cover
Kim Rylee

gestatten: Jessy

Schutzengel





Elaria
80331 München

Sprichwort

 Es gibt nichts Gutes,

außer man tut es.

 

(Erich Kästner)

Jessy

Eine Schwärze hielt Jesajah umfangen, hatte sie eingelullt und in sich aufgesaugt. Dennoch fühlte sie sich wohl, gar umsorgt.

»Mach die Augen auf, Goldstück.«
Bereits zum vierten Mal versuchte eine Stimme, sie zu wecken.

»Mama! Wann steht Jessy endlich auf? Ich will wieder mit ihr spielen«, mäkelte die Stimme eines kleinen Jungen.

»Jetzt noch nicht, Joshua. Deine Schwester braucht noch Ruhe.«

»Mamaaaa!«

»Jetzt nicht«, zischte die Mutter.

»Geh zum Herrn. Schau, ob er zu Hause ist. Wenn ja, dann frag nach einer weiteren Decke. Zieh dir aber vorher etwas Warmes über. Draußen ist es bitterkalt.«

»Das ist ungerecht.« Der Dreijährige stampfte mit dem Fuß auf dem Boden.

»Joshua«, entgegnete sie leicht genervt, konnte ihrem Sohn aber nicht böse sein.
Er liebte Jessy über alles. Die Geschwister hatten nur selten Zeit zum gemeinsamen Spielen. Nun bedurfte Jesajah ihrer ganzen Aufmerksamkeit, sodass der kleine Bruder in den letzten Tagen zu kurz gekommen war.

»Bitte. Tu mir den Gefallen. Ich denke, du willst ein großer Junge sein?« Die beschwichtigenden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.

»Immer ich«, murrte Joshua, steckte den Daumen in den Mund, dann machte er sich polternden Schrittes auf den Weg.
Jesajah wollte nicht aufwachen. Sie mochte das Gefühl der Geborgenheit. Bisher war sie nur sehr selten in den Genuss von Anteilnahme gekommen, die einem tiefen Liebesbeweis glich. Damit die Familie wenigstens ein paar Krümel zu essen hatte, musste sie viel über sich ergehen lassen. Gemeinsam mit ihrer Mutter schuftete Jessy auf den Feldern. Sobald die Dämmerung einsetzte, half sie bei der Hausarbeit, oder kümmerte sich um den Pferdestall.

»Goldstück, bitte wach auf«, flehte die sanfte Stimme, die für eine Sekunde ein seichtes Lächeln auf ihr Gesicht zauberte.
Ihre Mutter strich die Locke weg, die sich durch den Schweiß auf Jesajahs Stirn geheftet hatte.

»Bitte, Kleines«, schluchzte Mechthild. »Öffne deine wundervollen meerblauen Augen … für mich.« Die letzten Worte waren kaum noch zu vernehmen.

Jessy sank zurück in einen wunderschönen Traum. Tauchte in eine Dimension ein, in der sie das gnadenlose Leben, das sie bisher hatte führen müssen, hinter sich lassen konnte. Sie wollte in die Welt entgleiten, in der sie sich gut aufgehoben fühlte, statt in die raue Realität zurückzukehren, die ihr alles abverlangte. Auf einen Alltag, der sich hart wie Marmor gestaltete, konnte sie gern verzichten.

Jesajah verzauberte alle. Ihre Lebhaftigkeit brachte eine herzerfrischende Freude in den schweren Alltag von Mechthild. Es gab kaum jemanden, der nicht auf Anhieb dem kleinen Wirbelwind verfallen war. Jessys helle Lockenpracht sowie ihre kindlich leuchtenden Augen bewahrten die beiden vor dem Verhungern.

 

Das Leben meinte es nicht gut mit der Familie. Bei einem Überfall auf das Dorf starb Jesajahs Vater. Das geschah an ihrem vierten Geburtstag.

Mechthild hatte sich ihre kleine Tochter geschnappt, flüchtete in den Wald, um dort Schutz zu suchen. Die junge Mutter besaß nichts mehr. Nur Jesajah – ihr Goldstück, wie sie sie liebevoll zu nennen pflegte. Das kleine Mädchen war ihr wertvollster Schatz, den sie mit ihrem Leben beschützte. Sie hatten alles verloren, waren arm wie Kirchenmäuse, als der Himmel über ihnen die Schleusen öffnete. Hastig suchten Mechthild und ihre Tochter Schutz unter einer großen Eiche. Während sie dort, fast verhungert, auf das Ende des Wolkenbruchs warteten, tauchte ein Reiter auf. Trotz des fürchterlichen Wetters stoppte er. Als er das kleine Mädchen – zusammengekauert und vor Nässe frierend – an seine Mutter geklammert sah, stieg er vom Pferd.

 

Er war kein auffälliger Mann – hätte der Makel in seinem Gesicht nicht die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Statt einer Nase klaffte in der Mitte ein Loch, verursacht durch einen Schwerthieb. Zusätzlich bedeckte ein dunkelrotes Feuermal die gesamte linke Wange, als hätte er kürzlich eine kräftige Ohrfeige verpasst bekommen. Wortlos nahm er das Mädchen auf den Arm. Dabei schaute er in zwei Kinderaugen, die ihn voller Hoffnung anhimmelten. Sie schien keine Furcht vor ihm zu haben, ganz im Gegensatz zu Mechthild. Doch die Mutter war zu geschwächt, um gegen einen Kämpfer wie ihn bestehen zu können.

Der Reiter stellte sich als Raguil vor, erklärte, dass seine Frau, die den Haushalt geführt und ihn versorgt hatte, kürzlich verstorben sei. Zudem brauchte er jemanden, der die Felder bestellte.

