlich positiv erlebt. Deswegen wird er in regelmäßigen Abständen immer wieder aufs Neue gesucht. So sehr er Befriedigung verschafft, so sehr will diese Befriedigung wiederholt werden. Es gibt nicht den ultimativen, sozusagen perfekten Höhepunkt, nach dem das Verlangen für immer versiegt. Wiewohl zuweilen er so intensiv und grandios ausfällt, dass der Lebenswille fast dem Todestrieb erliegt und gewünscht wird, aus dem ewigen Kreislauf von Spannung und Entspannung einfach herauszutreten. Deswegen wird der Orgasmus auch der Kleine Tod – petite mort – genannt.

»Ich komme« – heißt es. Genauer müsste es heißen: »Es kommt, es kommt in mir«. Denn Aktivität schlägt in Passivität um, das Ich entledigt sich seiner selbst. Zunächst muss es sich anstrengen, dann geschieht ein Ankommen, ein Widerfahrnis, ein Zulassen, ein Er-Fahren. Die Frage ist, ob er oder sie das gleichzeitig beobachtet oder sich dem Taumel blind überlässt. Letzteres wäre das Ideal. Denn wer im Orgasmus ist, kann ihn schwerlich beobachten, er oder sie müsste heraustreten, ihn sehen, doch dann würde der Höhepunkt nur zur Hälfte erlebt, mithin gerade falsch beobachtet. Sicherlich besteht der Wunsch, ihn anzuhalten, ihn zu greifen, doch es ist rasch zu spät. Erst in seinen letzten Sekundenbruchteilen scheint ein kognitives Erwachen möglich.

Das Wort Orgasmus lädt ein zu allerhand Neologismen. Wir werden verwenden den Filmorgasmus, Musikorgasmus, Pornorgasmus, Solorgasmus, Duorgasmus, die Orgasmusindustrie, Orgasmotope. Einer dieser Begriffe sei an dieser Stelle erläutert. Der Duorgasmus ist der Höhepunkt zweier sich Liebender zur gleichen Zeit. Dass die Gleichzeitigkeit das Ziel sei, diesem Wunschbild wird Rechnung getragen in dem bestrickenden Film Die fabelhafte Welt der Amélie, in dem diese sich überlegt, wie viele wohl in einem Augenblick in Paris einen Orgasmus hätten. Es sind fünfzehn – viel zu viel, rechnet man nach. Die Filmsequenz zeigt ausnahmslos Duorgasmen – ganz unwahrscheinlich. Wie schön für Frankreich, für Paris, eben eine fabelhafte Welt. Doch wenn er eintritt, dann wie eine potenzierte Liebe. Henry Miller bringt es in seinem Roman Sexus auf den Punkt: »Bald würden wir aus dem Vollen schöpfen, ein einziger Orgasmus, wo es Pflaumen und Aprikosen vom Himmel regnete. Der letzte Stoß, eine Kaskade erstickter, weiß glühender Asche ... Ein schönes Finish: Royal Flush. Ich erkannte sie, und sie erkannte mich.« Der Systematik halber sei eingeführt, dass sich auch Begriffe wie Triorgasmus oder Quattrorgasmus bilden lassen, je nach Zahl der gleichzeitig Orgasmierenden. Es wird nur sehr schnell astronomisch unwahrscheinlich, wiewohl die Belletristik davon nicht lassen möchte.

Diese Philosophie des schönsten Augenblicks handelt von einem sehr spezifischen schönsten Augenblick. Nicht die Geburt eines Kindes, nicht die Liebe auf den ersten Blick, nicht die Verlobung, nicht der Triumph eines Weltmeisters oder einer gewählten Präsidentin, nicht die Kirchenglocken, die 1945 in Italien das Ende des Kriegs einläuteten, nicht das Gefühl, das den Mathematiker Andrew Wiles befiel, als er den Großen Fermatschen Satz bewies, eines der größten Rätsel der Zahlentheorie, das erst nach drei Jahrhunderten gelöst werden konnte; nicht die vielen Augenblicke, die im je persönlichen Leben der Menschen eine eminente, ja teilweise umstürzende Bedeutung gewinnen.

Diese Philosophie des schönsten Augenblicks handelt vom schönsten Augenblick, den uns die Sexualität schenkt, den sexuellen Höhepunkt. Dieses Buch bemüht sich um eine Systematik, allerdings nicht in einem akademischen Sinne; es ist kein Traktat oder eine wissenschaftliche Abhandlung. Es behandelt das Thema phänomenologisch – als ein fundamentales Staunen; evolutionstheoretisch und biologisch; ästhetisch; kulturtheoretisch; gendertheoretisch; politisch. Es streift religiöse und kosmologische Aspekte, bietet Exkurse in die Kunst, Musik, den Film und die Literatur. Der dritte Teil wird philosophisch im engeren Sinne und behandelt das Thema mit den Aspekten Ethik, Logik, Ökonomie und Ontologie. Das Buch ist allerdings kein Ratgeber in praktischen Belangen, weder medizinisch, therapeutisch noch esoterisch. Dafür gibt es andere in Hülle und Fülle.

