Zur Morgenandacht läuten die Glocken zweimal

Vom Himmel fiel ein feiner, kalter Regen. Es war dunkel. Nur am Ende der Straße, auf der Seite der Kaserne, von der aus um halb sechs Trompetengeschmetter erhallt war und nun Getrampel von Pferden, die zur Tränke geführt wurden, leuchtete schwach das Rechteck eines Fensters; vielleicht jemand, der früh aufstand, oder ein Kranker, der die ganze Nacht wach gelegen hatte.

Die übrige Straße schlief. Es war eine ruhige Straße, fast neu, mit ein-, höchstens zweistöckigen Häusern, die sich alle ähnelten und in den Vororten der meisten großen Provinzstädte zu finden sind. Das ganze Viertel war neu und hatte keine Geheimnisse. Ruhige und rechtschaffene Menschen wohnten hier, Angestellte, Handelsvertreter, Alte mit einer kleinen Rente, friedliebende Witwen.

Maigret hatte seinen Mantelkragen hochgeschlagen und sich in die Toreinfahrt der Knabenschule gedrückt. Er rauchte seine Pfeife, während er mit der Uhr in der Hand wartete.

Der Klang der Glocken hing noch in der feuchten Luft, als er weniger wahrnahm als vielmehr erahnte, dass im Haus gegenüber ein Wecker schrillte. Es dauerte nur einige Sekunden. Der Junge hatte gewiss schon die Hand unter der warmen Bettdecke hervorgestreckt und im Dunkeln nach dem Schalter getastet, mit dem sich der Wecker abstellen ließ. Kurz darauf wurde es hinter dem Mansardenfenster im zweiten Stock hell.

Alles ging genauso vor sich, wie der Junge es beschrieben hatte. Er stand leise auf, während im Haus noch alles schlief. Nun wird er nach seinen Kleidern und Socken gegriffen, sich anschließend Gesicht und Hände gewaschen haben und mit dem Kamm durchs Haar gefahren sein. Was seine Schuhe betraf, so hatte er erklärt:

»Ich ziehe sie erst auf der letzten Treppenstufe an, um meine Eltern nicht zu wecken.«

So ging es jeden Tag, im Winter wie im Sommer, seit fast zwei Jahren, seitdem Justin Messdiener in der Sechs-Uhr-Messe im Krankenhaus war.

»Die Uhr im Krankenhaus geht immer drei oder vier Minuten hinter der Pfarruhr nach«, hatte der Junge auch gesagt.

Vielleicht hatte Maigret nicht darüber gelächelt, weil er als Kind selbst lange Messdiener gewesen war.

Um Viertel vor sechs läuteten zuerst die Glocken der Pfarrkirche, danach Justins Wecker in seiner Mansarde, und kurz darauf ertönte das Glockenbimmeln der Krankenhauskapelle, das an das eines Klosters erinnerte.

Noch immer hielt Maigret seine Uhr in der Hand. Der Junge brauchte kaum mehr als vier Minuten, um sich anzuziehen. Das Licht ging aus. Jetzt tastete er sich gewiss auf den Socken die Treppe hinunter, um seine Eltern nicht zu wecken, setzte sich auf die unterste Stufe, um seine Schuhe anzuziehen und nahm seinen Mantel und seine Mütze von dem Kleiderständer aus Bambus, der sich rechts im Flur befand.

Die Tür öffnete sich. Der Junge schloss sie leise, blickte ängstlich die Straße hinauf und hinunter und sah die große Gestalt des Kommissars, der auf ihn zukam.

»Ich hatte Angst, Sie würden nicht kommen.«

»Ich soll alles genauso machen wie sonst auch, nicht wahr? Ich gehe immer schnell, weil ich genau ausgerechnet habe, wie viele Minuten ich für den Weg brauche, und weil ich im Winter, wenn es dunkel ist, Angst habe. In einem Monat beginnt es um diese Zeit schon zu dämmern.«

Er bog die nächste Straße rechts ein; eine ebenso ruhige, aber kürzere Straße. Sie mündete in einen runden mit Ulmen bepflanzten Platz, über den Straßenbahnschienen diagonal hinwegführten.

