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Barbara Geiser

Wenn du
gefragt hättest,
Lotta

Roman

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Autorin und Verlag danken
für die finanzielle Unterstützung.

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© edition bücherlese, Luzern

www.buecherlese.ch

Lektorat: Regula Walser

Korrektorat: Karin Büchler

Autorinnenfoto: Sabina Bobst

Umschlagbild: parthapal / photocase.de

eISBN 978-3-906907-17-8

1. Auflage 2018

Für L.

Es gibt kein Schweizer Bergdorf namens Gletschen.

Und doch ist es nicht gänzlich erfunden. Denn da sind zu viele Ähnlichkeiten mit verbrieften Gegebenheiten aus der Geschichte von Grindelwald im Berner Oberland (Schweiz). Zu den im Buch verwendeten Dialektausdrücken in »Grindelwald-Dytsch« gibt es ein Glossar.

Die handelnden Figuren hingegen sind alle frei erfunden.

Kapitel 1

24. September 1912

Kapitel 2

26. Juni 1912

Kapitel 3

23. April 1913

Kapitel 4

24. Juni 1912

Kapitel 5

9. Juni 1913

Kapitel 6

19. Mai 1914

Kapitel 7

Kapitel 8

19. Mai 1914

Kapitel 9

Kapitel 10

6. Juli 1912

Kapitel 11

Kapitel 12

3. Oktober 1914

Kapitel 13

12. April 1915

Kapitel 14

13. April 1915

Kapitel 15

Kapitel 16

13. April 1915

Kapitel 17

3. August 1919

Kapitel 18

10. Dezember 1921

Kapitel 19

26. November 1925

Kapitel 20

14. Juli 1912

Kapitel 21

Kapitel 22

Palmsonntag, 1. April 1928

Kapitel 23

Kapitel 24

Ostermontag, 9. April 1928

Kapitel 25

1. August 1912

Kapitel 26

Kapitel 27

Osterdienstag, 10. April 1928

Kapitel 28

Kapitel 29

14. April 1973

Glossar und Quellen der Dialektausdrücke

Quellen

Dank

1

Bremsen quietschten, ein Ruck, dann Stille. Der Zug war auf offener Strecke stehen geblieben. Lotta starrte durch den Nebel in die verschneite Landschaft. An den steilen Hängen klebten Häuser und zeichneten dunkle Flecken ins Weiß, Bäume standen wie Scherenschnitte. Kein Mensch war zu sehen. Der Zug war fast leer. Immer nervöser ließ sie einen der Verschlüsse an ihrem hellblauen Cellokoffer auf- und zuschnappen. Fahr schon, fahr weiter! Hätte sie doch den früheren Zug genommen, sich nicht auf die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Bahn verlassen. Ein unangenehmer Ton hatte sich in ihrem Gehör eingenistet, ein Nachhall der Zugbremsen. Sie durfte nicht zu spät kommen. Das Cello musste sich akklimatisieren können, sie musste sich noch mit dem Organisten absprechen, sich einspielen. Fahr endlich weiter! Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.

Ruhig Lotta das hilft nichts das hilft nichts bleib ruhig so kannst du nicht spielen kannst du nicht spielen ruhig …

Ein verschwitzter Zugbegleiter stolperte durch den Wagen und keuchte etwas von einer eingefrorenen Weiche. Bevor Lotta ihn ansprechen konnte, hatte er die Abteiltür hinter sich zugezogen. Sie biss die Zähne zusammen, bis ihr Kiefer schmerzte. Sie durfte unter keinen Umständen zu spät kommen. Mit zitternden Fingern holte sie die Tüte mit den gedörrten Apfelstücken aus ihrer Tasche und schob sich mechanisch eines nach dem anderen in den Mund. Rundum nichts als Weiß. Keine Straße in der Nähe, kein Taxi, keine Möglichkeit, schneller nach Gletschen zu kommen. Ob sie auf sie warten würden? Sie wühlte nochmals in ihrer Tasche, suchte nach ihrem Mobiltelefon, obwohl sie wusste, dass sie es wieder zu Hause hatte liegen lassen. Starrte in den Nebel, der inzwischen die höher liegenden Häuser verschluckt hatte. Wenn ihr das bei einem Konzert mit dem Orchester passieren würde.

Weshalb überhaupt Gletschen? Warum wollte Luise in diesem schrecklichen Bergdorf beerdigt werden? Sie hatte nie von Gletschen gesprochen. Nicht einmal, als Lotta vor vielen Jahren heulend von einem Klassenausflug dorthin heimgekommen war.

Wieder ging ein Ruck durch den Zug, langsam setzte er sich in Bewegung. Sie zog den Ortsplan aus ihrer Tasche und prägte sich den Weg ein. Der Zug erreichte Gletschen mit einer halben Stunde Verspätung. Lotta hastete durch das Dorf hoch zur Kirche. Sie zwang sich, an der Aufbahrungshalle vorbeizugehen, in der Luise liegen musste und wo sie sich von ihr hatte verabschieden wollen. In der Kirche schüttelte sie dem Organisten die Hand, entschuldigte sich. Packte ihr Instrument aus, stimmte und versuchte, ruhig zu atmen. Sie spielten einige Takte an, und Lotta stellte erleichtert fest, dass der Organist bestens vorbereitet war. Dann betraten bereits die ersten Trauergäste die Kirche. Von der Empore aus sah sie zwei, drei Dutzend meist weiße Hinterköpfe, erkannte niemanden, nicht einmal ihre Tanten. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie die beiden zuletzt gesehen hatte. Die Orgel setzte ein, die Trauerfeier für ihre Großmutter begann. Lottas Herz schlug immer noch schnell, und sie schwitzte trotz der Kälte in der Kirche. Sie versuchte, sich ganz auf die Musik zu konzentrieren, ruhig zu werden. Es gelang ihr kaum, zuzuhören, was gesprochen wurde. Ihr Blick wanderte vom Zettel mit dem Ablauf der Trauerfeier zu den Noten. Heute spielte sie für Luise, nur für sie. Für ihre Luusi erfüllte sie die Kirche mit dem warmen Klang ihres Cellos.

Es war an Luises Geburtstag vor sieben oder acht Jahren gewesen, als sie beide nebeneinander in der Tür zum Garten standen und beobachteten, wie ein Frühlingsgewitter aufzog, als Luise unvermittelt sagte, Lotta werde an ihrer Beerdigung Cello spielen. Keine Bitte, keine Frage, eine Feststellung. Lotta hatte nur genickt und den Gedanken an Luises Tod sofort wieder zur Seite geschoben.