Dankbar, endlich ein Dach über den Kopf sowie etwas zu essen zu bekommen, nahm Mechthild das Angebot an. Raguil wies ihnen eine Bleibe in der Scheune zu.
Die Mutter kochte für ihren Herrn Essen, sorgte für Sauberkeit im Haus und bestellte mit Jessy das Feld. Um seinen Lebensstandard zu erhalten, veräußerte Raguil die Ernte.

Es war noch nicht einmal ein Jahr vergangen, als Mechthild schwanger wurde. Neun Monate später gebar sie ihren Sohn Joshua. Während ihrer Schwangerschaft erkaltete Raguils Herz mehr und mehr, ohne dass ein erkennbarer Grund vorlag.

Die kommenden zwei Winter waren hart. In der Scheune gab es keine Feuerstelle, sodass im Wohnraum die Temperaturen unerbittlich absackten. Erst wenn ein Mensch problemlos das Eis auf dem Weiher besteigen konnte, erlaubte Raguil ihnen, sich für eine kurze Zeit in der Küche des Hauses am Herd aufzuwärmen. Danach schickte er sie zum Schlafen zurück in die Scheune. Er wollte das Gesinde nicht in seiner Nähe haben. Sie wurden in seinem Haus nur geduldet, um sauberzumachen oder die Mahlzeiten zuzubereiten.

In diesen Nächten rückten Mechthild, Jesajah und Joshua immer dicht zusammen. Das Stroh schützte die kleine Familie kaum vor der Eiseskälte, ebenso wenig die dünnen Leinendecken, was zur Folge hatte, dass Jessy an einer Lungenentzündung erkrankte.

 

Schlurfende Schritte waren zu hören.

»Danke, Joshua.« Mechthild drehte sich nicht um. Sorge hatte sich über ihr Gesicht ausgebreitet. Dunkle Augenringe sowie tiefe rote Falten zeichneten sich auf ihrem einst schönen Antlitz ab, auf dem sich nun das harte Leben widerspiegelte. »Geh bitte noch einmal zurück zum Herrn. Bitte ihn, ins nächste Dorf zu reiten. Wir brauchen dringend einen Doktor.«

Während die Mutter ihre Tochter in eine weitere Decke einhüllte, begann Jessy zu keuchen. Das Husten tat ihr weh. Ein kleines Rinnsal Blut lief aus ihrem Mundwinkel. Obwohl sie am ganzen Körper zitterte, glühte ihre Haut. Kurz schlug sie die glasigen Augen auf, die all den kindlichen Glanz verloren hatten.

»Durst«, flüsterte sie heiser.
Behutsam führte die Mutter den Becher an Jessys Mund. Mechthild presste die Lippen zusammen, während sie ihrer Tochter beim Trinken half.

Das kalte Wasser brannte in Jessys Hals, sodass ihr zarter Körper erschauderte. Geschwächt sank sie zurück. Ihr war hundeelend zumute.

Mit jeder weiteren Minute verschlimmerte sich das Fieber. Immer wieder versuchte Mechthild, mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn ihrer schwerkranken Tochter zu tupfen.

Erneut ein Hustenanfall. Jesajah hatte das Gefühl, ihre Lunge wollte aus dem Mund herausspringen. Ihre kleine Hand presste die Puppe, die ihre Mutter aus Stroh gebastelt hatte, gegen die Brust. Das einzige Spielzeug, das sie ihr Eigen nannte. Ein weiterer Anfall. Noch heftiger als zuvor. Länger. Dann spürte sie die Wärme der Mutter an der Wange. Beruhigt schloss Jessy die Augen.

Das Tor knirschte. Eiskalte Luft zog durch die Scheune, ließ Mechthild erschaudern. Für einen Moment schaute die Mutter auf ihre Tochter, die leblos in ihren Armen lag.

»Jessy!«, hallte Mechthilds verzweifelter Schrei in die Nacht hinaus.

Joshua stand neben dem Strohballen, das Gesicht gerötet von der Kälte. Mit hängenden Schultern sah der Junge, wie seine Mutter den Oberkörper vor und zurück wiegte und dabei den Körper seiner Schwester fest an sich presste.

Tränen kullerten unaufhörlich seine Wangen hinunter.

 

Jessy war acht Jahre alt, als sie starb.

Der Chronist

»Hallo? Wo bin ich denn hier? Halloooo?« Jessy blickte sich um. Um sie herum schien alles in ein gelbes Licht getaucht zu sein, das eine angenehme Wärme ausstrahlte. Obwohl sie allein war, verspürte sie keine Angst, dennoch war ihr etwas mulmig zumute.

Seltsam.

Während weitere Minuten verstrichen, machte Jessy vorsichtig einen Schritt nach dem anderen. Sie wusste nicht, wohin sie überhaupt ging. Alles sah gleich aus. Es gab keine Straßen. Keine Bäume oder Häuser. Es gab nichts, was ihr einen Hinweis darauf hätte geben können, wo sie sich befand.

»Ist hier jemand?« Ihre Frage kam zögerlich. Als niemand antwortete, sackten ihre Schultern betroffen hinab. Die Neugierde wuchs, sodass Angst keine Chance hatte, von ihr Besitz zu ergreifen.

Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich hierhergekommen bin. Bin ich etwa gestorben? Aber ... vielleicht bin ich gar nicht tot? Nur ... wo bin ich dann?

Sie schob die Unterlippe vor, um die Locke aus ihrer Stirn zu pusten. Plötzlich hielt sie inne. Ihre Augen spähten in die Ferne. Ein seichtes Gemurmel klang in ihren Ohren. Noch immer konnte sie nichts erkennen. Also lief sie in die Richtung, von der sie glaubte, dass sich dort Menschen aufhielten. Es wunderte sie, dass sie ihre Schritte nicht hörte. Abrupt stoppte Jessy.

Wenn ich mich hier so umschaue ... Ich befinde mich in ... Tja, in was? Es ist kein Raum, denn hier sind nirgends Wände. Auch keine Türen oder Fenster.