Maigret nahm all die winzigen Details wahr, die ihn an seine eigene Kindheit erinnerten. So hielt der Junge einen gewissen Abstand zu den Häusern, wahrscheinlich fürchtete er, dass plötzlich jemand aus einem dunklen Eingang auftauchen könnte. Auch hielt er sich ein Stück abseits von den Bäumen, hinter denen sich ein Mann hätte verstecken können.

Eigentlich war er mutig, denn schon zwei Winter hindurch war er jeden Morgen bei Wind und Wetter, manchmal in dichtem Nebel oder mondloser Finsternis, ganz allein den immer gleichen Weg gegangen.

»Wenn wir in der Mitte der Rue Sainte-Catherine sind, werden Sie das zweite Läuten zur Morgenandacht in der Pfarrkirche hören …«

»Um sechs Uhr. Ich habe sie nur zwei- oder dreimal gesehen, als ich mich verspätet hatte … Das eine Mal hatte mein Wecker nicht geklingelt, das andere Mal war ich wieder eingeschlafen. Jetzt springe ich immer sofort aus dem Bett, wenn er klingelt.«

Ein kleines blasses Gesicht in der regnerischen Dunkelheit, die Augen noch vom Schlaf verhangen, ein nachdenklicher Ausdruck mit einem Anflug von Ängstlichkeit.

»Ich höre als Messdiener auf. Ich gehe heute nur noch einmal hin, weil Sie es unbedingt wollen …«

Sie bogen links in die Rue Sainte-Catherine ein, in der wie in den anderen Straßen des Viertels alle fünfzig Meter eine Straßenlampe stand, die einen Lichtkreis auf den Boden zeichnete. Der Junge ging unbewusst schneller, sobald er einen Lichtkreis durchquert hatte und wieder in die Dunkelheit eintauchte.

Aus der Ferne hörte man noch immer die Geräusche der Kaserne. Einige Fenster wurden hell. Jemand ging eine Querstraße entlang, wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit.

»Hast du nichts gesehen, als du an die Straßenecke kamst?«

Das war die schwierigste Frage, denn die Rue Sainte-Catherine verlief schnurgerade und war um

»Vielleicht habe ich nicht geradeaus geblickt. Ich erinnere mich daran, dass ich vor mich hingesprochen habe. Ich spreche oft morgens auf dem Weg zur Kapelle leise vor mich hin … Ich wollte meine Mutter um etwas bitten, sobald ich wieder zu Hause war, und habe mir das immer wieder vorgesagt.«

»Um was wolltest du sie bitten?«

»Ich wünsche mir seit Langem ein Fahrrad und habe von dem, was ich als Ministrant verdiene, schon dreihundert Franc zusammengespart.«

War das nur Einbildung? Es schien Maigret, dass der Junge sich weiter von den Häusern entfernte. Er ging sogar ein paarmal vom Gehsteig herunter und nach wenigen Schritten wieder hinauf.

»Hier ist es … Hören Sie! Jetzt läutet die Pfarrkirche zum zweiten Mal.«

Ohne sich im Geringsten lächerlich zu fühlen, versuchte Maigret sich in die allmorgendliche Welt des Jungen hineinzuversetzen.

»Ich habe bestimmt hinaufgeschaut … Wissen Sie, so wie man rennt, ohne auf den Weg zu achten, und plötzlich steht man vor einer Mauer … Es war genau hier.«

»Zuerst sah ich, dass dort ein Mann ausgestreckt am Boden lag. Er kam mir so groß vor, dass ich schwören könnte, er hätte die ganze Breite des Gehsteigs eingenommen.«

Das war unmöglich, denn der Gehsteig war mindestens zwei Meter fünfzig breit.