Jetzt spielte sie Bachs Arioso und Mozarts »Ave verum corpus« in einer Bearbeitung für Cello und Orgel; bekannte Stücke, von denen sie wusste, dass Luise sie geliebt hatte. Beim Schlussspiel der Orgel löste sich ihre Anspannung, und ihr kamen die Tränen. Sie packte ihre Sachen zusammen, bedankte sich beim Organisten, wich seinem Blick aus und verließ die Kirche durch den Seitenausgang.

Das Toilettenhäuschen lag hinter der Kirche und war ungeheizt. Lotta lehnte den Cellokasten an die Wand und wusch Gesicht und Hände unter dem eiskalten Wasser. Es war vorbei, Luise in einer Holzkiste in die kalte Erde hinuntergelassen worden, während sie in der Kirche für sie gespielt hatte. In einer halben Stunde luden die Tanten im Hotel Gletscherblick zum Leichenmahl. Sie drehte den Wasserhahn zu.

Noch einmal dein Gesicht anschauen ein letztes Mal noch schauen und hören hinhören das wollte ich doch Luusi wie soll ich denn jetzt glauben dass du fort bist weg bist wirklich nicht mehr da …

Lotta klaubte ein Papier aus dem Handtuchspender. Hinter ihr rauschte die Klospülung.

Deine Großmutter ist die Treppe hinuntergefallen … Krankenhaus … Herzstillstand. Fremd und kühl hatte die Stimme ihrer Tante durchs Telefon geklungen. Wörter ohne Sinn. Das war vor acht Tagen gewesen. Lotta hatte gleich losmüssen zum Orchesterdienst. Wie in Trance hatte sie das Konzert gespielt: eine Haydn-Sinfonie, Hummels Trompetenkonzert, die »Fantaisies symphoniques« von Martinů. Luise ist tot, ist tot, ist tot – kein Bogenstrich ohne die Worte im Kopf. Sie hatte damit rechnen müssen, immerhin war Luise fast neunzig gewesen. Doch drei Tage vor ihrem Tod, als Lotta sie zum letzten Mal besucht hatte, war sie lebendig wie immer gewesen. Ging und stand aufrecht, wirkte beweglich und wach. Und nun war sie nicht mehr da, in Gletschen beerdigt, nicht in der Stadt, nicht neben ihrem Mann. Was hatte Luise mit Gletschen zu tun?

Lotta rieb mit dem rauen Papier ihre kalten Hände trocken. Sie zwang sich, noch einmal innerlich das Schlussspiel nachzuhören, die Musik ihre Gedanken übertönen zu lassen.

»Sind Sie mit Luise verwandt?«

Die Stimme einer alten Frau, die nach ihr die Hände unter den Wasserstrahl hielt, mischte sich in die Choral-Harmonie. »Sie sehen ihr ähnlich.«

Sie sprach langsam, ihre Stimme war brüchig. Im Ablauf gurgelte das Wasser. Lotta sah sich und die Frau im Spiegel, noch immer hörte sie den vollen Klang der Orgel. In der feuchten Luft hatte sich ihr langes Haar leicht zu wellen begonnen. Frisch gebürstet leuchtete es jeweils, aber nun wirkte es stumpf. Sie versuchte, es mit den Händen glatt zu streichen und drehte es im Nacken zusammen. Unter ihren Augen lag ein Schatten von verschmierter Mascara. Sie wischte ihn weg, schulterte ihr Cello und zwängte sich an der Frau vorbei zur Tür. Noch immer lief der Wasserhahn. Die Frau redete weiter.

»Ich habe mich so oft gefragt, was aus ihr geworden ist. Sie war meine beste Freundin, wissen Sie, früher …«

»Wie bitte? Was? Entschuldigen Sie, ja, Luise ist … war meine Großmutter.«

Lotta nickte der Frau zu – weißes, hochgestecktes Haar, ein dunkler Mantel – und schob sich aus der Tür. Sie mochte jetzt mit niemandem reden. Der Cellokasten schlug dumpf an den Türrahmen. Lotta zuckte zusammen.

»Und dann ist sie einfach verschwunden.«

Die Tür fiel hinter Lotta ins Schloss. Von der Sonne geblendet, blinzelte sie und schaute zu Boden. Verschwunden. Spuren im Schnee verloren sich zwischen den Gräbern. Es war still auf dem Friedhof, als würden sich die Toten die Geräusche des Alltags verbitten. Auch die Orgel in Lottas Kopf war verstummt.

Verschwunden einfach verschwunden wann wohin verschwunden beste Freundin früher warst du hier zu Hause warum weiß ich nichts nichts weiß ich …

Der Schnee knirschte unter ihren schnellen Schritten, als sie zum Friedhofstor ging. Links und rechts Grabsteine mit weißen Mützen. Die Kälte fraß sich durch die dünnen Sohlen ihrer Schuhe. Nichts wie weg. Verschwinden aus diesem Dorf, die dumpfe Trauer und die tote Luise im Schnee zurücklassen. Sie schlug die Kapuze ihrer Jacke hoch und zog das Tor hinter sich zu.

Das Schlagen der Kirchenglocke stoppte sie. Das Leichenmahl mit den Tanten! Sie kannte Annemarie und Gret kaum. Reden müssen, freundlich sein, interessiert zuhören? Nein, das konnte sie jetzt nicht.

Auf der Dorfstraße zum Bahnhof stauten sich Autos und Busse hinter einem Pferdeschlitten. Schellen klangen hell über dem Lärm der Motoren. Junge Snowboarderinnen mit langen, blonden Haaren und dicken Jacken suchten sich mit ihren Brettern einen Weg durch das Gewühl. Lotta sehnte sich nach Luises klarer, fester Stimme. Doch es waren die Worte der alten Frau, die sich in ihrem Kopf ausbreiteten.

Verschwunden verschwunden nein bitte nicht verschwunden bitte nicht auch du …

Lotta wollte nur noch nach Hause. Hier war alles zu laut, zu bunt, viel zu nahe. Die Stille war bei den Toten geblieben.

Sie erreichte den Bahnhof und setzte sich in ein leeres Abteil im vordersten Wagen. Den Cellokasten stellte sie so hin, dass sich niemand dazusetzen konnte. Kaum hatte sich der Zug talwärts in Bewegung gesetzt, verschluckte der Nebel die Sonne, bald wurde der Schnee spärlicher, und sie tauchten ab ins Alltagsgrau. Lotta zwang sich, aus dem Fenster zu sehen, die Landschaft zu betrachten, nicht zu denken, innerlich eine Sinfonie von Mozart zu hören. Sie sehnte sich nach der Ordnung und dem Wohlklang seiner Musik. Mozart und Apfelstücke, die Tröster ihrer Kindheit. In ihrer Tasche suchte Lotta nach der Tüte mit den gedörrten Äpfeln. Diese säuerliche Süße … Ach, Luusi!