Wir werden Wissenschaftler und Philosophen kennenlernen, uns Kunstwerken und Musikstücken zuwenden, Filme betrachten. Wir werden Fragen der Politik, des Feminismus und der Religion nicht ausweichen. Wir werden immer wieder naturwissenschaftliches Wissen mit kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Überlegungen konfrontieren. Es kommen die angeblich einfache Frau und der angeblich einfache Mann zu Wort. Wir werden Fragen stellen, denn das Staunen mag zu Erkenntnis führen, aber mindestens genauso zu weiteren Fragen und zu solchen, die so fundamental sind, dass sie nicht beantwortet werden können.

Was dieses Buch nicht leisten kann, ist eine Kulturgeschichte des Orgasmus. Hierzu nur: Da der sexuelle Höhepunkt wenn überhaupt nur versteckt Gegenstand schriftlicher Zeugnisse gewesen ist, wird es schwierig, ihn in den diversen Weltkulturen der letzten, sagen wir 5000 Jahre zu rekonstruieren. Erst im Zuge der Verwissenschaftlichung der Welt entstand das, was ein Fremdwörterbuch von 1870 die Ädöologie nannte, eine »Lehre von den Zeugetheilen oder auch Schamhaftigkeits- oder Anstandslehre«. Immerhin ist das Buch von Jonathan Margolis zu empfehlen, auf dessen Ausführungen wir zuweilen zurückgreifen.

Wir werden einige überraschende Thesen aufstellen, vor allem zur Masturbation, zum Ort des Orgasmus in unserem Leben, zum Versagen der Künste, warum der Orgasmus zur linken Mehrheitsphilosophie quersteht und weswegen er dem Wesen nach weiblich ist. Das heißt: Der Orgasmus kommt bei der Masturbation zu sich. Der Orgasmus ist ein Existential, das wesentlich zu unserem Dasein gehört. Sowohl die Popmusik als auch die Literatur ist uns bisher den Orgasmusroman (oder -gedicht) und eine Orgasmusmusik schuldig geblieben. Der Orgasmus ist eine Leerstelle der Negativitätsphilosophie. Und die Welt bedarf einer Feminisierung des Orgasmus. Damit setzen wir uns vom gängigen Diskurs ab, der wie selbstverständlich den männlichen Höhepunkt zum Ausgangspunkt der Überlegungen nimmt.

Der sexuelle Höhepunkt bietet auf vielen Gebieten reichlich Stoff zum Nachdenken. Phänomenologisch stellt sich die Frage, warum es ihn überhaupt gibt. Die Evolutionstheorie sucht nach einer Antwort darauf, wie er sich entwickelt hat. Die Biologie beschreibt die Funktion bei der Fortpflanzung und im biosozialen Leben. Medizin und Sexualtherapie kommen ins Spiel, sobald er Schwierigkeiten bereitet.

Die Ästhetik des Orgasmus umfasst drei Bedeutungen. Einerseits können wir nach seinem Aussehen, dem Geräusch, dem Geruch fragen, nach den sinnlichen Qualitäten, wie er sich anfühlt. Zugleich drängt sich die Frage auf, wie die Künste den Höhepunkt thematisieren, die Musik, die Literatur, vor allem die Lyrik, die Malerei, die Fotografie, der Film. Zuletzt die Überlegung, wie wir ihn gestalten, so dass er selbst zu etwas »Ästhetischem« wird.

Die Psychologie hingegen widmet sich seinen Erfahrungs- und Erlebnisqualitäten. Eng damit verbunden ist die Frage danach, wie wir über ihn sprechen. Ökonomisch (oder auch ökologisch) betrachtet wäre die Quantität von Interesse, also wie häufig er »kommen« solle, während bei der Frage nach Sittlichkeit und Moral eher der »richtige« Umgang im Fokus steht. Die politische Dimension geht dem Recht auf freie Sexualität, der Emanzipation der Frauen und Minderheiten nach; in diesen Bereich fällt auch die Frage nach der Rolle der Religion in einer modernen Weltgesellschaft sowie die nach einer angemessenen Sexualerziehung.

Betrachtet man den Orgasmus überdies philosophisch – so im dritten Teil dieses Buchs –, stellen sich Unterfragen. Gibt es eine Logik des Orgasmus? Was ist dessen »Sein«?, würde die Ontologie fragen. Wie ist der Orgasmus verbunden mit einer Physik der Welt oder spezifischer: mit der Kosmologie? Die Lebensphilosophie sucht eine Antwort darauf, welchen Sitz der schönste Augenblick in dem hat, was ein gutes Leben genannt wird.

Der Orgasmus ist, alles in allem, ein kleines, kurzes Ereignis, und doch mit einem Dutzend von Wissenschaften verbunden. Er mischt sich überall ein und erweist sich überdies als ein geeigneter Kandidat für eine eigene Philosophie. Wer hätte das gedacht? Auch darüber darf gestaunt werden.