Fünfzig Meter entfernt bewegte sich etwas.

Augenscheinlich bin ich nicht allein. Ist das hier ein Kindergarten?

»Hallo? Ihr da!« Die grauen Silhouetten reagierten nicht. Jessy versuchte, auf sie zuzulaufen, doch der Abstand verringerte sich nicht um einen Meter.

Wer sind diese vielen seltsamen Gestalten? Alle sehen so blass aus. Ihre Körper wirken leblos. Nicht der Hauch eines Lebensfunkens scheint in ihnen zu stecken. Komisch. Sollte dies das Ende sein, so hatte ich es mir irgendwie anders vorgestellt.

»Du bist zwar gestorben, Jesajah, doch du bist nicht tot.«

Sie wirbelte herum. Nanu? Sie kannte die Stimme nicht, die eindeutig einem Mann gehörte, suchte aber dennoch nach ihrem Ursprung.

»Wer ist da? Woher kennst du meinen Namen?« Sie drehte sich mehrmals um die eigene Achse.

»Wer hat da eben zu mir gesprochen? Los! Raus mit der Sprache! Und zeig dich endlich.«

Jessy war noch nie ein ängstliches Mädchen gewesen. Bereits in frühen Jahren musste sie hart arbeiten. Angst war bei der Feldarbeit und den zu entrichtenden Hausarbeiten fehl am Platz. Trotz ihrer acht Jahre hatte sie sich immer um ihren jüngeren Bruder Joshua gekümmert. All das lag nun hinter ihr, doch Jessy konnte sich an dieses Leben nicht mehr erinnern.

 

Ein Mann mit kurzen dunklen Haaren und lockigem Vollbart löste sich aus der Menge. Selbstbewusst schritt er auf Jessy zu. Seine stolze Haltung ließ sie vor Ehrfurcht fast erstarren.
In einem für sie angenehmen Abstand hielt er an. Große meerblaue Augen musterten ihn.

Allem voran fiel ihr der wache Ausdruck auf, der sein Gesicht beherrschte. Er überragte sie um einen Kopf, sodass sie aufschauen musste. Jessy hätte ihm am liebsten etwas zu Essen besorgt, denn seine schmale Statur ließ darauf schließen, dass er am Verhungern war. Er trug eine griechische Toga, deren Saum goldene Kästchen zierten. Unter der linken Achselhöhle klemmte eine Papyrusrolle. Um den Hals trug er eine Kette aus Hanf, an der eine Phiole mit einer Schreibfeder baumelte.

»Wer bist du?«, fragte sie zaudernd. Ihre Augen verwandeln sich in schmale Schlitze, als würde sie eine Sehhilfe benötigen, um zu erkennen, wer vor ihr stand. Jessys Stirn schlug tiefe Falten. Krampfhaft überlegte sie, ging in Gedanken all ihre Bekannten und Freunde durch, doch da war nichts. Ihre Erinnerungen … wie ausgelöscht.

»Mein Name ist Xenophon.«

Jessy schüttelte den Kopf, sodass ihre Korkenzieherlocken umherflogen.

»Den Namen habe ich noch nie gehört«, entgegnete sie mit einer Überzeugung in der Stimme, die sie selbst überraschte, denn in ihrem Kopf gähnte eine Leere, die sie sich nicht erklären konnte.

Xenophon schien weder verwundert noch verärgert zu sein.

»Oh. Ich erwarte nicht, dass du mich kennst. Erlaube mir, dir einige Informationen zu meiner Person zu geben. Ich war einst ein griechischer Politiker, Feldherr sowie ein Schüler des Sokrates.«
Er wartete. Als er erkannte, dass bei Jessy noch immer kein Licht aufging, fuhr er fort.

»Zudem bin ich ein Schriftsteller. Ich habe die Worte des Sokrates aufgeschrieben, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Nun bin ich hier, um deine Geschichte zu schreiben.«

Jessys Augen wurden groß und feucht, sodass das Meerblau darin zu glänzen begann.

»Meine Geschichte?« Mit dem Handrücken wischte sie unter der Nase entlang. Dabei ertönte ein leises Schniefen.

»Genau. Als dein Chronist werde ich Aufzeichnungen über dich anfertigen, damit jeder weiß, wer du bist. Deine Taten könnten dich berühmt machen.« Er streckte die schmale Brust heraus, was die Phiole zum Baumeln brachte.

Jessy setzte sich im Schneidersitz hin. Erwartungsvoll schaute sie zu ihm auf.

»Was tust du da, Jesajah?« Xenophon rieb sich mit der Hand über den Bart.

»Ich mache es mir gemütlich, damit ich meiner Geschichte lauschen kann. Ich erinnere mich nicht an das, was geschehen ist.« Sie rutschte noch einmal auf ihrem Po hin und her. Als sie bequem saß, strich sie mit den Händen den Rock ihres Kleides glatt, bevor sie sich wieder dem Chronisten widmete.

»Also. Schieß los«, forderte sie ihn freudestrahlend auf.

Während er die freie Hand in die Hüfte legte, holte Xenophon tief Luft.

»Ich muss dich enttäuschen. Ich werde die Geschichte erzählen, die erst noch vor dir liegt. Deine Vergangenheit kenne ich ebenso wenig wie du.«

Enttäuscht senkte Jessy den Kopf.

»Deine Taten als Schutzengel sind die Ereignisse, über die ich berichten möchte.«

Sie schwieg, während sie mit dem Zeigefinger Kreise auf dem flauschig wirkenden Boden zeichnete, der zäh wie Knetmasse war. Dennoch verschwand der tellergroße Bogen wieder, kaum dass Jessy ihre Zeichnung vollendet hatte.