Verschwunden nicht erinnern nicht noch einmal verschwunden zu oft gehört zu oft gehofft doch du warst für mich da warst da für mich als Papa als Papa …

Das Bild ihrer Mutter tauchte auf, kreidebleich am Telefon. Aber daran wollte Lotta jetzt nicht denken. Sie suchte in ihren Erinnerungen nach Geschichten, Bemerkungen, Hinweisen zu Luises Herkunft, aber da war nichts. Kein Bild, kein Satz. Nein, Luise hatte nie von früher erzählt. Lotta wusste nur, dass sie nach dem Tod ihres Mannes in seiner Druckerei gearbeitet hatte.

Sie starrte durch die schmutzige Scheibe ins dumpfe Grünbraun der vorbeiziehenden Landschaft. Die Räder des Wagens schlugen den Takt der Schienenfugen. Lotta schloss die Augen.

Doch da war kein Mozart. Der Anfang von Brahms’ erster Sinfonie überlagerte den Rhythmus des Zuges. Paukenschläge, darüber Streicher, schwer und klagend. Lottas Atem verlangsamte sich.

Aus Gletschen verschwunden einfach verschwunden wird vermisst wir wissen nichts …

Die Satzfetzen bedrängten die Töne. Aber Lotta wollte Musik, nicht die Trauer. Noch einmal hörte sie innerlich die ersten Takte, konzentrierte sich auf die Pauken, die Streicher, atmete den Rhythmus. Sie spürte das Cello an den Innenseiten ihrer Knie, in Gedanken griff sie mit den Fingern ihrer linken Hand die Saiten, da war der Druck auf ihre Fingerbeeren, ihr Körper wiegte sich im Auf und Ab der Bogenstriche. Verschwunden, verschwunden, aus Gletschen verschwunden; die Wörter fügten sich in den Sechsachteltakt.

»Brahms, erste Sinfonie, erster Satz?«

Lotta schlug irritiert die Augen auf. Im Abteil nebenan saß ein Mann mit wildem, weißem Bart. Er trug eine bunte Skijacke und schaute sie an. Konnte er Gedanken lesen? »Sie haben gesummt. Wenn auch in der falschen Tonart, g-Moll. Brahms’ Erste steht in c-Moll. Sind Sie Musikerin?«

In seiner tiefen Stimme klang freundliche Neugierde mit. Warum mussten sie ausgerechnet heute wildfremde Leute ansprechen? Nach der alten Frau nun noch dieser Bergler.

»Cellistin. Ohne absolutes Gehör.«

Sie schluckte den weich gewordenen Dörrapfel hinunter und schaute aus dem Fenster.

»Ich spiele Kontrabass, Volksmusik in Gletschen und Jazz in der Stadt. Ein Chamäleon.«

Seine Stimme dröhnte. »Klassische Musik höre ich sehr gern, aber ich kann keine Noten lesen. Spielen Sie in einem Orchester?«

»Sinfonieorchester.«

Sie starrte auf einen Kratzer an der Rückseite ihres Cellokastens. Er nickte anerkennend.

»Gratuliere! Das ist etwas anderes, als in einer Hotelbar vor gelangweilten Touristen stundenlang Ländler zu spielen, damit die glauben, die Schweizer seien alle fröhlich und simpel!«

Er lachte schallend und redete weiter. Lotta musste ihm wohl oder übel zuhören. Er erzählte von Touristen, die wissen wollten, ob sein Bart echt sei, von bekifften Fans im Jazzclub und von einer Schlittenfahrt mit dem Kontrabass. Lotta nickte ab und zu. Der Klang seiner Stimme gefiel ihr, auch wenn seine Geschichten keinen Platz hatten in ihrem Kopf.

Als der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr, stand er auf und verabschiedete sich. Lotta schaute ihn an. In seinen Augen blitzte der Schalk.

»Kommen Sie mal bei uns im ›Nemo‹ vorbei, wenn Sie Jazz mögen. Und nehmen Sie das Leben nicht so ernst! Lachen Sie! Machen Sie viel Musik!«

Er winkte ihr zu. Lotta hob die Hand und merkte, dass sie lächelte. Doch kaum war er ausgestiegen, begann die Bemerkung der alten Frau erneut in ihrem Kopf zu kreisen. Sie klaubte ein weiteres Apfelstück aus der Tüte. Gut, dass sie bald zu Hause war. Alfredo würde sie schnurrend begrüßen und sich dann auf dem Bett zusammenrollen. Sie freute sich darauf, das Cello auszupacken, es warm werden zu lassen und sich eine Vivaldisonate auszusuchen. Dann würde sie zu spielen beginnen, der Bogen würde Saiten und Holz in Schwingung bringen, und alles wäre wie immer, nichts als Klang.

24. September 1912

Ein Summen erfüllt die Abendluft. Wespen schwärmen über den Äpfeln, die im Gras unter den Bäumen leuchten. Gelbe Äpfel mit roten Backen und braunen Flecken. In den Geruch nach feuchter Erde mischt sich etwas säuerlich Stechendes. Ida hat die Zipfel ihrer Schürze zusammengenommen, um die gärenden Früchte zu sammeln. Kaum hat sie sich zwei-, dreimal gebückt, wird ihr schlecht. Sie muss sich setzen, numen en Oigemblick. Elsi spielt am Brunnen, und das kleine Roosi sitzt auf einer Decke vor ihr im Gras und chätsched an einem alten Lumpen. Äs wollt no nyd lloifen, das Meidschi. Fast anderthalb ist es und steht erst wackelig. Die blonden Haare glänzen in der Abendsonne.

Vor zwei Wochen hat sie Anton gesagt, dass sie wieder schwanger ist.

»Wes numen umhi em Biebel ischt.«

Er hat sie kaum angesehen.

Noch einen Buben will er? Noch einmal einen Franz? Sie haben alles getan, nachdem er uber ds Stägelli vorem Huus ahighyd ischt, kopfüber die ganze Treppe hinunter – alles, was in ihrer Macht stand. Wickel mit Enzianwurz und Zwiebeln, Aufgüsse aus Eisenkraut und Tabakblumen. Ihr erstes Kind! Es hat sie nur angeschaut mit seinen großen Augen und war stumm. Anton hat ihm das Köpfchen mit Hasenhirn eingerieben, und dabei sind ihm die Tränen über das Gesicht gelaufen. Einen gedörrten Gemsmagen hat er im Hosensack herumgetragen, so lang, bis der Franz eines Morgens nicht mehr aufgewacht ist. Äs hed alls nyd abtreid. Anton hat seinem Sohn nicht helfen können.