»Ich weiß gar nicht, was ich genau gemacht habe … Ich bin gewiss zur Seite gesprungen … Aber nicht sofort davongelaufen, denn ich habe das Messer mit dem dicken braunen Horngriff in seiner Brust gesehen … Es ist mir deshalb aufgefallen, weil mein Onkel Henri ein ganz ähnliches besitzt und mir gesagt hat, es sei ein Griff aus Hirschhorn. Ich bin mir sicher, dass der Mann tot war.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht. Er sah wie ein Toter aus.«

»Hatte er die Augen geschlossen?«

»Ich habe nicht auf seine Augen geachtet. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich hatte das Gefühl, er sei tot … Alles ging blitzschnell, wie ich es Ihnen schon gestern in Ihrem Büro gesagt habe. Ich musste die Geschichte gestern den ganzen Tag so oft erzählen, dass ich mich selbst nicht mehr zurechtfinde, schon gar nicht, wenn ich spüre, dass mir keiner glaubt.«

»Als ich aufgeschaut habe, sah ich, dass vielleicht fünf Meter weiter jemand stand, der sehr helle Augen hatte. Er hat mich eine Sekunde lang angeblickt und ist dann weggelaufen. Es war der Mörder.«

»Woher weißt du das?«

»Weil er so schnell weggelaufen ist.«

»In welche Richtung?«

»Geradeaus, dort entlang …«

»Das heißt zur Kaserne?«

»Ja.«

Es stimmte, dass Justin am Tag zuvor mindestens zehn Mal befragt worden war. Ehe Maigret ins Büro gekommen war, hatten sich die Inspektoren geradezu einen Spaß daraus gemacht. Aber Justin war nicht im Geringsten von dem abgewichen, was er anfänglich berichtet hatte.

»Und was hast du dann getan?«

»Ich bin ebenfalls losgerannt … Ich kann es schwer erklären. Ich glaube, in dem Augenblick, da ich den Mann fliehen sah, habe ich Angst bekommen und bin so schnell ich konnte weggelaufen.«

»In die entgegengesetzte Richtung?«

»Ja.«

»Bist du nicht auf den Gedanken gekommen, um Hilfe zu rufen?«

»Nein. Ich hatte zu große Angst. Vor allem davor, dass meine Beine plötzlich versagen könnten, denn

»Gehen wir.«

Wieder das helltönende Bimmeln der Kapellenglocken. Nachdem sie fünfzig Meter gegangen waren, kamen sie an eine Kreuzung. Blickte man nach links, sah man die Mauern der Kaserne mit den eingelassenen Schießscharten. Rechts war ein schwach erleuchtetes riesiges Portal, über dem eine Uhr mit einem fahlen Zifferblatt hing.

Es war drei Minuten vor sechs.

»Ich bin eine Minute zu spät … Gestern kam ich noch rechtzeitig, weil ich gerannt bin …«

An der massiven Eichentür befand sich ein schwerer Klopfer, den der Junge anhob und dessen lautes Scheppern im Portal widerhallte. Ein Pförtner kam in Pantoffeln herbeigeschlurft, um die Tür zu öffnen. Er ließ Justin eintreten, stellte sich aber Maigret in den Weg und musterte ihn misstrauisch.

»Was gibt es?«

»Polizei.«

»Können Sie sich ausweisen?«

Sie gingen durch die Eingangshalle, und sogleich schlug ihnen der Krankenhausgeruch entgegen. Durch eine zweite Tür gelangten sie auf einen großen Hof. Von fern zeichneten sich in der

»Warum hast du gestern dem Pförtner nichts gesagt?«

»Ich weiß nicht … Ich muss mich beeilen …«

Maigret verstand das. Der rettende Hafen konnte weder das Portal mit dem misstrauischen, griesgrämigen Pförtner noch dieser kalte Hof sein, über den man schweigend die Bahren trug, sondern allein die warme Sakristei der Kapelle, in der eine Nonne die Altarkerzen anzündete.