»Dann bin ich also so richtig tot«, sinnierte sie. Abrupt hob sie den Kopf. »Und im Himmel?«

»Ja und nein.«

»Hä?«

»Du bist gestorben, aber nicht im Himmel.«

»Hä?«

»Du bist in … Hm, wie soll ich es dir am einfachsten erklären?« Er kratzte sich mit dem Griffel an der Schläfe.

»Nun, wir nennen es die Obere Ebene.«

Noch immer schaute sie ihn entgeistert an.

»Der Himmel, wie du ihn nennst, also der Kosmos ...«

»Kos … was?«

Bisher hatte der Chronist nur die Geschichten von Philosophen oder Feldherrn aufgeschrieben, nie jedoch die eines Kindes, das kurz davor stand, ein Schutzengel zu werden. Er hoffte, dass ihn dieses Projekt nicht überfordern würde.

»Kosmos. Das wirst du alles noch lernen. Erst einmal schicke ich dich auf die E.n.G.E.l.«

»Und du willst Schriftsteller sein?« Verwirrt starrte sie ihn an. Xenophon schaute dumm aus der Wäsche, da ihm der Zusammenhang gerade nicht klar war.

»Das heißt ›zu den Engeln‹ und nicht ›auf die Engel‹.«

Diese kecke Art war er nicht gewohnt, sodass er den Oberkörper streckte.

Oh je, sie ist auch noch eine Klugscheißerin.

Er legte den Kopf in den Nacken, den Blick nach oben gewandt.

Das wird anstrengend, dachte er. Dann schaute er auf Jessy hinab.

»Komm.« Väterlich reichte Xenophon ihr die Hand. Jessys kindliches Lächeln verzauberte den Schriftsteller. Sie schien sich wirklich zu freuen. Mit einem beherzten Ruck zog er sie auf die Beine.

»Kleine Jesajah, für dein Alter bist du ganz schön altklug. E.n.G.E.l. steht für ›Einweisungsstelle neuer Guardians im Exil‹.«

Verblüfft blieb Jessy stehen.

Ein Ruck fuhr durch Xenophon, der ihn verharren ließ.

»Du schickst mich ins Exil? Habe ich etwas verbrochen? Bin ich schlecht?«

»Keine Sorge«, entgegnete der Chronist mit einem Schmunzeln. »Als Exil bezeichnen wir die Erde. Die E.n.G.E.l. ist die himmlische Akademie. Sobald du deine Ausbildung beendet hast, wird man dich zurück zur Erde schicken. Man wird dir einen Menschen zuweisen, um den du dich kümmern musst. Deine Aufgabe wird es sein, ihn zu beschützen und ihn anzuleiten, damit an seinem Ende die Seele zu uns findet.«

»Mehr muss ich nicht tun?«

»Nein.« Jessys Unbeschwertheit bereitete ihm sichtlich Freude.

»Doch glaube mir, das ist keine leichte Aufgabe.«

»Was ist so schwierig daran? Wenn mir mein Schutzengel begegnen würde, wäre ich total entzückt und aus dem Häuschen«, sagte sie freudig, doch sofort wurde sie ernst.

»Hatte ich auch einen Schutzengel? Und wo war er, als ...? Was genau ist mir denn passiert?« Ihre blauen Augen sahen ihn fragend an.

»Das kann ich dir leider nicht sagen.« Xenophon seufzte.

»Diese Information entzieht sich meiner Kenntnis.«

»Dann bist du nicht allwissend?«

Der Chronist lachte schallend.

»Nein Jesajah. Ich weiß zwar eine Menge Dinge, doch auch mir wurde nicht alles offenbart. Apropos, in einer sehr wichtigen Sache darf ich dich noch einweihen.« Er machte eine dramatische Pause.

Jessy wankte von einem Fuß auf den anderen. Das war alles so neu. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als sich an ihr Leben zu erinnern.

»Du darfst dich deinem Schützling nie als das zu erkennen geben, was du von nun an sein wirst.« Er hob theatralisch den Zeigefinger.

»Unter keinen Umständen darfst du das verraten.«

»Oh.« Jessy schob die Unterlippe vor, um die Locke aus ihren Augen zu pusten, doch die kleinen Falten auf ihrer Stirn verschwanden nicht.

»Ich gebe zu, das könnte tatsächlich problematisch werden.« Ihre Gedanken machten sich selbstständig.

Wäre es nicht einfacher, der Mensch wüsste von seinem Schutzengel?

»Wir sind da.«

Aus den Gedanken gerissen, blickte Jessy nach vorn. Sofort glättete sich ihre Stirn.

Vor ihnen erstreckte sich das goldene Tor der E.n.G.E.l.

Die E.n.G.E.l.

Das Tor bestand aus zwei Harfen von der Höhe eines Wolkenkratzers, deren Säulen standen einander zugewandt. Sanfte Harfenklänge ertönten, während das rechte Tor nach außen aufschwang.

Xenophon schritt voran, gefolgt von Jesajah. Staunend blickte sie in alle Richtungen, nicht wissend, wohin sie zuerst sehen sollte. Um nichts in der Welt wollte sie etwas verpassen.

Die Akademie bestand nicht aus Gebäuden, sondern aus riesigen runden Scheiben in unterschiedlichen Farben. Jede Platte hatte einen Durchmesser von mindestens zwei Kilometern.

Xenophon spürte ein Zupfen an der Toga. Mit dem Finger deutete Jesajah in die Richtung, in der sie jede Menge Personen sah.

»Das sind Guardian-Anwärter. Die meisten sind schon da. Du gehörst jetzt auch dazu. Ihr werdet von Engeln sowie den Erzengeln unterrichtet.«

»Da gibt es Unterschiede? Ich meine, ist ein Schutzengel nicht gleich ein Engel?«

»Das ist nicht ganz korrekt. Die Abweichungen sind allerdings nur sehr fein. Dir wird das alles hier in der nächsten Zeit beigebracht. Hab nur ein wenig Geduld, kleine Jesajah. Komm. Wir kommen sonst zu spät.«

Überwältigt tapste Jessy ihm hinterher.