Die letzten Sonnenstrahlen wärmen das dunkle Holz der Hauswand, an der Ida lehnt. Elsa kam zur Welt, kaum lag der Franz unter der Erde. Anderthalb Jahre später Rosa, noch ein Mädchen. Und jetzt wächst wieder ein Kind in ihr. Wes numen em Biebel ischt …

2

Lotta starrte die Wand an. Die rechte Hand mit dem Bogen war auf ihr Knie gesunken, die Finger der linken lagen schwer auf den Saiten. Das Cello war stumm. Sie konnte nicht spielen, die Noten verschwammen vor ihren Augen. Seit Luises Beerdigung war etwas mehr als eine Woche vergangen. Lotta hatte am Konservatorium unterrichtet, mit dem Orchester geprobt, Konzerte gespielt – Mahlers Bearbeitung von Schuberts »Der Tod und das Mädchen« und die fünfte Sinfonie von Dvořák. In der Anspannung vor und während den Konzerten gab es nichts anderes als die Musik. Da war alles wie immer, fühlte sie sich ruhig und sicher. Kaum war sie jedoch allein, wurde ihr Denken laut, begleitet von einem feinen Sirren. Es gelang Lotta nicht mehr, konzentriert zu üben. Wieder und wieder sah sie die Kirche von Gletschen, den Friedhof, die Berge, hörte die Orgel, die Glocken, die Leute, die Busse, alles viel zu nah, noch immer viel zu laut. Ihr wurde heiß, wenn sie daran dachte, dass sie nicht mehr am offenen Grab gewesen war nach der Trauerfeier, keine Blumen mitgebracht hatte, nichts, was sie Luise hätte mitgeben können außer der Musik. Dass sie nicht zum Leichenmahl gegangen und einfach weggelaufen war nach den Worten der alten Frau. Sie drängten sich unerbittlich in Lottas Bewusstsein, diese Worte. Luise verschwunden?

Lotta versuchte, die Gedanken aus dem Kopf zu schütteln. Luise hatte ein langes Leben gehabt, bestimmt vieles erlebt, von dem sie nichts wusste. Sie beide hatte das Interesse für Musik verbunden. Aber nicht nur das. Doch daran wollte Lotta jetzt nicht denken. Sie musste endlich wieder üben können.

Ich hab dir immer gehorcht immer gehorcht immer getan was du gesagt hast geübt und geübt und geübt und jetzt muss ich muss üben konzentrieren entspannt nur Musik sein ich muss ich muss …

Lotta rückte die Noten zurecht und atmete ein paar Mal tief durch. Mit geschlossenen Augen und ohne sich zu bewegen, hörte sie innerlich die ersten Töne einer Etüde von Duport, spürte die Griffe der linken Hand, Geschwindigkeit, Druck und Winkel des Bogens. Dann strich sie mit der Außenseite ihres linken Daumens entlang dem Griffbrett über die Decke des Cellos, spürte die Kühle des lackierten Holzes, die vertraute feine Kerbe direkt über dem Schallloch, legte dann die Finger auf die Saiten, setzte den Bogen an und spielte mit noch immer geschlossenen Augen die ersten Takte. Das Instrument begann zu schwingen, Töne erklangen – und perlten an Lotta ab. Sie bewegte sich mechanisch; empfindungslos setzte sie eine Note nach der anderen.

Du hast nichts erzählt gar nie etwas erzählt weshalb nichts von Gletschen weshalb weiß ich nichts überhaupt nichts von dir verschwunden …

Mitten im Takt brach sie ab und legte den Bogen weg. So ging das nicht. Sie wollte sich in Klang betten, doch die Wörter übertönten die Musik.

Weshalb nur hatte sie nie daran gedacht, ihre Großmutter nach ihrem Leben zu fragen? An einem der vielen langen Abende zu zweit, an denen sie immer öfter ins Schweigen fielen. Warum hatte Luise nie von sich aus etwas erzählt? Was sollte das überhaupt heißen, aus Gletschen verschwunden?

Wer hat auf dich gewartet dich gesucht gehofft gemeint dich überall zu sehen …

Lottas Finger verkrampften sich, sie zog die Schultern hoch. Am liebsten hätte sie ihren schön geordneten Notenstapel durcheinandergeworfen und die Satzfetzen in ihrem Kopf den tanzenden Blättern hinterhergescheucht, aber sie presste nur die Schenkel an ihr Instrument. Sie musste ihre Gedanken wieder in den Griff bekommen. Lotta biss sich auf die Lippen. Wo blieb die Konzentration, ohne die ihr Beruf undenkbar war? Stundenlang an Phrasierungen feilen, Sequenzen üben, nicht aufhören, nach dem Kern jedes Stückes zu suchen – das war ihr Leben, das hatte sie immer gekonnt. Und nichts anderes gewollt. So hatte sie es geschafft, ihr Studium mit Auszeichnung abzuschließen, hör nur die Musik, und beim Vorspiel für die Orchesterstelle stach sie alle anderen aus, die technisch genauso brillant waren. Die Erinnerung an die Hochspannung war sofort wieder da, das Warten hinter der Bühne, die Erlösung, als der Orchestervorstand ihr sagte, sie hätten sich für sie entschieden. Nur das warme Glück, das sie damals erfüllt hatte, spürte sie nicht mehr.

Mit einer heftigen Handbewegung fegte sie die Noten vom Ständer. Sie hatte doch gewusst, dass Luise alt war, jederzeit sterben konnte! Aber sie hatte sich immer nur für Musik interessiert. Hatte nie etwas von ihr wissen wollen, als wären neben all den anderen Fragen keine mehr übrig geblieben für Luise. Lotta hielt sich den schmerzenden Handrücken.

Das Katzentürchen fiel zu, Lotta schreckte auf. Alfredo kam ins Zimmer, strich ihr um die Beine und miaute. Er ließ sich fallen und drehte sich auf den Rücken, damit sie ihm den Bauch kraulen konnte. Doch Lotta starrte auf die am Boden verstreuten Notenblätter und rührte sich nicht. Alfredo schnurrte, Lotta nahm es kaum wahr.

Tante Annemarie hatte an der Trauerfeier Luises Lebenslauf vorgelesen, doch Lotta hatte in der Konzentration auf ihr Cellospiel kaum zugehört. Sie konnte sich nur an »Lehrjahre im Ausland« erinnern und irgendetwas mit England. Kein Verschwinden. Kein Auftauchen. Bloß wie mutig es gewesen war, dass Luise nach dem Tod ihres Mannes die Druckerei nicht aufgegeben hatte, sondern sie noch viele Jahre erfolgreich weiterführte. Die Druckerei.

Eine Erinnerung tauchte in Lottas Kopf auf. Wie Luise jeweils energisch alle Fenster im Haus schloss, wenn Lotta zu üben begann. Einmal, als Lotta eines öffnete, weil ihr zu heiß war, forderte Luise sie auf, es sofort wieder zu schließen. Auf Lottas Einspruch hin sagte sie kurz angebunden, dass die Druckerei früher wiederholt Lärmklagen aus der Nachbarschaft erhalten habe, wenn im Hochsommer die Maschinen bei geöffneten Fenstern liefen. Lotta verstand nicht, aber sie schwieg. Und übte schwitzend weiter.

Sie schüttelte die schmerzende Hand, bückte sich, hob einige der verstreuten Notenblätter auf und stellte sie auf den Notenständer. Ein Augenblick Vergangenheit war in die Gegenwart gelangt. Mit einem Tuch wischte sie die Saiten des Cellos ab und legte es behutsam in seinen Kasten. In der Küche stellte sie Alfredo Futter hin, fuhr ihm abwesend über das Fell, strich die roten Haare an ihrer Hose ab, machte sich einen Tee und holte die Dose mit den Apfelstücken aus dem Schrank. Sie setzte sich an den Küchentisch und legte die Hände um die heiße Tasse. Ihrem im Fenster gespiegelten Blick wich sie aus.

Auf dem Fensterbrett saß die Plastikpuppe, die ihr Vater vor mehr als fünfundzwanzig Jahren aus Taiwan mitgebracht hatte, von seinem ersten großen Auslandseinsatz. Sie saß dort und starrte Lotta aus ihren ewig aufgerissenen, blauen Augen an, seit Lotta in die kleine Musikerwohnung gezogen war. Obwohl sie die Puppe scheußlich fand, wäre ihr nie eingefallen, sie wegzuwerfen. Meist glitt ihr Blick über sie hinweg, sie gehörte zu ihrem Alltag.

Auf die Tischplatte fiel eine Träne. Unwirsch wischte Lotta sie weg. Weitere Tränen tropften auf den Küchentisch. Die Puppe verschwamm vor ihren Augen.

Dein Papa Lotta er ist verschwunden wird vermisst Mama was ist weinte nur noch und weinte einfach verschwunden ich hab nichts verstanden Papa vermisst kann mich nicht erinnern deine Stimme dein Lachen verschwunden vermisst so lange vermisst …

Der Satz der alten Frau hatte ganze Arbeit geleistet und freigelegt, was Lotta sorgsam mit Musik und Alltag zugedeckt hatte. Da war der Abend, als ihre Mutter Lotta zu Luise brachte. Auf Lottas Fragen, wann sie wiederkäme, sagte Luise später nur, sie wisse es nicht, und legte eine neue Mozart-Schallplatte auf. Beide schreckten zusammen, wenn das Telefon klingelte. Wir wissen immer noch nichts, die Stimme ihrer Mutter ganz weit weg.

Lotta starrte ihre Hände an, die jetzt vor ihr auf dem Tisch lagen, die Teetasse, die Apfelstücke. Es war Luise, die nun weg war, nicht ihr Vater. Der war schon sehr lange nicht mehr da.

Sie hütete das Wenige, das ihr von ihm geblieben war. Die Puppe aus Taiwan. Ein Paar bestickte Hausschuhe aus Indien und eine aus Speckstein geschnitzte Robbe aus Kanada, die bis heute ihren festen Platz in Lottas Bücherregal hatten. Einige Fotos besaß sie noch, an denen Fetzen von Geschichten hingen, die ihre Mutter erzählt hatte oder vielleicht auch Luise. Die letzten Bilder aus Chile, eine halbfertige Hängebrücke über einem öden Tal. Ohne die Fotos wüsste sie nicht mehr, wie er ausgesehen hatte.

Lottas Tee war kalt geworden, die Apfelstücke lagen unberührt neben der Tasse.

So lange geglaubt so lange gehofft dass du wiederkommst Papa in der Tür stehst und lachst mich in den Arm nimmst einhüllst mit deiner Stimme Mama umarmst auch Luusi lacht die schwarzen Kleider endlich weg endlich befreit …

Lotta schluckte, ihr Hals war wieder eng geworden. Den Klang des Cellos hatte sie immer mit der warmen Stimme ihres Vaters verbunden. Sie stand auf und schüttete den restlichen Tee in den Ausguss. Sie hörte wieder das Knirschen des Korbstuhls, auf dem ihre Mutter stundenlang das Telefon fixiert hatte, sich vor und zurück wiegte, sich die Kopfhaut blutig kratzte. Ihre Mutter, die sie nur verständnislos ansah, wenn sie fragte, was los sei, wo Papa sei, ihre Mutter, die sie dann zu Luise brachte und verschwand. Viel später erst verstand Lotta, dass ihre Mutter nicht anders konnte, als ihren Vater zu suchen, dass sie das Nichtwissen nicht ertrug und ihren Schmerz nach ihrer Rückkehr unter Arbeit begrub. Für Lotta war da kein Platz mehr.

Nur du Luusi warst immer da …

Luise sorgte für Lotta, half ihr, sich auf die Musik zu konzentrieren, sich in Klänge zu hüllen. Es war auch Luise, die an Lottas Schulexamen kam und an die Vortragsübungen. Nicht ihre Mutter, nicht ihr Vater. Ihre schwarze, starre Großmutter mitten unter den stolzen Eltern der anderen Kinder. Sie war es, die dafür sorgte, dass sie perfekt vorbereitet an die Aufnahmeprüfung, an Wettbewerbe ging, die für sie die Daumen drückte. Erst als Lotta in Wien zum Konzertstudium aufgenommen wurde, zog sie weg aus Luises Haus.

Hör nur die Musik konzentrier dich geh üben hör nur die Musik nur die Musik …

Lottas Warten und Hoffen war über die Jahre leiser geworden, und nun wollte sie diese Erinnerungen nicht mehr; zu lange hatten sie sich über alles gelegt, brauchte sie all ihre Kraft, um sich auf die Musik zu konzentrieren. Und doch hatte eine einzige Bemerkung sie wecken können. Luise verschwunden. Dein Papa wird vermisst.

Lotta wusste, dass sie üben musste, doch sie setzte sich wieder an den Küchentisch, nahm sich ein Apfelstück und drückte es mit der Zunge an den Gaumen.