»Hier entlang«, holte Xenophon sie aus dem Staunen heraus. In letzter Sekunde hatte er bemerkt, dass Jessy weiter geradeaus laufen wollte, während ihr Weg sie eigentlich nach rechts führte. Sie bogen ab und traten durch eine Wolkenwand. Dahinter befand sich ein hellblaues Gebäude mit den Ausmaßen eines Containers.

Sie betraten ein Büro. Schneeweiße Wände verliehen der Umgebung eine gewisse Kühle. Vor der Wand stand ein silberner Schreibtisch, dahinter ein bequemer weißer Ledersessel, dessen Rückenlehne ihnen zugewandt war. Vor dem Tisch gab es zwei einfach gehaltene Stühle. An der Wand zu ihrer Rechten ragten zehn Aktencontainer empor. Bei einem hatte jemand vergessen, die Schublade zu schließen, sodass mehrere Hängemappen zum Vorschein kamen.

»Sei mir gegrüßt, Seraphiel.« Der Chronist verbeugte sich kurz.

Das Leder gab ein typisch knarzendes Geräusch von sich, als der Sessel sich in Bewegung setzte. Nach einer halben Drehung stoppte er.

Jessys Augen wurden immer größer, während gleichzeitig ihr Kiefer herunterklappte. Sie wollte schlucken, vergaß es jedoch bei dem Anblick, der sich ihr bot.

»Hallo, Jesajah. Willkommen auf der E.n.G.E.l.«, begrüßte sie der Erzengel.

Jessy stand nur da. Sie konnte nicht anders, als den Mann vor ihr anzustarren.

Seraphiel wedelte einige Male mit der Hand, ohne eine Änderung an Jessys Zustand zu bewirken.

»Ja, das kenne ich.« Der Erzengel seufzte.

»Viele starren mich an, wenn sie mich das erste Mal sehen. Eigentlich gilt es ja eher für die Kreaturen im Exil. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich dort nie sehen lasse. Doch bei einem Guardian-Anwärter ist mir das noch nie passiert.« Er machte eine Pause, um Jessys Reaktion zu beobachten, die noch immer mit aufgerissenen Augen dastand. Der schönste Engel des Himmels war sich seiner Wirkung bewusst, weshalb er nie die Obere Ebene verließ.

»Es ist wirklich lästig, wenn man sich mit jemandem unterhalten möchte, der einen nur anglotzt. Da wird das Gespräch ziemlich einseitig«, versuchte er es weiterhin im freundlichen Plauderton.

Sein wunderschönes himmlisches Lächeln verursachte eine Wärme in Jessys Brust. Ihre kleine Faust wanderte zu dem Punkt, wo sich einst ihr Herz befand. Sie spürte, etwas hatte sich verändert. Noch war ihr nicht klar, womit sie es zu tun bekommen würde. Immer wieder wollte sie den Blick abwenden, doch die Schönheit des Engels ließ sie nicht los.

Unbeholfen suchte er den Kontakt zum Chronisten.

»Schönheit liegt im Auge …«, er stockte.

»… des Betrachters«, beendete Xenophon den Satz.

Seraphiel schaute auf das kleine Mädchen hinab.

»Wenn du noch ein Herz hättest, so wäre es dir wohl bereits aus der Brust gesprungen«, bemerkte Xenophon mit einem Schmunzeln.

Die Worte waberten durch Jessys Kopf, als würden sie über Wellen gleiten, gefolgt von Meeresrauschen.

›Wenn du noch ein Herz hättest … ein Herz hättest …‹, echote es in ihr. Mit einem Mal war Jessys Kopf wieder klar.

»Ich habe kein Herz?« Hastig fuhr sie mit der flachen Hand über ihre Brust, suchte verzweifelt nach einem Herzschlag, doch Xenophon hatte die Wahrheit gesprochen. Es gab kein Pochen, das sie unter diesen Umständen sicherlich gefühlt hätte. Unsicher huschte ihr Blick zwischen den beiden Männern hin und her.

»Keine Sorge, liebe Jesajah.« Seraphiels sanfte Stimme gab nie Anlass zur Beunruhigung.

»Dafür hast du etwas viel Besseres«, fuhr er unvermittelt fort.

»Alle Guardians bekommen von uns einen Empathieknoten. Dieser wird später unmittelbar mit deinem Schützling verbandelt sein, sodass du immer weißt, ob es ihm gut oder schlecht geht. So können wir sicherstellen, dass du als Schutzengel die besten Voraussetzungen hast, um dich um das Menschenkind zu kümmern.«

Jessy schüttelte heftig den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Mehrmals pustete sie die widerspenstige Locke aus ihrer Stirn. Es brauchte etwas Zeit, bis sie endlich die Sprache wiederfand.

»Hast du eine Freundin?«, fragte sie schüchtern. Just in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie töricht diese Frage rüberkam. Ihre Wangen erröteten.

Nun war es Seraphiel, der nach Worten rang.

»Äh. Nein. Ich …« Er winkte einmal, um sich wieder auf das Wesentliche zu besinnen.

»Warum hast du keine Freundin?«, setzte Jessy ihre Inquisition fort.

Das brachte Seraphiel aus dem Konzept. Mit einem hilfesuchenden Blick wandte er sich an Xenophon.

»Dina hat den Stundenplan für Jesajah erstellt. Ich habe alles hier niedergeschrieben.« Der Schriftsteller zog die Papyrusrolle unter der Achselhöhle hervor und reichte sie über den Schreibtisch an Seraphiel weiter, der sie unmittelbar begutachtete. Erleichtert, endlich den unangenehmen Fragen ausweichen zu können, studierte er sorgfältig die Eintragungen. Immer wieder nickte er dabei, als hätte er keine Bedenken, was den Inhalt betraf.