Nach der Rückkehr in die Heimatstadt hatte sie Luise oft besucht, auch wenn die Abstände zwischen ihren Besuchen mit der Zeit größer wurden. Sie war erwachsen geworden, als Musikerin geschätzt und gefragt. Als Luise vor einigen Jahren länger krank war, hatte sie regelmäßig nach ihr gesehen. Daraus war die Gewohnheit geworden, einmal pro Woche vorbeizugehen. Sie hatte für Luise und sich jeweils etwas Kleines zum Essen mitgebracht, von den letzten Konzerten oder vom Unterrichten erzählt. Zusammen spazierten sie durch den Garten, Luise zeigte ihr eine besonders schön blühende Blume oder ihre Bonsais, und dann setzten sie sich ins Wohnzimmer, um Musik zu hören, bis Luise meinte, es seit Zeit für sie, ins Bett zu gehen. Nie hatten sie über Vergangenes gesprochen.

Alfredo hatte fertig gefressen und sprang auf Lottas Schoß. Von dort holte er mit einem Pfotenhieb den Deckel der Dose vom Tisch. Lotta fuhr zusammen, als dieser scheppernd auf dem Boden aufschlug. Alfredo floh aus der Küche und schaute aus sicherer Distanz zu, wie sich der Deckel sirrend drehte und schließlich mit einem Klack liegen blieb.

»Ich weiß, Zeit zum Arbeiten!«

Lotta seufzte, hob den Deckel auf, stellte die Dose zurück und schrieb Apfelstücke! auf den Zettel am Kühlschrank. Sie sollte mit ihren Tanten reden. Die warteten bestimmt noch auf eine Erklärung, weshalb sie nicht beim Essen war nach der Trauerfeier, und sie würden ihr von früher erzählen können.

Lotta band ihr Haar im Nacken zusammen, ging zurück ins Zimmer, nahm das Cello wieder aus dem Kasten und stimmte. Sie musste, sie wollte spielen, durfte nicht nachlassen. Ohne das tägliche disziplinierte Üben hätte sie keine Wettbewerbe gewonnen und wäre sie nicht Orchestermusikerin geworden. Das war ihr Leben, Tage gefüllt mit Musik, mit Unterrichten, Üben, mit Proben im Orchester. Barockkonzerte, klassische Sinfonien, Uraufführungen – mit wechselnden Dirigenten, unterschiedlichen Klangvorstellungen und individuellem Dirigierstil. Den Wunsch, eigenständig zu interpretieren, hatte sie längst begraben. Anpassungsfähigkeit war die größte Tugend einer Orchestermusikerin.

Die Heizung knackte. Im Augenwinkel sah sie, wie Alfredo aufs Bett sprang, sich um sich selbst drehte und sich dann auf die weiche Decke fallen ließ. Sie legte ihre linke Hand für einen Moment auf ihr Cello, spürte das kühle Holz. Sie brauchte diese Berührung, bevor sie zu spielen begann, diese Verbindung mit ihrem Instrument. Als sie sich eine Sonate von Boccherini vornahm, legte Alfredo den Schwanz über seine Pfoten und steckte die Nase darunter. Lotta spielte, das Cello klang warm, doch noch immer blieben die Töne außerhalb ihres Körpers.

Aus Gletschen verschwunden in Gletschen begraben die Tanten fragen nie erfahren nichts mehr ändern begraben vergessen endlich begraben …

Der Bogen blieb in der Luft. Lotta biss sich auf die Lippen. Wo waren die Töne, die Rhythmen, die sie wegzutragen vermochten aus dem Alltag, die ihr richtiges Leben waren? Erneut setzte sie den Bogen an. Doch auch Boccherini half nicht. Vielleicht, weil Lotta seine Musik nicht besonders mochte. Aber seine Sonaten und Cellokonzerte gehörten nun mal ins Repertoire einer Cellistin.

Sie suchte die Noten von Bachs Cellosuiten. Das Prélude der Suite Nr. 4 mit seinen unerbittlich laufenden Achteln würde bestimmt die Ruhe und Ordnung in ihrem Kopf wiederherstellen. Doch bald ließ Lotta den Bogen erneut sinken und starrte auf die Noten. Ihre Finger taten, was sie tausendfach geübt hatten, aber die Unbeseeltheit der Töne erschreckte sie. Ihrem Spiel war die Wärme abhandengekommen.

Lotta stampfte heftig mit dem Fuß auf. Alfredo fuhr aus dem Schlaf. Am liebsten hätte sie das Cello auf den Boden geworfen, aber sie ließ nur den Bogen fallen und umklammerte den Cellohals.

Weshalb verschwunden wohin verschwunden du warst doch da warum hab ich nie gefragt hättest du denn erzählt …

Sie musste sich beherrschen. Ausgerechnet sie, die mit unendlicher Geduld die schwierigsten Passagen tausendmal üben konnte, immer wieder probierte, nie aufgab, verlor jetzt die Nerven.

Spinnst du reiß dich zusammen dein Instrument …

Es war ein wunderbares Cello aus den 1840er-Jahren, in das sie sich verliebt hatte, als sie es zum ersten Mal spielen durfte. Luise hatte es ihr für teures, für sehr teures Geld gekauft, nachdem Lotta ins Orchester aufgenommen worden war.

Lotta versuchte, wieder ruhig zu atmen, und legte die Hände auf die Saiten. Ein Bild schob sich vor die Noten des Bach-Préludes. Eine gesichtslose Gestalt mit hochgestecktem, weißem Haar beugte sich über eine winzige Kiefer. Luise in ihrem Bonsaihaus. Lotta meinte, das feine Zwicken der Schere zu hören und das Knirschen des Drahts, mit dem Luise ihre Bäumchen in die gewünschte Form brachte. Sie würde ihr nie mehr dabei zusehen, nie mehr mit ihr am Küchentisch sitzen.

Lotta blinzelte, entspannte den Bogen und lehnte das Instrument an die Wand. Sie würde es später wieder versuchen. Sie holte ihren Ordner mit den Unterrichtsunterlagen, setzte sich an den Küchentisch und begann, die Lektionen der kommenden Woche vorzubereiten. Das war einfacher.

Früher war es umgekehrt gewesen, da hatte sie nur mit Widerwillen unterrichtet. Doch die leuchtenden Augen der Kinder, wenn der Bogenstrich ruhig, die Töne rein waren, wenn ein Stück fehlerfrei gelang, rührten sie. In den zusammengezogenen Augenbrauen und den aufeinandergepressten Lippen der Jugendlichen erkannte sie ihre eigene Konzentration. Schulprobleme und Liebeskummer waren in solchen Augenblicken vergessen.

Lotta suchte in ihrer Notensammlung nach passenden Stücken, bei den CDs nach Hörbeispielen, und sie überlegte sich, wie sie ein Häppchen Musiktheorie so vermitteln konnte, dass es die Freude an der Musik nicht verdarb, sondern vertiefte.