»Sehr schön«, sagte er endlich.

Für Jessy hätte dieser Moment noch sehr viel länger andauern können.

»Ja, das kann man wohl sagen«, schwärmte sie von seinem Anblick. Sie war mehr als nur angetan. Dieser Engel übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Gutmütige Augen, feine Gesichtszüge, dazu die warme Stimme, die, ohne dass er jemanden direkt berührte, jeden erschaudern ließ. Jessy war sich nicht sicher, doch sie glaubte, dass ein sanftes blaues Licht ihn umgab. Ein Blau wie der Himmel an einem schönen, wolkenfreien Sommertag.

»Hier.« Der Erzengel reichte die Papyrusrolle an Jessy weiter.

»Dein Stundenplan. Bitte verspäte dich nicht. Der Zeitplan ist sehr eng. Und Zeit ist ...« Er verstummte.

»… Geld«, vollendete der Chronist das Sprichwort.

»Genau. Ein seltsames Sprichwort. Findest du nicht auch Xenophon?« Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr unvermittelt fort.

»Schon bald wird dein Schützling geboren werden. Bis dahin musst du alles gelernt haben, was für eine zukünftige Guardian wichtig ist.«

Jessy musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Rolle heranzureichen.

»Xenophon wird dich auf dem Campus herumführen. Er kann dir alles erklären und jede Frage beantworten. Ich wünsche dir viel Erfolg, Jesajah. Sei mir willkommen auf der E.n.G.E.l. Gib stets dein Bestes, sei fleißig wie ...« Mitten im Satz stoppte er.

»… eine Biene«, brachte Xenophon das Sprichwort zu Ende.

»Ja. Richtig.« Der Erzengel sank in den Sessel zurück, dann drehte er sich so weit herum, dass nur noch die Rückenlehne zu sehen war. Ein eindeutiges Zeichen, dass er dem nichts mehr hinzuzufügen hatte.

»Komm, Jesajah. Ich werde dir jetzt alles zeigen.«

Jessy reichte ihm die Papyrusrolle.

»Liest du mir vor, was draufsteht? Ich kann nicht lesen.«

 

Sie kamen an einer grünen Platte vorbei, die einem Park glich. Unter einer Buche setzten sie sich auf eine Bank. Der Chronist öffnete die Rolle, um ihr den Inhalt vorzulesen.

Jessys Füße erreichten den Boden nicht. Während sie Xenophon zuhörte, beobachtete sie, wie ihre Beine vor und zurück schaukelten.

»Also, sehr viele Fächer hat sie dir nicht gegeben.« Er konnte sich noch immer nicht erklären, weshalb Jessy nur so wenige Kurse belegen sollte, hatte es jedoch nicht hinterfragt, als Dina – der Schutzengel des Gesetzes und der Weisheit – ihm den Stundenplan diktiert hatte.

Jessy hatte keine Ahnung, wie viele Fächer es überhaupt gab. Auch konnte sie sich nicht vorstellen, was von ihr erwartet wurde. Ihr fehlte jegliche Erinnerung an ihr Leben – auch, ob sie jemals eine Schule besucht hatte.

Eines war sicher: Jessy hätte sich ein Loch in den Strumpf gefreut, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, eine Bildungseinrichtung zu besuchen. Auf der Erde war es nur wenigen Kindern vorbehalten, eine Schulausbildung zu erhalten. Verarmte Menschen, und ganz besonders das Gesinde, bekamen keine Chance, jemals lesen oder schreiben zu lernen.

»Als Erstes stehen hier Fliegen und die Beherrschung der Flügel auf dem Programm.«

Sie kräuselte die Nase.

»Flügel und Fliegen?« Bisher waren ihr die kleinen Schwingen auf ihrem Rücken nicht aufgefallen.

Als Xenophon sanft darüber strich gluckste Jessy.

»Nicht!« Sie kicherte laut, da es sie kitzelte.

Augenblicklich versuchte sie, von Xenophon wegzurutschen, doch mit einer raschen Bewegung griff er nach ihrem Arm, um sie wieder zu sich zu ziehen. Jessys Heiterkeit hatte eine ansteckende Wirkung auf ihn.

»Ich hör ja schon auf. Hast du denn gar nicht bemerkt, dass du Flügel hast?«

Jessy sprang von der Bank hinunter. Sie drehte den Kopf über ihre Schulter, um die Schwingen zu begutachten. Doch die Flügel waren so klein, dass sie von den weißen Federn nur die zartrosa endende Flügelspitze sehen konnte. Immer wieder versuchte sie, die Federn zu fassen, die sich von ihr wegbewegten, sodass ihre Finger ins Leere griffen. Zudem war ihr Arm zu kurz. Egal, wie sehr sie sich bemühte, sie schaffte es noch nicht einmal, die Spitze zu berühren.

Xenophon sah belustigt zu, wie Jessy sich schnell um ihre Achse drehte. Immer wieder machte sie einen kleinen Hüpfer, dabei warf sie die Hände auf den Rücken, nur um wenigstens einmal eine ihrer Schwingen anfassen zu können. Die Flügel begannen heftiger zu flattern. Die Bewegungen wurden so schnell, dass ein leichtes Summen zu hören war. Plötzlich baumelten die Beine unter ihr.

»Oooooh!«, rief sie voller Panik, als sie den Blick nach unten richtete. Der Abstand zum Boden wurde immer größer. Die Butterblume zu ihren nackten Füßen war fast nicht mehr zu erkennen, als sie bereits über einen Meter in der Luft schwebte.

»Hilfe! Was passiert hier?« Ohne Vorwarnung begann ihr Körper, sich mehrmals unkontrolliert in der Luft zu drehen. Es sah aus, als würde Jessy Purzelbäume schlagen, während gleichzeitig ihre Arme und Beine wild durcheinanderwirbelten.