Es waren zwei Stunden vergangen, als sie das nächste Mal auf die Uhr sah. Jetzt gab es kein Ausweichen mehr, sie musste anfangen, das neue Werk für die Osterkonzerte zu erarbeiten. »Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu« von Carl Philipp Emanuel Bach hatte Leitner aufs Programm gesetzt. Der Dirigent hatte sie damit überrascht, dass er es ausgerechnet an Ostern wagte, ein so selten gespieltes Oratorium zu programmieren. Lotta hatte es nicht gekannt. Doch sie mochte es, mit dem Orchester Werke zu spielen, die nicht die Last von Routine und ungezählten Interpretationen trugen.

Sie machte die Noten bereit, nahm das Cello, stimmte nach und setzte den Bogen an. Nach wenigen Minuten legte sie ihn weg und schaute auf ihre untätigen Hände, ohne etwas zu sehen. Solange Luise ihre Gedanken besetzte, würde sie nicht üben können. Sie musste sich richtig von ihr verabschieden. Und sie wollte Antworten auf ihre Fragen. Das Cello blieb stumm.

26. Juni 1912

Die Waschküche ist die Strafe. Idas Hände sind rot und wund. Ungeduldig zwingen sie eine Haarsträhne zurück unter das Kopftuch, dann packen sie wieder die Kurbel, die die große Wäschetrommel in Schwung versetzt. Erst seit diesem Frühling steht sie da. Auf einem Pferdefuhrwerk ist sie ins Dorf, ins Hotel gebracht worden, vorbei an staunenden Kinderaugen und begleitet von neidischen Frauenblicken.

Der Holzgriff liegt hart in Idas Händen. Leintücher und Kissenbezüge setzen sich in Bewegung, drehen um und um und um. Der alte Siedkessel mit der Weißwäsche dampft, die schmalen Fenster hoch unter der Decke sind beschlagen. Es ist heiß in der Waschküche. Ida starrt ins Weiß und schwitzt. Drei Frauen stehen am Trog, reiben sich auf den Waschbrettern die Knöchel blutig. Keini seid eppes.

Ida hat nie in der Waschküche arbeiten wollen. Flicken und Glätten für das Hotel, das tut sie gern, den fyrnähmen Frouen aus dem Unterland, aus Frankreich und England Knöpfe und Häkchen wieder annähen, eine Spitze, die sich gelöst hat, einen niedergerissenen Saum. Sie wird gelobt für ihre Stichleni, so chlyn, mu gsehd si chuum …

Aber das Liebste ist ihr das Servieren. Als Ungelernte darf sie nur am Nachmittag aushelfen, wenn die Saaltöchter Zimmerstunde haben und die feinen Herrschaften unter Bäumen im Schatten ihre Abenteuer ausbreiten. By Ggaffe und Chuechen. Das feine Porzellan, Silberkännchen, die gestärkten Servietten, Leffleni und Gäbälleni, sie machen Idas Hände glücklich. Aber jetzt ist alles anders. Sie darf nicht mehr servieren. Nicht nach dem, was passiert ist. Die Waschküche ist die Strafe.

Dabei macht sie an diesem Nachmittag vor drei Tagen nichts anders als sonst. Der Garten ist gut besetzt, nur ein Herr sitzt allein an einem Tischchen. Er redet lustig, mit starkem Akzent. Ida lächelt und nimmt seine Bestellung auf. Und dann sieht er sie unverwandt an, nyd eis dräyd er ds Hoit. Ida merkt es nicht.

Sie bringt das Kaffeekännchen, stellt den Kuchenteller vor ihn hin und richtet die goldene Schrift auf dem Rand so aus, dass der Gast sie auch lesen kann. Ohne ihn anzuschauen, wie sie es gelernt hat. Hotel Gletscherblick. Seine Hand greift nach der Serviette, streift die ihre auf dem Rückzug. Dann fragt er nach ihrem Namen.

3

Gletschen war noch immer im Wintersportchaos. Der Bahnhof voller Menschen in leuchtend bunten Skianzügen. Skischuhe schlugen hart auf den Asphalt, Stöcke und Snowboards aneinander, Kinder weinten, Mütter riefen. Lotta holte tief Luft. Die Erinnerungen an den Klassenausflug drängten sich in ihren Kopf, ihr wurde heiß. Die schlaflose Nacht im Schlafsaal.

Denk nicht mehr daran denk einfach nicht dran …

Sie hätte zu Hause sein sollen und die »Auferstehung« erarbeiten. Doch sie konnte nicht. Ausgerechnet in Gletschen hatte Luise einmal gelebt, wahrscheinlich ihre Kindheit verbracht, war irgendwie verschwunden und hatte daraus ein Geheimnis gemacht. Hier hatte sie begraben werden wollen, und Lotta hatte sich nicht von ihr verabschieden können. Das Cello musste warten.

Vor dem Bahnhof standen Reisebusse mit laufenden Motoren. Lotta ging die Hauptstraße entlang durch das Dorfzentrum. Ein Souvenirshop reihte sich an den nächsten, die Häuser im Chaletstil strahlten nichts von der Gemütlichkeit aus, die Lotta mit Chalets verband. Sie versuchte, den Verkehr und die vielen Menschen wegzudenken – wie mochte es hier ausgesehen, wie geklungen haben, als Luise ein Kind war? Sie kam am Hotel Gletscherblick vorbei. Das verpasste Leichenmahl. Neben dem Eingang standen kahle Blumentröge und eine Tafel mit Getränkewerbung und der Aufschrift Kaffee und Kuchen – täglich frisch gebacken. Dafür war es jetzt noch zu früh. Sie wich einer Gruppe Skifahrer aus und folgte der Straße hoch zum Friedhof. Sie wollte zu Luises Grab, musste sehen, wo sie jetzt war. Vielleicht würde ihr das Abschiednehmen dann gelingen, vielleicht beruhigte sich die Achterbahnfahrt ihrer Gedanken und Gefühle in der Friedhofsruhe. Seit Luises Tod war genau ein Monat vergangen.

Der Friedhof lag im Schatten. Das schwere, schmiedeeiserne Tor quietschte, als sie es aufstieß. Die dürren Blätter einer Hecke raschelten. Lottas Augen tränten im kalten Wind, sie drückte ihre Kapuze enger an den Kopf und suchte das Grab. Sie brauchte nicht lange. Neben Luise war vor Kurzem noch jemand begraben worden. Auf den Trauerkränzen und der lehmigen Erde lag noch kein Schnee.

Luises Grab war schneebedeckt, auf einem hellen Holzkreuz stand in eingebrannten Druckbuchstaben Luise Keller-Gerber 1913–2002.