Xenophon lachte aus vollem Halse.

»Hiiiiiilfeeee! Mir wird schläääächt!«

Sofort war der Chronist zur Stelle. Beherzt packte er den Saum ihres Kleides, sodass er sie langsam herunterziehen konnte. Wenig später hatte er es geschafft. Jesajah spürte endlich wieder festen Boden unter den Füßen.

Schwankend suchte sie nach etwas zum Festhalten. Jessy war schwindelig, zudem wurde ihr übel. Mehrmals griffen ihre kleinen Hände ins Nichts, als würden sie versuchen, eine Geistererscheinung zu fangen. Endlich hatte sie die Bank erreicht. Sofort krallten sich ihre zitternden Finger in die Sitzfläche.

»Das nächste Mal warte besser, bis dein Fluglehrer dir eine Einweisung gegeben hat. Sonst wirst du noch zur Kamikazefliegerin.« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Kami ... was?« Weil sie glaubte, sich übergeben zu müssen, streckte sie die Arme durch. Die Stirn auf dem Oberarm abgelegt schaute sie nach unten, in der Hoffnung, das miese Gefühl bald überwunden zu haben.

»Kamikazeflieger. Das habe ich mir gerade ausgedacht. Gefällt dir das Wort?«

Jessy schüttelte ungläubig den Kopf.

»Glaubst du etwa, das habe ich mit Absicht gemacht?«, lallte sie.

Das Grinsen erlosch.

»Natürlich nicht, Jesajah. Aber ein wenig Spaß wird doch noch erlaubt sein. Vielleicht findet das Wort in einem späteren Zeitalter mal Verwendung. Ich werde es lieber mal notieren, damit es nicht verloren geht.«

Endlich war die Übelkeit verschwunden. Sie schürzte die Lippen.

»Was noch?«

»Ansonsten werde ich versuchen, unvoreingenommen über dich zu berichten und ...« Weiter kam er nicht, da Jessy ihn unterbrach.

»Darauf wollte ich nicht hinaus. Ich meinte, welche Unterrichtsstunden?«

»Ah. Einen Moment.« Xenophons Augen huschten über die geöffnete Papyrusrolle. Endlich hatte er die Zeile gefunden.

»Dämonenkunde«, entgegnete er in einem Tonfall, als wäre es das Normalste im Universum.

Jessys Augenbrauen schnellten nach oben.

»Dämonenkunde? Es gibt wirklich Dämonen?« Vor Schreck griff ihre Hand an den Platz, an dem eigentlich ihr Herz sein sollte. Sie registrierte nicht, dass sie keinen Herzschlag mehr hatte, stattdessen aber eine angenehme Wärme zu spüren war. Zu sehr wurde sie von dem Gehörten überrannt.

»Das ist korrekt. Hier auf der Oberen Ebene ist einem Dämon der Zutritt verwehrt. Das gilt auch für Chimären und alle Höllenkreaturen. Doch auf der Erde sieht es anders aus.

Menschen kämpfen oftmals gegen ihre Dämonen.«

Jessy stieß kräftig die Luft aus ihrem Mund, sodass ihre Lippen lautstark flapperten. Eine innere Unruhe erfasste sie. Obwohl sie noch nie Kontakt zu einem dieser bösen Kreaturen gehabt hatte – soweit ihr bekannt war –, hatte sie jetzt schon keine Lust auf dieses Fach. Es kam ihr unheimlich vor.

»Steht da noch mehr?«

Xenophon nickte.

»Himmelshierarchie sowie Gefahrenabwehrkunde.«

Jesajah plusterte die Backen auf.

»Gefahrenabwehrkunde«, sprach sie den Gedanken leise aus.

»Oh, Mann! Das wird ja immer schlimmer.«

Eine gute Wahl?

»Du lebst bereits so lange unter uns Erzengeln, und noch immer traust du dich nicht, mich anzusehen.« Seraphiel schien enttäuscht, versuchte aber, es zu verbergen.

»Ich kann deinen Anblick kaum ertragen, Seraphiel. Deine außerordentliche Schönheit würde mir das Denken erschweren. Soweit ich weiß, wurde ich mit dem ewigen Leben auf der Oberen Ebene belohnt, damit ich über die ganz besonderen himmlischen Geschöpfe schreibe. Das ist eine Aufgabe, die ich sehr gern mache, daher möchte ich mich nur ungern davon ablenken lassen.«

»Du warst schon immer ein guter Gelehrter, Xenophon. Aus diesem Grund wollte ich, dass du diese Position bekleidest. Nicht vielen Menschen wird dieser Zustand gewährt.« Er überlegte, da ihm an diesem Satz etwas nicht richtig erschien.

»Wenn ich es mir genau überlege, bist du der einzige Mensch, dem dieses Zwischenleben ermöglicht wurde.«

»Und dafür bin ich mehr als dankbar, Seraphiel.« Xenophon neigte den Kopf zur Bekundung seines Respekts.

»Zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man tut ...« Der Erzengel unterbrach sich selbst.

»… das ist Wissen«, beendete Xenophon das Sprichwort.

»Genug geschwafelt. Kommen wir zu meinem eigentlichen Anliegen: Jesajah. Bist du noch immer der Ansicht, dass wir die richtige Wahl getroffen haben, sie zu einer Guardian auszubilden? Sie erscheint mir etwas unorthodox.«

Ohne den Blick zu heben, beantwortete Xenophon die Frage.

»Nun, Jesajah ist in der Tat eher unangepasst. Doch die Aufgabe, für die sie vorgesehen ist … Dazu braucht es diese Individualität.«

Seraphiel nickte, doch Xenophon bemerkte es nicht.