Lotta kauerte nieder und starrte ins Weiß. Quer über das Grab zitterte eine Vogelspur. Luise in der ersten Reihe an ihrem Abschlusskonzert, die Brille in den Händen. Luise, wie sie beim Kochen Mozart vor sich hin summte, Luise mit den geblümten Gummistiefeln im Gewächshaus mit ihren Bonsais. Verwackelte, schlecht belichtete Filmszenen, die sich ständig wiederholten. Luises Gesicht nie mehr als ein unscharfer Fleck. Nur die Geräusche waren klar und deutlich. Luises Stimme, das Rauschen des Dampfabzugs, das Zischen und Gleiten des Bügeleisens, Luises Schritte auf der Treppe.

Du bist so weit weg bist fremd geworden hast die Musik mitgenommen hast sie mir weggenommen die Ruhe die Musik was tu ich hier Abschied nehmen Abschied von dir von …

Lotta versuchte, sich ihre Großmutter vorzustellen. Ihre aufrechte Haltung, das Gesicht mit der fleckig gewordenen Haut, das lange, immer tadellos hochgesteckte, weiße Haar. Lotta kannte alle Einzelheiten, und doch gelang es ihr nicht, ihr Bild vor das innere Auge zu rufen. Gesichtslos erschien sie, nur ihr Arbeitstisch mit einem Bonsai scharf wie auf einem Foto.

Es wurde hell und warm. Lotta schaute auf. Die Sonne hatte sich im Sattel zwischen zwei Berggipfeln für einen Augenblick über den Horizont geschoben. Als sie wieder verschwand und die Schatten höher krochen, schienen die Berge mit ihren schroffen Felswänden bedrohlich nah.

Warum in Gletschen warum nichts erzählt bist du abgehauen wohin verschwunden wann wo wieder aufgetaucht er wird nie mehr …

Lotta zeichnete mit dem Finger ein Herz in den Schnee und flüsterte: »Ich werde herausfinden, was geschehen ist. Versprochen. Ich denke an dich, wo immer du bist.« Dann steckte sie ihre kalten Hände in die Jackentaschen und stieg eine Treppe hinauf, vorbei an einem leeren Brunnen, in dem unter der Schneedecke die Umrisse einer umgekippten Gießkanne auszumachen waren. Aus der Kirche drangen Orgelklänge, jemand übte immer wieder dieselbe Stelle. Lotta kannte das Stück nicht.

Noch wollte sie nicht zurück in den Lärm der Wintersportler. Sie versuchte, die Inschriften auf den Grabsteinen rund um die Kirche zu entziffern. Einige waren stark verwittert, bei anderen waren Namen und Lebensdaten problemlos lesbar. Viele Namen wiederholten sich: Hans, Johann, Peter, Anton, Christian, Anna, Berta, Lisa. Die meisten in den ersten zwei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts geboren.

Lotta hatte bereits eine Zickzackspur in den Schnee zwischen den Gräberreihen gezeichnet, als sie abrupt stehen blieb. Hatte Luise eigentlich Geschwister gehabt? Was war mit ihren Eltern? Waren die vielleicht auch hier begraben, wenn Luise tatsächlich aus Gletschen stammte? Sie stapfte durch die Reihen. Aber da war nichts, weit und breit kein Gerber-Grabstein. Doch noch hatte sie nicht den ganzen Friedhof abgesucht, eine Ecke fehlte noch. Der Wind war stärker geworden und die Kälte begann wehzutun. Sie blieb stehen.

Was soll das Lotta sie sind alle tot Luise ist tot geh heim zum Cello zum Üben deinem Leben …

Noch vier Reihen, ihre Füße waren eiskalt. Da. Anton Gerber 1880–1963, darunter Ida Gerber-Weber 1888–1965. Goldene Lettern auf einem dunklen, geschliffenen Stein. Halb verdeckt von den Ästen einer kleinen Kiefer schwiegen sie Lotta an. Sie drückte die Zweige zur Seite. Hatte sie tatsächlich das Grab ihrer Urgroßeltern gefunden? Sie rechnete, klaubte einen Zettel aus ihrer Tasche und schrieb sich Namen und Daten auf.

Lottas Kopf kribbelte. Sie spürte ihre Zehen nicht mehr. Es war höchste Zeit für einen Kaffee.

Spezialitäten im ADLER: Hausgemachter Apfelstrudel, Topfenstrudel, Mohnstrudel war auf einer Tafel vor einem Hotel zu lesen. Jetzt konnte Lotta nicht mehr widerstehen.

»Einen Apfelstrudel und einen Kaffee, bitte!«

Außer ihr befand sich nur noch ein älteres Paar in der großen Gaststube. Die meisten Tische waren bereits für das Mittagessen gedeckt. Irgendwo tickte eine Standuhr, und in der Küche lief leise ein Radio. An den Wänden hingen alte Fotos, dazwischen hinter Glas gepresste Blumen. Lotta stand auf, um die Bilder von Nahem anzusehen. Eine schwarze Wand, ein gezackter Grat, Schnee und Eis. Es war die schroffe Steilwand, die ihr schon auf dem Friedhof Eindruck gemacht hatte und die dem Dorf zu zeigen schien, dass hier andere Mächte als menschliche das Sagen hatten. Auf der Aufnahme daneben eine kleine Häusergruppe am Ende der Bahnlinie – so musste es hier einmal ausgesehen haben. Die Kirche etwas entfernt auf einer Anhöhe.

Es folgten zwei Goldrähmchen mit getrockneten Blüten. Ranunculus glacialis und darunter – das erkannte Lotta sofort – ein Edelweiß auf braun gewordenem Papier. Zwischen zwei weiteren Tischen wieder ein Foto: vier Frauen in langen Röcken und hochgeschlossenen Blusen auf gleißendem Gletschereis. Wie es wohl gewesen war, in solchen Kleidern in den Bergen unterwegs zu sein? Und wie die Menschen es damals ohne Sonnenbrille im Schnee ausgehalten hatten? Rechts folgten weitere gepresste Blumen. Potentilla tormentilla und daneben dunkelgelb wie eine Kindersonne Arnica montana. Der Enzian daneben war Lotta wieder vertraut. Doch im Unterschied zu ihrer Großmutter interessierte sie sich nicht sonderlich für Pflanzen. Über dem nächsten Tisch zeigte ein Schwarzweißfoto eine Gruppe von Männern mit schweren Schuhen, Pickeln, Seilen und Gesichtern, die das Wetter alt gemacht hatte. Waren ihre Vorfahren Bergsteiger gewesen? Die Wirtin kam mit dem Apfelstrudel aus der Küche.

»San schön, die Büldln, net woar?«

Eine Österreicherin mit Stentorstimme. »Na, de Leit, de kenn i net, do müssen S’ schon im Ortsmuseum frogn. Die meisten Büldln hängen dort a! Die Museumsbetreuerin, die kennt sich supa aus.«