»Wie macht sie sich im Unterricht? Ist sie eine gute

Anwärterin für die Guardians? Du weißt, dort werden nur die besten Absolventen verzeichnet.«

»Nun, Seraphiel«, der Chronist kam ins Stocken, »Jesajah hat so ihre Eigenarten.«

»Das bedeutet?«

Es war nicht gut, dem Erzengel etwas vorzumachen, zumal Seraphiel die Fähigkeit besaß, Gedanken zu lesen.

»In den theoretischen Fächern ist sie immer ganz vorn, zeigt starkes Interesse. Sie lernt fleißig, doch in den praktischen Unterrichtsstunden …« Kurz überlegte er.

Unvermittelt schnippte er mit dem Finger, sodass Seraphiel überrascht die Augenbrauen hob.

»Nehmen wir zum Beispiel Dämonenkunde. Darin ist sie immer bemüht. Die Zuweisung der niederen bösartigen Kreaturen kennt sie aus dem FF. Auch die Abwehrsprüche gegen höhere Dämonen lernt sie eifrig auswendig. Im Unterricht hat sie die Sprüche jedes Mal parat. Nur wenn es darum geht, die Zaubersprüche in der Praxis anzuwenden, wird sie unsicher. Letztens hat sie gegen eine Chimäre kämpfen sollen. Ein Teil der Beschwörungsformel war ihr entfallen. Jesajahs Spruch machte die Chimäre zwar kleiner, dafür aber auch stärker. Ihr Gegner ging zum Gegenangriff über. Trotzdem sie nicht größer als ein Feldhamster war, schaffte die Dämonin es, Jesajah mit einem gezielten Schlag gegen die Wand zu schleudern und setzte sie damit außer Gefecht. Die Guardian-Änwärterin trug einige Blessuren davon.«

»Diese kleinen Hitzköpfe. Immer wollen sie zuerst mit dem Kopf durch ...« Er legte die Fingerspitzen aneinander, als suchte er darin die Vollendung des Satzes.

»… die Wand«, entgegnete der Chronist.

Seraphiel schien amüsiert. Dennoch konnte er den Ernst der Lage nicht verleugnen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Hölle sich auf einen Gegenschlag vorbereitete.

»Immer wieder geschieht es, dass diese Kreatur der Unterwelt sich unschuldiger Seelen bemächtigt, um eine Armee aufzustellen. Ich möchte ungern noch mehr meiner Guardians an irgendeinen Dämon verlieren. Der letzte Krieg hat genug Opfer hervorgebracht. Der Tag der Vergeltung wird kommen. Das ist so sicher wie das Amen ...«

»… in der Kirche«, beendete Xenophon den Satz wie gewohnt.

»Unsere Armee muss bereit sein. Dafür benötigen wir jeden Erzengel und die Schutzengel.« Sein Finger schnellte nach oben, um seine Warnung theatralisch zu unterstreichen.

»Je mehr wir haben, desto besser werden wir aufgestellt sein.« Langsam senkte sich der Arm des Erzengels, als ihm klar war, dass sich – außer den beiden - sonst niemand im Raum befand.

»Nun ja. Und was noch?«

Xenophon druckste herum.

»In Gefahrenabwehrkunde hat Jesajah gerade mal sechzig Punkte erreicht.« Die Zahl sprach er nur sehr leise aus, doch Seraphiel konnte sie laut und deutlich vernehmen.

»Sechzig? Habe ich richtig gehört? Jesajah hat gerade einmal sechzig Punkte erkämpft? Wie viele Tests hat sie noch zu absolvieren, damit sie die Eintausend erreicht?«

»Sie hat noch sieben Aufgaben zu bewältigen. Danach folgt die Abschlussprüfung.«

Seraphiel plumpste auf den Sessel, allerdings gab der Stuhl unter seinem Gewicht keinen Millimeter nach. Nur das typische Ledergeräusch war zu hören.

»Der Weg ist ...« Ein hellblaues Licht begann den Erzengel einzuhüllen.

»… das Ziel«, beendete Xenophon.

»Wie will sie das alles denn überhaupt bewältigen?«

»Den physischen Herausforderungen ist Jesajah zwar nicht gewachsen, dennoch gibt sie nie auf. Seraphiel, ich glaube an Jesajah. Du solltest dasselbe tun.«

»Was macht deinen Glauben so stark?«

»Du hast doch selbst gesagt, bevor Jesajah starb, war sie ein aufgewecktes Mädchen von acht Jahren. Sie wollte die Welt verändern, ohne jemandem dabei wehzutun. Sie wuchs in einer schweren Zeit auf, verlor dabei ihren Vater. Jesajah hat immer hart gearbeitet, damit sie, ihre Mutter und ihr kleiner Bruder einigermaßen zurechtkamen. Sie war ein gutes Mädchen, trotz harten Umfelds. Nie hat sie die Fröhlichkeit verlassen. Sie ist mehrmals gestolpert, doch sie kam jedes Mal wieder auf die Beine. Nie hat sie die Hoffnung verloren. Wir sollten das nicht vergessen. Gib ihr eine Chance. Wenn jemand diese Gelegenheit verdient hat, dann Jesajah.«

»Dein Wort in ...« Seraphiel schien keineswegs überzeugt, obwohl er von Xenophons Ausführung und Lobpreisung über Jesajah mehr als nur angetan wirkte.

»… Gottes Gehörgang.«

Der Erzengel hatte eine Schwäche für Sprichwörter, nur konnte er sich nie an den letzten Teil erinnern. Dabei half ihm immer Xenophon oder eines der anderen himmlischen Geschöpfe, denen diese Schwäche bekannt war. Er versuchte, einen weiteren Ansatz zu finden, doch noch etwas Positives über den weiblichen Schutzengel in Erfahrung zu bringen.

»Und wie steht es mit ihren Flugkünsten?«

»Also, mit dem Fliegen hat sie es nicht so …«, entgegnete Xenophon geknickt.